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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-47-8

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Leseprobe aus Heft 3/2019

Drews, Jörg

»Dieser Brief mußte geschrieben werden.« Korrespondenz mit Walter Kempowski 2005 - 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler


Vorbemerkung

»Ich glaube, Du bist der einzige Mensch, der das, was ich unternehme, zu würdigen versteht «, schrieb Walter Kempowski am 30. Januar 1998 an den Literaturwissenschaftler und Kritiker Jörg Drews. Der hatte kurz vorher unter der Überschrift »Das Fernsehen, von Walter Kempowski geschreddert« eine Rezension zu dessen »Bloomsday ’97« verfaßt. Das Buch – ein Protokoll der Fernsehrealität, von Kempowski und seinem Team am 16. Juni 1997 auf 37 Sendern zusammengezappt – war von den meisten Rezensenten äußerst kritisch aufgenommen worden. Wie oft in solchen Momenten fühlte sich Kempowski von der Kritik unverstanden. Drews dagegen hatte den richtigen Ton getroffen. Er beschrieb die Lektüre zwar als »problematisch, ja vielleicht eigentlich gar nicht möglich«, doch in einer glühenden Verteidigungsrede zündete er ein wahres Feuerwerk an Argumenten, um die Berechtigung eines solchen literarischen Experiments – fast »ein Stück Concept Art« – zu unterstreichen, und bescheinigte dem Autor scherzhaft eine »hochgradig naive Intelligenz«. Kempowski wäre nicht Kempowski, hätte er dieses Bonmot unkommentiert gelassen. Selbstironisch begann er seinen Brief mit den Worten: »Bevor ich wieder an die Arbeit gehe, ›hochgradig naiv‹, aber einigermaßen intelligent, möchte ich Dir noch einen kurzen Liebes- und Dankesgruß senden.«

Warum sich zwei Menschen befreunden, gehört vielleicht zu den größten Mysterien des Daseins; was dieses Mehr an Sympathie stiftet, läßt sich oft nur schwer ergründen. Daß aber ein Schriftsteller und ein Kritiker auf Dauer Freundschaft schließen, darf an sich schon als seltener Umstand gewertet werden – um so mehr, wenn sie a prima vista so unterschiedlich sind, wie es Kempowski und Drews waren: auf der einen Seite der zierlich gebaute und introvertiert wirkende Autor, der als »Dorfschulmeister« (Kempowski) zurückgezogen im niedersächsischen Nartum lebte und über Jahrzehnte ein riesiges literarisches Werk schuf, auf der anderen Seite der stattliche, weltläufige, dynamisch und vital auftretende Drews, der nicht nur zwischen Bielefeld, wo er bis 2003 als Professor lehrte, und seinem zweiten Zuhause München pendelte, sondern überall auf der Welt in literarischer Mission unterwegs war.

Daß der in seinem Kosmos wie in einer Zelle lebende Kempowski und der umtriebige Drews dennoch Freundschaft schlossen und diese mehr als drei Jahrzehnte, bis zu Kempowskis Tod hielt, war kein Zufall. Was die beiden verband, war offensichtlich stärker als die vordergründigen Gegensätze: Es war zuallererst das Eintreten für experimentelle moderne Literatur. Dazu paßte ihre gemeinsame Begeisterung für das Werk von Arno Schmidt. Drews, der keine Berührungsängste vor Autoren zeigte – auch nicht vor solchen, die wie Schmidt als »verschroben« galten –, besuchte den notorischen Einzelgänger 1964 in Bargfeld, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. 1970 erfand er das »Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat«, dessen Mitglieder insbesondere den Monumentalroman »Zettel’s Traum« zu entschlüsseln suchten und auch vor Ort Studien betrieben. 1972 gründete Drews den »Bargfelder Boten«, quasi ein wissenschaftliches »Fanzine«, das sich bis heute mit Schmidts Werk befaßt. Er widmete sich dem Autor mit der ihm eigenen Leidenschaft, und es darf als eines seiner großen Verdienste gelten, dessen avantgardistisches Werk einer breiteren Öffentlichkeit und auch zahllosen Studenten – und damit der Wissenschaft – zugänglich gemacht zu haben.

Im Gegensatz zu Drews, der über viele Jahre persönlichen Umgang mit Schmidt pflegte, war Kempowski ein privater Kontakt nicht vergönnt gewesen. Einige Briefe, die er in den sechziger Jahren an Schmidt schrieb, ließ dieser unbeantwortet, sieht man einmal davon ab, daß er den Sonderdruck eines seiner Essays kommentarlos an Kempowski schickte. Trotzdem outete sich der Autor aus Nartum bei vielen Gelegenheiten als Schmidt-Verehrer und beschwor immer wieder seine geistige Nähe zu dem Eigenbrötler, so zum Beispiel im Juni 1979 in seinem Nachruf in der »Zeit«: »Arno Schmidt wohnte zwar nicht in meiner Nähe (…), aber er war mir der Nächste, er war mein Nachbar.«

Am 27. November 2001 sagte Kempowski im »alpha-Forum« des Bayerischen Rundfunks: »Ich habe mir von ihm das, was er in seinen Büchern ›Schnappschußtechnik‹ nannte, abgeschaut: Das hat mich interessiert, das hat mich beeinflußt. Ähnlich ist aber auch dieses merkwürdig abgeschlossene und klösterliche Leben, das er geführt hat.« Und an Drews schrieb er am 14. November 2006: »Wenn ich heut so daran denke, verband mich etwas mit ihm, das meiner Bindung zu Johnson ähnlich war. Eine Art Furcht / Liebe / Respekt. Daß ich auch ›dazu gehöre‹, stellt sich erst jetzt heraus.« Dazu zeichnete er die drei Namen mit verbindenden Linien zu einem Dreieck: oben »Schmidt«, links und rechts »Kempowski« und »Johnson«.

Wann und wo genau sich Drews und Kempowski kennenlernten, ist nicht mehr zu klären. Daß es Anfang der siebziger Jahre war, darin waren sich beide einig. So schrieb Drews in einem Beitrag zu »Erst-Begegnungen« mit Autoren über die seiner Meinung nach erste Zusammenkunft mit Walter Kempowski: »Es muß ein ganzer Trupp von Leuten gewesen sein, der da Anfang der siebziger Jahre bei ihm einfiel, als er noch bei Hanser war. Wir tafelten in der Halle seines Hauses in Nartum, und ich nahm ihn nur ungenau wahr, er war nur vage ein Erfolgsautor für mich, hatte noch kaum Kontur, erst später las ich den ›Block‹, sein erstes und eines seiner besten Bücher. Aus diesen lärmenden und leicht angetrunkenen Anfängen entwickelte sich die Wahrnehmung eines Werkes von – auf weite Strecken – scheinbar kurioser Biederkeit und Drögheit, und erst nach und nach lernte ich Walter Kempowskis Bücher lesen: Sie sind viel unheimlicher und hinterhältiger, als den meisten Kritikern bis heute aufgegangen ist. Damals aber, Anfang der siebziger Jahre, wuselte Kempowski für mich nur im Hintergrund einer großen Gesellschaft in seinem geräumigen Haus herum, klein und schmal, und alle andern wirkten neben ihm fast ungeschlacht und dröhnend selbstsicher.«

Kempowski dagegen verortete die erste Begegnung in München. So diktierte er einer Mitarbeiterin im Jahr 2005 zu dem Messingtäfelchen mit dem Namen des Freundes, einem der vielen, die bis heute die Regale im Turm des Kempowski-Hauses zieren: »Jörg Drews, der Liebe, gehört nun wirklich zu meinem engsten Freundeskreis und er war unzählige Male hier. Ich lernte ihn 1971 oder ’72 in München kennen. Damals trug er noch eine Beatle-Mähne, damals war er noch langhaarig. Und er machte, von mir bestaunt, zusammen mit Ludwig Harig die sonderbarsten Witze. Bis heute ist er mir treu geblieben, und ganz unauffällig sorgt er immer dafür, daß mein Name gefördert wird. Er ist also Freund und Wohltäter und auch allerdings Beichtiger, denn oft habe ich ihn angerufen und mich mit ihm über heikle Angelegenheiten besprochen.«

Das Treffen in München und der Besuch in Nartum – beides könnte sich so zugetragen haben. Dafür, daß sich der Kontakt nach der von Drews beschriebenen Begegnung in Kempowskis Haus – es wurde im Sommer 1974 bezugsfertig – intensivierte, spricht auch die Tatsache, daß vorher keine Eintragungen zu Drews in den Tagebüchern Kempowskis zu finden sind und der mutmaßlich erste Brief vom 28. März 1975 stammt. In ihm dankte Kempowski dem lieben Herrn Drews für dessen »Zeppelin-Informationen«. »In den großen Ferien«, schrieb er, »gehe ich mit dem Tonbandgerät auf die Reise. Ich will Altersheime abklappern nach Weltkrieg I-Veteranen. Daß ich Luftschiffer finden werde, ist unwahrscheinlich, und diese Lücke eben werde ich mit Hilfe Ihrer Literatur schließen können.«

Jörg Drews, der gern Pilot geworden wäre, hatte von Jugend an ein Faible für die Luftfahrt – wer sein Besprechungszimmer an der Universität Bielefeld betrat, konnte an einem Tisch mit zwei Lufthansa-Sitzen Platz nehmen. Seine Kenntnisse waren nahezu unerschöpflich, und offensichtlich hatte Kempowski diese Quelle, möglicherweise für ausgedehnte Recherchen zu seinem Roman »Aus großer Zeit«, angezapft. Später bot er Drews die Mitarbeit an verschiedenen Projekten an, so zum Beispiel an »Kempowskis Kuriositäten-Lexikon« (kurz »KKL«) sowie einem »Kalender«, beide wurden jedoch nicht realisiert. Erst bei der »Gast-Lektoren-Tätigkeit« kam es zu einer Kooperation. Kempowski schrieb am 19. September 1978: »Ich habe lange überlegt, wen ich dafür auswählen könnte (…). Nur Du bist mir eingefallen, vielleicht ein Zeichen für Dich, wie sehr ich Dich schätze.«

Drews nahm das Angebot an, traf sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in Nartum mit Kempowski und verfaßte nach diesen Arbeitsgesprächen Gutachten, die dem Gründer und Leiter des Münchner Knaus Verlags, Albrecht Knaus, zur Orientierung über die Vorhaben seines Autors dienten. 1983 begann auch die von Radio Bremen in Kempowskis Haus veranstaltete Reihe »Literatur im Kreienhoop«, bei der Drews ein gerngesehener Gast war. Zu dieser Zeit gehörte Kempowski bereits zu den vielgelesenen deutschen Autoren, Teile seiner Familiengeschichte waren von Eberhard Fechner verfilmt worden, und der Abschlußband der »Deutschen Chronik« mit dem Titel »Herzlich willkommen« stand kurz vor der Veröffentlichung.

Drews war seit 1973 Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts in Bielefeld. Er rezensierte für die »Süddeutsche Zeitung« und andere Printmedien, war Mitbegründer des »Bielefelder Colloquiums Neue Poesie«, verkehrte freundschaftlich mit zahlreichen Autorinnen und Autoren, kurz: war gut vernetzt und hatte sich als gewichtige Stimme in der deutschen Literaturlandschaft etabliert. Kempowski suchte seinen Rat, wenn literarische Vorhaben ins Stocken zu geraten drohten. Drews erkundigte sich regelmäßig nach dem Stand der Arbeiten. War ein neues Buch erschienen, verfaßte er in der Regel nicht nur eine Rezension, sondern schrieb dem Autor auch persönlich. So zum Tagebuch »Sirius«, das 1990 erschien: »ich habe mich sehr gefreut an dem buch, bei dem du eine schöne balance hältst von infragestellung deiner selbst und rechtbehaltenwollen, von haarsträubenden späßen und einem ernst, den du aber nicht zu lange durchzuhalten versuchst. manchmal hat man auch den eindruck, daß du gar ein ganz klein bißchen weise wirst. und das sage ich ohne spott & ironie!« (18. Dezember 1990) Doch Drews konnte auch Kritik anbringen, wie im Brief vom 22. Juni 1992 anläßlich des Romans »Mark und Bein«: »ich habe das buch als sehr unterhaltend empfunden, aber es hat nicht die pranke des löwen in seiner handschrift, das muß ich dir doch sagen. das erschütternde wird ein bißchen überlaufen oder verwischt durch das pläsierliche. pardon! da hatte doch der SIRIUS einen anderen biß!!!! und vom ECHOLOT verspreche ich mir höchstes und intensivstes.«

Immer war es der experimentelle, ja avantgardistische Ansatz, den Drews besonders schätzte; sobald Kempowski sich ins Fach des konventionellen Romanciers entfernte, konnte er eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen. Der Austausch intensivierte sich im Zusammenhang mit dem zehnbändigen »Echolot«, neben der »Deutschen Chronik « und den Tagebüchern eine weitere tragende Säule des Werks. Von Anfang an war Drews in die Entstehung involviert und vom Vorhaben und seiner Umsetzung begeistert. Kempowski schrieb ihm regelmäßig von den Versuchen, der Textmassen Herr zu werden, aber auch vom Ringen um die Form. Experimente zur Collage- und Montagetechnik, eingefügte Bilder und Zeitsprünge, die Sprechspur (ein Versuch, die Ebene der »Echolot"-Texte mit Notaten aus dem eigenen Tagebuch zu kontrastieren): Was in der Dichterwerkstatt in Nartum diskutiert wurde, erfuhr man auch in Bielefeld. Und Drews setzte sich mit den Ideen weitsichtig auseinander und gab Ratschläge, die der Autor zu schätzen wußte. Oft folgte er ihnen, wenn auch manchmal erst nach weiteren Experimenten.

Ende 1993 war es soweit: Die ersten vier Bände des »Echolots« zum Januar / Februar 1943 erschienen. Das »kollektive Tagebuch« fand in der Presse großen Zuspruch und wurde zu einem der aufsehenerregenden Bucherfolge der neunziger Jahre. Drews verfaßte in der »Süddeutschen Zeitung« (4. / 5. Dezember 1993) unter der Überschrift »Ein Meisterwerk wird besichtigt. ›Das Echolot‹: Walter Kempowskis literarische Jahrhundertcollage « eine der zentralen Rezensionen. Am 30. Dezember dankte Kempowski ihm in einem zweiseitigen Brief für »die gute Meinung«, die er von dem Buch habe. »Du warst ja von Anfang an mit dem Projekt vertraut, und ich vergesse nicht den guten Ratschlag, den Du mir gabst, im Hinblick auf die ›Sprechspur‹, die in der Tat das Ganze nur belastet hätte. In der Reihe der großen Kritiken über das Echolot hast Du das Wort ›Pietät‹ gebraucht, Du hast sie gespürt, die Verhaltenheit oder Scheu, die mich davon abhielt, allzu kraß neben TM [Thomas Mann] etwa Auschwitz [Eintragungen aus dem »Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 –1945« von Danuta Czech] zu setzen. Der Versuchung, womöglich Beiträge in Anekdotenlänge aneinanderzureihen, bin ich nicht erlegen, wie Du selbst schreibst. Kürzen war mir immer peinlich, das wär mir so vorgekommen, als hätte ich nachträglich den Toten den Mund zugehalten. Wir müssen uns auch mal ›Längen‹ aussetzen, wieso sollten wir nicht die Zeit dazu haben?« Der letzte Band des »Echolots« erschien 2005.
[…]

Simone Neteler

SINN UND FORM 3/2019, S. 293-316,  hier S. 293-296