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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-11-9

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Leseprobe aus Heft 4/2013

Eörsi, István

Adelbert Reif, Ruth Renée Reif
»LUKÁCS WAR BEREIT, SEIN LEBEN FÜR EINE SACHE HINZUGEBEN»
Gespräch mit István Eörsi


ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben mitbestimmt habe und daß Sie wahrscheinlich bis zum Lebensende in der Auseinandersetzung mit ihm stehen würden. Wann sind Sie Georg Lukács zum ersten Mal begegnet?

ISTVÁN EÖRSI: Ich habe Lukács zunächst durch sein Buch über den historischen Roman kennengelernt. Das war 1946. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und seine Ausführungen begeisterten mich ungemein. Bis heute bin ich davon überzeugt, daß es einen tiefen Zusammenhang gibt zwischen Weltgeschichte und Genre und daß die persönlichen Lebensprobleme der Autoren nur von der Geschichte her verständlich und entzifferbar sind. Später als Gymnasiast las ich noch eine Menge anderer Bücher von Lukács. Das waren die, die er während des Exils in der Sowjetunion geschrieben hatte, sowie Bücher und Artikel, die in den ersten Jahren nach dem Krieg in Ungarn entstanden waren, als noch – ungeachtet der sowjetischen Präsenz im Lande – eine Demokratie zu spüren war, ein Mehrparteiensystem existierte und in gewissen Grenzen Meinungsfreiheit gegeben war. Die Bücher dienten mir als geistige Wegweiser in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. So wurde ich zu einem Schüler von Lukács, noch bevor ich ihm persönlich begegnete.

REIF: Wo fand die erste Begegnung statt?

EÖRSI: Das war an der Budapester Universität. 1949 begann ich zu studieren. Lukács war Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie, und ich schrieb mich in sein Seminar ein. Einige Monate zuvor hatte im Anschluß an den Rajk-Prozeß, einen der großen stalinistischen Schauprozesse, bei dem der Außenminister László Rajk des »Titoismus« angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, die Lukács-Debatte stattgefunden. Es herrschte eine Atmosphäre von Furcht und Schrecken und gegen Lukács wurde eine Hetzjagd betrieben. Ihre Ursache habe ich erst viel später verstanden: Solange die aus der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei hervorgegangene Partei der Ungarischen Werktätigen die Macht noch nicht errungen hatte, brauchte sie den weltbekannten Philosophen Georg Lukács, um die Intellektuellen für sich zu gewinnen. Daher hielt sich die Parteiführung mit ihrer Kritik zurück und gestattete ihm die Veröffentlichung seiner Theorien, aus denen deutlich wurde, daß er die sowjetische Literatur nicht als die Spitze der Weltliteratur ansah. Nachdem es der Partei aber gelungen war, die Macht zu ergreifen, war ihr Lukács mit seinen ketzerischen Ansichten unangenehm. Jetzt wollte man ihn mundtot machen, weil man fürchtete, daß er Einfluß auf die Jugend ausüben könnte. Immerhin hatte sich bereits eine Anzahl Schüler um ihn geschart. Stein des Anstoßes war insbesondere seine »Partisanentheorie«, nach der ein Parteidichter – und Lukács schloß hier auch den Philosophen ein – immer Partisan sei, also einer, der sich mit der historischen Mission der Partei und ihrer strategischen Linie zwar in Einklang befinde, innerhalb dieser Einheit aber eigene Wege gehen müsse.

Lukács’ offizieller Gegner in der von der Parteiführung initiierten Debatte war der Parteiphilosoph László Rudas. Er war Direktor der Zentralen Parteischule und hatte bereits in der sowjetischen Emigration versucht, Lukács das Leben schwerzumachen. Mit einer Mischung aus Herablassung und denunziatorischem Eifer hatte er erklärt, Lukács habe keine Ahnung vom Marxismus und verleumde Lenin. Wer mit dem damaligen Sprachgebrauch der Partei vertraut ist, weiß, daß Vorwürfe dieser Art einem Todesurteil gleichkamen. Lukács übte denn auch »Selbstkritik«. Er hatte in anderen Fällen, vor allem in der Sowjetunion, gesehen, wie schnell solche Anschuldigungen zur Tragödie, das heißt zu Gefängnis, Lager oder sogar zum Tod führen konnten. Wie er mir später erzählte, hatte er nicht gewußt, daß ein geheimes Parteidekret existierte, wonach gegen niemanden, der als Kommunist im sowjetischen Exil gelebt hatte, vorgegangen werden durfte. Dieses Dekret war von Mátyás Rákosi, dem stalinistischen Führer der ungarischen Partei, erlassen worden, weil er sich damit selbst schützen wollte.

REIF: 1949 hielt immer noch die stalinistische Phase an. Wie verhielt sich Lukács nach der Debatte? War er vorsichtig oder ängstlich?

EÖRSI: Vorsichtig war er. 1952 fand noch eine weitere Debatte statt, die ebenso berühmt wurde wie die »Lukács-Debatte«: nämlich um den Schriftsteller Tibor Déry und seinen Roman »Antwort«. Ich wurde dazu eingeladen, vermutlich weil ich stalinistische Gedichte geschrieben hatte. Für mein Rákosi-Gedicht habe ich sogar einen Preis bekommen, was ich insofern wiedergutgemacht habe, als ich seitdem für nichts mehr einen Preis bekam. Bei dieser Debatte spielte der Kulturminister József Révai die Hauptrolle. Er war der Kulturpapst der Partei und sehr gefährlich, ein absoluter Inquisitorentyp und ein tödlicher Stalinist. Ursprünglich war er ein Schüler von Lukács gewesen und hatte auch derselben Landtagsfraktion angehört wie er, aber diese dann verraten. Das Verhältnis der beiden war äußerst kompliziert. In den dreißiger Jahren hatte Révai sehr gute Essays geschrieben. Nach 1945 aber, als er aus dem sowjetischen Exil nach Ungarn zurückkehrte und als Mitglied des Führungskreises der Kommunistischen Partei zu immer mehr Macht gelangte, schrieb er nichts mehr, was sich heute noch lohnen würde zu lesen.

Ich hatte die Absicht, Déry gegenüber Révai zu verteidigen, und sagte das Lukács. Ich war damals 22 Jahre alt. »Schauen Sie, machen Sie das!« erwiderte Lukács. »Aber vergessen Sie nicht, daß der Révai ein besonders kluger Mensch ist und Verdienste hat. Sie müssen Ihren Ton mit Bedacht wählen.« Er wollte mir nicht abraten. Ich glaube, er fürchtete, daß mein strahlender kommunistischer Glaube kaputtgehen würde, wenn ich nicht sprechen durfte. Als die Sitzung dann stattfand, begann ich meine Wortmeldung mit der Feststellung, daß ich mit dem Genossen Révai nicht einverstanden sei. Ich stand auf und da sah ich, wie Révais Kopf zu zittern begann. Es war schrecklich. Niemand wagte, mich auch nur anzuschauen. Ich hielt meine Rede zu Ende. Anschließend war Pause.

Ich stand völlig allein da. Nur zwei wagten es, zu mir zu kommen, Déry und Lukács. Ich hatte mich am Vortag beim Fußballspielen am Auge verletzt und trug einen Verband. Déry wollte wissen, was passiert sei. »Ein Schriftsteller sollte nicht Fußball spielen«, war seine Antwort auf meine Erklärung. Dann kam Lukács und erkundigte sich ebenfalls nach meinem Auge. »Und wie ist das Spiel ausgegangen?« fragte er, als ich ihm davon erzählte. Das war der Unterschied.

Als ich wieder allein stand, sah ich, wie Lukács meine Gedichte mit in den Saal brachte und zu Révai lief, um sie ihm zu übergeben. Er fürchtete, man werde mich nicht frei aus dem Gebäude hinausgehen lassen. Darum wollte er Révai zeigen, was für ein begabter kommunistischer Dichter ich war.

REIF: Freute es Sie, daß er Sie schützen wollte, oder waren Sie enttäuscht, daß er Ihren Mut konterkarierte und Ihre Verteidigungsrede als Ausrutscher hinstellte?

EÖRSI: Seine Sorge um mich und die Hilfsbereitschaft, mit der er meine Verhaftung zu verhindern suchte, schätzte ich sehr. Diese Pfadfindertugenden mochte ich an ihm. Aber noch im selben Jahr erlebte ich meine erste Enttäuschung. Das war am 60.Geburtstag von Rákosi, dem Generalsekretär der Partei und späteren Ministerpräsidenten. Ich hatte, wie gesagt, ein Lobgedicht auf ihn geschrieben, weil ich ihn lieben wollte. Sicher habe ich ihn nicht geliebt, aber weil ich es unbedingt wollte, suchte ich nach Argumenten. Da sah ich die Ankündigung, daß Lukács zum 60.Geburtstag von Rákosi in der sogenannten Storchburg der Universität eine Rede halten würde. Ich ging hin, um sie mir anzuhören. Aber Lukács wiederholte nur die Platitüden, die in allen Zeitungen standen. Das war meine erste kleine Enttäuschung.

Meine zweite Enttäuschung war komplizierter. Ich hatte im Juni 1953, als nach dem Tode Stalins die sowjetische Führung Rákosi zwang, das Amt des Ministerpräsidenten zugunsten von Imre Nagy aufzugeben, begonnen, Gedichte über die stalinistische Vergangenheit zu schreiben. Damals kamen die Menschen nach und nach aus den Gefängnissen und erzählten die schrecklichsten Geschichten. Es stellte sich heraus, daß Rákosi ein Massenmörder war und kein Held. Das war für mich eine unglaubliche Enttäuschung, nicht nur weil ich mich belogen fühlte, sondern auch weil ich feststellen mußte, daß ich selbst zum Mittler der Lüge geworden war. Das empfand ich als eine große Schande. Ich wurde zum Oppositionellen und kam dann sogar ins Gefängnis.

1954 schrieb ich ein Gedicht, in dem ich diese kommunistischen Führer mit den alten aristokratischen Herrschern und Kapitalisten verglich. Von der Redaktion der kommunistischen Jugendzeitung, in der ich damals arbeitete, wurde es gedruckt. Als Gedicht ist es sehr schlecht, aber inhaltlich halte ich es auch jetzt noch für richtig. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung besuchte ich Lukács. Wir aßen zu Mittag, und beim anschließenden Kaffee sagte er zu mir: »Schauen Sie, ich habe Ihr Gedicht gelesen. Ich sage nicht, daß es keine Wahrheit enthält. Da ist eine Menge Wahrheit drin. Aber Sie dürfen die Kommunisten, auch wenn sie gemordet haben, nie mit Mitgliedern der herrschenden Klassen vergleichen. Damit schwächen Sie den Wahrheitsgehalt Ihres Gedichtes.« Auf eine solche Äußerung war ich nicht vorbereitet. Aber ich erinnere mich, ein schlechtes Gefühl gehabt zu haben. Ich fand nicht richtig, was er gesagt hatte.

REIF: Haben Sie ihm widersprochen?

EÖRSI: Damals wußte ich keine Antwort. Aber später habe ich ihn gefragt, ob man etwa zwischen humanistischen und antihumanistischen Todeslagern unterscheiden solle. Diese Frage konnte ich 1952 noch nicht formulieren. Aber als Gefühl war sie schon da. Ich habe mich damals sehr ausführlich mit Lukács befaßt und auch meine ersten Lukács-Übersetzungen angefertigt. Ich übersetzte seinen Thomas-Mann-Essay »Auf der Suche nach dem Bürger« und einige andere Sachen. Er nahm mich als Doktoranden an. Ich wollte eine Arbeit über den Lyriker Attila József schreiben. Das wurde 1955 wegen meiner oppositionellen Haltung verhindert. 1956 aber war ich wieder akzeptiert. Mit der Arbeit konnte ich dennoch nicht beginnen, denn jetzt brach die Revolution aus. Ich kam ins Gefängnis und Lukács wurde nach Rumänien verschleppt. Bis 1960 blieb ich in Haft, und zwei Jahre lang hat Lukács meiner Familie regelmäßig geholfen und meiner Frau jeden Monat Geld gegeben. Ich weiß bis heute nicht wieviel. Er konnte seine Unterstützung allerdings nicht bis zu meiner Freilassung fortsetzen. Jemand hatte es verraten. Er mußte damit aufhören, denn man ließ ihn nur unter der Bedingung aus Rumänien nach Ungarn zurückkehren, daß er nicht politisierte. Und so einem alten Fuchs wie Lukács glaubte man nicht, daß es nichts mit Politik zu tun hat, wenn er der Frau eines Verhafteten Geld gibt. Aber er hat stets seine Bereitschaft zur Hilfe signalisiert. Er war wirklich ein Lehrer.

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SINN UND FORM 4/2013, S. 463-483