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Heftarchiv – Leseproben

Darsow, Kurt

3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Peter Rühmkorf 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow

Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines (...)

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Deckert, Renatus

3/2006 | Gespräch mit Paul Nizon

RENATUS DECKERT: Ein Satz, den ich mehrfach bei Ihnen gefunden habe, lautet: »Nur der Fremde hat vor Verwunderung leuchtende Augen.« Sie haben ihn mit Blick auf Paris geschrieben. 1977 sind Sie von Zürich hierher übergesiedelt. Aber auch in Ihrem letzten Buch, »Das Fell der Forelle«, glaubt man noch die vor Verwunderung leuchtenden Augen zu spüren. Fühlen Sie sich, nach fast drei Jahrzehnten in Paris, noch immer als Fremder?   PAUL NIZON: In diesen drei Jahrzehnten ist Paris für mich Heimat geworden. Bevor ich hierherkam, kannte ich dieses Gefühl nicht. Meine Liebe zur Schweiz (...)

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6/2011 | »Das ist eine untergegangene Welt.« Gespräch mit Richard Wagner

RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern leidenschaftliche Wagnerianer waren? RICHARD WAGNER: Mein Vater war tatsächlich Wagnerianer. Hinzu kommt, daß er in seiner Jugend ein eher ungewöhnliches Instrument spielte, nämlich Waldhorn. Das war nicht sehr verbreitet. Er war in einem Laienorchester, das Ouvertüren und dergleichen mehr spielte, und da hatte er einmal einen Einsatz mit seinem Waldhorn. Das ist ihm in Erinnerung geblieben. Seitdem hat er sich immer wieder mit Wagner befaßt, so (...)

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Defoe, Daniel

2/2016 | Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge. Mit einer Vorbemerkung von John Robert Moore

Sehr geehrter Herr, in dem letzten Brief, den von Ihnen zu erhalten Sie mich auszeichneten, beliebten Sie, außer anderen wichtigen Dingen, welche Ihrer gestrengen und kundigen Feder würdig, zu sagen, daß die Nachricht von der Ankunft so vieler bedrängter Pfälzer zu einem Zeitpunkt, da es in jenen Gebieten keine schreiende Verfolgung gab, die Leute in Ihrer Gegend gar sehr verwunderte, und daß so viele Fremde in Südbritannien aufzunehmen und zu ernähren zu einem Zeitpunkt, da der Handel flau, Beschäftigung knapp, uns ein langer Krieg aufgehalst und jedwede Nahrung dermaßen teuer (...)

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Delius, Friedrich Christian

1/2015 | Der Stolz der Akademie. Gruß an »Sinn und Form«

Ein Abend von und mit "Sinn und Form". Es ist also auch eine, ja, was eigentlich, eine Institution zu begrüßen, die nicht leicht zu fassen ist, die selten im Rampenlicht steht, eine ehrwürdige, quicklebendige, weithin wirksame literarische Stimme, nein, eine schwer definierbare Summe von Stimmen. Die Zeitschrift "Sinn und Form" ist kein Sprachrohr der Akademie der Künste, aber sie erscheint unter dem Dach der Akademie der Künste – und wirkt als derzeit beste deutsche literarische Visitenkarte weit über Berlin und Brandenburg hinaus, vermutlich bis zu unseren Antipoden an irgendeiner Universität in Neuseeland. Diese Zeitschrift ist der Stolz der Akademie, unverzichtbar für Leute mit der Kernkompetenz Wort abseits des Mainstreams. Der Stolz der Akademie, gerade weil sie es nicht leicht hat, trotz steigender Auflage, im Gegenwind des vulgärbetriebswirtschaftlichen Effizienzdenkens zu segeln. (...)

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3/2017 | Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?

Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein. Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte. Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfaßt werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen oder Politiker. Irgendeinen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum zu glauben, Literatur entstünde durch den Stoff, (...)

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Demus, Klaus

4/2007 | Ansichten der Natur

NACHTFLUG über dem großen
transatlantischen Kontinent:
droben der Ewigkeitswelt
bilderdurchstirnter Lichterraum
finstrer Unendlichkeit,
drunten der fließende
illuminierte Schwarzteppich,
archipelgleich organisiert
mit Korallenstöcken,
funkelnd im Ornament:
der Bauriß des Alls
über dem flüchtigsten
Planen Mensch – abgründig
kontrastieren die Hälften,
droben, drunten, der Nacht
in ihren Lichtern. AUCH allen Gipfeln
wird es jetzt Abend –
die Täler drunten sind
längst in Schatten verloren;
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Detering, Heinrich

4/2022 | Könige und Communismus. Eine Erinnerung an Bettine von Arnim 437

Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis zum »Weberlied«. Aber auch so handfest agitatorische Texte wie die Dichtungen Georg Weerths – dieses »ersten Dichters des deutschen Proletariats«, wie Engels ihn genannt hat –, die »Lieder aus Lancashire« von 1845 etwa oder das »Hungerlied « ebenfalls aus der Zeit des schlesischen Weberaufstands 1844, lassen sich lesen als drastisch sozialrealistische Seitenstücke zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos betont unpolitischem (...)

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Detjen, Marion

1/2012 | Spiritual Companionship. Max Frisch und Helen Wolff

Als Max Frisch im Mai 1970 auf einer USA-Reise Helen Wolff kennenlernte, hatte er bereits mit mehreren amerikanischen Verlagen Verträge: „Homo Faber“ war bei Abelard-Schuman erschienen, „Stiller“ und „Mein Name sei Gantenbein“ (unter dem Titel „A Wilderness of Mirrors“) bei Random House, die Theaterstücke bei Hill & Wang. Die meisten seiner Bücher waren von Michael Bullock ins Englische übersetzt worden, und die amerikanischen Verlage teilten sich die Übersetzerhonorare mit dem englischen Verlag Max Frischs, Methuen. Frisch hatte auch in den USA schon den Ruf eines (...)

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Dieckmann, Friedrich

3/2019 | Fontanes Lücken

Fontane hat mich in jungen Jahren irritiert. »Schach von Wuthenow« gab den Anlaß, der Roman kam mir an zentraler Stelle mißlungen vor. Kürzlich habe ich abermals nach dem Buch gegriffen, neugierig darauf, ob sich der Eindruck von einst erneuern werde, und wirklich, wie einst an der Oberschule kam mir die Geschichte, deren Umschlagspunkt, die Peripetie, in der Achse des Buches durch eine Auslassung bezeichnet ist, realiter verfehlt und künstlerisch ausflüchtig vor. War dieses Aussparen des Delikaten, das sowohl das Unbegreifliche wie das Unaussprechliche war, ein Ausfluß jener stillen (...)

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2/2020 | Probleme der Kairosverkennung. Anmerkungen zu Wolfgang Harich

Briefe Wolfgang Harichs an Stephan Hermlin über seine Veröffentlichungsprobleme betreffs Nietzsche und Lukács sind zutage getreten (SINN UND FORM 2/2020, S. (...)

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Dollerup, Cay

4/2008 | Der dänische Hintergrund in Shakespeares »Hamlet«

Gleich hinter dem dunklen, gewundenen Tunnel, durch den der Besucher in den Hof von Schloß Kronborg in Elsinore (Helsingør) gelangt, sieht man links eine Gedenktafel in der Mauer mit einem Reliefporträt William Shakespeares (1564-1616) und der Inschrift: »Die Legende berichtet von einem Königssohn, AMLETH, der vor der Zeit der Wikinger in Jütland lebte. Im Mittelalter schrieb Saxo die Erzählung nieder. In der Renaissance griff Shakespeare Hamlets Lebensgeschichte auf und siedelte sie in diesem Schloß an. Dadurch hat er dem Dänenprinzen immerwährenden Ruhm gesichert und den Namen (...)

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Dorn, Anne

6/2010 | Verlust

bewahren, schützen, retten
(Köln, März 2009)

Rasch die Zettel, den Stift vom Tisch, die Tischdecke aufraffen, das Kissen vom Stuhl unter den Arm klemmen, losrennen – es donnert, die ersten, dicken Tropfen fallen –, aufatmen. Im Trocknen stehen. Zuschauen, wie der Wind den Regen herunterpeitscht, wie der nächste Blitz ganz in der Nähe herunterzuckt. Der Genuß des kleinen Glücks: Alles gerade noch so geschafft!
In Gewißheit leben: Von der Reise zurückkommen, mit dem frisch geputzten Blick bemerken, daß die Dinge gewartet haben, daß sie da sind: Am (...)

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Dotzauer, Gregor

5/2010 | Das Balkonzimmer

Eine Zeitlang bildete ich mir ein, ich könnte das Balkonzimmer tatsächlich bewohnen. Keine Woche verging, ohne daß ich von zu Hause aufbrach, um herauszufinden, warum ich ausgerechnet dort, am anderen Ende der Stadt, das Gefühl hatte, mein sonstiges Leben hinter mir zu lassen. Ich träumte davon, mich auf einem Sonnenspalt am Boden auszustrecken, in den Stuckhimmel hinaufzuschauen, mir die Nasenspitze zu wärmen und mich bei einer Tasse Tee seiner angenehmen Leere zu überlassen.
Ein Sofa, zwei Stühle, ein Spiegel – viel mehr gehörte nicht zum Mobiliar. Selbst später, als ich (...)

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6/2015 | Innen leben. Abschied von einer romantischen Idee

1 In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre  Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge. (...)

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Drews, Jörg

3/2019 | »Dieser Brief mußte geschrieben werden«. Korrespondenz mit Walter Kempowski 2005 – 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler

Vorbemerkung »Ich glaube, Du bist der einzige Mensch, der das, was ich unternehme, zu würdigen versteht «, schrieb Walter Kempowski am 30. Januar 1998 an den Literaturwissenschaftler und Kritiker Jörg Drews. Der hatte kurz vorher unter der Überschrift »Das Fernsehen, von Walter Kempowski geschreddert« eine Rezension zu dessen »Bloomsday ’97« verfaßt. Das Buch – ein Protokoll der Fernsehrealität, von Kempowski und seinem Team am 16. Juni 1997 auf 37 Sendern zusammengezappt – war von den meisten Rezensenten äußerst kritisch aufgenommen worden. Wie oft in solchen (...)

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