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Heftarchiv – Themen und Debatten

Trost des Widerspruchs - Aphorismen und Aufzeichnungen

Was nimmt man sich nicht alles vor, wenn man abgeschnitten ist von sonstigen Zertreuungen und endlich einmal Zeit hätte, sich durch ziegelsteindicke Romane und meterbreite Werkausgaben zu lesen. Am Ende aber gibt es doch wieder so viel anderes zu tun. Und es bleibt bei bescheideneren Lektüreabenteuern, deren Ende absehbar ist.

Eine sehr vernünftige Entscheidung, glaubt man dem französischen Moralisten Joseph Joubert, der Ende des 18. Jahrhunderts bemerkte: "Jedes Werk von Geist, ob episch oder lehrhaft, ist zu lang, wenn es nicht innerhalb eines Tages gelesen werden kann." Noch viel weniger Zeit muß man für die Notiz, die Aufzeichnung, den Aphorismus aufwenden. Die Notiz, so Joubert, könne besser sein als das Buch, die Kürze zwinge zu einer raffinierten Verknappung der Formulierung, in der zugleich Pro und Contra zum Ausdruck kämen: "Das Paradoxe drückt meistens ein wahres Verhältnis aus, dessen Gegenteil ebenso wahr ist." (Heft 4/2016)

Die Wahrheit liegt im Zerfall – daran glaubt auch der deutsche Schriftsteller Bastian Reinert. Denn am "freiesten sind wir in unseren Widersprüchen". Diese gilt es nicht auszugleichen, sondern auszuhalten. Und wenn wir "unsere Widersprüche nicht lösen können, sollten wir neue produzieren". Nur so bleiben Geist und Verstand aufnahmefähig für die Gegensätzlichkeiten des Lebens. Offen für den Zweifel und abwehrbereit gegen allzu simple Weisheiten. In letzterem Fall gilt: "Wer die eigenen Lügen irgendwann glaubt, dem sind sie zu Wahrheiten geworden, um die man ihn beneiden kann." (Heft 3/2019)

"Kiesel" nennt Alexander Eilers seine Aphorismen, kleine, rund- und glattgeschliffene Gebilde, die so lange bearbeitet werden, bis nur noch ihre Essenz übrigbleibt. Je kürzer der Satz, desto stärker ist die Verschränkung von Inhalt und Form. Und desto sichtbarer werden auch Paradoxien: "Seitdem er nicht mehr dagegen war, sprach nichts mehr dafür." Die Erkenntnis, daß das Neue das Alte erfunden hat, verbindet Kiesel mit dem Ahnherrn Joubert. Ist also alles schon gesagt? "Was uns einzigartig macht, verdanken wir unseren Wiederholungen." (Heft 1/2020)

BASTIAN REINERT Die Wahrheit liegt im Zerfall. Aphorismen


Am freiesten sind wir in unseren Widersprüchen.

Du mußt mit den Ohren staunen!

Was uns so gleich macht, ist, daß wir uns so gerne voneinander unterscheiden wollen.

3/2019 | zum Text

ALEXANDER EILERS Kiesel. Aphorismen

Dem Spiegelbild das Ich anbieten.

Beim Rückzug steht einem die Gefolgschaft im Wege.

Die Kreativen ahmen die Schöpferischen nach.

1/2020 | zum Text

JOSEPH JOUBERT "Ich glätte nicht meine Sätze, sondern meine Gedanken". Aus den Notizbüchern

Man sollte, was man fühlt, erst nach einer langen Erholung der Seele schreiben: Man muß nicht ausdrücken, wie man sich fühlt, sondern wie man sich erinnert. Ich werde sagen, warum.

Korrekt ist man nur, indem man korrigiert.

Durch die Erinnerung erhebt man sich gegen die Zeit, durch das Vergessen folgt man ihrem Gang.

4/2016
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