Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 4/2009

Tellkamp, Uwe

Gespräch mit Uwe Tellkamp


MICHAEL BRAUN: Herr Tellkamp, deutschsprachige Romane mit fast tausend Seiten sind heutzutage etwas Seltenes. Was hat Sie dazu gebracht, den Stoff in diesem Umfang zu bearbeiten? Stand das von Anfang an fest?

 

UWE TELLKAMP: Ich hatte beim »Turm« zwei Arbeitsphasen. In der ersten entstanden etwa siebzig Seiten. Da habe ich gemerkt, daß der Duktus, die Sprachbewegung so langsam sind, daß es keine kürzere Geschichte werden kann, und habe das Schreiben wegen anderer Projekte unterbrochen. Erst später habe ich weitergearbeitet. Denn daß es umfangreicher werden würde, war mir nach diesen ersten Kapiteln klar. Es vergehen 250 Seiten und noch immer ist der erste Tag nicht verstrichen. Aber das sind Äußerlichkeiten, das Buch versucht schließlich auch, einige Aspekte der damaligen Gesellschaft zu schildern – ich verwende das Wort DDR nicht so gerne, auch im Buch wird es eher vermieden. Es heißt nicht von ungefähr »Der Turm«, und es erhebt auch nicht den Anspruch, der Wenderoman oder der Roman über die DDR zu sein. Dafür enthält es wohl zu wenig, es gab eben auch Aspekte in dieser Gesellschaft, die weniger unterhaltend sind. Das müßte man fortsetzen oder andere Werke zu Rate ziehen. Die im Buch beschriebenen Gesellschaftsschichten habe ich aber versucht so gut wie möglich darzustellen. Ich wollte dem Stoff gerecht werden. Natürlich gibt es auch karikierende Elemente und manchmal auch welche mit einem gröberen Witz. Aber selbst dieser Eschschloraque, ein bekennender Stalinist, hat andere Seiten, hat seine Erfahrungen und Abgründe und wird mit Fairneß behandelt. Ich habe versucht, Plattheiten oder Klischees zu vermeiden, und das braucht einfach Raum. Wenn man es schafft, so etwas einigermaßen lebendig zu gestalten, dann kommt ein richtiges Buch raus. Für mich ist es noch viel zu dünn für diesen Stoff.

 

BRAUN: Haben Sie beim Schreiben je mit dieser Zahl von Lesern gerechnet?

 

TELLKAMP: Nein, das habe ich nicht. Als das Manuskript abgabefertig war, das war im September 2007, hatte ich erhebliche und sicher auch berechtigte Zweifel, ob das Buch überhaupt erscheint. Das hing mit äußerlichen Dingen zusammen, aber auch mit inneren – wer soll das denn lesen? Wen interessiert das? Der Roman enthält vieles, was sehr dresdenspezifisch ist, vieles, was man, glaube ich, nur ganz versteht, wenn man eine Ostsozialisation hat. Gleichzeitig habe ich mich bemüht, alles so darzustellen, daß es sich auch ohne diese Vorkenntnisse nachvollziehen läßt. Der Erfolg des Romans hängt sicherlich auch mit zwanzig Jahren Mauerfall und den Preisen zusammen, die das Buch bekommen hat, aber nicht nur. Im Verlag hat man mir gesagt, die Bestellungen und die Resonanz waren schon vorher da.

 

BRAUN: Kommen wir noch einmal zurück zur Entstehung dieses Romans, die Arbeit daran hat sich ja über mehrere Jahre hingezogen. Man braucht, um ein so großes Projekt bewältigen zu können, immer eine Art Bauplan, gewissermaßen ein Gerüst. Wenn das Werk fertig ist, kann man es getrost wieder abbauen. Wie sah Ihr Bauplan aus? Zeigt das auf dem Innendeckel des Buches abgebildete Stadtbild von Dresden Reste dieses Bauplans?

 

TELLKAMP: Das ist tatsächlich ein Teil des Bauplans. Die Hauptzeit des Schreibens habe ich in Karlsruhe verbracht, in einer sogenannten Volkswohnung, die ziemlich genau dem entspricht, was man sich darunter vorstellt. Es waren also beengte Wohnverhältnisse, außerdem war unser Kind gerade geboren worden. Die einzige Möglichkeit, einen größeren Bauplan anzubringen, war der Flur. Also habe ich DIN-A0-Bögen aneinandergeklebt und mir die grobe Architektur aufgezeichnet, die großen Bögen der Geschichte und die Subplots, die kleinen, geschlossenen Erzählstränge, habe mir die Figuren, die ganze Entourage des Buches überlegt. Vieles ist auch wieder rausgefallen. Und ich habe beim Schreiben den Grundriß auch immer wieder angepaßt, es war kein starres Verfolgen des einmal gefaßten Plans. So etwas würde vermutlich schiefgehen, denn die Figuren entwickeln ein Eigenleben, sie wollen manche Dinge anders, als der Autor sie intendiert hat, und so ändern sich auch die Kapitel, bekommen andere Schlüsse und auch die erhofften Anschlüsse stimmen nicht mehr. Dann muß man, was nicht mehr paßt, über Bord werfen und weitermachen.

 

BRAUN: Wie sind Sie zum Titel des Buches gekommen, oder kam er zu Ihnen?

 

TELLKAMP: Der Titel ist relativ alt. Ich habe das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, immer den Turm genannt, weil ich schon mit fünfzehn oder sechzehn das Gefühl hatte, daß die Gegend eine gewisse Besonderheit hat. Das relativ abgeschlossene Wohnen da oben, scheinbar unberührt von allem Alltäglichen, dem ständigen Schlangestehen und all diesem Klein-Klein. Es war ein Villenviertel, schöne Häuser mit Stuck und Ornamenten, aber sie waren verfallen, an denen war vierzig, fünfzig Jahre nichts gemacht worden. Das beliebteste Verfahren, Sie haben vorhin das Wort Gerüst gebraucht, bestand darin, von außen die Wände mit Gerüsten abzustützen, ohne irgend etwas auszubessern. Die früheren Bewohner waren weg, die jetzigen versuchten mit ihrer Hausmusik, mit ihren Gesprächen und ihrer Literatur gegen die Kälte anzukommen. Wie besonders, wie untypisch das war, wurde mir spätestens klar, als ich rausmußte, also in die Schule und später zur Armee und zu den Einsätzen in der Volkswirtschaft.

 

BRAUN: Es gibt das Turmviertel, die Turmgesellschaft auch bei Goethe. Und wie steht es mit dem babylonischen Turm, auch eine Anspielung? Johannes R. Becher hat Ende der vierziger Jahre das Gedicht »Turm von Babel« geschrieben.

 

TELLKAMP: Das wird im Buch ja auch zitiert, eine ganze Strophe.

 

BRAUN: Bei Becher heißt es: »Das Wort wird zur Vokabel, / Um sinnlos zu verhallen. / Es wird der Turm zu Babel / Im Sturz zu nichts zerfallen.« Genauso zerfällt in Ihrem Buch am Ende die DDR.

 

TELLKAMP: Dieses Motiv hat sehr wohl eine Rolle gespielt, wenngleich seine Ausgestaltung in einem Erzählstrang stattfindet, der später rausgefallen ist. Der ist als Text vorhanden und wird später mal gesondert erscheinen oder in anderen Büchern auftauchen. Es geht dabei um eine Unterweltfahrt, die das Bild der babylonischen Sprachverwirrung aufnimmt. Es gibt eine Version von Brueghels »Turm von Babel« in der Dresdener Gemäldegalerie. Ich habe mir als Autor schon Gedanken darüber gemacht, welche Parallelen es gibt, welches Grundsymbol man für ein solches Buch wählt. Inwieweit das ausinstrumentiert ist, ist eine andere, tiefergehende Frage, aber man erschafft sich ja immer Modelle. Eigentlich ist es auch unzulässig, so ein Buch abzuschließen, zwischen zwei Deckeln, schließlich leben wir gänzlich unabgeschlossen, in einem fließenden Prozeß. Jedenfalls habe ich versucht, dieses Turmsymbol oder Turmmodell in seinen Konnotationen ernst zu nehmen, weil es einfach sehr passend war. Die Gesellschaft in diesem Viertel ist eine ähnliche Turmgesellschaft wie bei Goethe, wenngleich dort die Erziehung anderweitig oder vielleicht gerade nicht stattfindet. Und wie in der Geschichte vom Turm zu Babel geht es in dem Roman immer wieder um das Miteinanderreden. Immer wieder kommen Telefone vor, die mal funktionieren und mal nicht, immer wieder werden Briefe geschrieben, immer wieder kommt es zu Unterhaltungen, reden Leute miteinander oder aneinander vorbei. Zum Schluß geht das alles in einer Art Mahlstrom unter. Die Sprache wird zum Steinbruch, zum zusammenbrechenden Turm. Außerdem spielt auch das Motiv des Elfenbeinturms eine Rolle. [...]

 

SINN UND FORM 4/2009, S. 505-507