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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-48-5

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Leseprobe aus Heft 4/2019

Schmidt, Kathrin

Gesucht: Zeitgeist_in (m/w/d)


Ich bin Psychologin von Beruf und habe die erste Phase meines Berufslebens als solche verbracht, habe in Kinderheimen und Polikliniken der DDR Dienst getan. Wenn das Wort »Heimerziehung« fällt, denkt man heutzutage sofort an jene der DDR, meinetwegen auch an Wochenkrippen, an Jugendwerkhöfe und dort herrschende Mißbrauchsverhältnisse, nicht nur sexueller Art. Daß aber der Zeitgeist auch in Kinderheimen des Westens lange Zeit auf repressive Erziehungsformen setzte, daß es dort länger als im Osten auch in der Schule die Prügelstrafe gab, daß der Zeitgeist mit schwarzer Pädagogik auch dort sein Unwesen trieb, vergißt sich leicht. Da ich nicht davon ausgehen kann, daß ausgesuchte Sadisten den Erzieherberuf wählten, nehme ich an, daß, geschützt vom Zeitgeist, viele der Protagonisten in Ost und West meinten, das Richtige zu tun, die Kinder auf ein pflichtbewußtes Leben vorzubereiten, ihnen Flausen und unnötige Gefühle auszutreiben, wenn sie auf Repression setzten. Der Zeitgeist schaut aus seinem Winkelchen und macht das Geschehene weder besser noch entschuldbar, aber daß er eine Größe ist, die jedem Menschen ins Handwerk pfuschen kann – kann man das einfach bestreiten?

Auch ich habe meine Tochter im zarten Alter von zehn Wochen einer DDR-Krippe überantwortet. Ich war Studentin im dritten Studienjahr und machte es nicht nur so, wie man es von mir erwartete, sondern so, wie es alle anderen auch taten. Wir waren um die dreißig Studenten und hatten am Ende des Studiums an die vierzig Kinder. Die Anschauung war da. Meine Tochter nahm das sehr übel, antwortete mit mehreren Lungenentzündungen in den ersten beiden Lebensjahren, die man allerdings eher auf das berüchtigte Jenaer Kesselklima schob als auf die Krippe. Auch da machte ich mit. Ich wußte und konnte es damals nicht besser. Es hat keinen Zweck, mich dafür zu ent-schuldigen, denn das hieße im Wortsinne, mir selbst die Schuld abzunehmen. Auch meine Tochter kann ich nicht um Entschuldigung bitten, denn das bedeutete, daß ich sie aufforderte, die Schuld von mir abzustreifen. Ich möchte ihr nichts zumuten, was sie gar nicht kann. Es bleibt mir nichts als zu bereuen, daß ich so handelte, und das tut weh. Damit lebe ich.

Sie ahnen vielleicht schon, wohin mich mein Denken wedelt, indem ich das angenommen Große, in vermeintlichem Konsens Ausgehandelte in meine eigenen kleinen Verhältnisse, soziale Herkunft in persönliche Erfahrungen übersetze: Ich kann den Zeitgeist nicht mehr außer acht lassen, der mich oft genug auf sich selbst verweist, wenn ich Vergleiche zwischen dem Aufwachsen meiner Kinder und dem meiner Kindeskinder anstelle und die sozialen Verhältnisse berücksichtige.

In einer Zeit, da solcherart Vorgehen nicht en vogue ist, einer Zeit also, in der Ich zu sagen nicht unbedingt das Wir nach sich zieht und die Geschichte bzw. soziale Herkunft eines Menschen vorsorglich ausgeblendet bleibt, kann es wichtig sein, an verstörende Vorgänge in demokratischen Gesellschaften zu erinnern, die es in sich haben.

Wir haben die Gelbwesten in Frankreich, die Pegida-Aufzüge in Dresden oder namensverwandte Spaziergänge in anderen Städten Deutschlands vor Augen. Mir scheint, daß das erlebte Wir-Gefühl nach solchen Demonstrationen in ein um so stärkeres Ich mündet. Ein Phänomen, das wohl neu ist und unter den Bedingungen des vergangenen Jahrhunderts so nicht zu haben war. Das Ich war nichts. Im Faschismus war es das Volksganze, der große, gesunde Volkskörper, in dem man sich unkenntlich machen und mitlaufen oder Verbrechen begehen konnte. Im sogenannten Sozialismus war es das Kollektiv, dem sich Einzelinteressen unterzuordnen hatten und das in der DDR so kleinbürgerlich daherkam, daß es kein Verbrechen schien, sich ihm zu fügen, dafür aber vermeintlich individuellen Schmuck am Balkon der Neubauwohnung anzubringen, der aus irgendwo ergatterten Wagenrädern mit dicken Holzspeichen oder abenteuerlichen Kreationen aus dem Holz alter Bierkisten bestand.

Heute protestieren viele Ichs gemeinsam gegen die »Eliten«, derer sie sich entledigen wollen. Dabei fällt auf, daß der Elitebegriff keineswegs vor allem die besonders Reichen, die besonders Prominenten, die Stars und Sternchen meint, sondern sich auf den Begriff der Macht fokussiert. Das können, je nach Hierarchiestufe, von oben nach unten Politiker auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene sein, aber es sind vor allem auch Menschen mit einer gewissen Bildung, die es ihnen gestattet, nun in Ämtern, Jobcentern oder Arbeitsagenturen sogenannten Kunden gegenüberzusitzen. Ihre Empathie hält sich oft in engen Grenzen, wie Fallschilderungen beweisen, und ihre Arbeitssituation ist womöglich ebenfalls bedroht, wenn sie nicht die geforderte Anzahl von »Kunden« abfertigen, Sanktionen verhängen und unnahbar erscheinen, um die Gespräche kurz halten zu können. Zur sogenannten Elite können Lehrer gehören, die nichts wissen oder nichts wissen wollen von der häuslichen Lebenssituation von Schülern und auch aufgrund zeitlicher und fachlicher Überlastung versuchen müssen, sie als Kinderkunden zu sehen, denen sie Wissen zu vermitteln haben, wofür sie bezahlt werden. Das ist kein Rundumschlag gegen Lehrer, sondern ein Hinweis auf ihre Situation, in der sie sich so oder so verhalten können oder müssen, was natürlich auch von der Motivation ihrer Studienwahl oder ihrer individuellen Belastbarkeit abhängt. Zu dieser Elite gehören auch Ärzte, die im Schnellverfahren urteilen (müssen) und die mit dem Ausstellen eines Rezeptes oder regelmäßigen Labortests einen Kundenstamm bei Laune halten, der ihnen das Auskommen sichert. Ich selbst trage seit vielen Jahren einen Herzschrittmacher und werde zu regelmäßigen Kontrollen in ein Berlin-Hellersdorfer Herzzentrum eingeladen. Sowohl der Name als auch Personalausstattung und Einrichtung der Praxis haben sich mit den Jahren immer wieder verändert. Gleich blieb, daß bis zum letzten Jahr nicht einer der Ärzte, die immerhin so viel »Macht« haben, meinen Schrittmacher kurzzeitig vom Netz zu nehmen, um die verbliebene Herzfunktion zu messen, sich mir namentlich vorstellte. Oftmals sah ich ihn ohnehin nur ein einziges Mal und habe in der Erinnerung abgespeichert, daß er mir nicht einmal in die Augen geschaut hat bei der Begrüßung, sondern mit dem Blick auf die Akte den Raum betrat und auf die Akte konzentriert blieb. An dieser Stelle würde ich gern sagen: Das muß nicht stimmen, denn vorstellen kann ich es mir noch immer nicht. Allerdings kam im letzten Jahr erstmals eine Ärztin zu mir ins Kabuff, die sogleich ihren Namen nannte, was mich ein wenig perplex dastehen ließ. Sie hatte so viel Zeit, mich zu fragen, weshalb. Ich erzählte ihr, daß ich die Namen ihrer Vorgänger jeweils erst dem Befund entnommen habe, der mir mitgegeben worden sei. Nach der Untersuchung fragte sie mich, wie es mir beim Treppensteigen erginge. Ich gab schweren Herzens Schwierigkeiten zu, die ich aufs Rauchen zurückführte. Sie meinte hingegen, daß mein Schrittmacher seltsamerweise so eingestellt sei, daß er auf stärkere Belastung nicht reagiere und mit 60 Schlägen pro Minuten eine Treppe in die Dachwohnung eines Fünfgeschossers schwerfallen dürfte. Sie programmierte ihn um, und ich konnte auf der Stelle wieder Treppen steigen. Seither bestehe ich darauf, meine Termine grundsätzlich bei dieser Ärztin einzufordern, die mir versicherte, ein paar Jahre in der Praxis bleiben zu wollen. Ich glaube nicht an den Zufall, daß es eine Frau war, die mir in die Augen schaute und eine Frage stellte, deren Beantwortung meine Lebensqualität entscheidend verbesserte. Ich werde aber den Teufel tun, eine »Elite« für etwas zu verdammen, was im System der Gesellschaft schon angelegt ist. Denn: Wer ist diese sogenannte Elite? Wie sieht ihre soziale Herkunft, ihre soziale Zusammensetzung aus?
[...]

SINN UND FORM 4/2019, S. 437-456, hier S. 440-443