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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-56-0

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Leseprobe aus Heft 6/2020

Stoffels, Hans

Aus dem Archiv der Akademie der Künste
»Die vielen ungelebten Leben«
Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74


Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von somatischer und psychologischer Medizin« hin. Der Vortragende war Wilhelm Kütemeyer (1904 – 1972), ein Schüler des Mitbegründers der psychosomatischen Medizin in Deutschland Viktor von Weizsäcker. Die kasuistisch gehaltenen Vorlesungen elektrisierten mich, und Kütemeyer selbst war ein Faszinosum. Seine Thesen waren radikal: Jede Krankheit, auch die schweren körperlichen Krankheiten, sind psychosomatisch; die Organkrankheit ist Stellvertreter eines ungelösten Konflikts; der therapeutische Umgang von Arzt und Patient muß eine gemeinsame Widerstandsbewegung sein. Ich erfuhr, daß Kütemeyer zunächst Übersetzer und Schriftsteller gewesen war und schon vor 1933 aktiv gegen die Nazis gekämpft hatte. Den Beginn seines Medizinstudiums 1939 bezeichnete er als eine Form innerer Emigration. Nach 1945 gehörte er zur »Gesellschaft Imshausen«, einer Gruppe von Publizisten, Professoren und Politikern, die aus dem Geist der Widerstandsbewegung eine Erneuerung Deutschlands anstrebten.
Anstatt das geregelte Studium Semester für Semester fortzusetzen, stürzte ich mich in das Studium der psychosomatischen Medizin, ihrer Geschichte, ihrer Theorien und Kontroversen. Gleichzeitig engagierte ich mich in Seminaren der von Studenten gegründeten »Kritischen Universität«, wo sich eine Fülle von Stoff bot für radikale Thesen und Theorien, für Empörung und Aufbegehren, für die Forderung nach einer neuen Medizin. In dieser Zeit konsultierte ich immer häufiger Kütemeyer in seiner Praxis, um das Gleichgewicht zwischen öffentlicher Aktion und innerseelischer Stabilität zu wahren.
Zunehmend kam bei mir die Sorge auf, ich könne in eine Außenseiterposition geraten und mich immer weiter von der anerkannten Wissenschaft entfernen. Seinerzeit kämpfte die universitäre Psychosomatik um ihre wissenschaftliche Anerkennung. Die Weizsäcker-Schule galt als spekulativ, manch einer hätte sie lieber bei den Geisteswissenschaften angesiedelt. War ich in Gefahr, einem Irrglauben anzuhängen oder gar in eine sektiererische Verengung zu geraten? In dieser Bedrängnis las ich Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«. Ich las das Buch mit ganz anderen Augen als die damaligen Rezensenten in Ost und West. Ich las den Roman als Darstellung einer psychosomatischen Krankengeschichte und erlebte die Lektüre gleichsam als Befreiung, denn mir schien, daß sich hier das neue psychosomatische Krankheitsverständnis Bahn brach.
»Nachdenken über Christa T.« erschien 1969 und begründete Christa Wolfs Weltruhm. Der Roman wurde in viele Sprachen übersetzt und führte lange die Bestsellerlisten an. Aber das bereits 1967 fertiggestellte Manuskript konnte in der DDR zunächst nicht erscheinen. Christa Wolf wurde der Vorwurf gemacht, mit ihrem Buch dem politischen Gegner in die Hände zu arbeiten. Sie übe Verrat an ihren eigenen Idealen und hämische West-Rezensenten lägen bereits auf der Lauer, um nachzuweisen, daß Christa T. nicht an einer Leukämie, sondern an der DDR-Gesellschaft gestorben sei. Das Buch war zu einem Politikum geworden, die Debatten gingen noch jahrelang weiter.
Im Rückblick auf die Zeit vor der Publikation sprach Christa Wolf von einem »Wirbel von Beschuldigungen, Selbstverteidigung, Abwehr, Beteuerung, Verschleierung, Gewissenserforschung, Selbstverleugnung, Lüge und Verschweigen«. Sie sei, schrieb sie an Brigitte Reimann, inzwischen bereit, von einem »Unglücksbuch« zu sprechen. Reimann hatte ihre Freundin in einem Brief vom 29. Januar 1969 mit den Worten gewarnt: »Halt Dein Herz fest; Du weißt ja, was Dich erwartet. Man hört schon allerlei von gewetzten Messern …«, worauf diese am 5. Februar antwortete: »Das Erlebnis ›Die Hände weggeschlagen‹ ist eines meiner Grunderlebnisse der letzten Jahre, sozusagen das Letzte, was ich je als Erfahrung erwartet hätte.«
Inzwischen gab es in der DDR erste Rezensionen (unter anderem in Sinn und Form 1 / 1969), aber das Buch war immer noch nicht erschienen. Zunächst wurde der Verleger genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen, Selbstkritik zu üben und der Autorin zu bescheinigen, daß sie in einer pessimistischen Grundstimmung verharre und keine Distanz zu ihrer Protagonistin finde. Schließlich wurde »Nachdenken über Christa T.« in einer Erstauflage von wenigen tausend Exemplaren ausgeliefert. Nach zwei Jahren wurden weitere Auflagen genehmigt, und bis 1989 wurde der Roman mit 250 000 verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Buch der DDR.
Als ich 1971 – damals vierundzwanzig Jahre alt, das medizinische Staatsexamen lag noch in weiter Ferne – Christa Wolf einen Leserbrief schrieb, spielte die politische Auseinandersetzung um diesen Roman keine Rolle. Ich wollte ihr berichten, daß ich das Buch als Krankengeschichte gelesen hatte, als Bestätigung des neuen psychosomatischen Krankheitsverständnisses. Zu meiner größten Überraschung erhielt ich eine Antwort. Kein Zweifel, Christa Wolf war an medizinisch-psychosomatischen Fragestellungen und Forschungen außerordentlich interessiert, auch an der Schule Viktor von Weizsäckers. Später erfuhr ich, daß sie sich auch mit anderen Wissenschaftsgebieten wie der Genetik beschäftigte und von der Literatur erwartete, sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Bücher sollen, schrieb sie später, den Mut zu radikalen Fragestellungen fördern und zu einer differenzierten Darstellung eigener Erfahrungen anregen. Ich schickte Christa Wolf Manuskripte, Textentwürfe und Publikationen aus dem Umkreis der psychosomatisch-anthropologischen Medizin, auch die Reflexionen eines Carcinomkranken, der sich bei Kütemeyer in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte.
Als Christa Wolf im Herbst 1974 mit ihrem Mann Gerhard zur Buchmesse nach Frankfurt kam, unternahm sie auch einen Abstecher nach Heidelberg, um den leserbriefschreibenden Medizinstudenten in Augenschein zu nehmen und ihn in seiner Studentenwohnung zu befragen. Es entwickelte sich eine lebenslange Beziehung. In den folgenden Jahrzehnten kam es wiederholt zu persönlichen Begegnungen, wenngleich der Briefwechsel allmählich spärlicher wurde.
Das Thema des verborgenen Zusammenhangs von Krankheit und Selbstverwirklichung hat Christa Wolf nicht mehr losgelassen. 1991 sprach sie auf der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft über »Krebs und Gesellschaft« und erinnerte sich ihrer Romanfigur Christa T. Elf Jahre später publizierte sie die Erzählung »Leibhaftig«. Darin geht es um die Erinnerungen einer Frau, die wegen einer schweren Sepsis tagelang auf einer Intensivstation behandelt werden muß. Die Kranke spricht von sich in der ersten und in der dritten Person und fragt: »Warum ist ihr Immunsystem zusammengebrochen? Vielleicht, Herr Professor, weil es ersatzweise den Zusammenbruch übernommen hat, den die Person sich nicht gestattete.«
Zuletzt begegnete ich Christa Wolf am 28. Oktober 2010 – ein Jahr vor ihrem Tod. Ich hatte sie anläßlich der 16. Jahrestagung der »Viktor von Weizsäcker Gesellschaft« zu einer Lesung nach Berlin-Charlottenburg eingeladen. Das Thema der Tagung lautete »Ereignis und Erlebnis«. Der Vortragsraum vermochte die Zuhörer kaum zu fassen, und Christa Wolf las aus ihrem gerade erschienenen Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. Alle lauschten gebannt, wanderten mit der Autorin durch die Stadt der Engel, begegneten Thomas Mann und Bertolt Brecht und betrachteten von allen Seiten den »Overcoat of Dr. Freud«.
Nach der Lesung schickte ich Christa Wolf einige Fotos zu, wofür sie sich sogleich bedankte: Die Fotos gefielen ihr, »weil sie lebendig sind«.
Hans Stoffels

SINN UND FORM 6/2020, S. 725-750, hier S. 725-727