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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-64-5

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Leseprobe aus Heft 2/2022

Schlaffer, Hannelore

Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman


Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen worden. Doch gibt es Romane, Jean Pauls »Titan« etwa, Kellers »Grünen Heinrich« oder die Erzählungen Stifters, die nicht die Dramatik der großen Leidenschaft vorführen, sondern den Zauber einer erwachenden Neigung, die von Sünde kaum etwas ahnt und von Tragik nichts weiß. Während die literarisch zubereitete Leidenschaft durch starke Affekte enorme Effekte hervorbringt, äußert sich die erwachende Liebe in unscheinbaren Gesten, die im Gedächtnis des Lesers leicht wieder verblassen. Und doch sind häufig sie es, die, auch wenn sie nicht den Gang der Handlung bestimmen, der Erzählung Farbe geben und in der Erinnerung das Glück dieser Lektüren ausmachen.

Im Unterschied zur handlungsbestimmenden Leidenschaft steht für diesen Zustand der von der Pädagogik geprägte Begriff »Pubertät« zur Verfügung oder dessen poetische, durch Wedekind geprägte Version »Frühlings Erwachen«. Beide Bezeichnungen für den jugendlichen Liebesmorgen sind um die Jahrhundertwende entstanden, als Freud, Krafft-Ebing, Ricord, Charcot die Sexualität von einer Sünde zum Forschungsgegenstand erhoben. Die Leidenschaft war vom Skandal zum wissenschaftlichen Problem geworden, und damit entstand eine andere Literatur der Jugendlichkeit, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zog und ihren Niederschlag in den Internatsromanen fand, in Musils »Törleß« etwa, der den groben Sadismus erotisch erregter Pennäler darstellt, oder in Günter Grass’ witzigen Unanständigkeiten in der Novelle »Katz und Maus«.

Den Autoren dieser Werke war, im Unterschied zu ihren schüchternen Vorgängern, durch die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Pubertät bereits die Romantik abhanden gekommen, die früher solche Jugendspiele verklärte und die eben in Roman und Erzählung jene versteckten, aber so anrührenden Szenarien der Liebe vor dem Sündenfall hervorgebracht hat. Von »Daphnis und Chloe«, dem antiken Hirtenroman, bis zu Stifters »Bunten Steinen« hat sich für die ahnende und scheue Liebe ein Repertoire von Gesten entwickelt, das Furcht und Seligkeit dieses Zustands zu fassen sucht.

Nahezu zwei Jahrtausende liegen zwischen Longos’ Roman und den Erzählungen von Musil und Grass, und dennoch stehen sie sich nah. Sie gehören der Idylle an, jener Gattung, die den Menschen in einem der Natur nahen Zustand und in einer zeitlich wie räumlich geschlossenen, befriedeten Umgebung vorführt. Der Hirtenknabe und die Hirtin der Antike sind solche idyllischen Charaktere, was man von den Figuren der modernen Erzähler nicht behaupten kann – und doch: Sie sind deren letzte Version, denn sie führen die Zerstörung des Idylls vor. Die Figuren beider Werke befinden sich in eben dem Lebensalter wie Figuren dieser Gattung immer. Sie kennen die Normen der Gesellschaft nicht genau, und auch sie leben, wie die Bewohner der Idylle, für eine begrenzte Zeit in einem geschlossenen Revier, dem Internat. Dieses allerdings ist als Ort strengster Erziehung das Paradox der Idylle, ein idyllisches Gefängnis. Das Erwachen der Liebe, die hier, dem aufgeklärten Jahrhundert und seiner Wissenschaft entsprechend, als Sexualität zu bezeichnen ist, führt die von dieser Erfahrung überraschten Jugendlichen ebenso in Verwirrung wie das Hirtenpaar des Longos. Die weitgespannte Geschichte der sündelosen Liebe also führt aus dem bukolischen Milieu der Antike ins Internat der Moderne, aus dem unschuldigen Spiel der Naturkinder zur verstörten Psyche moderner Jugendlicher. Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht sich am Anfang ihrer literarischen Darstellung als tapsende Erfahrung, an ihrem Ende als Teil einer Erziehung, die sie stört und verstört, sie wird von der Wiese in eine geschlossene Anstalt verlegt, immer aber schildert sie eine Initiation.

Zwischen diesen Polen, Entstehung und Ende einer erotischen Gattung, sind in der Roman- und Erzählliteratur zahlreiche Szenen versteckt, die das in der Antike begründete Schema der Idylle nutzen und variieren. Es lohnt, mit Daphnis’ und Chloes Liebe beginnend, sich der Mittel zu erinnern, mit denen jene dem Leser so wohlgefälligen Einschübe, diese Paradiese im Roman, hergestellt werden.

Naivität ist der wesentliche Zug, den der Autor seinen Figuren verleiht, sobald er das Frühlingserlebnis der Liebe darstellt. In Erscheinung tritt die kindliche Unschuld gerade dadurch, daß die Sinne rege werden, was der Leser bemerkt, was Knabe und Mädchen selbst aber kaum wahrnehmen und gar nicht verstehen. Nachdem Chloe Daphnis, den Knaben, im Bade nackt gesehen hat, nachdem also das Kleid, Symbol der Sitte, abgelegt und der Mensch in seiner natürlichen Gestalt vor Chloes Blick erschienen ist, setzt für sie ein Zustand ein, der sie überrascht. Jede Begegnung versetzt von nun an das Paar in selig-unselige Verwirrung: »Als aber der Tag wieder heraufkam, litten sie wieder wie zuvor. Sie waren selig, wenn sie sich sahen, und trauerten, sooft sie voneinander gehen mußten. Sie litten und sehnten sich nach etwas, wußten aber nicht, wonach sie sich sehnten. Nur so viel wußten sie, daß für ihn der Kuß, für sie das Bad der Anfang des Unheils gewesen war.«

Zum Kuß war es zwischen den beiden Paaren, die Jean Paul im »Titan« zu einer der schönsten Szenen jugendlicher Liebesahnung zusammenführt, nicht gekommen, doch führt auch hier die Begegnung von Albano und Liane, von Rabette und Roquairol zu geheimer Verwirrung in den Gemütern aller vier Freunde. Der Autor situiert die Gruppe, dem Modell der Idylle gehorchend, »tief in den dreifachen Blüten der Jugend, der Natur und der Zukunft«, dort also, wo sie »den weitesten Himmel in sich trug, den die Menschenbrust umspannen kann«.

Im Jahrhundert der sexuellen Aufklärung ist es leicht zu erkennen, woher diese schöne Verwirrung rührt, aus der quasi-idyllischen Unschuld nämlich, in der die Erziehung damals den Zögling noch zu halten suchte. Man braucht dazu nicht aus Jean Pauls Erziehungsbuch »Levana«, seiner Antwort auf Rousseaus »Émile«, zu zitieren, um zu wissen, daß »Mädchen, wie Perlen und Pfauen« sind, und man sie »schätzt (…) nach keiner andern Farbe als der weißesten«. Verwirrung war das Resultat einer sexuellen Nicht-Erziehung, einer Erziehung zur Unwissenheit, die Mädchen vor allem, aber auch Jünglingen in jenen Zeiten angetan wurde. Die Jungfrau sei, so Jean Paul in der »Levana«, »ein von der Gegenwart eng umkettetes Gemüte«, womit er die strenge Erziehung zur sogenannten Unschuld meint, vor dem ein Jüngling »auf einmal Glück und Freiheit weit ausbreitet«. Der Geliebte überrasche nun als der, »der alle Träume verkörpert, die bisher die uneigennützige Seele in Sterne, in Frühlinge, in Freundinnen und kindliche Pflichten eingekleidet hatte«. Diese »kräftig und rein erzogene Jungfrau ist eine so poetische Blume der matten Welt«, daß sie gehütet werden muß.

Aber auch für den Jüngling setzt ein Zustand ein, der zum ersten Mal jenseits aller bürgerlichen Erziehung seine Entscheidung herausfordert. Für ihn ist die Liebe die erste Entdeckungsreise, die er unternimmt. Die Selbsterforschung des ahnungslosen Knaben, an deren Ende die Selbsterkenntnis als erotisches Subjekt steht, nimmt, wie jegliche Entdeckungsreise, den Umweg über viele Irrwege. Jean Paul weiß diese Antriebe, die Ziel und Zweck noch nicht gefunden haben, in Szenen eines Quidproquo zu fassen, wobei die Verwirrung der Herzen nicht mehr ausdrücklich eingestanden werden muß, sondern gestisch dargestellt und durch geradezu tänzerische Fehltritte der Paare angedeutet werden kann.

(…)

SINN UND FORM 2/2022, S. 238-247, hier S. 238-240