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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 4/2009

Braun, Volker

Über Christa Wolf


Wie wir heute abend, des Andrangs wegen, in zwei Säle sprechen, so schrieb Christa Wolf in zwei Teile Deutschlands hinein und wirkte bald in die Welt. Und sie war doch ganz bei sich, im Versuch, sich kenntlich zu machen. Sich selbst zu geben. Ich darf es sagen, ich kenne sie fünfzig Jahre, und so viele hilfreiche, herzliche, ernste Begegnungen stehn mir vor Augen, Bilder gestellt vom Lebens- und vom Weltlauf. Auf einem der ersten die junge Autorin in Hans Mayers Hörsaal, neben mir eine Studentin, der ich den Platz freihalte und die meine Frau wird. Auf dem letzten die Jubilarin bei dem Fest, das ihr die Enkel bereiten im engsten unendlichen Kreis. Was für ein freudereiches, sorgensattes Leben: anteilnehmend, sich kümmernd, wenn einer Mut braucht oder einen Mantel. Sie ist, auch wenn sie dich fragt, eine Gebende. Aber hör mal, sagt sie: und du sprichst. Ich habe mit wenig Menschen so rückhaltlos geredet und heiter geschwatzt. – Jetzt sehe ich ganz von selbst zu Gerhard, dem liebevollen, dem Lebenslektor; wurde je ein Werk so unnachsichtig mitgedacht und kritisch ermutigt? Einem Minister aber, dem bei dem »Nachdenken über …« (Verschiedenes) nicht wohl war, konnte er entgegnen: Was glaubst du denn, wer sie ist? um damit nur zu sagen: daß sie ja keine Wahl hat, daß eine Erschütterung sie zum Schreiben brachte. Es ist der Widerspruch der Zeit, der uns handeln macht.

Unsere Generation hat an der Abbruchkante der Geschichte gestanden – ich rede nicht von Krieg und Vertreibung, ich rede nicht vom Ende des Ostblocks, »ein Weltreich ist zusammengebrochen. So gehört nun also der Zusammenbruch von Weltreichen zu den Gegenständen, welche wir als selbsterfahrene beschreiben können« (Karl Mickel) – ich rede vom atomaren Wettrüsten, der Option auf die Selbstvernichtung. Das war die Zeit, in der Gefahr das Wort zu ergreifen. Christa Wolf sprach früh von der Schwierigkeit, »Strukturen zu finden, in denen sich heute noch reden läßt, ernüchtert bis auf den Grund, in Verhältnissen, da verzweifeln eher komisch wirke«. So steht es in den »Kindheitsmustern«; sie schrieb mir in das Exemplar: »Wie erkennt man, was man nicht lassen kann, mit tödlicher Sicherheit?«
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SINN UND FORM 4/2009, S. 566-567