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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 6/2009

Wenders, Wim

Was Menschen mit ihren Bewegungen sagen.
Die Kunst der Pina Bausch


Festrede zum Frankfurter Goethepreis 2008

In unserer Gesellschaft ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir haben es immer häufiger mit falscher Münze zu tun. Wenn etwas besonders glänzt, ist es häufig auch besonders unecht, künstlich, »fake«. »Fool’s gold« heißt der schöne englische Ausdruck für das falsche Gold, auf das man hereinfällt.
Das tritt nirgendwo so deutlich zutage wie in unserer Unterhaltungsindustrie, wenn dort »Gefühle« beschrieben, evoziert, ja, letzten Endes »produziert« werden. Die theatralischen Gesten eines Opernsängers, die einstudierte Mimik in Videoclips oder die puren Nachahmungen von Emotionen in jedem zweiten Fernsehspiel (von Soap Operas wollen wir gar nicht erst reden) spricht jedem Begriff von Echtheit Hohn und lassen einen oft an der Möglichkeit zweifeln, in irgendeiner »Darstellung« heute überhaupt noch irgend etwas Überzeugendes und annähernd Glaubhaftes anzutreffen.
Neulich habe ich einen Orangensaft getrunken, und schon beim Runterschlucken des Tranks wurde mir übel. Als ich auf die Unterseite der Plastikflasche schaute, stand da: »Artificial substitute for imitation orange juice«. Muß man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen! Wie weit kann man sich noch von echtem Saft entfernen?
Mit den Gefühlen ist es nicht anders. »Artificial substitutes for imitations of emotions …« Es geht mir, uns allen, immer häufiger so, nicht nur im Fernsehen, im Zirkus, im Kino, auf was für Bühnen auch immer, auch in Museen, in Konzertsälen und selbst beim Bücherlesen, daß wir den Gefühlen und ihrer Präsentation nicht mehr trauen. Oder einfach nicht mehr mitfühlen können. Es will uns einfach nichts und niemand mehr »bewegen« … Im Prozeß des Produzierens ist etwas schiefgelaufen.
Sie alle, wir alle, kennen natürlich echte Emotionen. Sie, wir, haben sie selber erleben dürfen, oder erlitten. Aber haben Sie sich in letzter Zeit wirklich wiedererkannt in irgendeiner »Darstellung« ähnlicher Gefühle, so daß Sie dieser Interpretation ihr volles Vertrauen gegeben haben, sich ihr hingegeben, sich in sie haben hineinfallen lassen? Stimmen Sie mit mir überein, daß das selten geworden ist? Immer seltener wird …
Nicht, wenn Sie sich Pina anvertrauen. Ich habe vor einem Vierteljahrhundert zum ersten Mal ein Stück von Pina Bausch aufgeführt gesehen. Das war in Venedig. Ich gebe zu, ich wußte nicht viel vom Tanztheater. Ich war ein »Spätberufener«. Ich hatte ein paar Ballette gesehen und alle möglichen Tanzaufführungen in aller Welt, aber nichts hatte mich je vom Hocker gerissen, vom Stuhl gehauen, umgeworfen …
Und nur so kann ich beschreiben, was mich da im »Café Müller« ereilte. Nein, kein Wirbelsturm war da über die Bühne gefegt. Da waren … Menschen aufgetreten, die sich anders bewegten, als ich das kannte, und die mich anders bewegten, als mir das je geschehen war.
Schon nach ein paar Augenblicken hatte ich einen Kloß im Hals, und nach einigen Minuten ungläubigen Staunens habe ich einfach meinen Gefühlen freien Lauf gelassen und hemmungslos geheult. Das war mir vorher noch nie passiert … Im Leben schon, durchaus auch mal im Kino, aber nicht beim Anschauen einer einstudierten Inszenierung, geschweige denn einer Choreographie
Das war nicht Theater, nicht Pantomime, nicht Ballett und schon gar nicht Oper. Pina ist, wie Sie wissen, die Erfinderin (nicht nur hierzulande) einer neuen Kunst.
Es ist an der Zeit, über »Bewegung« zu sprechen. Eigentlich sollte ich mich als Fachmann ansehen. (Oder zumindest Sie mich …) »Motion Picture Director« ist schließlich mein Beruf, ich bin also einer, der sich mit »bewegten Bildern« auskennt. Dachte ich auch. Bis mich Pina eines anderen belehrt hat. Nein, »belehrt« ist nun wirklich der falsche Ausdruck. Nichts läge ihr ferner. Aber sie ist, ohne es unbedingt zu wollen, eine große Lehrerin für alle, die denken, sie wären auf die eine oder andere Weise bewandert in punkto »Bewegung«.
Die deutsche Sprache hat ja die wunderbare Eigenschaft, in einem Wort oft mehrere Zusammenhänge anzusprechen Es gibt kaum ein schöneres Beispiel dafür als den Begriff der »Bewegung«. Das ist sowohl eine Geste, ein Schritt vorwärts, die phänomenologische »Fort"-Bewegung, sich von einem Ort zum anderen aufmachen …
Und dann ist es auch das, was einem auf solch einer Reise zustoßen kann, nämlich daß einen »etwas bewegt«. Für diese innere seelische Bewegung macht das Englische den Sprung von »Motion« zu »Emotion«. Die deutsche Sprache bleibt bei ihrem einen Wort, und das kommt mir hier zustatten, denn nichts kann Pinas Arbeit besser beschreiben, als daß sie die beiden Bedeutungen meines Lieblingswortes zu einer zusammengeführt hat. Motion ist hier emotion.
Mich hat Bewegung als solche vorher nie berührt. Ich habe die immer als gegeben vorausgesetzt. Man bewegt sich eben. Alles bewegt sich. Erst durch Pinas Tanztheater habe ich auf Bewegungen, Gesten, Haltungen, Gebärden, Körpersprache achten gelernt. Und diese dadurch erst achten gelernt.
Und jedesmal aufs neue, wenn ich über die Jahre Pinas Stücke gesehen habe, viele zum wiederholten Male, habe ich, oft wie vom Donner gerührt, das Einfachste und Selbstverständlichste neu als das Bewegendste überhaupt zu sehen gelernt. Welcher Schatz unseren Körpern innewohnt, sich ohne Worte mitteilen zu können, und wieviel Geschichten erzählt werden können, ohne daß ein Satz gesagt wird.
Aufstehen, hinfallen, wanken, hinsinken, entgleiten, auffangen, loslassen, springen, emporschnellen, sich überschlagen, in sich zusammenfallen, abrollen, Schutz suchen, sich verhärten, sich anspannen, sich ineinanderkrallen, den Arm um jemanden legen, sich berühren und wieder auseinandergehen, sich hochheben lassen, sich tragen lassen, sich fallen lassen, den Kopf senken, weinen, lachen, jauchzen, kichern, jubeln, prusten, schluchzen, gleiten, stolpern, hüpfen, purzeln, stürzen … gehen, schreiten, laufen, rennen, anhalten, stehen bleiben … sich zum Narren machen, einen Schuh verlieren und mit dem anderen weiterhumpeln, stolzieren, geschmeidig flanieren, sich wiegen, sich anschmiegen, wippen, ungeduldig mit dem Fuß pochen, stehen gelassen werden, das Kinn hochheben, die Augen senken, kriechen, gedemütigt werden, angehimmelt werden …
Der verschmierte Lippenstift! Der verrutschte Rock! Der hochgekrempelte Ärmel! Das Hemd, das aus der Hose hängt. Die hängende Zunge, die fliegenden Haare, der ausgestreckte Zeigefinger, der gebogene Rücken, das erhobene Haupt …
Menschen bewegen sich, und indem diese Gesten, Sprünge, Schritte … von Pina ins Rampenlicht gesetzt, inszeniert, hervorgehoben und bewußt gemacht werden, oft spielerisch, aber immer leicht und nie »bedeutungsschwanger«, sieht man sie auf einmal so, als hätte man nie vorher auch nur im entferntesten begriffen, wie jede unserer inneren Bewegungen, unserer »emotions«, sich nach außen hin bekunden, fortsetzen, ent-äußern, zu motions werden. [...]

SINN UND FORM 6/2009, S. 854-856