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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-42-3

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Leseprobe aus Heft 4/2018

Gumpert, Martin

Lebenserinnerungen eines Arztes. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einer Vorbemerkung von Jutta Ittner


Augenzeuge der Wahrheit? Eine Vorbemerkung

Erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde der jüdische Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897–1955) als wichtiger Zeitzeuge entdeckt. Er gehört zu den Menschen, die gerade deshalb so interessant sind, weil sie ihr Dasein im Schatten großer Namen führten. Es bedurfte gründlicher Spurensuche, um herauszufinden, daß der Grünschnabel, der die Nächte im Café des Westens durchdiskutierte und bereits 1913 anonym oder unter dem Pseudonym »M. Grünling« tiefgefühlte pubertäre Gedichte u. a. in Franz Pfemferts »Aktion« veröffentlichte (so etwa »Durch Jungsein leergebrannt«, 1917), 25 Jahre später als der ägyptische Arzt und Schreiber Mai-Sachme in Thomas Manns »Joseph, der Ernährer« auftritt oder daß »Onkel Martin«, an den Klaus Mann seinen letzten, verzweifelten Hilferuf aus Cannes schickte, mit dem »doctor« identisch ist, den »Informant T3« als Liebhaber Erika Manns ausspionierte und dessen Akte das FBI bis heute nicht freigegeben hat. Gumperts Lebenswerk ist sowohl für die Literatur- und Kulturwissenschaften als auch für die Medizingeschichte eine Fundgrube. Thomas Mann beschreibt in seinem Vorwort zu Gumperts »First Papers« die Doppelexistenz von Arzt und Schriftsteller als aufs natürlichste in seiner Person vereinigt. (Gumperts berühmter Kollege Alfred Döblin betonte hingegen, der Dichter seines Namens sei dem Arzt eigentlich gar nicht bekannt.) In Mai- Sachme, Manns liebevoll-ironischem Porträt des Freundes, vermischen sich denn auch Literatur, Leben und Medizin in der Personalunion von Arzt, Autor und Protagonist. Mit Ausnahme seiner journalistischen Kurzprosa und historischen Romane wie »Hahnemann « oder »Dunant« kann Gumperts gesamtes literarisches Werk als autobiographische »Vitalreflexion« verstanden werden. So nennt Peter Sloterdijk den Versuch, mit den traumatischen Erfahrungen eines Lebens fertig zu werden, indem man in den Spiegel blickend das verletzte Bewußtsein betrachtet. Gumperts Aufzeichnungen erscheinen geradezu exemplarisch für viele seiner Zeitgenossen. Wie der Ich-Erzähler seines Romans »Der Geburtstag« hatte Gumpert »eine behütete Kindheit, (…) genährt aus den tiefen Quellen europäischer Gesittung und gestört durch die Ahnung des Grauens, das bevorstand. (…) Kerzen und Kuchen, Verständnis und Verwöhnung, bis das Nest in Flammen aufging und der Totentanz Europas begann«. Bis in die Einzelheiten gleicht auch sein politischer Weg dem vieler Berliner Künstler und Intellektueller: vom wohlbehüteten Sohn des assimilierten jüdischen Großbürgertums in die linke bürgerliche Jugendbewegung des Sprechsaals, vom kriegsbegeisterten Gymnasiasten zum Kriegsgegner und (nach seinem Einsatz im Fleckfieberlazarett von Feneraki) traumatisierten Kriegsheimkehrer, wurde der kaum Volljährige zum Beobachter der Revolution von 1918 / 19 und aktiven Mitglied der Sozialistischen Studentenpartei. Auch seine uns heute vielleicht ungewöhnlich erscheinenden literarischen Ambitionen heben ihn aus seiner Generation nicht heraus, sondern verbinden ihn mit ihr. Typisch auch sein Berufsweg: Studium der Medizin und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten (eine der wenigen Juden zugänglichen Disziplinen), Sozialarzt im Wedding und private Praxis, bis erst die nichtjüdischen, dann die jüdischen Patienten ausblieben, selbst der Eiserne Halbmond für Dienste im Türkeifeldzug keine Ausnahmegenehmigung vom Berufs- und Publikationsverbot mehr garantierte und auch die letzte Hoffnung auf die »kultivierten, anständigen Deutschen« geschwunden war. Ausschlaggebend für den Entschluß zur Flucht war, daß der alleinerziehende Vater die Sicherheit seiner kleinen Tochter nicht mehr gewährleisten konnte; seine Frau war 1933 an Tuberkulose gestorben. Gumpert hatte nicht die Absicht, im Exil nur zu überwintern. Er machte größte Anstrengungen, in den USA heimisch zu werden, und im Gegensatz zu vielen Mit-Emigranten gelang das fast Unmögliche. Bereits im Oktober 1936, wenige Monate nach der Ankunft, eröffnete er eine Praxis in New York. In der Folgezeit baute er sich eine völlig neue Existenz auf. Nicht nur als Facharzt für Alterskrankheiten, sondern als Autor von medizinischen Ratgebern (so etwa »The Anatomy of Happiness« oder »You are Younger Than You Think«) wurde er zum »household name« und bestens bekannt sowohl den intellektuellen Lesern der liberalen Wochenzeitschrift »The Nation« wie auch dem breiten »Reader’s-Digest"-Lesepublikum und den Abonnenten seiner eigenen Zeitschrift »Lifetime Living«. Für jeden, der dank seiner humanistischen Schulbildung Latein und Französisch beherrschte, nicht aber die Sprache der »Koofmichs«, wäre das Überleben als Autor eine bewundernswerte Leistung gewesen. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren New Yorks grenzte es an ein Wunder, war doch das Zeitungs- und Buchwesen für Emigranten so verschlossen »wie ein Banktresor« (Gumpert). Seine unverkennbare Stimme, gespeist aus persönlicher Erfahrung, Wärme, Objektivität und ärztlicher Autorität, schuf ihm eine Nische im populärwissenschaftlichen Buchmarkt; aber auch Artikel allgemeinmedizinischer, politischer und psychologisch-philosophischer Art konnte Gumpert plazieren. Bereits der junge Arzt hatte seine Gedanken zu humanistischen Themen veröffentlicht ("Bildnerei eines Geisteskranken«, 1923). Jetzt nutzte er seine Informationsquellen zur direkten Stellungnahme gegen die Nazipropaganda mit »Health under Hitler« (1939), der Bloßstellung des Mythos vom »gesunden Arier«, die dank der Veröffentlichung im »Reader’s Digest« sehr weite Verbreitung fand. Neben Texten in »Lifetime Living« veröffentlichte er in seinem »neuen Leben« mehr als 80 Artikel (vergleiche dagegen 32 vor seiner Emigration), zuletzt den Artikel »How to grow old and like it« (1955), der unter dem Titel »Alt werden mit Vergnügen« im selben Jahr in der deutschen Ausgabe von »Das Beste aus Reader’s Digest« erschien. Welche Anerkennung er in der neuen Heimat gewonnen hatte, bezeugen nicht zuletzt die zahlreichen Nachrufe in so einflußreichen Publikationen wie »Newsweek«, »The Nation«, »New York Times«, »New York Sun« und »Herald Tribune« sowie im »Aufbau« der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde. Gumperts autobiographisches Schaffen zählt zu den Versuchen einer Generation von Schriftstellern, ihre schicksalhaften Erfahrungen literarisch zu bewältigen. Wie viele seiner Zeitgenossen erfuhr er sein individuelles Los im Bewußtsein, daß ein zur Passivität Verurteilter dennoch als Zeuge auftreten könne und es sogar müsse. »Hölle im Paradies « (Stockholm, 1939) erzählt sein Leben von der Jahrhundertwende bis zur Emigration. »First Papers« (New York, 1941, in englischer Übersetzung veröffentlicht mit dem erwähnten Vorwort Thomas Manns) zeichnet die Lehrjahre in Amerika nach. Ein letzter Rückblick auf sein Leben wird Ende 1953 begonnen und im Juni 1954 abgebrochen. Diese Memoiren sind als Abbild der gelungenen Akkulturierung bereits in englischer Sprache geschrieben. Gumpert hat mit großem Ernst und großer Bescheidenheit an der Rekonstruktion seines Lebens gearbeitet, und er erweist sich als ein sensibler, zuverlässiger und absolut integrer Zeuge seiner Zeit. Daß es trotz – oder vielleicht wegen – aller Bemühungen um Objektivität so gut wie unmöglich ist, getreuer Augenzeuge der Wahrheit zu sein, erkennt er als erster an. Bereits 1939, ein Jahr nach Fertigstellung von »Hölle im Paradies«, bittet er seine Leser um Entschuldigung für seine »Irrtümer und Schwächen«. Das »merkwürdig unjüdische« ("Aufbau«) und irritierend unbeteiligt wirkende Buch stieß auf Befremden oder Unverständnis. Nicht anders bei seiner Neuauflage 1983 in der »Serie Exilliteratur «. Wie sind Aussagen zu erklären wie die folgende? »In der Tat bin ich in den 38 Jahren meines Aufenthaltes in Deutschland niemals und in keiner sozialen Schicht einem Antisemiten begegnet.« Wie ist der scheinbare Gleichmut zu verstehen, mit dem Gumpert die antisemitischen Auswüchse in seinem unmittelbaren Umfeld registriert, um dann doch seine Hoffnung auf »Goethes Kulturerbe« zu setzen? Angenommen, es handelt sich um einen blinden Fleck in seiner Assimilationsgeschichte – Gumpert ist ein überzeugter Vertreter der Assimilation –, warum reagiert der Einwanderer hypersensibel auf vergleichsweise harmlose Indizien für Antisemitismus in der neuen Heimat? Vollends verwirrend wird sein Urteil, wenn er beide Erfahrungen vergleicht. Toleranz, nicht Vorurteil bestimme die amerikanische Variante des Antisemitismus ("First Papers«). Anders als in Berlin zwar finde Segregation zwischen »gentile« und »Jew« auf allen Ebenen statt, auf dem Wohnungsmarkt, an den besseren Universitäten, im Patientenbereich, sogar in der Freizeit – jedoch nicht von Haß begleitet, sondern von Liebenswürdigkeit. Dem Erstaunen darüber, in Manhattan einem jüdischen Briefträger zu begegnen, folgt die »Ehrenrettung«, im protestantischen Preußen seien die beruflichen Barrieren durch Taufe zu überwinden gewesen. Wie immer sich Gumpert in seiner komplexen Mehrfachexistenz zurechtfand, in seinem letzten Rückblick verteidigt er sich fast zornig, er sei »a XXth century Jew, born in Germany, now an American, pursuing medicine and literature: I am alone responsible for what I make of this concoction« – er sei ein Jude im 20. Jahrhundert, in Deutschland geboren, nun amerikanisch, Mediziner und Literat und er allein sei dafür verantwortlich, was er mit dieser Mixtur anfange. Auf eine andere Art von blindem Fleck trifft der Leser, der sich Informationen über Gumperts persönliche Beziehungen verspricht. Wer auf Interna aus dem weitläufigen Freundeskreis hofft, auf Klatsch und Tratsch aus den wilden Vorkriegsjahren im Kreis um Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion«, aus der New Yorker Exil-Clique im Bedford Hotel und dem kalifornischen Refugium Pacific Palisades oder gar auf Intimes über die anekdotenreiche Familie Mann, wird bitter enttäuscht. Die Spurensuche führt über die Zeugnisse der Zeitgenossen immer nur zu Gumpert, nie umgekehrt. Er ist die Diskretion in Person. Daß er der engste Vertraute des Hauses Mann war, Katjas »lieber Freund Martin«, betreuender und auch Medikamente verschreibender Arzt Klaus Manns sowie langjähriger, hoffnungslos hoffender Liebhaber Erika Manns und noch zuletzt Begleiter Thomas Manns bei seinem ersten Besuch im zerstörten Deutschland, findet seinen Niederschlag im Briefwechsel der gesprächigen Familie, in ihren Tagebüchern und Büchern – 250 Erwähnungen allein in Thomas Manns Tagebüchern zwischen 1935 und 1952 – und spiegelt sich in mehreren literarischen Porträts. Gumperts letzte, hier erstmals in deutscher Übersetzung auszugsweise veröffentlichte Memoiren sind als eine noch komplexere Mischung von Aussage und Verschweigen zu verstehen; hier ist die »Wahrheit« oft nur zwischen den Zeilen zu erahnen. Die innere Befindlichkeit Gumperts spiegelt sich – wie das Leben in zwei Sprachen – in seinen Tagebucheinträgen: Er fühle sich »aufs Äußerste und Hilfloseste mißgestimmt, dann wieder competent, functioning, creative«. Ein Grund für seine immer häufigeren Phasen der Depression ist der Verlust vieler Freunde. Bei Kriegsende erforderte die jahrelang theoretisch diskutierte Frage eine konkrete Antwort: Rückkehr in eine kaum wiederzuerkennende Heimat oder nicht? Wie man sich auch entschied, man »desertierte sich selbst«. Bereits ab 1945 packten die ersten Freunde die Koffer. Im zunehmend rechtslastig und hysterisch werdenden Klima der fünfziger Jahre verließen immer mehr Weggenossen das amerikanische Exil. Wer von den New Yorker Emigranten zu den engen Freunden Gumperts zählte, ist schwer einzuschätzen. Zu seinem Patienten-, Bekanntenund Freundeskreis gehörten aber nicht nur etliche deutsche Autoren und Schauspieler, sondern auch viele namhafte Amerikaner, darunter Verleger und Politiker. Die Liste der prominenten Zeitgenossen, die er für sein (unveröffentlichtes) Buch »Breaking the Age Barrier« (Die Alters-Grenze durchbrechen) interviewte, ist ein Who’s Who der amerikanischen Gesellschaft der fünfziger Jahre, mit Ausnahme der politisch rechten Kreise. Die Gästeliste zu seinem 50. Geburtstag ergibt ein regelrechtes Literatenverzeichnis, aber im Tagebuch kommentiert er das Ereignis mit den Worten »no real friends« und zieht den Schluß: »bin ein alter, kalter Mann« (1947/ 48). Bereits im Juli 1946, nach seinem ersten Herzinfarkt, hatte Gumpert geschrieben »At last, I was an old man. At forty-eight« (dem zweiten Infarkt neun Jahre später sollte er erliegen). Alt mit 48? Seinen engen Freunden bleibt die Widersprüchlichkeit nicht verborgen. Erika Mann wehrt Äußerungen dieser Art als Zeichen der Furcht vor dem Tod ab. Katja Mann vermutet dagegen ein Spiel mit der Umwelt – der Freund mit dem Greisenlächeln sei viel zu lebenslustig, um glaubhaft zu sein –, und Thomas Mann wiederum meint, Gumpert warte darauf, ob die kindliche Vorstellung von einem Stadium der Reife und Autorität sich für ihn bewahrheiten werde, dabei schaue ihm das Kind aus den runden braunen Augen heraus, so träumerisch und vertrauensvoll wie eh und je. Er könnte damit genausogut den Erzähler von Gumperts Roman »Geburtstag« beschrieben haben: einen Menschen, der noch auf der Schwelle zum Alter zwischen Rationalität und Irrationalität schwankt. Es ist eine tragische Ironie, daß der wohl loyalste Neu-Amerikaner zuletzt der McCarthy- Politik zum Opfer fiel, die u. a. dazu führte, daß Lion Feuchtwanger als »chief literary Kremlin crawler« (literarischer Haupt-Kremlkriecher) gebrandmarkt wurde. Nicht nur zählte man Gumpert zur Gruppe der »communazis«, den suspekten politischen Emigranten aus Deutschland, er wurde auch überwacht. Wie nicht anders zu erwarten, findet sich jedoch keinerlei Hinweis darauf in seinen Aufzeichnungen. Erst ein Interview mit seiner Tochter Nina Parris (1994) warf Licht auf seine unselige Verstrickung in den umstrit- tensten Spionageprozeß der McCarthy-Ära. Der Übersetzer seines »Dunant«, Whittaker Chambers, spielte in den sogenannten Pumpkin Trials eine berühmt-berüchtigte Rolle als undurchsichtiger Ex-Kommunist und Kronzeuge der Anklage gegen Alger Hiss. Gumpert habe beweisen können, daß Chambers log – der Briefwechsel beider bezeugte Aufenthaltsorte und -zeiten –, und sei dazu auch bereit gewesen, erfuhr ich von seiner Tochter. Das FBI reagierte mit Drohungen und Repressalien. Er sei den Hexenjägern erlegen, die ihn »noch bis ins Krankenhaus« verfolgten. Gumperts Akte beim FBI wäre sicherlich auch ohne die Beziehung zu Chambers so umfangreich wie die seiner Emigrantenkollegen. Der Zugang zu seiner HUAC-Akte (House Un-American Activity Committee, Ausschuß für die Ermittlung von unamerikanischen Aktivitäten) ist nur über Umwege möglich. Ein Jahr nach dem Antrag auf Einsichtnahme erteilte mir das Justizministerium den Bescheid, zuvor seien 15 000 andere Anträge zu bearbeiten, für die 5,4 Millionen Seiten durchgesehen werden müßten. Gumperts einziger Hinweis auf diese letzte Zeit ist berührend: Im Tagebuch schreibt er, seine Allergie gegen Furcht, Haß, Machtmißbrauch und das Versagen der Öffentlichkeit sei wieder ausgebrochen. Vielleicht seien seine Ängste ein Zeichen dafür, daß er endlich »angekommen« und zu Hause sei. Eine solche Angst könne nur aus tiefer Verbundenheit und Liebe entstehen.

Jutta Ittner

SINN UND FORM 4/2018, S. 437-456, hier S. 437-441