Rühmkorf, Peter
(1929 –2008), Mitglied der Akademie der Künste. Zuletzt erschienen die Gedichtbände »Aufwachen und Wiederfinden« (2007) und »Paradiesvogelschiß« (2008). (Stand 3/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/1989 | Mutterboden und Luftlinien
- 1/2005 | Tagebücher 1972
- 5/2010 | Im Pastorat am Himmelreich. Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis
- 3/2020 | »Traditionen von Gemütsinhalten«. Ein Gespräch mit Helmut Heißenbüttel (1975)
- 3/2020 | Die Widersprüche singen lassen. Aufgezeichnet von Gabriele Helen Killert
- 3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Als ich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts meinen 70.Geburtstag feierte, fand sich unter zahlreichen ausgesucht persönlichen Geschenken ein (...)
LeseprobeRühmkorf, Peter
Im Pastorat am Himmelreich. Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis
Als ich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts meinen 70.Geburtstag feierte, fand sich unter zahlreichen ausgesucht persönlichen Geschenken ein besonders merkwürdiges und beziehungsreiches. Es stammte von meiner Cousine Margret, die mir zum Anlaß Johann Heinrich Voß’ Idylle »Der siebzigste Geburtstag« aus einer alten Werkausgabe herauskopiert hatte und mit eigener Hand gebunden und mit teils stattlichen, teils komischen Greisenporträts versehen, und natürlich begann ich sofort darin zu lesen. Alles noch ohne Hinblick oder Bezug auf den mir hier verliehenen Preis, denn davon konnte noch niemand nichts wissen, aber wohl im erinnerungsseligen Rückblick auf gewisse Bildungstraditionen im Hause Rühmkorf, die sich nicht ganz von ungefähr mit der Stadt Otterndorf verbinden. Zwar stand hier nicht gerade mein Vaterhaus. Ein solches im eigentlichen Sinne gab es für mich nicht, aber im Pastorat am Himmelreich residierte doch immerhin mein Großvater, der Herr Supperndent, wie er im Volksmund hieß, eine patriarchalische Gestalt, die ich in Ermanglung einer greifbaren Vaterfigur bis zu meinem 9. oder 10. Lebensjahr Vati nannte.
Das erscheint mir heute noch seltsam und setzt bei Ihnen ein gewisses biografisches Vorwissen voraus, das ich freilich nicht jedem Feiertagsgast in Ihren Reihen abverlangen kann. Mein wirklicher, heißt mein leiblicher Vater war nämlich ein reisender Puppenspieler gewesen, an dem meine Mutter ein etwas aus der Art geschlagenes Gefallen gefunden hatte, immerhin ein derart konkretes, daß aus der flüchtigen Verbindung ein sogenannter natürlicher Sohn hervorging, was schon insofern nicht verschwiegen werden kann, als er heute – selbst bereits in großväterlichem Alter – vor Ihnen steht. Ich habe über meine ein wenig aus der bürgerlichen Tugendnorm weichende Herkunft schon öfter berichtet, zunächst in dem Memobuch »Die Jahre, die Ihr kennt« und gerade kürzlich noch in einem gereimten Capriccio, das folgendermaßen beginnt:
Als meiner Mutter mein Vater
zu gefallen begann,
fing bereits das Affentheater
meiner eigenen Fleischwerdung an.
Nun haben Gedichte allerdings so ihren eigenen schillernden Aussagewert – »Die Kunst ist immer ein Gemisch / aus teils authent-, teils trügerisch« –, daß ich Sie, der Verständlichkeit halber, lieber in unterrichtender Prosa mit dem Fall bekanntmachen möchte, der ja in Anbetracht der Verhältnisse auch als Sündenfall zu betrachten war, denn wo eine Pastorentochter und Religionslehrerin sich auf etwas so Zweifelhaftes wie einen (verheirateten) Poppenspeeler einläßt, ist mit häuslichen Glückwunschadressen zunächst nicht zu rechnen. In der Tat begann dann auch vor der unvermeidlichen Beichte zunächst ein etwas seltsames Vexierspiel, das nicht nur komische Züge verzeichnet. Da meine Mutter auch weiter ihr Vaterhaus besuchte, versuchte sie zunächst den Vorfall zu vertuschen, zu camouflieren, zu ummänteln, alles in der fürchterlichen Erwartung eines superintendentalen Mordsdonnerwetters mit anschließender Verstoßung aus dem Familienkreise. Bis die heilige Offenbarungsangst sie nach all den Kostümierungsversuchen schließlich auf spirituelle und insofern erbaulichere Mittel verfallen ließ, und die trage ich Ihnen nun richtig gerne vor. Als u. a. Religionslehrerin – ich sagte es schon – hatte sie sich schon seit längerem mit den Schriften Karl Barths bekanntgemacht, also insofern der allermodernsten, heißt der dialektischen Theologie, und als sie sich aus ihrer Sündennot keinen Ausweg mehr wußte, wandte sie sich in einer Anwandlung von sozusagen naturwüchsiger Dialektik an den berühmten Theologen, ihn um die Patenschaft für das Unglücksbündel zu bitten.Um es kurz zu machen, denn wir wollen hier ja nicht auf eine Betrachtung von Barths revolutionären Interpretationen des Römerbriefes hinaus, sondern auf die Voßschen Idyllen: diese schützende Patenhand vermochte es dann tatsächlich, die Schatten des libertinären Makels zu verscheuchen und meinen doch recht konservativ gesonnenen Großvater gnädig zu stimmen. Meine Großmutter Helene, eine geborene Hübbe, war ohnehin ein ständig fließender Brunnen der Mildsinnigkeit und Verzeihlichkeit, und so geschah es, daß aus dem befürchteten Familiendrama schließlich ein richtiges Idyll erwuchs, in dem mein Großvater selbst die Bezeichnung »Vati« als ein einschmeichelndes Zauberwort empfand. Immerhin war ich sein einziger Enkel und durch den unliebsamen Zufall sogar ein potentieller Fortsetzer des Geschlechtes und Bewahrer des guten Familiennamens. Zwei Söhne waren im Studentenalter im ersten Weltkrieg gefallen. Die jüngste Tochter Emmi an der Schwindsucht gestorben. Meine Tante Klara – ihr Leben lang nur Lala genannt – hatte ebenfalls mit tuberkulösen Beschwerden zu tun gehabt und sich bereits mit dem Schicksal einer ewigen Haustochter abgefunden, eine betrübliche Aussicht, die erst sehr viel später eine glückliche Wendung nahm. Praktisch also, was blieb ihm, als sich gottesfürchtig mit den Umständen abzufinden und die ihm verbliebenen ungleichen Fünfe gerade sein zu lassen.
Von Statur und Gesichtsschnitt her, ja selbst vom Haarschnitt, war mein Großvater eine in jeder Hinsicht stattliche Erscheinung, sozusagen ein schöner Mann und ein Patriarch in seinem kleinen Kreise, obwohl seine Töchter schon gelegentlich äußerten: »Wenn unser Vater doch so interessant predigen würde wie er aussieht.« Immerhin war er ein milder Regent, etwas unpraktisch vielleicht, was ihn dann auch wieder gängelbar machte und einer Familienharmonie Vorschub leistete, die einer vossischen Idylle schon ziemlich nahe kam. Nun war Johann Heinrich Voß allerdings kein unbekannter Name in meinem Großvaterhaus und seine Homerübersetzungen gehörten ebenso zum allgemeinen Bildungsbesitz wie seine genrehaften Familienutopien. »Luise Voß und Dorothee Goete / schön beide wie die Morgenröte«, das war ein geflügeltes Wort des neunzehnten Jahrhunderts gewesen, und die beiden Schwestern Klara und Elisabeth trugen es mir bereits in einem Alter zu, als ich noch gar nicht lesen konnte. Ich selbst fand die »Luise« später sterbenslangweilig und der »Siebzigste Geburtstag« schien mir eher ein unfreiwilliges Lachprodukt, eine Meinung, die ich heute nicht mehr so unbedingt teile, denn die liebevolle Ausmalung eines wohlgeordneten und überschaubaren Gesellschaftsausschnittes scheint mir doch einer wohlwollenden Betrachtung wert. Die Frage ist ja immer, was man wirklich will und was es sonst so auf der Welt gibt. Strindbergsche Ehe- und Familienkatastrophen mögen interessanter sein – auf das eigene Leben übertragen, legen sie dann doch gewisse Bedenklichkeiten nahe. Tschechows und Schnitzlers Dramen mögen uns näher liegen und uns tiefer an die Nerven gehen, von Beckett oder Hans Henny Jahnn ganz zu schweigen – aber als idealische Muster für ein glücklich absolviertes Curriculum sind sie doch kaum zu betrachten. Daß das fast schon spießerhafte, philiströse Gedanken sind, weiß ich selbst. Sie sind nichtsdestoweniger radikal und betreffen auch den Sinn von Literatur an einer besonders wunden Stelle: Soll sie nun wirklich ihre Leser, Zuschauer oder Hörer ausweglos der Verzweiflung überantworten oder ihnen nicht wenigstens einen erbaulichen Hoffnungsprospekt vor Augen malen, es muß ja nicht unbedingt eine im bloßen Restaurationsmief gefaßte Pfarrhausinnerlichkeit sein.
Den unterschiedlichsten Bewertungen sind die Voßschen Idyllen schon immer unterworfen gewesen. Einerseits sah man sehr wohl, daß neuerwachter Bürgerstolz und bürgerliches Tugendbewußtsein sich als eigene Ideale gegenüber unberechenbarer Fürstenwillkür zu behaupten suchten. Andererseits, na ja, hielten sich diese harmoniebetonten Genrebilder doch auch wieder recht selbstgenügsam im Rahmen und versuchten gar nicht erst, an den feudal verfügten Festen der Welt zu rütteln. Eine Bescheidungsideologie. Aus eingeborenem Harmoniebedürfnis und als gelernter Meliorist möchte ich allerdings meinen, daß wohl beides seine Richtigkeit hat. Vor allem aber, daß eine in wirkliche Lebenspraxis übersetzte Utopie nicht unbedingt zu verachten ist, und wer solche idealischen Zustände einmal mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Sinnen erlebt hat, denkt über ausgeglichene Weltverhältnisse im Kleinen nicht mehr ganz so kritisch.
[...]
SINN UND FORM 5/2010, S. 623-634
Empfangsbereit Es ist ein eigenartiges Phänomen: Je tiefer man in sich hineinschaut, um so mehr Menschen können sich darin erkennen. Man muß es (...)
LeseprobeRühmkorf, Peter
Die Widersprüche singen lassen. Aufgezeichnet von Gabriele Helen Killert
Empfangsbereit
Es ist ein eigenartiges Phänomen: Je tiefer man in sich hineinschaut, um so mehr Menschen können sich darin erkennen. Man muß es so subjektiv wie möglich halten, damit dieser Funke bei den Klienten zündet. Ich habe mich immer als Versuchsperson betrachtet, habe geschrieben, hinter mir ging sozusagen eine Gestalt, die mitschreibt. Ich habe überall Papier und Stift dabei, man kann nicht alles am Schreibtisch erledigen. Wenn man sich selbst so’n bißchen als Welt- und Zeitmitschreiber versteht, dann kommen aus dem Moment heraus wunderbare Formulierungen, kleine Quanten, so sprunghafte Wesen, auch im geselligen Gespräch.
Ich wage da gar nicht von Arbeit zu sprechen. Es geht morgens unter der Dusche schon los oder beim Rasieren, immer Blöckchen und Stift dabei, auf einmal kommt hier ein Einfall, der zieht den nächsten an, das entwickelt dann ein eigenes Magnetfeld, auf einmal beginnt es zu prasseln, ich sage: schnell raus aus der Dusche, die Sachen sofort notiert, es sind unberechenbare Kinder der Natur, solche Einfälle. Eigentlich ist mein Kopf den ganzen Tag zugange, sich irgend etwas auszudenken, ohne daß es mit Willensanstrengung verbunden ist. Wobei es manche Einfälle gibt, die schon eine gewisse Prädisposition haben, zum Beispiel wenn ich so’ne Phase habe, wo ich Gedichte schreibe, dann zieht dieser Vorgang Einfälle an, die bereits rhythmisch oder metrisch vorgekerbt oder -gewellt sind und die sich dann schon nach Vergesellschaftung im Gedicht sehnen und auch bereits diese Modulation haben. Wenn ein Gedicht im Werden ist, haben wir so eine Trägerschwingung, die ist einfach da und der passen sich die Einfälle an. Es ist auch viel Schutt dabei, der wird dann herausgesiebt.
Sehr leicht fallen einem Anfänge, auf den Schluß hin muß man etwas komponieren, aber es darf nicht »gemacht« sein, sondern ein Gedicht spitzt sich irgendwie zu, innerhalb des Gedichts sind so kleine Dramen. Mit dem Anfang ist ein Grundpunkt gesetzt, dann entwickeln sie sich weiter, weshalb das Wort Längsschnitt für mich so’ne große Rolle spielt. Ich weiß am Anfang noch nicht, wie ein Gedicht ausgeht. Meistens stellen sich Teile zu ersten Strophen ein, dann assoziiert sich eine zweite hinzu, dann viel, viel Material, das noch verteilt werden muß, und dann wartet das Gedicht am Schluß auf den erlösenden Punkt, auf sein Ausrufezeichen! Ich habe ja viele Ausrufezeichen in die Welt gesetzt. Komm raus! oder: Bleib erschütterbar und widersteh! oder: Laß leuchten! Es gibt keinen Autor, der so viele Ausrufezeichen in die Welt gesetzt hat wie ich. Zunächst hatte sich das Gedicht in seinen eigenen Fragezeichen verfangen, eins ans andere geheftet – alles ist fraglich –, bis am Schluß dann doch noch so etwas wie ein dezisionistischer Ruck durch das Gedicht geht und auf einen Leuchtpunkt zuführt.
Auflichtungsdramaturgie oder: Komik als Lastenaufhebungsprogramm
Die meisten Einfälle hat man bei Durchhängern, wenn es einem nicht so gutgeht, wenn die Fledermausschatten um einen herum bedrohlich erscheinen, diese Stimmungen ziehen viele Gedanken, Friedhofsgedanken an. Aber in mir ist eine Instanz, die will noch nicht auf den Friedhof, die will wieder raus aus der Grube, die will ans Licht, und das kann man fast in allen Gedichten nachvollziehen. Selten findet ein Gedicht seine Form im elegischen Rondo, auch das gibt es, daß es nicht aus sich herauskommt und in einem gewissen melancholischen Zirkel sich schließt. Was auch eine gewisse Art von Bewältigung ist, insofern als Kummer, Leid, Zorn doch irgendwie zum Lied finden. Aber: Ich habe immer gern positive Schlüsse konstruiert, weil ich nicht nur für den Schreibtisch und das aufgeschlossene Buch schreibe, sondern mein Leben lang öffentlich aufgetreten bin. Und wenn Gedichte am Schluß nur die schwarze Wand zeigen, gegen die der blutige Kopf rennt – glauben Sie, daß Sie einen Klatscher damit erzeugen? Nichts. Das Publikum schweigt betroffen, weiß nicht, was es machen soll. Soll es mit dem Autor in die Grube hineinstarren und das auch noch beklatschen? Das geht doch gar nicht.
Ich fühle mich bei Gedichten eigentlich immer im Zwiegespräch mit Lesern. Ich bin ein kämpferischer Agnostiker, und damit ist die Schwierigkeit größer, den Menschen am Schluß einen Leuchtpunkt mitzugeben – größer als früher, wo es hieß, Herr, laß uns ruhig schlafen und unseren lieben Nachbarn auch. In dieser Heilsgewißheit kann ich mich nicht wiederfinden. Ich sehe das Trostmodell, aber für mich ist es eher ästhetischer Natur. Das Gedicht möchte auch in seinen kummervollen Momenten nicht bei sich bleiben, sondern sich besprechen. Es sucht Leidensgenossen, die an den gleichen Widersprüchen leiden wie ich, der Kopf wird ja immer vom Widerspruch zerrissen.
Einer Gesellschaft, von der man meint, daß sie falsche Wege geht, möchte man wenigstens einen kleinen Club, eine Gemeinschaft der Gleichgläubigen entgegensetzen. Das war in der Romantik so, in der Klopstockzeit, daß man sich besucht und ausgetauscht hat. Man sucht die Seinen, möchte sie um sich sammeln. Gedichte sind gewissermaßen Magneten oder Angelhaken, man sagt: Kommt, hier ist einer von euch, der singt sein Lied, ist es auch das eure? Und manchmal merkt man, daß es höhere Volkslieder sind.
Komik ist im Grunde ein Lastenaufhebungsprogramm. Soll ich den Schmerz auch noch als Schmerz darstellen, soll ich losschreien, blutige Male vorweisen – oder soll ich mich über den Ernst der Lage lustig machen? Es ist eine uralte Bewältigungsform, das, was einen niederzieht, durch den Witz wieder in die Höhe zu kriegen. Kann man Komik nennen, Humor, Satire, Scherz und tiefere Bedeutung.
Es ist ein literarisches Programm, das über die Literatur hinausgeht und sagen möchte, die Lasten sind erträglich, Freunde, über diesen Schmerz kann man sich lustig machen. Da bist du mal abgerutscht, das ist einen Witz wert. Dazu gehört vielleicht die Hochseilmetapher. Man nennt mich einen Artisten, ich hab’ diesen Ausdruck ja oft genug im Bild zu fassen versucht, als Seiltänzer oder Bühnenmatador, auch als Narr, als Kasperl. Mein Vater war ja reisender Puppenspieler und meine Mutter war Lehrerin, Pastorentöchterlein. Wie das so ist, entspann sich ein Liebesverhältnis, und letzten Endes ging ich daraus hervor.
Seelenverwandte Vorgänger
Die Komik ist eine eigene Spezies, und ich hab’ mir da meine Verwandtschaften gesucht. Klopstock war kein komischer Autor, auch Whitman, den ich sehr verehre, war kein komischer Autor. Bei Majakowski sind wir schon auf der Grenze, wenn er sagt, jetzt will ich meine Wirbelsäule als Flöte benutzen. Selbst Kafka ist ja ein komischer Autor, ein tiefer Humorist.
Heine gehört in diesen Kreis. Ich habe ihn vergleichsweise spät entdeckt, nach dem Expressionismus. Und dann Benn: »Ich erlebe vor allem Flaschen und abends etwas Funk, / es sind die lauen, die laschen / Stunden der Dämmerung.« Das ist von einer diabolischen Komik, gerade in unseren Geselligkeitskreisen zitieren wir diese angeschnittenen Sachen von Benn besonders gern.
Neben Benn und Brecht – sie sind ja fast Antipoden, der Sänger des Ich und der Sänger der Gemeinschaft – gibt es noch ganz andere Geister. Auch Ringelnatz habe ich schon als Student gelesen, aber seine wirkliche Tiefe habe ich erst später entdeckt. Als ich über ihn schreiben mußte, dachte ich: Kinder, Kinder, das ist doch wahnsinnig tief und es ist auch nicht nur humoristisch. »Kuddeldaddeldu«, die »Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument «: süß, ein herrlicher Ton, ein Aufhebungston. Gerade seine letzten Gedichte sind doch sehr eingedunkelt, aber trotzdem, wenn es dann heißt: »Der Tod geht stolz spazieren, / Doch Sterben ist nur Zeitverlust. / Dir hängt ein Herz in deiner Brust, / Das darfst du nie verlieren« – das geht mir selbst so tief zu Herzen, das hat so was Positives, da wird bei mir eine innere Glocke angeschlagen.
SINN UND FORM 3/2020, S. 361-368, hier S. 361-363
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die (...)
Rühmkorf, Peter
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker und preziösen Gorilla. Mal galten seine Publikationen als sachlich-kritisch, witzig-frech und pfiffiggriffig, mal als zierlich-zynisch, sackgrob-kraß und unbändig-wütend.
Wußte der Mann mit den vielen Gesichtern überhaupt, wer er war? Daß er sich Decknamen wie Lyng, Lyngi, Lynkeus, Leslie Meyer, Wang Lun, Leo Doletzki, Johannes Fontara, John Frieder, Harry Flieder, Hans Hingst, Peter Torbog und Hans-Werner Weber zulegte, läßt sein diffuses Bild vollends verschwimmen. Die Verwirrung um seine Person erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als er 1996 intime Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Wendejahren 1989 und 1990 unter dem Titel »TABU I« veröffentlichte, die ihn als von seiner alleinerziehenden Mutter gegängelten, von Krankheiten zermürbten, vom Alter gebeugten und von Kritikern links liegengelassenen Schmerzensmann auswiesen. »Man mag sie nicht, diese deutsche Dichterkrankheit«, schrieb Mathias Greffrath im Spiegel über das Klagelied eines leidgeprüften Poète maudit, »aber in Rühmkorfs Selbstbeobachtung wird sie als die unvermeidliche Schlacke erkennbar, die als Rückstand im poetischen Verbrennungsprozeß anfällt: In ihm schmelzt er mit ›eiserner‹ Disziplin aus den Nöten der Magersucht die Eleganz des freien Fluges, mit dem er der lustfeindlichen, prügelnden Mutter entkommt. So steigt die provozierende Sinnlichkeit aus den tiefen Verliesen des verhemmten Selbst, so wächst die Lyrik vom aufrechten Gang aus der Unfähigkeit, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.« Wird man dem »lyrischen Ich- Darsteller« mit Festlegungen dieser Art gerecht? Lassen sich seine schmissigen »Volksund Monomanenlieder« allein aus der prekären Seelenlage ihres Verfassers erklären? Bei einer Lesung in Düsseldorf hatte ich Rühmkorf 1988 von einer ganz anderen Seite erlebt. Statt eines Nervenbündels intonierte da ein versierter Vortragskünstler in betörendem Singsang sein ortsbezogenes »Heinrich-Heine-Gedenklied«. Wer wollte, konnte in dem klimpernden Auftakt »Ting-tang-Tellerlein« sogar ein verwehtes Echo der Rolling Stones heraushören: »I met a gin-soaked bar-room queen in Memphis / She tried to take me upstairs for a ride« – was den fahrenden Sänger freilich nicht daran hinderte, sich nach der Veranstaltung von älteren Damen im Publikum wie ein Kavalier der alten Schule zu verabschieden: »Schön, daß Sie da waren!«
Auf dem Weg zu Hans Henny Jahnns reetgedecktem Domizil im Hamburger Hirschpark sah ich Rühmkorf ein paar Jahre später auf einem Balkon unweit des Altonaer Fischmarkts wieder. Auch diese winddurchwehte Begegnung wollte nicht recht zu dem Unglücksraben aus »TABU 1« passen. Sie erinnerte eher an einen wärmebedürftigen Passagier auf dem Sonnendeck eines Ocean Liners. Hätte ich bei der Gelegenheit wie ein aufdringlicher Verehrer bei ihm klingeln sollen? Lieber nicht! Immerhin wußte ich jetzt, was es mit der Adresse Övelgönne 50 auf sich hatte: ein kleines Reihenhaus an der Elbe, ein schmutziger Strand, träge schwappende Wellen und statt Tropical Islands die rostigen Containerschiffe einer vielbefahrenen Handelsroute.
Richard Anders, Rühmkorfs kauziger Jugendfreund, der schon an seiner Zeitschrift »Zwischen den Kriegen« mitgewirkt hatte, machte mich schließlich mit »Rühmi« persönlich bekannt. Er lud mich 1992 zu einem privaten Treffen in der Berliner Hinterhofkneipe Café Clara ein. Als der dürre Dichter im schlotternden Trenchcoat mit einem Troß junger Männer verspätet eintraf, hatte er bereits einen in der Krone. Daß »Bier und Korn auf Kosten des Hauses« noch nicht für ihn auf dem Tisch standen, fand er empörend: »Wo sind wir denn hier?« Nach der ersten Runde ergriff er entschlossen das Wort und ließ es sich im Verlauf des Abends nicht mehr nehmen. Seinem brillanten Redefluß konnten auch weitere Gläser nichts anhaben; vielmehr befeuerten sie ihn zu immer gläserneren Sentenzen und giftigeren Sottisen, bis dem Akrobaten in der Zirkuskuppel kaum noch jemand folgen konnte. Natürlich drehte sich der Diskurs unweit des Reichstags um den gerade stattfindenden »Ausverkauf der DDR«. Gegen das bigotte »Restauratorium« der Ära Adenauer hatte Rühmkorf schließlich mit einem Ingrimm agitiert wie sonst vielleicht nur noch Arno Schmidt. Wie konnte er nach dieser Kampferfahrung goutieren, daß der »Kanzler der Einheit« gerade gesamtdeutsch hinbekam, was der »Kanzler der Alliierten« westdeutsch auf den Weg gebracht hatte? »Widersteht! Im Siegen Ungeübte / zwischen Scylla hier und dort Charybde / Schwankt der Wechselkurs der Odyssee. / Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; / aber du mit – such sie dir! – Genossen …« So in etwa lautete der vaterländische Gesang des alkoholisch entfesselten Luftgeists im Café Clara.
Über das Verhältnis von Dichtkunst und Drogengenuß hat sich Rühmkorf einschlägig geäußert. Mit Gottfried Benn war er der Ansicht: »Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch«. Ob ihm neben hochprozentigen auch eher immaterielle, um nicht zu sagen: überirdische Impulsgeber zu Diensten waren, ist schwer zu sagen: »Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, / der Himmel abgespeckt, / wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge am Fenster leckt«, ist in einem Gedichtband Rühmkorfs mit dem auf die Gravitationskonstante bezogenen Titel »Irdisches Vergnügen in g« zu lesen. Die dritte Strophe des Gedichts »Himmel abgespeckt« dagegen wildert im ungewissen: »Träume ausgeklinkt – gutso – die gondeln im Blauen, / in den schwimmenden Äther getupft; / mein gepökeltes Herz, mein eingesalznes Vertrauen, / das die Stellung hält und die Schlagader zupft.«
Jede Nacht streifen wir auf diese Weise die Erdenschwere ab. Vier- bis fünfmal ist in unseren Köpfen für jeweils zwanzig Minuten Kino. Doch was da über die innere Leinwand flimmert, folgt keinem Drehbuch. Erst nachträglich und unter Mitwirkung des Verstands werden Geschichten daraus. Läßt sich der »Stoff, aus dem die Träume sind«, überhaupt im Medium der Sprache erfassen? Schließlich besteht er hauptsächlich aus Bildern, und Bilder haben ihre eigene Logik. Dennoch wird seit Menschengedenken die Lehrmeinung vertreten, Träume hätten eine Bedeutung. »Aber die Träume, natürlich, sie sind ja nicht, sie bedeuten nur«, lesen wir auch in Peter Rühmkorfs »TABU I« im Anschluß an einen eigenen Traum, in dem ein Fisch zerlegt und gekocht wird, der vielleicht gar kein Fisch ist, sondern eine Seejungfrau. Mit Vater Freud im Bunde fällt dem deutungsseligen Träumer beim Aufwachen gleich der mädchenhafte Leib seiner Mutter ein, die gerade gestorben ist.
Luigi Malerba hält von Mutterschlachtungen dieser Art wenig. Zwar sind Träume auch für den italienischen Romancier kein bloßer Aberwitz, sonst würde er ihnen in seinem »Tagebuch eines Träumers« nicht so viel Aufmerksamkeit schenken; aber in seinen Augen handelt es sich dabei um kreative Ausbrüche, die auf der »Entregelung der Sinne« beruhen. Selbst die nüchternsten Köpfe können auf diese Weise ihr blaues Wunder erleben. Pedanten werden zu Phantasten, Verklemmte zu Draufgängern, Stubenhocker zu Weltreisenden. Und solche Erfindungen sollten allesamt auf die Muster des kollektiven Gedächtnisses zurückgehen? Malerba weiß es besser: »Wir können ganz friedlich behaupten, daß eine im Traum auftauchende Zypresse eine Zypresse ist und kein phallisches Symbol.« Also hinsehen statt analysieren! Aufschreiben statt zerpflükken! Den Traum als Kunstwerk betrachten! »Der Dichter arbeitet«, schrieb schon der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux auf seine Schlafzimmertür. Und Franz Kafka überschritt durch systematischen Schlafentzug die Grenze des Erfahrbaren noch radikaler. Sein Schrei ben war zugleich ein Träumen und dürfte seine unvergleichliche Wirkung wohl vor allem dieser schlafwandlerischen Eigenschaft verdanken.
Freud oder Malerba? Da ich gerade an einem Radiofeature mit dem Titel »Traumdenken. Über die Nachtseite des Verstandes« bastelte, hätte ich Rühmkorf gern vor diese Alternative gestellt. Am 3. Januar 1996 bat ich ihn daher brieflich um ein Interview. In einer ersten Antwort vom 23. Januar ging er zwar umständehalber nicht auf meinen Wunsch ein, kam aber schon eine Woche später überraschend bereitwillig auf mein Thema zurück, indem er mir ein eigenes Traumbeispiel nebst Kommentar übersandte. Zuschriften muß er, wie aus seiner inzwischen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach archivierten Korrespondenz hervorgeht, in unvorstellbarer Menge erhalten haben. Er hat sie offenkundig nicht nur allesamt aufbewahrt, sondern in den meisten Fällen wohl auch beantwortet. Diese überbordende Mitteilsamkeit ist bei Schriftstellern durchaus nicht die Regel, wie jeder Schreiber von Leserbriefen weiß. Da es allein schon wegen des schieren Umfangs des Rühmkorfschen Briefwechsels unwahrscheinlich sein dürfte, daß er jemals vollständig veröffentlicht wird, soll hier stichprobenhaft aufgezeigt werden, was den leicht entzündlichen Briefeschreiber zu seinen flüchtig getippten und sorgfältig korrigierten Antworten gebracht haben könnte.
Der spontan aufblühende Briefwechsel ließ nach meinem Gefühl auf ein tiefes Bedürfnis nach Zuspruch und Geselligkeit schließen. Da feilte offenbar einer in seiner Dachstube an poetischer Flaschenpost, die nur selten aufgefischt und noch seltener gewürdigt wurde. Unter diesem einsamen Geschäft muß Rühmkorf maßlos gelitten haben. Nie war er mit dem zufrieden, was er in fleißiger Heimarbeit zustande brachte. Ein Projekt mit dem Arbeitstitel »Zeitroman« blieb auf der Strecke. Nur zwei Bände (»TABU I«, 1995, und »TABU II«, 2004) geben auszugsweise Einblick in die »Memos«, in denen der besessene Diarist seinen Alltag bis in die trivialsten Einzelheiten festhielt. In der Gruppe 47 ist er nach Mäkeleien an seinen Gedichten 1961 nie wieder aufgetreten. Bei Lesungen in anheimelnden Buchhandlungen war das anders. Da sah er in freundlich zustimmende Gesichter. Vor großem Publikum und mit Jazzbegleitung auf dem Hamburger Rathausmarkt war er erst recht in seinem Element und konnte aufgekratzt wirken wie ein Klabautermann. Aufbauende Empfindungen lösten wohl auch Briefe aus, die ihn aus seiner »Eber-Einzelbucht« herausholten und die Friedhofsasseln aus seiner Brust vertrieben.
Am Schreibtisch aber mußten Bildungsballast und Sprachschutt erst in langwierigen Probeläufen abgeschüttelt werden, ehe er zum freien Flug ansetzen konnte. Seltsamerweise fiel ihm dies bei seinem »Kerngeschäft«, dem Gedichteschreiben, am allerschwersten. Daß es monomanisch um sein eigenes Ich kreiste, hat nur entfernt mit Egozentrik zu tun. Als eine Art Lilienthal der Poesie nahm er dort sprachliche Anläufe, die ihm wenigstens auf dem Papier die Schwerkraft von den Schultern nehmen sollten, was ihm mit zunehmendem Alter immer mehr Mühe bereitete. Sage und schreibe 730 Seiten brauchte der »schuftende Artist« für den Aufgalopp zu seinem Gedicht »Selbst III / 88. Aus der Fassung «, und es ist nicht einmal sicher, ob sich die Mühe in diesem Fall gelohnt hat. Im kleinen Format aber gelangen ihm seine Flugversuche immer wieder: »Figur in Gras und Garben, / ein Herz, das wie Zunder verglimmt, / wenn der Abend flamingofarben / über die Grenze schwimmt« oder »All mein Glück wie nie gewesen, / aller Scherz wie nicht von hier, und da möchtest du es schon mal lesen, / daß es jemandem so ging wie dir« oder »Die Rosen gerade noch eben, / schon ziemlich viel Rost mit im Rot – / Das eine ziert sich zu leben, / das andere sinnt sich zu Tod.« Vielleicht, sagte ich mir, sind ja auch diesem Entfesselungskünstler seine Gedichte bisweilen im Traum erschienen. In unserem fragmentarischen Briefwechsel (einige meiner Briefe gingen bei einem Zimmerbrand verloren) gibt er sich in dieser Frage merkwürdig bedeckt. Lieber kehrt er den orthodoxen Freudianer heraus, der er nicht war, als sich am Schreibtisch in die Karten blicken zu lassen. Hatte er sich in seiner Jugend nicht überdies einer langwierigen Psychoanalyse unterzogen und anschließend sogar Psychologie studiert? Den Traum poetisch zu verwerten oder auch nur poetologisch in Betracht zu ziehen, muß Rühmkorf jedenfalls schwergefallen sein. Mehrere Versuche, ihm dennoch das eine oder andere Schreibgeheimnis zu entlocken, schlugen mithin fehl. In meinem Radiotext, auf den er am 1. Juli 1996 Bezug nimmt, kam auch sein Jugendfreund Reimar Lenz mit einem Traumbeispiel zu Wort. Lenz war bis in die sechziger Jahre Mitherausgeber der Zeitschriften »Lyrische Blätter« und »alternative« gewesen, in denen neben Celan, Enzensberger und vielen anderen auch Rühmkorf mit eigenen Gedichten vertreten war. Sein Gedicht »Anode« etwa, eine furiose Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder, war 1962 erstmals in der »alternative« zu lesen (»Auf der Höhe des Friedens, aus der Fülle des Fetts, / in den gähnenden Sechzigern dies hier bekundet: / zu singen wenig, aber zu handeln genug – / nun schick deinen Traum in die Mauser«). 1957 reiste er mit Lenz, dem zwei Jahre jüngeren Dichterkollegen, zu den Weltjugendfestspielen in Moskau. Doch in unserem Briefwechsel kommt er erst auf ihn zurück, als ihm die Kopie eines verschollenen Jugendfotos aus seinen Sturm-und-Drang-Jahren ins Haus flatterte. Lenz hatte es aus den Tagen ihrer lyrischen Waffenbruderschaft aufbewahrt und an mich weitergereicht. Nicht einmal mit dem hochverehrten Arno Schmidt ließ Rühmkorf sich ködern. Nur zu gern hätte ich die von ihm zitierte lingualogische Komödie Alfred Maurys mit ihm diskutiert, »wo Jener einmal im Traume auf einer Landstraße spazierte und die Kilometersteine ablas. Dann in einen Kaufladen trat, dessen Inhaber zwar mit Kilogrammgewichten hantierte; dem Träumer aber mitteilte, er sei jetzt nicht in ›gay Paree‹, sondern auf der Molukkeninsel Dschilolo; worauf M. sich bedankte und durch Lobelienbüsche davonschritt, zwischen denen General Lopez auf ihn zukam und zu einer Partie Lotto einlud.« Dem Autor von »Zettel’s Traum« diente diese »scheinbar läppische Bilderfolge« zur Untermalung seiner »Etym-Theorie«, wonach Träumer aus »Zünd-Worten« die buntesten Geschichten konstruieren.
Doch Spekulationen dieser Art waren Rühmkorfs Sache nicht. Berichten über Traumdiktate bei Schriftstellern traute der »Klarsicht-Witzbold« nicht über den Weg. Daß die Neurobiologie über Freuds »Traumdeutung« längst hinaus ist und den Traum inzwischen als kreatives Spiel mit alternativen Möglichkeiten interpretiert, nahm er nicht zur Kenntnis. Dabei waren ihre Einsichten über die nächtliche Gedankenarbeit vermutlich auch für sein eigenes Schaffen von Belang. Der spielerische Umgang mit »Tagesresten« entsprach auch seiner poetischen Praxis. Im Traum würden »neue Muster« gewebt, befand schon August Strindberg. Er sei eine kunstvolle Mischung aus Erinnerung und Erfindung, aus Unwahrscheinlichkeit und Improvisation. Für den »Anti-Ikarus« Rühmkorf dagegen war und blieb der Traum, was schon Freud in seiner »Traumdeutung« aus ihm herausgelesen hatte.
Daß unser Briefwechsel bald versandete und im November 1997 schließlich ganz abbrach, lag jedoch nicht primär an inhaltlichen Differenzen, sondern an der immer prekärer werdenden Gesundheit des Adressaten. Zwar hatte ich am Rande von Lesungen und Vorträgen noch mehrfach die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber mehr als ein paar freundliche Worte kamen bei diesen Begegnungen nicht heraus. Dennoch war es ihm zum Abschied offenbar noch wichtig, mich auf der richtigen Seite der Barrikade zu wissen. Als der rebellische Geist in Deutschland verebbte, besann der »rote Rühmkorf« sich antizyklisch seiner west-östlichen Lehrjahre und fing wieder an, Marx zu lesen. Seinem letzten Schrei ben vom 23. November 1997 fügte er zur politischen Unterweisung das handschriftliche Gedicht »Bleib erschütterbar und widersteh« bei. Ein paar Jahre später, bei unserer letzten Begegnung auf den Fluren der Akademie der Künste am Hanseatenweg, kam er mir bereits so hinfällig vor, daß ich nicht mehr wagte, ihn anzusprechen.
Kurt Darsow
SINN UND FORM 3/2022, S. 372-390, hier S. 372-376