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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 2/2010

Tournier, Michel

Kleines Porträt von fünf Lehrern


Claude Lévi-Strauss

Es war 1950. Das befreite Frankreich suchte seine zweite Luft. Von der Höhe seiner Panoramawohnung herrschte noch immer Paul Rivet über »sein« Musée de l’Homme, mit einer Eifersucht, die nur von zwei reizenden weißhaarigen Fräulein einen Stock tiefer, seinen Schwestern, gemäßigt wurde. Um sie scharten sich Gruppen von Forschern, die aus zwanzig Disziplinen kamen, aber vereint durch das Losungswort Reise, den seltsamen und verlockenden Begriff Ethnologie mit Sinn zu erfüllen suchten. Darunter waren ein paar weltfremde, ironische, rätselhafte Menschen, die ihre andersartige Herkunft mit aller Kraft vergessen machen wollten. Für die Kandidaten der philosophischen Staatsprüfung, die man hierher geschickt hatte, damit sie wenigstens einmal mit dem Wirklichen und Konkreten in Berührung kamen, war die Metaphysik, selbst nach Meinung ihrer Lehrer an der Sorbonne, etwas Verschwommenes und Nebulöses.

So lernten wir also, daß man einen prähistorischen Schädel erkennt, indem man mit der Zunge darüber fährt: das Gefühl, an dem porösen Knochen hängenzubleiben, erklärt sich durch das Verschwinden der Knochenhaut, ein unstrittig prähistorisches Merkmal. Und daß sich leicht erkennen läßt, ob ein Beckenknochen von einer Frau, die schon geboren hat, stammt, da die zarte Symphyse, welche die Schambeinfuge verbindet, beim Geburtsvorgang reißt. Daß der Eskimoschädel einen verstärkten Scheitelgrat hat – wie die Stahlhelme im ersten Weltkrieg –, den er seltsamerweise mit den Schlittenhunden gemein hat. Daß der Bumerang, der »zurückkehrt«, nur die sportlich-künstlerische, also unseriöse Abwandlung eines schweren zweckmäßigen Jagd- und Kriegsgeräts ist, das nicht an Rückkehr denkt. Daß Eisberge, obwohl im Meer treibend, aus Süßwasser bestehen. Und tausend andere Wunderdinge im Stile eines Jean Giraudoux, die geeignet waren, unseren Geist eher mit den Flügeln der Poesie als mit den bleiernen Sohlen der Wissenschaft auszustatten.

Aber alles änderte sich dienstags, wenn Claude Lévi-Strauss seine Ethnologievorlesung hielt. Als eine Art Losungswort hatten wir das herrlich surrealistische Motto gewählt, das »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« eröffnet: »Ein Schwiegerverwandter ist ein Elefantenschenkel«. Vornehm wie ein in Oxford erzogener assyrischer Prinz, unterschied er sich deutlich vom Auftreten seiner Kollegen, die sich gern als »auf allen Gebieten zu Hause« präsentierten. Bei ihm hieß es zuerst einmal, sich eine neue Sprache anzueignen. Eine Verwechslung etwa von Kreuzkusinen und Parallelkusinen, patrilinearer und patrilokaler Abstammung, bilateraler Heirat und dualer Organisation, disharmonischen Systemen und verallgemeinertem Austausch durfte keinesfalls passieren. Wenn er über einen zentralbrasilianischen Indianerstamm sprach, bedeckte sich die Wandtafel sogleich mit algebraähnlichen Zeichen, die dessen soziale Organisation darstellten. So wie alle Körper eine chemische Formel haben, galt auch für jede Gesellschaft eine unverwechselbare Formel. Doch das war nicht alles. Wir erfuhren, daß Lévi-Strauss mit ebenjenen Indianern fünfzehn Jahre zuvor herumgewandert war und bei ihnen gelebt hatte. Daß der Stamm bereits damals wenig mehr als hundert Menschen zählte und inzwischen bestimmt ausgestorben war. Dort hörte ich zum erstenmal das Wort Völkermord. Wir erlebten also das Paradoxon, daß die Ethnologie just in dem Augenblick, als sie eine exakte Wissenschaft wurde, ihren Gegenstand verlor und etwas Tragisches bekam.

Freud hatte das bedrückende, brutale Idol des Inzesttabus aus dem Unbewußten hervorgeholt, das nun unser System von Tabus und Verboten beherrschte. Wie aber stand es um seine Lehren in abgelegenen Gesellschaften, die keinen Kontakt mit der jüdisch-christlichen Sphäre hatten und in ein anderes geistiges Klima getaucht waren? Lévi-Strauss zeigte uns, daß diese Frage ebenso viele Antworten enthielt, wie es Gesellschaften gibt, und daß sie wie eine chemische Formel für jede einzelne entwickelt, variiert, verfeinert werden muß. Denn Freuds kompakte, grobe Darstellung muß durch ein System ersetzt werden, das so fein wie ein Webteppich ist, in dem sich die Motive nach exakten Regeln verbinden. Es handelt sich nicht mehr um ein bloßes durch Frevel und Züchtigung bestimmtes Tabu – das Drama des Ödipus –, sondern um eine Organisation aller Heiraten in der Gruppe, die zur größten Ausgeglichenheit führt. Das westliche Denken geht davon aus, daß junge Menschen einander allein infolge des heftigen und regellosen Ansturms der »Leidenschaft« »erwählen«. So können wir uns kaum vorstellen, wie eine Gesellschaft alle Verbindungen so kodifiziert, daß jedem der passende Platz in der Gemeinschaft sicher ist. Dies jedoch gilt für viele der von Lévi-Strauss untersuchten Gesellschaften. Diese »sogenannten primitiven Gesellschaften«, wie er sie bezeichnete, können sich mit unserer technisch vermutlich nicht messen, ja sie sind womöglich sogar derart anfällig, daß schon ein einziger Kontakt mit dem ungeheuren, ungeheuerlichen Abendland tödlich für sie sein kann, und doch hatten sie Erfolg in einem wesentlichen Bereich, wo unser System jedes Jahr mehr versagt: bei der Integration des Individuums in die Gruppe.

Zu Anfang des Studienjahrs wies Lévi-Strauss jedem eine »sogenannte primitive « Population zu, über die wir bis zu den Ferien Bescheid wissen sollten. Wenn ich in den Spiegel schaue, frage ich mich bisweilen noch heute, weshalb ich die Selknam erhielt, einen Stamm aus Feuerland, der vor über hundert Jahren ausstarb, weil er sich den Segnungen der Zivilisation und des Christentums absolut verweigerte. Gleichviel. Die folgenden sechs Monate verbrachte ich in meiner Phantasie zwischen Kap Hoorn und der Magellan-Straße, auf jener von unablässigem Sturm gepeitschten Insel, bei Menschen, um deren weiß bemalte Körper weite schwarze Umhänge flatterten. Ich habe noch andere Phantasie-Expeditionen unternommen, die ebenso gründlich und bereichernd wie die »allererste« waren, doch alle leiten sich von ihr her.

Eines Tages ging ich mit einem Rundfunktechniker zu Lévi-Strauss. Ich machte eine Umfrage zu den Funktionen der Sprache. Meine erste Frage weiß ich noch genau: »Angenommen, wir hätten von einer untergegangenen Gesellschaft nur ein Wörterbuch und eine Grammatik, was wüßten wir über sie?« Er antwortete sofort mit einem einzigen Wort: alles. Nach seiner Auffassung war aus Wörterbuch und Grammatik alles ableitbar: Religion, politische Organisation, Techniken, Heiratsbeziehungen usw. Und es war höchst vergnüglich, seine Beispiele zu hören, wie englische und französische »Ausdrucksweisen« Denk- und Empfindungsweisen auf eine nicht mehr zurückführbare Art wiedergeben. Damit wurde das Unsagbare, nicht Ausdrückbare, Unaussprechliche auf den bescheidensten Teil reduziert, ein für Lévi-Strauss typischer Zug von Rationalismus.

Ich brauchte mindestens fünfzehn Jahre, um die Lehre der »sogenannten primitiven« Gesellschaften und der guten Wilden, aus denen sie bestehen, auf meine Art umzusetzen. Doch als ich »Freitag oder Im Schoß des Pazifik« veröffentlicht hatte, zögerte ich, meinem ehemaligen Lehrer diesen kleinen lyrischen Roman zu schicken. Aber die Herkunft war nicht zu verheimlichen. Ein amerikanischer Kritiker bemerkte sogleich: »Ein ›Robinson Crusoe‹, neu geschrieben von Freud, Walt Disney und Claude Lévi-Strauss.«

[...]

Aus dem Französischen von Joachim Meinert

 

SINN UND FORM 2/2010, S. 152-155