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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-55-3

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Leseprobe aus Heft 5/2020

Breisky, Arthur

Harlekin - kosmischer Clown.
Eine Einführung in das Leben der Dichter


Der verschollene Arthur Breisky. Eine Vorbemerkung

Amerika war für den jungen Franz Kafka ein verlockendes Ziel. Reiseberichte und Erzählungen von Verwandten, die dorthin gereist oder gar ausgewandert waren, regten seine Phantasie an. Schon in jungen Jahren versuchte er sich an einer Erzählung, die in Amerika spielen sollte: »Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. (…) In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses beschrieben, vor allem seine Stille und Kälte; über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil es der gute Bruder war.« (Tagebuch, 19. November 1911)

Über die in der Eintragung erwähnten Zeilen gelangte der Text wohl nie hinaus, zumal ein Onkel, in dessen Gegenwart Kafka daran geschrieben hatte, sie gnadenlos verriß. Amerika als literarischen Ort gab er allerdings nicht auf. In den Wintermonaten 1911/12 unternahm er einen weiteren Anlauf zu einem Amerika-Roman. Es entstanden »etwa 200 [Seiten] einer gänzlich unbrauchbaren (…) Fassung der Geschichte«, berichtet er Felice Bauer am 9. / 10. März 1913. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er bereits seit einem halben Jahr an einer neuen Version, von der er seiner Briefpartnerin am 11. November 1912 erzählt hatte: »Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben ›Der Verschollene‹ und handelt ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Vorläufig sind 5 Kapitel fertig, das 6te fast. Die einzelnen Kapitel heißen: I Der Heizer II Der Onkel III Ein Landhaus bei New York IV Der Marsch nach Ramses V Im Hotel occidental VI Der Fall Robinson. – Ich habe diese Titel genannt als ob man sich etwas dabei vorstellen könnte, das geht natürlich nicht, aber ich will die Titel solange bei Ihnen aufheben, bis es möglich sein wird.«

Es gibt zahlreiche Studien zu den Quellen für die Romanhandlung. Fest steht, daß Kafka vieles verwendet und verwoben hat, und möglicherweise geht auch der rätselhafte, in manche Sprachen kaum zu übersetzende Titel »Der Verschollene« auf Berichte von realen Ereignissen zurück, von denen er erfahren hat.

Gegen Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts war der Romanautor, Übersetzer und Literaturkritiker Arthur Breisky eine auffällige Erscheinung im kulturellen Leben Böhmens: Aus bescheidenen Verhältnissen kommend, pflegte er den Gestus des aristokratischen Dandys. Am 14. Mai 1885 in Roudnice nad Labem geboren, in Prag und Louny aufgewachsen, verdiente er seinen Lebensunterhalt als Zollbeamter in Teplice und Děčín. Seine eigentliche Berufung sah er allerdings in der Literatur. Neben seiner Muttersprache Tschechisch beherrschte er Deutsch und Englisch fließend, übersetzte aus beiden Sprachen und gehörte ab 1908 zum Mitarbeiterkreis der »Moderní revue«, der wohl wichtigsten tschechischen literarischen Zeitschrift jener Zeit. Dort erschienen nicht nur seine Literaturkritiken, sondern 1909 auch seine Essays »Quintessence dandysmu« und »Harlekýn – Kosmický clown«. Kafka und sein Freund Max Brod gehörten zu den Lesern dieser Zeitschrift, vor allem Brod pflegte Kontakte zu Mitarbeitern. Es gibt zwar keinen Hinweis darauf, daß Kafka Breisky jemals persönlich begegnet ist, aber zumindest seine Texte waren ihm wahrscheinlich bekannt – und auch von seinem Schicksal dürfte er erfahren haben: Das kostspielige Wochenendleben, das Breisky als Dandy in Prag und Dresden führte, überstieg bei weitem seine finanziellen Möglichkeiten. Hochverschuldet floh er im Mai 1910 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die Vereinigten Staaten, wo er einen Monat später zu Tode kam.

In einem Brief an Rudolf Breisky vom 19. November 1910 berichtet František Francl aus Amerika, was er über die Todesumstände des Bruders Arthur herausgefunden hat. Demnach hatte Breisky in seiner Geldnot in einem deutschen Krankenhaus in New York eine Stelle als Liftboy angenommen und war dort am 10. Juli 1910 tödlich verunglückt. Der Direktor des Krankenhauses habe gesagt, es sei Breiskys eigene Schuld gewesen, er habe beide Türen offengelassen, die zum Treppenhaus und die zum Lift. Es sei während der Nacht geschehen, der Kopf sei bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert worden. Auf diese Informationen stützt sich offenbar auch Eugen Nozar in einem Nachruf, der am 18. Februar 1911 erschien und in dem er schreibt: »Er starb paradox: Beamter und tschechischer Schriftsteller – zerquetscht von einem Aufzug in einer deutschen pathologischen Einrichtung am zweiten Tag nach Antritt seines Dienstes.«

Nicht zuletzt wegen seines Hangs zur Selbstmystifikation gaben die obskuren Umstände von Breiskys Tod schon bald Anlaß zu Spekulationen. Es wurde vermutet, er habe seinen Tod mit einer aus der Pathologie entwendeten Leiche inszeniert und lebe unter neuer Identität. Bis in die dreißiger Jahre erschienen Berichte, man habe ihn in Afrika oder Amerika gesehen; Ivan Růžička spekulierte 1964 in »Kulturní tvorba« gar, hinter dem mysteriösen Autor B. Traven, der in Mexiko lebte und auf Deutsch schrieb, verberge sich kein anderer als Breisky: Rückwärts gelesen stehe B. Traven für NEW ART(hur) B(reisky).

Von den 1911 in Prag kursierenden Informationen und Spekulationen, die um die Begriffe »Liftunfall« und »verschollen« kreisten, läßt sich indes eine Linie zu Kafkas in New York und Umgebung beginnendem Roman »Der Verschollene« ziehen. Dessen Protagonist Karl Roßmann wird im Kapitel »Im Hotel occidental« eine Stelle als Liftboy angeboten: »›Liftjunge möchte ich ganz gerne sein‹, sagte Karl nach einer kleinen Pause. (…) ›Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?‹ fragte er noch. ›Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.‹«

Anders als Arthur Breisky hat Karl Roßmann sein Englisch allerdings »erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt«. Gegen die strenge »Aufzugsordnung« verstößt aber auch er, und die Mißachtung von Dienstvorschriften führt schließlich zu seiner Entlassung  und weiterem sozialen Abstieg. Karl Roßmanns Spur in Amerika verliert sich in einem Eisenbahnzug des »Teaters von Oklahama«. Ob er sein Ziel je erreicht, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob es tatsächlich Breisky war, der im Schacht eines Krankenhauslifts zu Tode stürzte. Beide bleiben verschollen in Amerika.

Hans-Gerd Koch

SINN UND FORM 5/2020, S. 689-690