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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-08-9

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Leseprobe aus Heft 6/2012

Hamburger, Maik

MEIN VATER RUDOLF HAMBURGER
ODER
DIE ABGRÜNDE DES KURZEN 20. JAHRHUNDERTS


In frühester Erinnerung steht er vor mir, sportlich gekleidet in Jacke und Knickerbocker aus englischem Tweed. Der ruhige braune Ton des Pfeffer-und-Salz-Musters schien seine Persönlichkeit am besten zur Geltung zu bringen; der Stoff faßte sich weich, aber fest an, und die männlichen Schultern wirkten darin noch breiter. So kam er nachmittags von seiner Arbeitsstelle, einem Architektenbüro in Shanghai, um sich sogleich mit mir auf dem Rasen hinter dem Haus zu balgen. Heute bin ich bei nüchterner Berechnung erstaunt, wie kurz die Zeit des Zusammenseins in Wahrheit gewesen ist. Zweieinhalb Jahre in China, vier in Polen und der Schweiz, dazwischen lag schon eine Unterbrechung. Der sich dann 1939 für eine »kurze Zeit« vom Achtjährigen verabschiedete, verschwand für sechzehn Jahre. Zehn davon beschreibt er in seinem Lagerbericht. Rudolf Albert Hamburger war elf Jahre alt, als mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges das »kurze 20. Jahrhundert«, das »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) einsetzte, für dessen Brüche, Abgründe und Verwerfungen sein unsteter Lebensweg geradezu modellhaft zu stehen scheint.

Als Sohn des Textilfabrikanten Max Hamburger im schlesischen Landeshut geboren, wächst Rudolf in einem kultivierten großbürgerlichen Haushalt auf, zu dessen Freundeskreis auch die Familie Gerhart Hauptmanns zählt. Das väterliche Unternehmen floriert, denn der nach Kriegsausbruch aufschießende Bedarf an Uniformstoffen sorgt für Staatsaufträge. In der Schule sitzen die Fabrikantensöhne neben den Arbeiterkindern in einer Klasse. Rudolf freundet sich mit einem proletarischen Jungen an, der gelegentlich zum Spielen in die Hamburgersche Villa eingeladen wird. Eines Tages unternimmt Rudolf einen Gegenbesuch. Seine Bestürzung ist enorm. Jahrzehnte später wird er sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen an die elendeWohnküche erinnern, den Lärm, die Gerüche, den barschen Ton der Mutter zu den Kindern und den neuen Blick auf seinen Freund, der in diesem Milieu seine Schularbeiten erledigt. Im GULAG wird er sich über die Umkehrung der Verhältnisse Gedanken machen, da der ehemals Privilegierte jetzt als »Politischer« zur untersten Stufe der Lagerhierarchie gehört.

Von den drei Brüdern ist Rudolf der Künstler. Er studiert Architektur in München, in Dresden und zuletzt bei Hans Poelzig in Berlin, der ihn nach dem Diplom als Meisterschüler aufnimmt. In Berlin lernt er Ursula Kuczynski kennen, Tochter des renommierten Demographen Robert René Kuczynski, das Paar heiratet 1929. Das temperamentvolle, mit ganzer Leidenschaft dem Kommunismus zugetane Mädchen wird später einmal berühmt werden als »Sonja«, die Geheimdienstagentin, die die von Klaus Fuchs besorgten Unterlagen aus der anglo-amerikanischen Atomforschung an die sowjetische Armeeaufklärung GRU übermittelte.

Der frischgebackene Architekt steckt voller Tatendrang, aber die Weltwirtschaftskrise drückt schwer auf den Markt. Bauaufträge sind rar. Durch einen glücklichen Zufall erhält er ein Angebot aus China. Auf dem Bahnweg reisen die jungen Eheleute über Sibirien nach Shanghai, wo Hamburger eine Stelle bei der Stadtverwaltung des International Settlement antritt. Sein Einstand könnte schwungvoller nicht sein: er entwirft das vierstöckige Victoria Nurses’ Home, das als ein Pionierbau der Moderne in China gilt; es folgen eine Schule, eine Müllverbrennungsanlage und – man kann seine Aufgaben nicht wählen – ein Gefängnis. Darüber hinaus erledigt er private Aufträge für Innenausstattungen. Nicht nur als Fachmann, auch durch seinen Charme, seinen Humor und sein natürliches Taktgefühl macht er sich schnell beliebt in europäischen Gesellschaftskreisen. Die auch geschäftlich nicht unwichtigen Einladungen führen zu Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die in dem neokolonialen Spießermilieu, wie sie es sieht, nur widerwillig die nette Gattin gibt. Es kommt aber noch kategorischer: Durch die Vermittlung Richard Sorges nimmt Ursula Hamburger Verbindung zur Kommunistischen Partei Chinas auf und stellt, wenn ihr Mann arbeitet, das gemeinsame Wohnhaus für konspirative Treffs zur Verfügung. Als sie nicht umhinkann, ihn einzuweihen, ist er außer sich. Nicht nur, daß er sich hintergangen fühlt – sie hat die Familie aufs Spiel gesetzt. Für solche Aktivitäten droht auch Ausländern die Todesstrafe. Er will es ihr verbieten, vergeblich. Die Kluft zwischen ihnen reißt immer weiter auf. Ursulas Entschluß, zu einer einjährigen Ausbildung bei der GRU nach Moskau zu fahren und den Sohn bei den Großeltern in Schlesien unterzubringen, bedeutet faktisch das Ende der Ehe.

Die politische Entwicklung ist nicht geeignet, seine Stimmung zu heben. In Shanghai wüten die japanischen Invasoren, unter den ansässigen Deutschen gewinnt die nationalsozialistische Gesinnung immer mehr an Boden, die Nachrichten aus Deutschland selbst sind verheerend. Das düstere, ja bedrohliche Erscheinungsbild der westlichen Länder lenkt Hamburgers Blick in Richtung Sowjetunion als einzige glaubwürdige Alternative. Seine Ansichten radikalisieren sich, nähern sich denen seiner in der Ferne agierenden Ehefrau.

Der mittlerweile angesehene Architekt trifft eine verhängnisvolle Entscheidung. Er mag nicht mehr abseits stehen. Er will handeln. Er bewirbt sich als Agent bei eben der Organisation, für die seine Frau schon tätig ist. Die Verantwortlichen bei der GRU zögern. Sie können ihn vielleicht besser einschätzen als er sich selbst. Als er weiterhin insistiert, erhält er doch einen ersten Auftrag: seine Ehefrau – auf dem Papier ist sie es noch – mitsamt Sohn nach Polen zu begleiten, um ihre illegale Tätigkeit dort nach außen abzuschirmen. Es soll der Anschein einer heilen Familie gewahrt werden. Eine Ausbildung als Agent sei für Hamburger nicht nötig, er könne ja bei seiner Frau Kompetenz erwerben. Learning by doing: eine in dieser Branche höchst riskante Devise!

Der fünfjährige Sohn weiß von diesem Arrangement natürlich nichts; nichts davon, daß diese Jahre mit dem Vater ihm nur vergönnt sind, weil es dem sowjetischen Armeegeheimdienst gut in den Plan paßt. Für mich ist die Familie wieder beisammen. Bald kommt meine Schwester zur Welt, Tochter aus einer kurzen Verbindung mit einem deutschen Kommunisten, die mein Vater als sein Kind anerkennt und amtlich einschreiben läßt. (Es widerstrebt mir, sie Halbschwester zu nennen.) Die Wahrheit wird sie, werden wir, zwanzig Jahre später in der DDR erfahren. Das Familienleben vollzieht sich nach meiner Wahrnehmung reibungslos; ich wüßte nicht, daß es zwischen den Eltern je Streit gegeben hätte (worüber jemand mit größerer Lebenserfahrung vielleicht doch stutzig geworden wäre). Bei meiner Mutter erhielt ich den ersten Schulunterricht, erlaubte doch der häufige Wohnungswechsel nicht, mich in einer polnischen Lehranstalt einzuschulen; mit meinem Vater erschuf ich immer kühnere Bauwerke aus dem Baukasten; und mit beiden unternahm ich Skiausflüge in die Berge um Zakopane, wo wir ein märchenhaftes Holzhaus bewohnten. Heute bestürzt mich die Vorstellung, welche Gefühle mein Vater bei diesem Rollenspiel gehabt haben muß.

In der Schweiz lassen sich Rudolf und Ursula amtlich scheiden, ich bleibe fortan bei meiner Mutter. Hamburger befindet sich zudem wegen seiner jüdischen Abkunft in einer prekären Situation: sein deutscher Paß ist abgelaufen und einen neuen kann er nicht beantragen. Es bleibt ihm keine andere Wahl, als einen ihm in Genf angebotenen honduranischen Paß zu kaufen, mit dem er 1939 nach China zurückreist, um dort seine Arbeit für die GRU fortzusetzen. Unerfahren und obendrein vom Pech verfolgt, wird er in Chungking, der zeitweiligen Hauptstadt der Nationalchinesen, aufgegriffen. Ein Jahr verbringt er in Haft, erleidet Folter, hat keine Verbindung mit der Außenwelt. Sein Leben verdankt er dann wohl doch einem Quentchen Glück. Dem Bruder Otto, der zu der Zeit in Shanghai lebt, wird ein Telegramm aus Chungking zugespielt. Die im Ganovenjargon versteckte Botschaft ist nicht schwer zu entschlüsseln: »H’s Bruder als Späher ins Kittchen. Soll weggeputzt werden.« Mit H ist Otto selbst gemeint, der Bruder ist Rudolf. Otto alarmiert Rudolfs Freunde, die die Nachricht weitergeben, schließlich wird er durch diplomatische Intervention von sowjetischer Seite (so wird vermutet) aus der Haft entlassen.

Ein Jahr darauf führt ihn sein Weg als Kundschafter nach Teheran. Dort wird er, wie offenbar seine Auftraggeber auch, vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion überrascht. Im Nu besetzen englische, russische und amerikanische Truppen das Korridorland Persien. Hamburger gelingt es, als Mitarbeiter eines Ministeriums in Teheran unterzukommen. Aufgrund einer Denunziation wird er festgenommen. Er verbringt Wochen in amerikanischer, dann englischer Haft. Sein honduranischer Paß – die Vorgesetzten bei der GRU haben es nicht einmal für nötig gehalten, ihn mit einem glaubwürdigen Dokument auszustatten – erhärtet den Verdacht auf konspirative Verwicklungen. Da er jedoch in den Verhören wenig preisgibt und kaum Beweise gegen ihn vorliegen, entläßt man ihn mit der Maßgabe, in kürzester Zeit aus Persien zu verschwinden. Was liegt näher, als in dem Land, für das er so viel riskiert hat, in seiner Sowjetunion, um Asyl zu ersuchen? Es scheint die richtige Entscheidung zu sein. Wohlbehalten erreicht Hamburger Moskau. Am dritten Tag wird er verhaftet.

[...]

 

SINN UND FORM 6/2012, S. 758-768