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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-50-8

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Leseprobe aus Heft 6/2019

Kunert, Günter

Aus dem Big Book


3.6.17 Heute nacht habe ich den Brief einer Frau bekommen, wußte aber nicht, wer mir das geschrieben hatte. Auch war der Brief gedruckt, eine endlose Epistel, wie alle Texte, die ich erträume, dazu wie immer die vorlesende Stimme. Ein sehnsuchtsvolles Schreiben, Aufforderung, sie zu besuchen, und ob ich mich denn nicht mehr an sie erinnere? Waren die Sätze anfänglich noch zurückhaltend, platonisch, romantisch, so wurden sie mit jedem Wort leiblicher, ja, sexueller, bis zu vulgären Einladungen, ein Panorama körperlicher Angebote präsentierend. Und ebenfalls wie immer schwand langsam die Lesbarkeit, die Schrift verwischte sich, die Stimme wurde undeutlich, und ich drehte mich auf die andere Seite, um meine Ruhe vor derartigen Unzüchtigkeiten zu haben.

Eine lähmende Hilflosigkeit vor dem Weltgeschehen: Kriege, Aufstände, Hungersnöte, Zerstörungen, Korruption, eine Sintflut von Katastrophen aller Art findet man jeden Morgen vor der Haustür. Man resigniert. Der Glaube an eine positive Veränderbarkeit des alltäglichen Unheils, Rettung mit dem Anwachsen der Gefahr von erkennbaren und noch unbekannten Bedrohungen – der ist längst erloschen. Melancholisch denkt man an die schlechte, gute Zeit nach dem Kriege, als ein Aufbruch in eine wirklich neue Zeit denkbar schien und junge Leute, wie auch ich einer war, von Visionen und Phantasmen lebten, obschon das Brot knapp war oder vielleicht gerade deswegen. Wozu noch die Reflexionen, diese vergeblichen »Lageberichte«, alles Klagen und in Sätze gefaßtes Gejammer, wo doch die Sinnlosigkeit derartiger Unternehmen auf der Hand liegt. Man kann es nicht lassen, trotz besserer Einsicht. Ein Beichten im »stillen Kämmerlein «, ähnlich wie in jenem Märchen, da das kleine Mädchen seine Sorgen und Nöte in den Ofen spricht und von einem versteckten Prinzen gehört wird. Die Situation ist die gleiche, bloß der Prinz Publikum fehlt. Der amüsiert sich bei Fußballspielen, Radauveranstaltungen, dem Massenwahn hingegeben, und hat keine Zeit und keine Lust, sich um Wichtigeres zu kümmern. Vor langer Zeit, die mir wie die sprichwörtlich »kleine Ewigkeit« vorkommt, hatte ich ein Buch mit dem leichtfertigen Titel warum schreiben? veröffentlicht, der schon auf die Antwort »zwecks Selbsttherapie« hindeutete. Eine Frage, die selber immer fragwürdiger geworden ist und schließlich bei Kurt Tucholskys Definition endet. Es ist eine Treppe, schrieb er, es sind drei Stufen: schreiben, reden, schweigen. Soweit das Resümee eines Autors, das die Kapitulation vor dem unaufhaltsamen Geschehen in der Welt signalisiert. Es demonstriert die Vergeblichkeit der Vernunft, deren Widerstandskraft, worauf Brecht noch setzte, inzwischen fast vergangen erscheint.

Auch der Terror ist eine moderne Erscheinung und ähnelt in nichts dem eindeutig politischen Terror, den die nazistischen Schlägerbanden vor 1933 in Deutschland, vor allem in Berlin, ausübten: deren Zielsetzung war klar: die Machtübernahme. Der islamische Terror ist weitaus diffuser, denn von Machtübernahme in einem europäischen Land kann keine Rede sein. Zweck ist die Störung des gängigen Bewußtseins vom Geschütztsein durch den bürgerlichen Rechtsstaat; die Verstörung der Bürger, ihre Verunsicherung. Und die Erzeugung von Mißtrauen gegenüber den islamischen Mitbürgern. Diese sogenannte Spaltung der Gesellschaft soll verhindert werden, was einem Sisyphosunternehmen ähnelt. Die Versuche werden immer aufs neue durch den abwertenden Begriff »Gutmenschentum « gekennzeichnet, aber was unter der Oberfläche der Gesellschaft tatsächlich schwelt, an Haß, Vorurteil, Fremdenfeindlichkeit, Ausländerantipathie, wissen wir gar nicht und ebenso wissen (und ahnen) wir nicht, ob und was sich insgeheim zusammenbraut. Ob da nicht schon in manchen Kämmerlein die Messer gewetzt werden? Solange die wirtschaftliche Situation einigermaßen stabil bleibt, bleibt auch der Terror wider den Terror aus. Aber wehe, wehe, es geht abwärts und wir nähern uns den Zuständen, wie 1933 gehabt. Dann öffnet sich das Tor zur Hölle. Wir Zukunftsblinden hoffen nur, daß es soweit nie kommt …

Polizisten nahmen die Verbrechensbekämpfung in die eigene, gewaltbereite Hand, um der Kriminalität ein für allemal Herr zu werden. Die schlugen Kriminelle einfach tot, folterten sie zu Tode, brachen ihnen die Finger, die Arme und Beine, zermarterten sie, stachen ihnen die Augen aus, ja, sie ließen keine grausige Art der »Bestrafung« aus. Zum Glück geschah dies alles heute nacht nicht in der Realität, doch in meinem Traum. In diesem las ich davon, Zeile um Zeile, und sah auch nur sehr schattenhaft das blutige Geschehen, das durch seine »Verschriftung« mir Schlafendem erträglich war. Ich nahm mir jedoch vor, künftig solche unerbetenen Träume abzubestellen und etwas Freundliches zu erbitten. Weiß nur nicht, an welche Institution ich mich wenden sollte.

 

18.6.17 In der Provence im Tal der Vézère herumspaziert. Große Einsamkeit ringsum. Nach längerem Wandern mitten im Irgendwo eine Kapelle, grauer Stein, gotisch, über der verschlossenen und verriegelten Eingangstür eine Baubo: jene Frauenfigur, die mit gespreizten Schenkeln dasitzt, ihre Vagina präsentierend, um den Teufel abzuschrecken. (Später zu Hause besorgte ich mir ein Buch über Herkunft und Verbreitung des Abwehrzaubers.) Wenige Schritte von der Kapelle entfernt in den Fels geschlagene Höhlungen, länglich, flach, Fächer zur Aufnahme von Toten, gewißlich älter als die Kapelle davor, durch kein Schild, durch keinen Hinweis Auskunft oder Aufklärung über Datum und Zeit der Benutzung gebend. Ein verwunschener Ort von großer Anziehungskraft. Wie eine Vorstufe zum Jenseits, einladend und unheimlich. Auf meine Fragen nach der Heimkehr konnte mir niemand etwas über diese einsame Stelle in dem verwilderten Wald Aufklärendes mitteilen, was ich jedoch nicht bedauerlich fand, denn just das Unwissen über solche Orte, das Verwunschene, das davon ausgeht, macht ja ihren Zauber aus. Abseits der öffentlichen Wege fand ich, der einsame Wanderer, hin und wieder und da und dort derartige steingewordene Rätsel, mal in England, mal in Frankreich oder Italien, auf Malta und selbst in meiner engeren Heimat. Es waren Anlässe für die Phantasie, für die Imagination, verbunden mit dem Empfinden, einer fernen Vergangenheit verbunden zu sein, eine Nähe zu spüren, von der sich nicht genau sagen ließ, worin sie denn eigentlich bestand.

 

24.6.17 Heute nacht sollte ich mich vor der Partei rechtfertigen. Eine finstere Reminiszenz an ein wirklich-unwirkliches Geschehen. Einstmals saß ich vor der Parteileitung des Schriftstellerverbandes und sollte meine ideologischen Verfehlungen gestehen. So ausgeliefert armseligen Tröpfen, die ohne das System nicht und nichts gewesen wären, redete ich mich heraus, was aber die Inquisitoren wenig befriedigte. Später zu Hause trank ich eine Flasche Calvados zwecks Sedierung und schlief traumlos, doch der entsprechende, damals verpaßte Traum kehrte nun doch zu mir zurück. Ich wachte mißgelaunt auf, in Erinnerung an die nicht nur für mich, sondern auch für die Anwesenden unwürdige Szene. Hinter dem allen zeigte sich eine eifernde, um Hunderte von Jahren verspätete Religiosität, die sich ihrer selbst nicht sicher ist. Mit dem Verschwinden ihres Staats traten auch diese Personen von der Bühne ab, über den Verlust ihrer Rollen klagend.

Niemand kommt mehr um, keiner stirbt oder erleidet einen tödlichen Unfall. Keiner verliert sein Leben, keiner ertrinkt oder stürzt mit dem Flugzeug ab, weil, immer wieder wiederkehrenden Pressemeldungen zu Folge, nur noch eine einzige Art und Weise des Daseinsendes Gültigkeit hat: die Betroffenen werden »in den Tod gerissen«. Diese martialische und brutale Methode soll vermutlich die Dramatik des Lebensendes anzeigen. Es hat aber seine schockierende Wirkung eingebüßt, weil es zur Standardformel geworden ist und damit auch seine Bildhaftigkeit verloren hat. Da immerzu jemand in den Tod »gerissen« wird, fragt sich der Leser irgendwann, welche numinose Macht dieses »Reißen« eigentlich bewerkstelligt? Es muß doch etwas Personales hinter dem Kraftakt stekken, eine geheime oder unheimliche Macht, deren Aktivität uns verborgen ist. Verständlich war noch die altertümliche Redewendung, daß der Tod jemanden aus dem Leben riß, weil die seit dem Mittelalter weitverbreitete Darstellung von Totentänzen als Illustration des Vorganges die Sache anschaulich machte. Diese Bebilderung ist annulliert, ungültig, wird nicht mehr gebraucht – nur das Reißen hat sich erhalten, der gewalttätige Akt, dem aber der Akteur verlorenging. So entstand eine leere Phrase, deren billige Rekapitulation dem Opfer den letzten Anschein eines individuellen Endes versagt.

SINN UND FORM 6/2019, S. 725-736, hier 725-728