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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-16-4

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Leseprobe aus Heft 2/2014

Wajsbrot, Cécile

»OSNABRÜCK IST DAS VERLORENE PARADIES, NUR NICHT FÜR MICH»
Gespräch mit Hélène Cixous


Vorbemerkung

 

Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von ihrer Rolle bei der Gründung der alternativen Universität Vincennes (jetzt Saint-Denis), an der man auch ohne Abitur studieren konnte, ich wußte von der Strahlkraft ihrer Seminare und auch von ihrer Freundschaft mit Derrida, die sich in mehreren Büchern niederschlug. Dennoch lernte ich Hélène erst viel später, 2006, durch den gemeinsamen Freund Frédéric-Yves Jeannet kennen. Inzwischen hatte ich mit dem 1999 erschienenen Buch »Osnabrück« meine Cixous-Lektüre wiederaufgenommen und begab mich alljährlich treu zum Stelldichein der Herbstneuerscheinungen, wo die unendliche Erzählung ihres Werks Buch für Buch fortgesponnen wurde – eine Art mythisches Epos, aus transfigurierten Alltagselementen gewoben und von literarischen Hausgöttern wie Stendhal, Montaigne und Kafka behütet.

Als Hélène Cixous die Wohnungstür öffnete, kam mir Nofretete in den Sinn, deren ebenmäßiges und doch rätselhaftes Gesicht die Zeiten überdauert hat. Beim Anblick des Panoramas von Paris, das sich vor den Fenstern darbot, sprachen wir über Deutschland, über Berlin, wo ich damals schon lebte. Im Laufe der Jahre wurden mir diese Treffen mit Hélène zur Gewohnheit – schwebend gleichsam im Raum (hoch droben in einem Neubau) und in der Zeit, seltene, doch regelmäßige Besuche – manchmal wirbelte eine Katze herein –, geprägt von der mal sichtbaren, mal unsichtbaren Gegenwart ihrer Mutter Ève, die im Sommer 2013 dahinging. Mit der Zeit entwickelten sich eine Freundschaft, glaube ich, und ein Austausch.

Wie kam es zur Idee eines Gesprächs über Deutschland? Die Wichtigkeit des Themas für unsere Unterhaltungen, die Bedeutung der deutschen Sprache und Literatur für Hélène Cixous’ Leben und Werk, auch wenn sie von der Kritik kaum wahrgenommen wurde – es gab viele Gründe, die dabei zusammenkamen. Hélène sagte sofort zu. Das Gespräch sollte fortlaufend stattfinden, in jenen Freiräumen, die uns unsere vielfältigen Aktivitäten ließen – in Hélènes Fall das monatliche Seminar im Pariser Heine-Haus, das Stück, das sie für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil schrieb und das anschließend geprobt wurde, die mit der Arbeit an ihrem nächsten Buch erfüllten Sommermonate in Arcachon und natürlich Ève, die sich in ihrer Obhut befand. Was also konnte zweckmäßiger als die Schriftform sein, zumal wenn man mit der Hand schrieb und nicht am Computer?

Es handelt sich hier also um ein geschriebenes Gespräch, geführt zwischen Mai und November 2012.

Cécile Wajsbrot

 

CÉCILE WAJSBROT: Es kommt mir vor, als beträten wir einen neuen Kontinent, ein aus den Wassern auferstandenes Atlantis. Das deutsche Wort Angst und der Städtename Osnabrück sind die ersten Hinweise auf Deutschland, denen man in Ihren Buchtiteln begegnet. Was ist Deutschland für Sie in erster Linie: ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wenn die Frage zu weit führt, sagen Sie es mir.

HÉLÈNE CIXOUS: Mir fällt an Ihrer Frage das bezeichnende »erst« auf, das zweimal vorkommt und die Hypothese Deutschland als Raum, Oberfläche, Gelände oder geographisches Gebiet markiert. Habe ich je mit Deutschland Fühlung aufgenommen? Hat es je mit mir Fühlung aufgenommen? Habe ich es je betreten, habe ich es je verlassen? Meinem Gefühl nach bin ich seit jeher von ihm umgeben, meine wichtigste Erinnerung besteht darin, eine treibende Alge inmitten dieses Meers gewesen zu sein. In Algerien wurde ich geboren, von Deutschland stamme ich ab, es hat mich von Geburt an umschlossen. Denken, Sätze bilden und die Welt lesen, all das habe ich in einer in algerische Gefilde versetzten deutschen Welt gelernt. Während ich als pflanzlich-tierisches Menschenwesen im trockenen und duftigen Klima von Oran aufwuchs, sog ich aus zwei Böden Kraft und Bedeutung, ich war durch das in Algerien enthaltene Deutschland mit der Zeit verbunden. Umgekehrt lag meine Geburtsstadt Oran in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter.

Daß die Frage zu weit führen könnte, ist ein guter Indikator: Sie zeigt die unberechenbare Gegenwart all dessen an, was unter dem Namen Deutschland um mich versammelt ist. Am Ende (meines Lebens) würde ich ein Traktat, ein Epos, eine deutsche Autobiographie (eine meiner Autobiographien) geschrieben haben können oder sollen.

Ich sage Deutschland, und die Sache erscheint mir genauso unendlich, unerbittlich, von mir selbst unablöslich wie, sagen wir, für Derrida der Name Abraham, den er zum Vornamen des Rätsels Judesein bestimmen wollte. Ich sage Deutschland, und der Name klingt für mich seit meiner frühen Kindheit, als wäre er ein Synonym für Omi, meine Großmutter, meine Mutter für Deutschland. Omi kommt 1938 zu uns nach Oran, ich bin anderthalb und habe zwei ganz verschiedene und doch spiegelbildliche und stets miteinander verbündete Ammen, Deutschland und Algerien. Meine geistigen Großmütter, meine Schicksalsverwandten, die mein Ohr mit der gleichen Anfangssilbe umschmeicheln (Allemagne/Algérie). Sobald ich Allemagne sage, erhebt sich Algerien und folgt ihm wie ein Schatten.

Ich merke, daß ich Deutschland auf französisch sage, denn es war die französische Sprache, in die meine Mütter (meine Mutter meine Großmutter), als sie es während des Kriegs für nötig hielten, ihr Haus und ihre aus Deutschland stammenden Leiber verwoben und hüllten, in der sie sie vielleicht sogar verbargen, also ihre erste Wahrheit unter dem Tischtuch des Französischen verschwinden ließen. In unserer Behausung in Oran sagte Omi stets »chez nous«, wenn sie eine besonders verbindliche Regel oder Sitte formulierte, und dieses »bei uns« war in Deutschland. Sicherlich kam es auch einmal vor, daß sie es auf deutsch sagte, doch in ihrer gebieterischen Art und Weise, unseren Gehirnen deutsche Ordnung beizubringen, zog sie es vor, »auf französisch deutsch zu sprechen«. Noch heute schmeckt das Wort Allemagne für mich nach Dom und Schlagsahne oder Schuberts klangvollem Dahinströmen. Ich glaube, in meiner zweisprachigen Kindheit ging französisch oft als deutsch durch, und das Deutsche floß zu meiner größten Zufriedenheit ins Französische ein. Diese Weiterungen, Ergänzungen, Pfropfungen, Einladungen machten mir große Freude, ich hatte eine Freude am Spiel, die mir heute als Urszene jeder Form von Genuß erscheint: zu zweit sein, zwei sein, zugleich der andere sein, stets zu etwas anderem seine Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen sein, über alle Transportmöglichkeiten verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer treten. Die Wonne, sich mühelos zu einer Fremden zu machen.

Ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wie könnte man das auseinanderhalten oder in eine Rangfolge bringen? Mir fällt ein Kompositum ein: Sprach-Stadt-Land. Eine Sprache, in der ich wie in einer Stadt wohne und reise und die mein ganzes Weltland wäre. Und die alle meine Stimmungen in sich aufnähme. So wird »Angst« und »Osnabrück« der gleiche Platz zugewiesen, nämlich der eines Titels. Zwei »deutsche« Titel, zwei Bestimmungen, gleichsam zwei Namen geistiger Orte, zu deren Archäologin ich geworden bin. Tatsächlich widme ich mich der Erforschung der Tiefen, den Bergwerken, Stollen, Irrgängen, Grabungs- oder Auferstehungsstätten, ich horche die Brust der Schöpfung ab. Es drängt mich dazu, die Herkunft zu untersuchen – die Ursprünge, die Passionen. Und oft geben sich mir diese urwüchsigen Zonen in Gestalt archaischer, also deutscher Gottheiten zu erkennen. Ich habe so viel in »Angst« gelebt, diesem Land seltsamer Irrlichter. Und es stellt sich heraus, daß die prähistorischen »Städte« der Triebe und Passionen in meinem inneren Deutschland liegen. Das Bild, das ich von Osnabrück habe! Ein Klangbild, ein Scheppern, ein Gerassel von Phonemen, etwas geradezu Mythologisches! Während »Angst« den Tod im Leben bezeichnet, beschwört »Osnabrück« ein Pompeji vor dem Jahr 79 herauf, eine jugendliche, europäische, genießerische Stadt, eine Schatulle voller lebenskluger Menschen, man schwimmt, geht ins Theater, treibt Sport, und eines Morgens überrascht einen der Krieg. Streckt einen nieder. Os-na-brück. Erich Maria Remarques Schule, Straßen für Felix Nußbaum, »Osnabrück«.

WAJSBROT: Dann hätte Deutschland also keinen Anfang, es wäre selbst der Ursprung. Aber gab es denn kein erstes Mal? Wann zum Beispiel fand die erste Reise ins reale Deutschland statt und wohin führte sie?

CIXOUS: Köln. Bad Nauheim. 1951. Schlagsahne. Ich sehe mich mit Omi in den Straßen Kölns. In der großen hellen Wohnung von Eri und Bertold Barmé. Eri, Omis zweite Tochter, meine Tante. Im Kurhaus in Bad Nauheim langweile ich mich bloß, nichts als alte und kranke Leute, echte Kranke und auch eingebildete, wie Omi.

Ich glaube, ich bin voller Vorfreude mit Omi in Algier aufgebrochen. Ich habe Lust auf Deutschland. Ich bin vierzehn. Die Umstände brauen sich zusammen: Zum einen – und das ist die geheime Motivation – wohnt meine Tante Eri jetzt in Köln mit meinem Onkel Bertold, ihrem Mann, einem Zahnarzt. Zum anderen hat Omi ihr Recht auf Wiedergutmachung in natura geltend gemacht: Sie muß ihre Gesundheit in den Bädern wiederherstellen! Man verordnet oder verschreibt ihr Bad Nauheim – aber das ist ein Vorwand: Niemand in der Familie glaubt an die Heilwirkung der Bäder. Für mich ist das ein Motiv der Literatur, man findet über Dostojewski und Thomas Mann dorthin, allenfalls noch über Kafka und Thomas Bernhard. Mir erscheint das alles als Farce. Manche Pensionsgäste sind herzkrank. Man kann nichts tun, als mit Omi, die schlecht zu Fuß ist, im Wald spazierenzugehen. Ich verstehe mich gut mit Herrn Ober und stelle fest, daß meine schwarzen Augen in diesem Land, wo alle Welt Omis blaue Augen hat, Aufsehen erregen. Ein armer mißgestalteter jüdisch-polnischer Händler, auch er mit einem Anspruch auf Wiedergutmachung, macht mir einen Heiratsantrag. Letztlich wird das Hotel zum Schauplatz einer kleinen Einführung in den Roman des 19. Jahrhunderts, die »Psychologie«: Man stecke Vertreter unterschiedlicher Spezies in eine Arche ohne Zukunft. Eine Versuchsanstalt. In Köln lerne ich die deutsche Großstadt kennen. Für mich sind wir dort in einen »fremden« Leim getaucht. Omi fühlt sich wohl, es ist schlichtweg ihr Land und beinahe ihre Gegend. Das Stück Deutschland, in dem die Familie verwurzelt ist: Hamburg, Dresden, Gießen, Hannover, Osnabrück, Köln, Frankfurt. Die Städte, wo die Onkel, Tanten, Cousins gedeihen, Kaufleute, Bankiers, Unternehmer. Man spricht viel von Hamburg in der Welt. In Köln bemerke ich die Grenzposten: Ich werde »gesehen«, schief angesehen. Auf der Domtreppe hält mich ein gereizter Priester auf und weist mich, weist meine nackten Arme ab, es ist ein strahlender und heißer Sommer. Da kam mir ein Verdacht. Ansonsten begegnet mir 1951 keine Spur von Antisemitismus. Es gibt auch keine Juden mehr in Deutschland. Bis auf meinen Onkel Bertold, der den Zwängen Israels entflohen ist, wo er 1937 oder 1938 ankam, als es noch Palästina und ein Schutzraum war. Zehn Jahre haben ihm gereicht.

Als guter freimaurerischer Stadtbewohner, Bürger von Köln, kehrt er »heim« und bringt seine Familie mit. Es läuft gut für ihn, den angesehenen Zahnarzt, den umgänglichen und charmanten Mann. Ein Roman, der noch zu schreiben wäre. 1951 blüht Köln, es gedeiht – doch, doch, ich komme aus Algier. Und aus London, wo es Hunger gibt und Lebensmittel rationiert sind. Während ich in Köln endlich der riesigen Sahnetorten ansichtig werde, von denen mich Omi den ganzen Krieg über träumen ließ. Köstlich. Sie sind bis heute unübertroffen.

Bleibt noch der Mythos Osnabrück: Bin ich mit Omi hingefahren? Oder habe ich das nur geträumt? Ich sehe uns dort in den engen Straßen, ich sehe uns am Nikolaiort, wie im Traum.

Leider habe ich es versäumt, Omi zu fragen, ob wir wirklich dort gewesen sind. Osnabrück war stets so strahlend gegenwärtig in meinen »Erinnerungen«, die von den Berichten meiner drei Erzählerinnen getönt waren – den feenhaften Zeuginnen, meiner Mutter Ève, meiner Tante Eri und Omi.

Mein erstes, zwiespältig reizvolles Deutschland, ich habe dich geliebt. Und gewiß wollte ich von dir geliebt werden.

[...]

Aus dem Französischen von Gernot Krämer

 

SINN UND FORM 2/2014, S. 214-222, hier S. 214-218