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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-35-5

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Leseprobe aus Heft 3/2017

Delius, Friedrich Christian

Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?


Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein.

Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte.

Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfaßt werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen oder Politiker. Irgendeinen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum zu glauben, Literatur entstünde durch den Stoff, die Konflikte, die Fallhöhen, die Handlung, durch eine oder mehrere interessante, irgendwie besondere Hauptfigur. Stoffe liegen ja immer noch buchstäblich auf der Straße, jedes Leben, jede Familie, jede Firma ist voll von Geschichten, jede Handlung läßt sich mit schrillen, raffinierten Einfällen effektvoll aufladen, Hauptfiguren kann man in ein bestimmtes Licht rücken, aber das alles reicht ja noch lange nicht, um Literatur zu werden. Entscheidend ist etwas ganz anderes, es ist die Perspektive auf diesen Stoff, also eine ästhetische Entscheidung, und es ist die Sprache, die man für diese Perspektive findet. Ohne subjektive, unverwechselbare Sprache kommt keine literarische Kunst zustande. Imre Kertész hat mal gesagt: »Im Roman sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt.« Die Betonung liegt auf dem »allein"!

Verzeihen Sie, meinte Frau E., ein schönes Zitat, aber ganz so blöd sind wir heutigen Studenten auch nicht. Ich habe sehr wohl gelernt, Literatur nicht mit Handlung, dem Stoff eines Buches zu verwechseln.

Das freut mich, aber die meisten Leute, ich meine die lesenden Leute, sogar viele Kritiker, machen sich nicht klar, wie hoch der Anteil der meistens ja sehr bewußt gewählten, oft hart erarbeiteten Sprache ist. Die sprachliche Spannung zwischen zwei Punkten, zwischen den Worten, die Dichte, die Neuheit der Sätze, die Genauigkeit der Beobachtung und des sprachlichen Ausdrucks und im Idealfall das Poetische, also das Schöne, Überraschende, Bildliche, Mehrdeutige, die Strahlkraft der Wörter …

Das ist mir vom Prinzip her klar, fiel mir die Studentin ins Wort, aber das schließt doch nicht aus, daß jemand auch für eine Figur aus der Politik die passende Sprache und die passende Perspektive findet.

Ich will nicht so töricht sein und das völlig ausschließen, sagte ich. Es kann schon sein, daß anderen Autoren mit Geschick und Glück auf diesem Felde etwas gelingt, doch ich fürchte, da wird nicht viel mehr zu finden sein als die satirische oder die biographische Lösung, aber das sind ja noch keine ausreichenden Romanlösungen. Satirisch auf politische Figuren loszureiten oder an einer mehr oder weniger bekannten Biographie entlang zu erzählen, das ist eine leichte Übung, das mag, wenn es auf intelligente Weise gelingt, gutes Handwerk sein, aber keine literarische Kunst. Denn dazu gehört immer auch das Ungesagte, ein Geheimnis, vor allem das Einverständnis zwischen Autoren und Lesern, sich gemeinsam auf etwas Erfundenes einzulassen. Das Problem mit historischen Figuren ist nun aber, daß sie nicht erfunden sind und man relativ viel über sie weiß, daß sie in vielerlei Hinsicht schon definiert sind. Sie laufen oft sogar als ihr eigenes Klischee herum, jeder hat seine Meinung über sie und seine Vorurteile. Doch: Leser wollen nicht lesen, was sie schon wissen, Autoren wollen nicht über etwas schreiben, was allgemein bekannt ist. Und bei einer prominenten Figur noch eine ergiebige Lücke, eine originelle Perspektive zu finden und wirklich etwas Spannendes, etwas Neues, Widersprüchliches oder intelligent Unterhaltendes oder gar Geheimnisvolles herauszuholen aus dem Material, das eine Bundeskanzlerin so bietet, und speziell diese auf den ersten Blick so stocknüchterne und spannungsarme Kanzlerin, das scheint mir unmöglich. Deshalb bleibe ich dabei: Für mich ist Angela Merkel keine Romanfigur.

Aber Sie sind doch ein politischer Autor, warf Frau E. ein, Sie haben uns in so vielen Büchern politische Zusammenhänge beschrieben und erklärt, vom deutschen Herbst über die deutsche Einheit bis zur deutschen Familie und so weiter. Sie lassen sich feiern als Chronist der Bundesrepublik, da müßte es doch eine vergleichsweise leichte und naheliegende Aufgabe für Sie sein, die amtierende Kanzlerin mit all ihren Widersprüchen zu durchleuchten.

Langsam! sagte ich. Erstens gibt es in der Kunst keine leichten Aufgaben, auch nicht in der Romankunst. Zweitens müßten wir klären, was ein politischer Autor ist, ich wehre mich seit Jahrzehnten gegen diesen Stempel, auch mit politischen Argumenten, aber lassen wir das mal für den Moment. Drittens habe ich das Etikett des Chronisten nie für mich beansprucht, es ist als Kompliment ganz nett gemeint, aber ziemlich falsch. Nach meiner Vorstellung jedenfalls notiert ein Chronist die Fakten sauber und ordentlich hintereinander, und wenn was Neues passiert, hat er das qua Amt getreulich festzuhalten. Romanschreiber sind keine solchen Beamten, sie produzieren Unruhe und Verstörung. Romanschreiber tun viel mehr als Chronisten, sie wirbeln die Fakten durcheinander, vermengen sie mit Fiktion und setzen sie neu zusammen. Das Bild paßt also gar nicht. Der Chronist muß objektiv sein, der Schriftsteller subjektiv, radikal subjektiv. Er ist wie jeder Künstler Subjektivist durch und durch, was eine hohe Sensibilität für das sogenannte Objektive, für seine Umwelt einschließt. Das, was er herstellt, kann nur ein einziger Mensch auf der Welt so herstellen, nämlich er, mit einer eigenen Perspektive, einer eigenen Sprache, einem eigenen Stil. Ohne ein großes und demütiges Ich geht gar nichts. Der Kern der Sache muß mit mir zu tun haben.

Aber so weit können Sie doch gar nicht auseinander sein, Pfarrerstochter Merkel und Pfarrerssohn Delius …

Ganz schön forsch sind Sie, Frau E., das gefällt mir. Aber so schnell lass’ ich mich nicht verkuppeln, außerdem bin ich mit meinen Argumenten noch nicht am Ende. Ihre Frage ist noch lange nicht ausreichend beantwortet. Wenn Sie noch Zeit haben, können wir hier gern ein bißchen weiterfechten. Gut? Also, was ich sagen wollte: Mein Ich und die Kanzlerin, ich sehe da keine Brücke, also keine produktive Perspektive, also keine Sprache. Bei aller Liebe zum Grundgesetz, so weit geht mein staatsbürgerliches Engagement nicht, daß die amtierende Kanzlerin meinem Ich nahe oder mir zur Herzenssache geworden wäre. Im Gegenteil, solche Stimmungen bei anderen treiben mich erst recht in den kritischen Modus. Ich sehe in ihr auch nicht den Anker oder die Hoffnungsträgerin als letzte Protestantin zwischen lauter Oligarchen.

Das ist Ihre Sicht, sagte E., Sie sind nun mal ein, wie soll ich sagen, älterer Schriftsteller, der schon mit etwas Distanz auf die Gegenwart schaut, mit Gelassenheit oder auch Herablassung, was weiß ich. Aber ich stecke da mittendrin, in dieser Gegenwart, und seit ich denken kann, so ungefähr, gibt es diese Kanzlerin, tagaus, tagein und alle Jahre wieder, dunkel erinnere ich mich an Schröder und an die uralten Altkanzler. In dieser Frau bündeln sich alle Probleme, die wir haben, und sie demonstriert uns, oder mir, besser gesagt, daß sie selber nicht weiß, wo es langgeht, welchen Kurs sie fahren möchte und welchen sie wirklich fährt. Irgendwas rebelliert in mir gegen die ewige Merkel, irgendwas stimmt an ihr und läßt mich vorsichtig Vertrauen fassen und irgendwas stört mich wahnsinnig und macht mich sehr mißtrauisch. Ich hab’ keine richtigen Argumente, die ganz rechten und die ganz linken Ablehnerargumente sowieso nicht. Aber am schlimmsten finde ich die Meinung: Sie ist ja immer noch die beste weit und breit, nach ihr wird alles noch schlimmer. Das ist doch ein ganz fieser Mißtrauensantrag gegen uns, gegen die Jugend!

(…)

 

SINN UND FORM 3/2017, S. 377-386, hier S. 377-380