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Heftarchiv – Leseproben

Fabre, Jean-Henri

2/2009 | Entomologische Streifzüge

Wenn der Chemiker sein Experiment reiflich geplant hat, mischt er seine Reagenzien, wann es ihm am besten paßt, und macht Feuer unter dem Kolben. Er ist Herr über Zeit, Ort und Umstände. Er wählt eine Stunde, er zieht sich in die Abgeschiedenheit seines Labors zurück, wo ihn nichts ablenken kann. Er erzeugt nach Belieben diese oder jene Bedingung, welche die Überlegung ihm eingibt: Er spürt den Geheimnissen der Natur nach, in der er mit Hilfe der Wissenschaft chemische Aktivitäten hervorrufen kann, wann es ihm günstig erscheint.
Die Geheimnisse der lebendigen Natur - nicht die des anatomischen Aufbaus, sondern vielmehr die des Lebens in Aktion, vor allem des Instinkts - stellen den Beobachter vor viel schwierigere und heiklere Bedingungen. (...)

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Fermor, Patrick Leigh

4/2010 | Rumänien - Reisen in einem Land, ehe die Finsternis hereinbrach

Unter dem Fenster der Nachtmaschine schimmerte Bukarest, schwach wie eine von Kerzen beleuchtete belagerte Stadt. Die Revolution, die die Welt in Staunen versetzt hatte, war gerade einen Monat alt, und als wir landeten, fragte ich mich, wie diese verblüffenden Ereignisse die Stadt verändert haben mochten; und, aus persönlichen Gründen, inwieweit sich das Land wohl von jenem unterschied, in dem ich vor dem Krieg ein paar Jahre gelebt hatte. Dazu müssen wir ein wenig zurückgehen. Genauer gesagt mehr als ein halbes Jahrhundert. Im Frühjahr 1934 war ich unterwegs auf meiner Wanderung nach (...)

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Finkielkraut, Alain

5/2010 | Muß man modern sein?

Am 13. August 1977 notiert Roland Barthes in seinem Tagebuch: "Auf einmal ist es mir gleichgültig geworden, daß ich nicht modern bin." Ein verblüffender Satz, wenn man ihn recht bedenkt. Damals war es tatsächlich ratsam, ja sogar von vitaler Bedeutung, modern zu sein, und in ästhetischen Fragen vergab Barthes dieses wertvolle Gütezeichen. Der Autor von "Am Nullpunkt der Literatur" gehörte zu den paar Handverlesenen, die in Sachen Modernität gut oder schlecht Wetter machten. Er war einer von denen, die die Mannschaft aufstellten. Barthes trennte souverän zwischen Altem und Neuem, schied unablässig Zeitgemäßes von Unzeitgemäßem, Aktuelles von Überholtem. Und hier nun, mit sich allein, bekennt er, daß der Riß mitten durch sein Herz ging. Er war Richter und Angeklagter zugleich. (...)

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Fioretos, Aris

5/2017 | Die dichte Welt

Hinc Poenus, hinc Afer urget.
(Prädikat im Sing. merken.)
Hier dringen die Punier und dort die Afrikaner ein.
– Erik Tidner, Latinsk grammatik (1965) Das Gewirr war dicht, nicht besonders schön, undurchdringlich. In einer Zeit, in  der von schwedischen Gymnasiasten erwartet wurde – es waren noch die grauen siebziger Jahre –, daß sie Bleistift und Radierer verwendeten, schrieb J. stets mit Kugelschreiber. Am liebsten benutzte er einen mit vier Farben: rot, grün, blau, schwarz. Trotz der Auswahl nahm er immer die schwarze Tinte. Während ich über die Frage nachdachte, die der Lateinlehrer uns gerade gestellt hatte (es ging um die dritte Person Singular von esse im Futurum exactum), klickte er mit seinem Kugelschreiber – vorgebeugt, den Ellbogen auf dem Tisch und seinen Mund gegen den Handrücken gedrückt. Ich ahnte ein kompliziertes Lächeln. J. mußte nicht lange über die Antwort nachdenken. Er hatte Latein binnen eines Herbstmonats gelernt und widmete sich nunmehr seinen privaten Studien. (...)

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Fischer, Jens Malte

4/2016 | Ivan Nagel, Dieses Rätsel will ich leben. Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen

JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders. IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser (...)

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Fontaine, Naomi

5/2020 | Nutshimit

Nutshimit ist das Landesinnere, das Land meiner Vorfahren. Jede Familie kennt ihr Waldstück. Die Seen sind Straßen. Die Flüsse zeigen den Norden an. Wer unvorsichtig ist und zu tief in den Wald eindringt, kann sich an den Zugschienen orientieren. Nutshimit, ein Ritual für Karibu-Jäger. Klare Luft, für die Alten unverzichtbar. Seit ihre Beine an Kraft verloren haben, zieht es sie nur noch zum Atmen in die Wildnis. Nutshimit, ein unbekanntes, aber nicht feindseliges Territorium für jemanden, der seinen Geist zur Ruhe kommen lassen will. Früher waren diese Wälder von Männern und (...)

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Ford, Ford Madox

5/2018 | Arbeiten mit Conrad

I Ich möchte ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, ich hätte Anteil daran gehabt, Conrad Englisch beizubringen, auch wenn es auf den ersten Blick plausibel scheinen mag, da er ein Ausländer war, der bis zu seinem Lebensende das Englisch eines Ausländers gesprochen hat. Doch was das Schrei ben betraf, war es anders. Wie ich vor kurzem andernorts bemerkte, konnte Conrad, sobald er einen Stift in die Hand bekam und nicht an eine Publikation dachte, so schnell, gewandt und fehlerfrei englisch schreiben, daß es mich jedes Mal erstaunte. Schrieb er jedoch für die Öffentlichkeit, (...)

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Frahm, Thomas

3/2013 | »Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns«. Georgi Markovs Exilreportagen über Bulgarien

Am 15. Juni 1969 setzte sich Georgi Markov, erfolgreicher Autor von Romanen, Novellen, Erzählungen, Drehbüchern und Theaterstücken – nicht zu verwechseln mit dem russischen Romancier Georgi Mokejewitsch Markow –, nach der abgebrochenen Vorpremiere seiner Komödie »Ich war Er« ans Steuer seines BMW 1800 und verließ auf Anraten Stefan Tsanevs die bulgarische Hauptstadt Sofia in Richtung der jugoslawischen Grenze. Tsanev, selbst Dramatiker, war Mitglied des künstlerischen Beirats, der über Annahme oder Ablehnung des Stücks zu entscheiden hatte. Er befürchtete Schlimmes von den (...)

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Franklin, Benjamin

1/2024 | Das Wörterbuch des Trinkers. Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff

Vorbemerkung Im Gedächtnis der Nachwelt hat der amerikanische Naturwissenschaftler, Ingenieur und Staatsmann Benjamin Franklin (1706 – 1790) bis heute einen festen Platz als Entdecker des atlantischen Golfstroms, als Erfinder des Blitzableiters und als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten. Weniger geläufig ist den meisten wohl seine herausragende Bedeutung als Autor, der die moderne englische Prosa mit interessanten Wortschöpfungen und einem witzigen, teils satirisch-sarkastischen, gleichermaßen unterhaltenden wie instruktiven Stil so nachhaltig prägte wie sonst nur Joseph (...)

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Fries, Ulrich

6/2019 | Letzte Postkarte von einer anderen Reise

In SINN UND FORM 4/2019 veröffentlichte der Herausgeber von Friedrich Pollocks Schriften, Philip Lenhard, unter dem Titel »Adornos letzte Postkarte« einen Aufsatz, in welchem er Textmaterial vorstellt und interpretiert, das »bis jetzt gänzlich unbekannt« war und nun als Teilnachlaß Pollocks an der Universität Florenz aufgetaucht ist. Laut Lenhard gibt »der auf mehrere Kisten verteilte Bestand (…) Einblick in die Nachkriegsgeschichte der Frankfurter Schule sowie in Theodor W. Adornos Gefühlswelt«. Ohne Frage sind die bislang unbekannten Dokumente interessant, so auch der Brief, in (...)

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Fumaroli, Marc

1/2010 | Beim Wiederlesen von Mario Praz

Aber ich weiß auch, daß man oft meint, ich
sage etwas Neues, wenn ich etwas Altes sage,
das aber die meisten noch nie gehört haben. Cicero Mario Praz. Bis vor kurzem (obwohl er bereits 1982 starb) geschah es mitunter schon bei der Andeutung seines Namens, daß ein italienischer Gesprächspartner Ihnen mit einer Hand den Mund zuhielt und die Finger der anderen beschwörend kreuzte. L’Innominabile! Und dann überhäufte man den Ausländer, der ahnungslos, unbedacht oder dumm genug gewesen war, auf Okkultes anzuspielen, zur Erbauung mit mehr oder weniger tragischen (...)

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1/2013 | Die Fee Elektrizität und ihre Optik

Die Nachfahren Talbots, Daguerres und der Brüder Lumière, diese glücklichen Zwerge auf den Schultern großer Entdecker, sehen sich als Erben und Privatiers der jüngst durch das Internet noch verstärkten und beschleunigten Bilderfluten: Wir fahren die reiche Ernte der Saaten unserer Urgroßväter ein, der Erfinder, ersten Konsumenten und Multiplikatoren der von Herschel als Lichtmalerei, Photographie, bezeichneten Technik (in Abgrenzung von der Schattenmalerei, der Skiagraphie antiker Künstler). Damals ging es bloß um Dunkelkammern, in denen sich die Wirkung von Tageslicht auf lichtempfindliche Glasplatten zeigte. Das Kino und erst recht Fernsehen, Computer- und Digitaltechnik konnten nur durch die Verfügbarkeit von Elektrizität aufkommen. Die Welt, die sie uns zeigen, unsere Lebenswelt, ist auf Elektrizität angewiesen und wird im wesentlichen von Lampen, Scheinwerfern und Blitzlichtern erhellt. Eine moderne Apokalypse begänne mit einem allgemeinen Stromausfall. (...)

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