Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Leseproben aus den zuletzt erschienenen Heften:

Borchardt, Rudolf
3/2023 | Fortsetzung der Lebenserinnerungen. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Schuster

Vorbemerkung Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 und 1928 veröffentlicht, aber ungekürzt im Gesamtumfang von 120 Buchseiten unter dem vom Verfasser bei Georg Gottfried Gervinus geborgten Titel erst postum erschienen (Prosa VI 1990, zuletzt 2002 mit Nachwort von Gustav Seibt), galt bisher als »vollendet«, wenngleich im chronologischen Gerüst naturgemäß nicht abgeschlossen. Literarisch gleichrangig steht dieser Bericht über den Zeitraum zwischen 1877 und 1885 neben Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« – einsetzend mit Reflexionen über den »Sinn der Autobiographie«, gefolgt von Details zur jüdischen Familien- und Gelehrtengeschichte als Beispiele für die (...)

Leseprobe
Brecht, Bertolt
2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold

Vorbemerkung

Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin eine eigene Theatertruppe, das Berliner Ensemble, aufzubauen, das zunächst noch als Gast am Deutschen Theater spielt. Käthe Reichel ist gerade vierundzwanzig, als sie Brecht im Oktober (...)

Leseprobe
Adorno, Theodor W.
6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Elias Canetti. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek

Ein Vulkan an Ressentiment. Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich (...)

Leseprobe
Czapski, Józef
4/2023 | Tumult und Gespenster

(…)
Cannes. Das Schiff ist gerade erst aus Genua eingelaufen. Auf den Wellen schaukelt eine riesige, weise Schmuckschatulle mit einem roten Streifen am Schornstein und einem grünen dort, wo es die Wellen berührt: »Giulio Cesare«. Schiffsreisen liegen mir überhaupt nicht. Ich kann Schiffe nicht leiden, nicht einmal die schönsten. Die überlangen Flure und Treppen, überall ein eigenartiger Geruch (Lack? Schmiere?), die Enge der Kabinen – auch der ärmste Schlucker wohnt auf Erden geräumiger –, das sanfte Schaukeln, auch wenn der Kreuzer stillsteht – mir wird schon aus bloßer Angst, seekrank zu werden, leicht übel. Nervosität, das normale Reisefieber. Wo sind die Kisten? Wo steht welcher Koffer? Hektisches Suchen, um die »beste« Liege auszuwählen, obwohl alle (...)

Leseprobe
Gröschner, Annett
2/2023 | Minutentexte

Für Alexander Kluge 1: Hartguß und Herzweiche oder der Elefant im Raum,
über den ich sprechen will

Mit den Zufällen ist es wie mit den Seelen von Häusern. Ich glaube nicht an sie, aber sie können mich trotzdem überwältigen. Nehmen wir das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23 mit seinen verborgenen Bewohnern. In der Villa kreuzen sich die Zufälle auf ganz besondere Art.
Ich liebe Bauakten, weil sie so unbestechlich auf ein Ergebnis hinauslaufen. Das Ergebnis ist ein Haus, das sich nach und nach der Bauakte entfremdet oder ganz und gar wieder verschwindet, worauf das nächste kommt und in die gleiche Akte eingespeist wird. In dieser hier klebte hinter dem Umschlag der Grundbuchauszug, auf dem der Name Louise Hildebrandt stand, geborene Gruson – die (...)

Leseprobe
Hamburger, Michael
2/2024 | Moderne deutsche Literatur in England. Ein persönlicher Erfahrungsbericht (1981). Mit einer Vorbemerkung von Till Greite

Michael Hamburger, Übersetzer aus der Not des Übersetztwerdens. Eine Vorbemerkung

Der mit dem Werk Michael Hamburgers vertraute Leser mag in der erstmals auf deutsch abgedruckten Rede über eine bemerkenswerte Auslassung stolpern. Denn anders als in seiner Autobiographie »Verlorener Einsatz« oder in seiner Essaysammlung »Zwischen den Sprachen« bleibt die Urszene seiner literarischen Existenz, seiner dreifachen Identität als Dichter, Übersetzer und Kritiker hier unberührt. Immer wieder greift Hamburger in seinem Werk ein Schlüsselerlebnis auf: den Schreck des verstummenden Kindes, dem in der Fremde keine Worte mehr zur Verfügung stehen. Es beginnt 1933 mit einem neunjährigen Jungen aus Berlin-Charlottenburg, der über die Flure einer britischen Schule geistert. (...)

Leseprobe
Hein, Christoph
5/2009 | Gespräch mit Ralph Schock

Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen.

RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
(...)

Leseprobe
Hertmans, Stefan
2/2016 | Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität

Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen.

»Der Himmel meines Großvaters« basiert auf der Geschichte, genauer den Aufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, in deren Mittelpunkt seine Erfahrungen und Erlebnisse im Ersten Weltkrieg stehen. Er hat diese im wesentlichen zwischen 1963 und 1979 niedergeschrieben – also fast ein halbes Jahrhundert später,  (...)

Leseprobe
Horn, Eva
5/2023 | Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten

Wer heute »vier Jahreszeiten« googelt, findet entweder Vivaldi oder eine Hotelkette, schlimmstenfalls auch noch ein paar handgestrickte Gedichte oder Bildmotive mit fallenden Blättern. Jahreszeiten sind banal wie Wettergespräche, peinlich wie die Rede vom »Wonnemonat Mai«, langweilig wie alles, was so erwartbar ist wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Gelegentlich ist die Rede von untypischen Jahreszeiten, aber das ist mittlerweile so unoriginell wie der Reflex, jedes schlechte Wetter auf den Klimawandel zu schieben. Immerhin hat es der Frühling im Sommer 2022 mal in die Nachrichten geschafft. Zwei Mitglieder der italienischen »Letzten Generation« hatten sich in den Uffizien an ein Kunstwerk geklebt, das nicht besser gewählt sein konnte: Sandro Botticellis »Primavera«. (...)

Leseprobe
Kohlhaase, Wolfgang
1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt

MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen? WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt (...)

Leseprobe
Meerapfel, Jeanine
5/2023 | Eine Frau

Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerungen zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung dafür zu finden. Vielleicht geht es darum, mich so lange zu erinnern, bis ich vergessen kann.
Ich erfinde immer neue Ordnungssysteme, die ich dann wieder verwerfe. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach einer logischen Archivierung ein. Es ist, wie wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang bringt.
Andererseits birgt die Unordnung ein enormes Versprechen; sie verspricht eine Zeit, in der alles geordnet werden wird … eine zukünftige Zeit. Also bleibe ich dabei, die Erinnerungen durch eine (...)

Leseprobe
Mensching, Steffen
5/2023 | Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden

1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. Als er 1950 aus dem Exil zurückkehrte, steckte in seinem Gepäck ein Exemplar der Studie, die er in den Jahren der Emigration handschriftlich bearbeitet hatte. Die Neuausgabe war eine der Illusionen, die er sich machte, als er in der jungen DDR, dem demokratischen Deutschland, wie der Dichter gesagt (...)

Leseprobe
Nimtz-Köster, Renate
2/2024 | Tauben auf dem Arm, Tarnfleck auf den Straßen. Czernowitz im zweiten Kriegsjahr

Schon wieder Czernowitz? Ist nicht alles über diese Stadt in der ukrainischen Bukowina gesagt worden? Auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa gelegen, galt sie einst als »heimliche Hauptstadt Europas«, schwärmte noch in den neunziger Jahren der Journalist Georg Heinzen. Mit Rosensträußen, wie er poetisierte, seien die Bürgersteige gefegt worden. Und es habe mehr Buchhandlungen als Bäckereien gegeben.
Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt, es gibt zahllose Konditoreien feinster Güte, überschaubar ist hingegen die Zahl der Buchhandlungen. In deren Fenstern ist der Lesestoff eher wahllos ausgelegt. Das traditionsreiche »Literaturcafé« am Rathausplatz ist zur »Literaturbank« umgestylt worden – die Bücherwand hinter der alten Wendeltreppe (...)

Leseprobe
Nowka, Michael B.
5/2020 | Zweige verwandelt in Hände. Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers (1983 –1990)

Beschreibung eines geheimen Berufs Wir Harzer in der DDR waren Leistungslöhner. Und Langstreckengeher. Zehn bis zwanzig Kilometer pro Tag und mehr, je nach Baumdichte. Ich ging in meinen Revieren oft über feinstengliges, weiches Waldgras. Die vorjährige Schmiele war verfilzt und bildete noch grüne, kräftezehrende Luftpolster. Schützenlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg kreuzten die ausgetretenen, mit der Axt notdürftig gelichteten, kaum sichtbaren Arbeitspfade von Baum zu Baum. Fuchs- und Dachsbaue, Ameisenhaufen. Ich ging durch urwaldähnlichen Unterwuchs aus Vogelkirschen, Faulbaum, jungen Kiefern, Birken, Eichen und Robinien. Brombeerhecken und Wipfelbrüche umging ich. Herabgefallene, ins Gras eingewachsene Äste und alte, ebenfalls überwachsene Fuchsbaue waren (...)

Leseprobe
Prabala-Joslin, Avrina
3/2023 | Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum

Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn. Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn niemand  da ist und sie sich einfach an den neuen Computer setzen kann. Damals waren Computer noch eine große Neuheit und sie gehörten zu den wenigen Leuten in der ganzen Stadt, die einen zu Hause hatten. Ihr Dad ist der Präsident von irgendwas. Nicht des Landes, nicht der Stadt. Es  ist so etwas wie ein Geheimdienst, wie diese Bühnenarbeiter, die zwischen den Akten Möbel herumschieben. Blackouts. Sein Telefon klingelt ständig. Er sagt nicht »Chellaiya hier«, wenn er abhebt. Sagt nicht »Wiederhören«, wenn er auflegt. Sie findet, das sollte er. Zwei seiner Freunde sind vor kurzem gestorben. Ihre Mom ist Wissenschaftlerin. (...)

Leseprobe
Regler, Gustav
4/2023 | Paris bei Nacht

Wenn dann der Mann von Radio Française bonne nuit gesagt hat, fast wie ein braves Kind bei einer Abendgesellschaft, zu der es noch fünf Minuten zugelassen wurde,
wenn die Geisterhäuser des Sacré-Cœur, des Panthéon, der Notre-Dame und des Napoleongrabes mit einem Ruck ihr Licht abdrehen und der Horizont noch unwirklicher wird ohne die unwirklichen Fassaden,
wenn sich clochards unter oder auf den Seinebrücken ihr Lumpenbett zurechtklopfen und noch einen letzten Schluck aus der Flasche nehmen,
wenn auf dem Pont Neuf die Lieblingstaube von Henri Quatre nah bei seinem gußeisernen Herzen den Kopf in die Federn steckt,
wenn das Barmädchen Suzanne auf ihre Nase eine kleine Wolke von Puder tupft, die Flaschen wegstellt und sagt: »Il fait tard«,
dann ist Nacht (...)

Leseprobe
Röckel, Susanne
4/2023 | Drei Bilder aus Vilnius

(…)
2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind Unterhosen zum Trocknen aufgehängt. Hundegebell ist zu hören. Habe ich mich verirrt? Ich suche jemanden, der mir Auskunft geben kann, aber alles ist wie ausgestorben. Zwischen den Kiefern steht ein (...)

Leseprobe
Różycki, Tomasz
2/2023 | Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine

Ungenaue Karten, falsche Karten, verbrannte Karten. Karten, die so dicht mit Bedeutung gesättigt sind, daß sie unmöglich erklärt werden können und das Entwirren des Geflechts von Namen und Zeichen großen Schmerz bereitet. Ich tauche ein in das Dunkel und versuche, einige Winkel kurz zu erhellen. Ich beuge mich vor und sammle ein paar verkohlte Klumpen, Fetzen und Rußpartikel. Ich muß mich an die Erde schmiegen, mit dem Kopf ins hohe Gras des Bahndamms eintauchen. Ungerecht, wie überaus ungerecht sind diese Teile, diese Bruchstückchen. Nie wird man sie zu einem Ganzen fügen können, zu einem vollständigen, gerechten und objektiven Bild. Immer ist es bloß ein Bruchstück, das man retten und entziffern konnte, der Rest – wo ist der Rest? Ich weiß es nicht, noch immer hat (...)

Leseprobe
Schock, Ralph
5/2009 | Gespräch mit Christoph Hein

Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen.

RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
(...)

Leseprobe
Seiler, Lutz
2/2023 | Die Moosbrand-Geschichte

Grüne Schläfen

Woran ich mich erinnere: daß Schnee gefallen war am Abend der ersten »moosbrand«-Lesung im Spätherbst 1993. Die Adresse hieß An der Trift 5 in Wilhelmshorst. Elf Autorinnen und Autoren lasen ihre unveröffentlichten Texte und sprachen darüber, die meisten kannten sich schon aus den achtziger Jahren und waren befreundet, darunter Elke Erb, Thomas Böhme, Cornelia Saxe, Thomas Kunst, Nadja Gogolin, Jörg Schieke, Katrin Dorn, Klaus Michael. Einige kamen aus Berlin, einige waren aus Leipzig angereist – man würde übernachten, man nahm sich die Zeit.
Schon am Nachmittag, während unserer Wanderung über die Felder von Wilhelmshorst nach Langerwisch und Wildenbruch, hatte es zu schneien begonnen. Wir gingen die Chaussee nach Langerwisch hinunter; ich (...)

Leseprobe
Tawada, Yoko
3/2023 | Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang

1
Die Zeit verwandelte ein Gebäude in ein organisches Wesen. Die Zeit, die als Regen, Wind und Sonne spürbar wird, verändert die Oberfläche jedes Bauwerks. Eine Außenwand aus Beton gewinnt langsam den Charakter von altem Ziegelstein, aus der Nähe betrachtet sieht sie aus wie verstaubtes Leder oder die Haut eines Nashorns; aus den Rissen im Beton wachsen zarte strohige Pflanzen; die mit Moos bedeckten schattigen Flecken treffen genau den graugrünen Ton der Stadtnatur. Das Gebäude bekommt dadurch den Anschein, ein Teil der Gegenwart zu sein, die auf natürliche Weise gewachsen ist. Die Vernunft hat ein solches Gebäude schon längst als eine bösartige Zelle der Geschichte diagnostiziert. Lassen wir es weiter stehen, vermehren sich möglicherweise unbemerkt seine Zellen. Sie (...)

Leseprobe
Trott zu Solz, Adam von
1/2024 | Ein böser Traum. Mit einer Nachbemerkung von Benigna von Krusenstjern

(…) Nachbemerkung Adam von Trott zu Solz, der Autor dieses bisher unveröffentlichten Textes, ist, wenn überhaupt, als Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime bekannt. Ab 1939 engagierte er sich beharrlich und unter ständiger Lebensgefahr für dessen Sturz und wurde wenige Wochen nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 im Alter von fünfunddreißig Jahren hingerichtet. Von Anfang an war Trott keinerlei Kompromisse mit dem neuen Regime eingegangen und hatte dafür persönliche Nachteile in Kauf genommen. Ein ideologisch-politischer Schulungsleiter in Kassel bescheinigte dem damaligen Rechtsreferendar »Schwäche und Unfähigkeit, bei den Ereignissen des neuen Aufbruchs anzukommen«. Obwohl »in mehrerlei Hinsicht begabt, mangele es ihm grundlegend (...)

Leseprobe
Winkels, Hubert
2/2024 | Der Ziegen-Zyklus

Ich hatte es vergessen, es war verschwunden in den Falten des Gedächtnisses. Und wie so oft, wenn Abgelehntes, Abgelegtes sich zurück ins Bewußtsein drängt, hat man ein spontanes Gefühl für den ursprünglichen Grund der Verdrängung oder den nachträglichen, wie in diesem Fall. Bei einer Reise durch Jordanien konnte ich wie einst Moses vom Berg Nebo aus nicht nur das Heilige Land sehen, sondern auch Jerusalem, die Heilige Stadt, und weiter nördlich bis Jericho, den Ort selbst nicht richtig. Die biblische, heute palästinensische Stadt auf der Westbank liegt tief im Jordantal und ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, wie es heißt. Und die älteste, wie es ebenfalls heißt. Hier hatte ich mich in einen zweibeinigen Ziegenbock verwandelt, vor etlichen Jahren, als junger Student, bei (...)

Leseprobe
Wodin, Natascha
6/2023 | »Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Tanja Walenski über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit

TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde? NATASCHA WODIN: Das Schreiben kann in der Tat sehr hart sein, aber ich habe nie an einem Lebenswerk gearbeitet. Daß ich immer mit den Worten kämpfen mußte, gehörte einfach dazu, es liegt in der Natur der Sache (...)

Leseprobe