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Saab, Karim
- 3/1990 | Ungebunden aber stetig - Die Werkstattgalerie Eigen + Art, Leipzig
- 4/1991 | Leben & Lösung abendländische Fotographie
Saalberg, Christian
Sabais, Heinz-Winfried
- 2/1950 | Neue Lyrik
Sacher-Masoch, Wanda von
- 3/2020 | Drei Briefe an Carl Spitteler (1908). Mit einer Vorbemerkung von Wulfhard Stahl
Sachs, Lothar
- 6/1996 | Theater nach Brecht. Gespräch mit Heiner Müller, Ernst Schumacher, Wolfgang Rindfleisch, Matthias Thalheim und Marianne Streisand
Sachs, Nelly
Sacks, Oliver
- 3/2013 | Erinnerung, sprich
Sadoul, Georges
- 1/1953 | Ein Besuch in den Moskauer Ateliers
Sadoveanu, Mihail
- 3-4/1953 | Mitrea Cocor
Saeger, Uwe
- 3/1979 | Die Erdbeeren brauchen Wasser
Safranski, Rüdiger
- 3/1997 | Die Kunst, das Böse und das Nichts
- 1/1999 | Eine heimliche und stets gefährdete Provinz des Menschen. Rede zum Empfang des Ernst-Robert-Curtius-Preises
- 4/2000 | Nietzsches Philosophie des Frühlichts
- 1/2004 | Gespräch mit Jochen Rack
- 4/2004 | Schiller und die sanfte Gewalt des Schönen
- 2/2019 | Über Martin Heidegger
Sagave, Pierre-Paul
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Zum Bild des Luthertums in Thomas Manns »Doktor Faustus«
Sagert, Willi
- 6/1980 | Gedichte aus der DDR
Sagnol, Marc
- 1/2020 | Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów, S. 58 Leseprobe
Sagnol, Marc
Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów
SAMBOR
Am Fuße der Karpaten, an der Straße, die hinauf zu den Almen der Polonina führt, liegt die Stadt Sambor anmutig über dem Dnjestr, der hier noch ein schmales Flüßchen ist, bevor er breiter wird und sich in Mäandern durch die galizische Ebene schlängelt, um größere Städte wie Mogiljow Podolski und Jampol mit Wasser zu versorgen, und schließlich als mächtiger Strom bei der Festungsstadt Belgorod Dnestrowski ins Schwarze Meer mündet.
Doch in Sambor deutet kaum etwas darauf hin, daß dieser schäumende Wasserlauf irgendwann solche Dimensionen annimmt, in seinem Verlauf von so vielen Bächen und Flüssen gespeist werden wird, wie der Strypa, dem Seret oder dem Sbrutsch in Podolien. Eine Brücke führt über den Dnjestr, dann überquert man einen weiteren Wasserlauf, die Mlynowka, den »Mühlbach«, der die kulturelle Grenze zwischen der Stadtmitte und dem jüdischen Ghetto bildete. Lange Zeit war Sambor, wie die meisten galizischen Marktflecken, in zwei ungleiche Teile geteilt, das Zentrum, bürgerlich, polnisch, lag auf der Anhöhe, während sich an den Ufern der Mlynowka und des Dnjestr die Unterstadt erstreckte, zunächst das jüdische Viertel und anschließend die ruthenischen Dörfer.
Einst jedoch erhob sich ein berühmtes Schloß in Sambor, nicht in der Oberstadt, sondern dort, wo sich heute das ärmliche Viertel Blich befindet, nicht weit vom Ufer des Dnjestr entfernt. Dort residierte der Woiwode Jerzy Mniszech, Sproß eines bedeutenden polnischen Adelsgeschlechts, der hier den »falschen Dimitri« empfing und ihm die Hand seiner Tochter Marina anbot, bevor dieser selbsternannte Zar 1604 zur Eroberung Moskaus aufbrach. In Puschkins Drama »Boris Godunow« wird geschildert, wie der entlaufene Mönch, der vorgibt, der im Alter von sieben Jahren in Uglitsch ermordete Zarewitsch Dimitri, der Sohn Iwans des Schrecklichen, zu sein, sich zunächst in Krakau, dann in Sambor auf seinen Feldzug gegen Moskau vorbereitet.
Wir brechen, Kameraden, morgen früh
Von Krakau auf. Auf deinem Landsitz Mniszech,
Werd ich voraussichtlich drei Tage rasten.
Dein gastfreundliches Sambor ist berühmtDurch die gewählte Ausstattung des Schlosses
Und durch die Schönheit seiner jungen Wirtin.
Ich hoffe sehr, die liebliche Marina
Dort anzutreffen …(Nachdichtung von Manfred von der Ropp)
Die folgende Szene spielt sich im »Schloß des Statthalters Mniszech in Sambor« ab: Hier hat der falsche Dimitri abends am Springbrunnen ein Stelldichein mit Marina, erklärt ihr seine Liebe und verspricht ihr, Moskau für sie zu erobern. In der russischen Geschichte ist diese kleine polnische Provinzstadt seitdem berühmt, aber auch berüchtigt, denn Dimitri gelang es tatsächlich, Moskau zu erobern, sich zum Zaren krönen zu lassen und sich ein Jahr lang auf dem Thron zu halten. Dann wurde er seinerseits ermordet, man zerstückelte seinen Leichnam und schoß die Überreste mit einer Kanone in Richtung Polen. Sambor ist gleichsam das Gegenstück zu Uglitsch am Ufer der Wolga, wo man die Kirche des Heiligen Dimitri »zum vergossenen Blut« besichtigen kann, die an der Stelle errichtet wurde, wo der Siebenjährige starb. Bis heute ist umstritten, ob der Zarewitsch im Auftrag des Regenten Boris Godunow ermordet wurde oder sich versehentlich selbst eine tödliche Verletzung zufügte, wie es die offizielle Version damals behauptete.
Vom Schloß Sambor ist praktisch nichts mehr übrig, vielleicht, weil es in der Unterstadt, nicht weit vom Dnjestr stand. Noch 1919 wies der große Galizien-Kenner Mieczyslaw Orlowicz in seinem Reiseführer darauf hin, daß man in Blich einige »Überreste der Befestigungsanlagen des Schlosses des Woiwoden Mniszech « besichtigen könne, doch heute sind diese nicht mehr auffindbar. Blich ist noch immer ein ärmliches Viertel, aber wenn man sich dem Ufer des Dnjestr nähert, gelangt man in eine Gegend mit freistehenden Häusern, Villen und einem großen Park. Alles deutet darauf hin, daß sich hier das Schloß befand.
Doch auch abgesehen vom Schloß haben sich in Sambor sehenswerte Spuren der polnischen Aristokratie erhalten, welche die Stadt geprägt hat, ebenso wie einige bescheidenere Überbleibsel der beiden alten jüdischen Viertel, die früher die Unterstadt bildeten und die Artur Sandauer in seinen »Notizen aus der toten Stadt« anschaulich schildert: Das eine, Targowitza genannt, lag am linken Ufer der Mlynowka, direkt unterhalb der Oberstadt und wurde von den »aufgeklärten« Juden bewohnt, die sich von den Bewohnern des Ghettos abgrenzen und der polnischen Kultur assimilieren wollten. Das andere trug den Namen Blich und lag am rechten Ufer der Mlynowka. Es handelte sich um ein echtes Ghetto, eine in sich abgeschlossene Welt, geprägt von chassidischer Religiosität, überlieferten Traditionen und nicht zuletzt der jiddischen Sprache. Als Artur Sandauer 1939 nach neun Jahren Abwesenheit in seine Geburtsstadt zurückkehrte, nahm er deren Topographie mit neuen Augen wahr. In seinem Roman beschreibt er drei voneinander abgeschlossene Viertel, drei Welten mit ganz unterschiedlichen Farben und Gerüchen: Rynek, Targowitza und Blich, deren anfangs klar gezogene Grenzen nach und nach immer fließender werden:
»Mein Geburtsort, Targowitza, war zur einen Seite, durch die Brücke über die Mlynowka, mit dem tiefsten Ghetto verbunden, zur anderen Seite, durch die Treppen, mit dem Marktplatz, dem Viertel der Amtsgebäude, der Schulen und der Kirchen. Der Umstand, daß der Marktplatz auf einer Anhöhe gelegen war, nahm für mich eine existentielle Bedeutung an. Wenn man die Treppen zum jüdischen Viertel herabstieg, stieg man zugleich auf der gesellschaftlichen Stufenleiter herab. Der Abstieg war jedoch nicht unmittelbar. Im Targowitza-Viertel waren die Häuser weniger baufällig und man hörte neben jiddisch auch polnisch sprechen. An den Markttagen, wenn die Bauern mit ihren Fuhrwerken den Platz bevölkerten, kam noch eine dritte Sprache dazu: ukrainisch.
Überquerte man die Brücke über die Mlynowka, dann gelangte man von Targowitza ins Herz eines dunklen Kontinents, ins Ghetto am rechten Flußufer. In Blich, wo sich Dutzende baufälliger Häuschen mit von verrotteten Schindeldächern halbverdeckten Fenstern aneinanderkauerten, sprach man nur jiddisch oder, wie man damals sagte, ›Jargon‹. Am Freitagabend erklangen hinter den erleuchteten Scheiben auch hebräische Gesänge.«
Der Dnjestr und der Rynek übten jeweils eine ganz unterschiedliche Faszination auf Sandauer aus. Der Rynek, das war die griechisch-lateinische Hochkultur, die er in der Schule in sich aufnahm, der Dnjestr stand für die slawische Welt, die Wälder, aber auch für die sündhafte Seite des menschlichen Daseins. Der Rynek war Griechenland, der Dnjestr Sizilien. Die Topographie bestimmte natürlich auch sein Liebesleben, und das junge Mädchen, das er im Rynek-Viertel kennenlernt, vor dem glänzenden Hintergrund der Villen und Jugendstilhäuser, wohnt natürlich in der Nähe des Dnjestr, und er beobachtet sie eines Tages mit einem anderen Verehrer am rechten Flußufer. Wie der Proustsche Erzähler spielt der Autor die verschiedenen Gegenden der Stadt gegeneinander aus. Seine Jugend ist von einem zweifachen topographischen Paradoxon bestimmt: Da ist einerseits das mehr oder weniger neutrale Terrain des Targowitza-Viertels, ein Ort des Übergangs, »eine Art Bushaltestelle an der Straße von Blich zum Rynek, an der seine Eltern ausgestiegen waren, um ihre Fahrt nicht weiter fortzusetzen «, und andererseits die Tatsache, daß man ins Paradies, in die Traumwelt des rechten Flußufers, nur gelangte, indem man den Weg durch die Hölle von Blich nimmt. Er durchquert dieses Viertel stets mit einem Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung und ekelt sich vor seinen offenen Abwasserkanälen, durch die sich aller Unrat der Oberstadt ergießt und die ihm nur zwei Jahre später, während der deutschen Besatzung, das Leben retten werden.
Trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen kam es zwischen Bruno Schulz und dem zwanzig Jahre jüngeren Artur Sandauer 1938 zu einer Bekanntschaft, die zur Freundschaft wurde. Die Briefe von Schulz an Sandauer sind verschollen, einige Briefe des Jüngeren haben sich jedoch erhalten:
»Lieber Herr Bruno, ich bin überwältigt von Ihrem Brief. Ich habe keine Worte des Glücks, keine Worte des Trostes. Ich wünschte, ich wäre bei Ihnen. Ich liebe Sie schon seit langem um Ihres Werks willen, jetzt liebe ich Sie um Ihres Leidens willen.« (12. Mai 1938) Einen Monat später sind beide zum Du übergegangen. Die Frühreife des jungen Schriftstellers scheint Bruno Schulz beeindruckt zu haben: »Dieser Sandauer, der im ›Pion‹ über Gombrowicz schreibt, ist ein guter Bekannter von mir, ein 23jähriges Bürschchen, sehr intelligent«, schreibt er an seine Freundin Romana Halpern (23. Januar 1938). Die letzte Postkarte, die Sandauer im November 1942 an Schulz schickte, kam mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt« zurück.
Um in das alte Viertel Blich zu gelangen, dessen Name sich von »bleichen« ableitet, da hier früher Wäschereien ansässig waren, überquert man hinter dem Busbahnhof das Gewässer, das Sandauer die Mlynowka nennt, einen halb ausgetrockneten und zur Kloake gewordenen Bach, und kommt in eine düstere Gegend, deren Hauptstraße immer noch Torgowa heißt. Hier finden sich einige Läden, Getränkestände, Geschäfte, in denen billige Möbel, Eisen- und Haushaltswaren oder gebrauchte Kleidung nach Gewicht verkauft werden, Schaufenster des lokalen Elends. Das einzige, was fehlt, sind die ehemaligen jüdischen Bewohner, die sich buchstäblich in Rauch aufgelöst haben. Am Ende der Straße, vor einem Fabrikeingang, stößt man auf die Reste der alten Synagoge, 1763 erbaut und seit der deutschen Besatzung profaniert: ein großes Gebäude, dessen Fenster mit Holzplatten mit den Aufschriften »Speisesaal« und etwas weiter »Night club« vernagelt sind. Nur die längliche Form des Bauwerks und das Dach mit seiner einzelnen Mansarde ermöglichen es, die Synagoge anhand eines Fotos aus der Vorkriegszeit zu identifizieren. Das angrenzende Gebäude, das früher ebenfalls dazugehörte, dient heute als »Motel« und trägt den russischen Namen »Randewu« (Rendezvous). Der Eingang ist mit Fotos von jungen Frauen dekoriert, die Zimmer werden stundenweise vermietet. Gerade tritt eine Frau aus dem Gebäude, die mit sehr knappen Shorts bekleidet ist und ihr Make-up nachzieht. Von Blich aus hat man einen guten Ausblick auf die Kirchen, welche die Silhouette der Oberstadt prägen.
Steigt man die Treppen oder eine der abschüssigen Gassen am Hang hinauf, gelangt man auf den Marktplatz, in dessen Mitte sich das Rathaus mit seinem Belfried erhebt, auf dem eine ukrainische Fahne weht. Auf allen Seiten grenzen Kirchen und Klöster an den Platz. Die alte Zisterzienserkirche, die die Anhöhe beherrscht, ist heute ein Konzertsaal für Orgelmusik. Der Marktplatz wird von zwei asymmetrischen Promenaden flankiert, die man zu österreichischer, aber auch noch zu polnischer Zeit die Linie A-B – welche die vornehmere war – und die Linie C-D nannte. Man sieht sie auf alten Postkarten und sie lassen sich bis heute gut erkennen, vor allem die Linie A-B mit ihren Bänken, die wie für Liebespaare beim ersten Stelldichein gemacht zu sein scheinen.
Gleichsam aus umgekehrter Perspektive wie Artur Sandauer, dessen Blick sich von Targowitza aus nach oben, hinauf auf den Marktplatz richtete, beschreibt Andrzej Kuśniewicz die Stadt in seinem Roman »Nawrócenie« (Bekehrung). Er läßt seinen Blick von dort aus über die Unterstadt schweifen und versucht, das ihm fremde Stadtviertel in sich aufzunehmen, dem er, in Anlehnung an die Mlynowka, den »Mühlbach«, den Namen »Hintermühlen« gibt: »Rechts zieht sich ein Stück der Linie A-B schräg durch das Blickfeld. Links biegt die Straße ab, die bis hinunter nach Hintermühlen führt. Und gerade gegenüber steht das Rathaus mit einem von einem Pfeil durchbohrten Hirsch auf der Turmspitze. Auf dem ziemlich weitläufigen Großen Platz kommen und gehen die Bauern in ihren Schaffellmänteln und im Sommer in weißen Leinenhemden, die über ihre Hosen allen.« Der Erzähler setzt seinen Rundgang durch die Stadt fort, indem er langsam in die Vorstädte »Über’m Fluß« und »Hintermühlen«, Targowitza und Blich, hinabsteigt, deren exotischer Reiz ihn aus der Ferne lockt.
Obwohl Kuśniewicz zur polnischen Aristokratie gehört, übt die jüdische Welt eine starke Anziehung auf ihn aus, wie schon vor ihm auf Schriftsteller wie die Romanautorin Eliza Orzeszkowa oder den polnischen Nationaldichter Mickiewicz, der in seinem Versepos »Pan Tadeusz« einer jüdischen Figur, dem Schankwirt und Musiker Jankiel, eine zentrale Rolle einräumt. Kuśniewicz nutzt jede Gelegenheit, um in die Unterstadt hinabzusteigen, in das Viertel, »wo es dunkel ist wegen der Kaftane und hell vom Licht der Sabbatkerzen, wo es alte Häuser gibt, die halb in der Erde versunken sind, Gossen voller Schmutzwasser und lärmende Kinder, die darin herumtollen«. Von dieser Welt in ihren Bann gezogen, entfremdet er sich mehr und mehr der Welt seiner Herkunft, bis er sich schließlich nirgends mehr zu Hause fühlt. »Den Marktplatz habe ich hinter mir gelassen, und auf der anderen Seite des Flusses überschreite ich die Grenze, die Grenze des Fremden und des Schreckens zugleich. Ich fühlte mich unbehaglich. Denn hier, auf diesem Boden, bin ich ein vollkommener Außenseiter. Von überallher von Hunderten Blicken beobachtet.«
Kuśniewicz, der Voyeur, träumt davon, ein Teil der Welt zu werden, die Gegenstand seiner Beobachtung ist: »Sie beobachten mich, starren mich an, als ob ich bereits einer der ihren wäre. Aber das ist Einbildung. Ich ergreife also die Flucht und werfe meinen Hut in den erstbesten Rinnstein. Pah, lassen wir das, eine folgenlose Phantasterei. Es war nur eine Fiktion.«
Der Erzähler taucht hier aus einer Phantasmagorie empor, die in der Tradition von Bruno Schulz steht: Auch dieser verhält sich gegenüber der jüdischen Gemeinschaft von Drohobycz wie ein Voyeur. Zwar ist er ein Teil dieser Gemeinschaft, wird jedoch gleichzeitig zum »Verräter« an ihr, indem er sie mit dem Blick eines Außenstehenden beobachtet, der sich über eine fremdartige Welt beugt, die Welt der Zimtläden und der chassidischen Feste.
(…)
Aus dem Französischen von Andreas Fliedner
SINN UND FORM 1/2020, S. 58-68, hier S. 58-63
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Sahl, Hans
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Sahlberg, Oskar
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Said, Edward
Saizew, Boris
- 2/2024 | Die Elysischen Gefilde
Sajat-Nova, Arutin
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Sakal, Moshe
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Sakowski, Helmut
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- 2/1971 | Die Verschworenen
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- 3/1986 | Schrei der Wildgänse
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Salda, Frantisek Xaver
- 5/1991 | Im Zeitalter von Eisen und Feuer
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- 5/1971 | Gespräch über die arabische Literatur mit Doris Erpenbeck, Ibrahim Al-Fathi, Soleiman Fayad und Abderahman Al-Annoudi
Sallenave, Daniele
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Saltzwedel, Johannes
- 4/1999 | Abschied vom Sequentiellen. Notizen zur digitalen Vielfalt
- 5/2016 | Eine Finalgestalt des Zerfalls. Rudolf Borchardts Erzählfragment »Paulkes letzter Tag«, S. 557 Leseprobe
Saltzwedel, Johannes
Eine Finalgestalt des Zerfalls. Rudolf Borchardts Erzählfragment »Paulkes letzter Tag»
Rudolf Borchardt ein Satiriker? Mögen Kenner dem gelehrten Sprachkünstler, der zwischen Bannrede und Minnelied, kulturhistorischem Weltentwurf und virtuoser Gelegenheitslyrik mühelos die Register wechselte, auch beinahe alles zutrauen: Schwungvolle Gesellschaftskritik scheint in seinem Œuvre zu fehlen. Gewiß, da gibt es Erzählungen, die auf höchstem sprachlichen Niveau den Tonfall des sogenannten modernen Menschen samt seiner Freude an geistreichen Pointen simulieren: Schon im »Gespräch über Formen« ist ein ganzes Zeitalter der Ästheten-Dialoge bestens präpariert zu besichtigen, auch in manchen Reden oder Zeitschriftenaufsätzen schimmert das dubiose Heute entlarvend durch, und in den schneidenden »Jamben« entlädt sich der Grimm oft in schnaubenden Karikaturen. Doch all das dient erhabenen Zwecken; Pathos und Gravitas behalten souverän die Oberhand.
Selbst im »Veltheim«, jener Geschichte von einem Hochstapler, der am Wirtshaustisch seine faustdicken Lügen über Reichtum und Macht auftischt, als habe sich da ein Berserker der Unmoral aus längst vergangenen Heldenzeiten ins geordnete Mitteleuropa der letzten Menschen verirrt, selbst in dieser Parabel der Inkommensurabilität wahren Dichtertums bleibt die Hauptfigur geradezu mythisch entrückt; mit Psychologie, Einzelheiten ihrer Handlungsweise oder gar Anekdoten wäre ihm nicht gedient.
Daß Borchardt schließlich doch zu einer Schreibstimmung fand, die identifikatorische Lektüre mit Lokalkolorit, präzise Epochenschilderung mit überzeitlicher Komik zu verbinden erlaubte, beruht wahrscheinlich auf dem schnödesten aller Gründe: Geldmangel. Das bisher unveröffentlichte Fragment »Paulkes letzter Tag«, geradezu idealtypisch für Borchardts Arbeitsmethode nach mehreren aufgegebenen Schreibansätzen bis zu einer Länge von einigen Druckseiten gediehen, ist außer der vergleichsweise mühevoll entstandenen, infolge allzu hochgemuter Erfolgserwartungen, unglücklicher Verlagsbeziehungen und katastrophaler Zeitumstände in ein demütigendes ökonomisches Fiasko mündenden »Vereinigung durch den Feind hindurch« (1937) das einzige erhaltene Überbleibsel eines Zyklus, der als Novellen-, dann gar als Zeitromanserie das Schicksal Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln sollte: »Die mageren Jahre«.
Lange hatte es bis zu diesem Plan gebraucht; war Borchardt doch schon während des Ersten Weltkriegs der Gedanke gekommen, seiner Gegenwart in großer Form den Spiegel vorzuhalten. Im Juli 1916 meldete er Hofmannsthal markig: »Der umfassende Roman, dem ich mich in den letzten Jahren auf so vielen radialen Bahnen zu nähern versuchte und immer schliesslich doch umsonst, hat sein Centrum gefunden. Ich will versuchen an dem Schicksale eines Deutschen, der sich zuerst falsch ins eigene Innere, dann, auf einer höheren Stufe des Falschen, ins Äussere, und schliesslich richtiger, wiewol zweifelnd wieder ins Innere zurückwendet, eine europäische Lebensbreite abzurollen, in der er nicht eben die Hauptperson, sondern höchstens die durchgehende ist.« Einzelzüge dieses Erzählprojekts – das gewiß auch in verkappter Konkurrenz zu Hofmannsthals seit 1912 in Arbeit befindlichem »Andreas"-Roman ersonnen war – blieben freilich noch im bedeutungsvoll Ungefähren: »Eine wunderbare Skala von Frauen schwebt mir vor, im Mittelpunkte des Buchs ein Verhältnis das auf dem Punkte ist, Ehe zu werden, am Ausgange Ehelosigkeit. Doch will ich nichts weiteres detaillieren, ich fände kein Ende da ich den richtigen Anfang nicht finde.«
Um den wäre Borchardt kaum verlegen gewesen, hätte nicht auch sonst so gut wie alles gefehlt. »Geschrieben ist noch kein Wort davon, es wird wol auch lange nichts zu Papiere kommen. Ich muss mich ganz meiner eigensten Arbeitsweise überlassen, die mir, nach Pausen der Negligenz, die lange nicht mehr aufgesuchten Personen und Elemente bereichert und entwickelt wiedergiebt.« (16. Juli 1916) Borchardt, zu dieser Zeit als Unteroffizier Nachrekonvaleszent in Heiligenberg überm Bodensee, scheint seinem koketten Andeutungston selber mißtraut zu haben, denn den Brief an Hofmannsthal sandte er nicht ab. Doch Parameter waren gesetzt: Ein Deutscher, Inneres und Äußeres, europäische Lebensbreite, Ehe und Ehelosigkeit – solche Koordinaten deuteten auf ein Schicksalspanorama vor dem Hintergrund der Gegenwart. 1929, in seinem letzten abgeschickten Brief an Hofmannsthal, umriß er konkret eine Hauptrolle nach dem Modell des gemeinsamen Freundes Eberhard von Bodenhausen: »In dem Romane der mir vorschwebt und an den ich allmählich zu gehen hoffe, hätte eine solche ernüchterte grosse Natur mit ihrem tonlosen Adel und ihrer langsam versagenden Festigkeit unter der Zeitenbürde wol ihre Stelle, – neben anderen, durch andere reflektiert, auf andere bezogen. Aber für sich allein würde sie einen Darstellungsraum veröden.«
All das blieb weiterhin tastende Überlegung, bis ihn im Mai 1931 Geldsorgen und zugleich wieder das Vorbild Hofmannsthals zu einem neuen Angebot an Herbert Steiner, den Redakteur von Martin Bodmers Zeitschrift »Corona«, bewogen: »Die erste der neuen Novellen ›Die Magren Jahre‹ will ich Ihnen reservieren, wenn sie ohne Striche, wie Hofmannsthals Roman, erscheinen kann. In der schönen Erzählung Th. Wilders sind mir und Anderen die Kürzungen sehr fühlbar gewesen. Jedenfalls können Sie auf reichliche und gewichtige Beisteuern von meiner Seite rechnen wenn Sie ihnen Raum gewähren können.«
Nach offenbar positiver Reaktion und verbindlicher Absprache ist die »Novelle« oder »Erzählung« Anfang Februar 1932 »zu ¾ niedergeschrieben und geht in etwa 10 –12 Tagen ab« – wenig später allerdings schützt Borchardt erst Krankheit, dann das langsame Abschreibetempo seiner Frau vor. Zwar meldet er Steiner: »Die zweite Erzählung ist im Zuge und entwickelt sich rascher«, doch er liefert auch die erste nicht, und Monate später will auf einmal die »Kölnische Zeitung« das Opus drucken. Noch im Dezember 1932, nachdem sich während des Sommers das Buch über Pisa »eigenmächtig eingedrängt« hatte, hält Borchardt die nun »zum Romane ausgewachsene Novelle ›Vereinigung durch den Feind hindurch‹« (Brief an Martin Bodmer) zurück; Anfang 1933 dürfte er dann nach dem Zeugnis der Briefe einen Teil des Manuskripts an Steiner gesandt haben, nur Tage bevor die ›Machtergreifung‹ jegliche Planungen unsicher machte. Ende 1935 gab er Steiner einen neuerlichen Wink mit dem Zaunpfahl, indem er schrieb, Rudolf Alexander Schröder habe bei seinem Besuch in Italien den »Roman grossenteils gehört«; dasselbe steht in einem für Hugo Schaefer bestimmten Briefentwurf. Zwar gab Marie Luise Borchardt der Absicht ihres Mannes, finanziell für die Familie »durch Durant und Novelle alles in Ordnung zu bringen«, schon im April 1936 keine Chance mehr, doch Steiners Besuch kurz darauf bewirkte immerhin, daß im Herbst das Manuskript abgeschlossen vorlag.
Die Publikationsgeschichte der »Vereinigung durch den Feind hindurch« bestätigte ihre Prognose: In Briefen und Briefentwürfen wechselten sich großspurige Behauptungen Borchardts gegenüber Bodmer, Bermann Fischer wolle »die ganze Reihe« der »Magern Jahre« abnehmen, mit endlosen, erbitterten Vorwürfen an Peter Voigt ab, der das Werk in Wien nur zu sehr unprofitablen Bedingungen unterzubringen vermocht hatte. Inzwischen aber schien jede noch so vage Möglichkeit, Geld zu verdienen, allen Einsatz wert, und so erfuhr Franz Blei im Frühjahr 1937 schon vor dem Erscheinen der »Vereinigung durch den Feind hindurch«, die »Romanserie« sei im Fortgang: »Den zweiten habe ich dieser Tage fertig und werde ihn irgendwie und irgendwem verkaufen – solche Bedingungen wie von Bermann bekomme ich an jeder Strassenecke. Er erscheint auf alle Fälle im Herbst.«
Natürlich wurde daraus nichts. Spätere Briefe indes zeigen, daß Borchardt trotz der immer widrigeren Zeitumstände und des überwiegend negativen Echos den Plan einer Buchreihe vor sich selbst zäh aufrechterhielt. So las Schröder, der im Juni 1937 als einer von ganz wenigen Freunden aufmunterndes Lob geäußert hatte, im August: »Inzwischen kommt nach dem Gartenbuche der neue Roman auf den Leisten, den ich Dir im Herbst hier vorlesen müsste. Der Plan umfasst 9 Romane ›Die magern Jahre‹ von denen der erschienene Bd I ist, und die durch die ganze deutsche Volksbreite zwischen 1919 und 33 hindurchgehen sollen, mit Ausnahme des Arbeiters, den ich nicht kenne, und mir nicht vorstellen will oder kann.«
Mit seiner Gesamtübersicht und den Erläuterungen legte Borchardt die Latte wieder einmal hoch: »Das Ganze muss neben allem Anderen geschrieben werden, nicht mehr als 6 –7 Wochen ist für jedes Buch verfügbar. Die Hauptarbeit daran ist ja nicht das Schreiben, sondern das Durchleben, das sich uncontrolierbar vollzieht, in freien Viertelstunden des Dösens.« Wie ernst er es mit dieser écriture automatique meinte, bei der alle Manuskriptarbeit bloße Nebensache sein sollte, wird aus dem Entwurf eines Briefes an Hugo Schaefer vom Frühjahr 1938 deutlich: »Die Serie ist abgelegt (…). Die Geschichten sind alle fertig und nur noch zu schreiben – wann, in welcher Sprache, findet sich wol.« Noch 1942 rechnete Borchardt das Projekt in einem weiteren nicht abgeschickten Brief an Schaefer zu »den Pflichtenposten, die man schuldig ist und zu liefern hat, und das Publikum, ob es Anfangs schimpft oder nicht, schliesslich doch zu nehmen, weil es gebraucht wird«. Auch der »grosse Roman (Umfang Krieg & Frieden), Zeit 1890 –1914, Titel schwankt noch« werde »laufend langsam weitergeschrieben « – womit Borchardt möglicherweise auf das gewaltige Romanfragment hinweist, das unpubliziert in Marbach liegt und unter dem Titel »Weltpuff Berlin« unlängst öffentlich diskutiert wurde.
[…]
SINN UND FORM 5/2016, S.590-599, hier S. 590-593
Salygin, Sergej
Sämann, Wolfgang
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- 6/1987 | Ende der Vorzeit
- 5/1989 | Mittelelbisch - Nebst einer Anleitung zum sammeln anderer Redewendungen
Samarin, Roman
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Samuel, Juan
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- 3/1973 | Der Weg in die Sierra Maestra
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- 4/1993 | Zwei oder drei fremde Helden
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- 3/2001 | Das Gelb reifer Limonen
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Sartre, Jean-Paul
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Sasse, Günther-Erich
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Sastre, Alfonso
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Im Netz
Satonski, Dimitri
Sattler, D.E.
- 1/1998 | Fete Champetre
Sauter, Josef-Hermann
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- 6/1988 | Gepräch mit Mark Rasumny
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- 3/1994 | Gespräch mit Adolf Muschg
Savater, Fernando
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Savinio, Alberto
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Sawjalow, Sergej
- 3/2021 | Vier gute Nachrichten. Poem. Mit einer Nachbemerkung des Autors
Sayer, Walle
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- 4/2011 | Zeit des Lichts
- 2/2014 | Dem Geheimnis der Glaubwürdigkeit auf die Spur kommen. Begegnungen mit Erwin Strittmatter, S. 81 Leseprobe
Schacht, Ulrich
DEM GEHEIMNIS DER GLAUBWÜRDIGKEIT AUF DIE SPUR KOMMEN Begegnungen mit Erwin Strittmatter
I
Warum einer Bäcker werden will? In meinem Fall erinnere ich mich an den Grund genau. Ich war gerade mal vierzehn, die Lust am Spielen war immer noch groß, und die Spiele bestanden darin, sich bis spät in die Abendstunden herumzutreiben, so daß jeder Schulbeginn morgens zur Qual wurde. Man wollte im Bett bleiben, bis das Licht der Mittagssonne den Raum erfüllte und auch die Wachträume ausgeträumt waren.
Warum dann um fünf Uhr in der Frühe, wenn alles noch schläft und die Stadt gerade erst zu leben beginnt, eine vor Hitze flirrende Backstube betreten? In Pepitahose, weißem Turnhemd und Jackett, mit weißer Schürze um die Hüfte und einem weißen Schiffchen auf dem Kopf, das nach einer Woche Arbeit genauso waschmaschinenreif ist wie die ganze schöne Uniform. Am Wochenanfang von strahlender Reinheit, am Wochenende ein fett-, mehl und teigstarrendes Schmutzwäschebündel. Warum ich mir das alles antat? Die Antwort ist einfach: Ich haßte die Schule.
Der Preis für die Flucht ins Arbeitsleben war hoch: sie kostete das Kostbarste, nämlich den Schlaf. Denn ich hörte nicht auf zu träumen, sondern trieb diese Leidenschaft nun auf die Spitze: in Form von Lektüreabenteuern, unternommen am liebsten spät in der Nacht. Das Erwachen nach den beseligenden Räuschen und dem viel zu kurzen Schlaf war grausam.
So manche erste Berufsschulstunde ließ ich eigenmächtig ausfallen, was natürlich Ärger einbrachte. Nach drei Jahren Lehrzeit und dem Erhalt des Gesellenbriefs war es endlich vorbei: Ich betrat nie wieder eine Bäckerei, jedenfalls nicht, um darin zu arbeiten. Dennoch mochte ich die Zeit nicht missen, erlebte ich sie doch an manchen Tagen wie einen Roman. Einen Roman, den wir kannten – ob Lehrlinge, Gesellen oder Meister – und der den schönen, aber irgendwie auch merkwürdigen Titel »Der Wundertäter« trug. Er war von jenem Schriftsteller, den ich bereits aus der Grundschule kannte. Wie hieß doch noch das Buch, das wir damals behandelten? War es »Tinko"? Oder war es »Ole Bienkopp"? Offenbar war nichts davon hängengeblieben außer dem Namen des Autors. Es war derselbe wie der auf dem dicken Taschenbuch, das mir eines Tages der Chef unserer Bäckerei, eines Privatbetriebs mit acht Angestellten, nach Feierabend in seinem Büro zwischen Laden und Backstube überreichte. »Hier«, sagte er, und sein böhmischer Akzent war deutlich herauszuhören, »›Der Wundertäter‹ von Strittmatter, den mußt du lesen! Das ist der Roman unserer Innung, in unserer Bäckerei gehört er wie die Kümmelstangen mit zur Ausbildung!« Kümmelstangen, in Mecklenburg nie Tradition, waren in meiner Heimatstadt Wismar die Mitgift des Chefs aus seiner böhmischen Heimat, die er nach dem Krieg, wie so viele andere auch, erzwungenermaßen hatte verlassen müssen. Der Chef schien nicht zu ahnen, was er sich mit diesem Auftrag antat, war ich doch in den nächsten Wochen, wenn ich morgens die Bäckerei betrat, noch müder als sonst, und schuld daran war einzig und allein das empfohlene Buch. Stanislaus Büdner, sein jugendlicher Held, machte mich, wenn ich wie immer erst spät nachts zu Bett ging, rasch wieder wach, und ich las und las, lachend und lüstern, bis mir die Augen zufielen und ich nicht einmal mehr merkte, ob die Kerze neben der Couch, auf der ich schlief, noch brannte oder nicht. Ich glaube nicht, daß man Bäcker sein muß, um sich von diesem Roman verzaubern zu lassen; aber natürlich war es ein spezielles Vergnügen ihn zu lesen, wenn man Bäcker war oder werden wollte: es brachte einem Stolz auf das Handwerk bei, das man erlernte. Man war nun etwas Besonderes, ein Held, der aus der Welt der Bücher kam und das eigene Leben in ein Buch verwandelte, das alle lesen konnten, wenn sie nur wollten. Ich fühlte mich nach der Lektüre des Romans regelrecht geadelt, und ich glaube, meinem Chef und den Gesellen, allen, die ihn gelesen hatten, ging es ebenso. Strittmatters Buch machte uns, gleich den jährlichen Bäckerbällen der Innung, zu Mitgliedern einer verschworenen Gemeinschaft, und kein noch so großer Krach während der Arbeitszeit, weil wieder einmal irgend etwas angebrannt oder sonstwie schiefgegangen war, konnte etwas daran ändern. An jedem Wochenende erzählte einer von uns eine Anekdote aus dem »Wundertäter«, als würde sie aus dem eigenen Leben stammen, so sehr waren wir Teil des Romangeschehens geworden. Und ich? Was war mit mir? Ich war genauso schwer zu erziehen wie der Bäckerbursche Stanislaus; nur traf das Buch in einem Punkt doch nicht ganz zu: Mein Meister behielt mich, und er bootete mich nicht, wie Stanislaus’ erster Lehrherr ihn, vor versammelter Innung mit den Worten aus: »Wer übernimmt einen schwererziehbaren Lehrling zum Auslernen?« Nicht daß ich renitent gewesen wäre, das nicht, ich war nur müde, immer nur müde, und deshalb manchmal einfach nicht da. Oder kam zu spät. Oder schlief ein, bei der Arbeit, beim Hörnchenaufrollen, Semmelkneten, Brot mit Wasser bestreichen, beim Sauberkratzen der Kuchenbleche, Ausspülen der Sahnekessel oder Bestreuen der Kümmelstangen. Hin und wieder weckte mich ein Tritt des Meisters in den Hintern oder das Guten-Morgen-Gebrüll eines Gesellen direkt in mein Ohr. Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, daß ich ein müder Lehrling war und bis ans Ende meiner Lehrzeit blieb. Und das vertrug sich eben nicht mit diesem Beruf, der ansonsten auch bei mir so aussah wie bei Stanislaus Büdner: »Mehl wurde Teig, Teig wurde Gebäck. Das Gebäck verschlangen die Menschen. Am Abend waren Backstube und Laden leer. Neues Mehl mußte zu Teig, neuer Teig zu Gebäck geformt werden. Die Freude des Gärtners über Blumen und Sträucher währt ein Jahr und länger; die Freude des Bäckers über das Gebackene währte einen Tag, nur Stunden.« Stanislaus rettete sich aus dem allzu flüchtigen Glück durch ein einziges Buch, es hieß »Die Kunst der Hypnose«; ich ließ mich von ganzen Bücherwelten hypnotisieren und verabschiedete mich schließlich im Mißklang – wegen eines ertrotzten Urlaubs ins politisch brodelnde Prag 1968 – für immer von meinem Chef und seiner Bäckerei. Strittmatters »Wundertäter« Band I aber blieb mir erhalten. Bis heute. Seinen zweiten Teil allerdings, der 1973 erschien, las ich ganz woanders, an einem Ort, an dem ich zwar auch eine Uniform trug, aber nicht mehr die eines Bäckers. Es war die Uniform eines Strafgefangenen, und ich las das Buch im Gefängnis, als politischer Häftling der DDR und ihrer führenden Partei, der Stanislaus’ geistiger Schöpfer wie selbstverständlich jahrzehntelang angehörte. Aber eigenartigerweise machte diese Tatsache das Leben und die Abenteuer seines Helden nicht unglaubwürdig, und vielleicht war das schon eine Erklärung dafür, was später in diesem Zusammenhang noch kommen sollte.
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Scharf, Kurt
»Halt aus in der Nacht bis zum Wein« Die Entstehung der modernen persischen Lyrik
Um die Bedeutung des Bruchs mit der Tradition zu erfassen, den die modernen iranischen Lyriker vollzogen, müssen wir zumindest einen kurzen Blick auf die Geschichte der persischen Dichtung werfen. Wie die deutsche, so hat auch die Entwicklung der persischen Sprache drei Etappen durchlaufen. Will man jedoch zu ihren Ursprüngen gelangen, so muß man, um mit Thomas Mann zu sprechen, sehr viel tiefer in den Brunnen der Zeit hinabsteigen als bei unserer Muttersprache. Die älteste uns erhaltene Literatur in persischer Sprache ist geistliche Lyrik. Es sind die Gathas, die Zarathustra vor vermutlich etwa dreitausend Jahren verfaßt hat und die uns zunächst mündlich, später auch schriftlich im Âwestâ, dem heiligen Buch seiner Anhänger, überliefert worden sind.
Diese Phase endete im 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Eroberung des achämenidischen Weltreiches durch Alexander den Großen. Unter ihm und seinen Nachfolgern wurde Griechisch vorübergehend zur Hauptsprache des Reichs.
Aber später erhielt das Persische, nunmehr in veränderter Form, seine Bedeutung zurück. Es entwickelte sich eine reiche mittelpersische Literatur, zu der unter anderem der Kern der Märchen aus Tausendundeiner Nacht gehört. Erst später wurden sie ins Arabische übertragen und durch arabische Erzähler erweitert. Der bekannteste Lyriker dieser Epoche war ein Dichter namens Barbad, der um 600 n. Chr. am Hofe des Sassanidenkönigs Chosrou Parwis lebte. Er erfand eine Gedichtform, die er zu Ehren des Herrschers Chosrowâni nannte.
Nach der Eroberung des Reichs durch die Muslime im 7. Jahrhundert n. Chr. wurde das Persische zunächst aus dem öffentlichen Raum verdrängt, aber nie vergessen, so daß es nach etwa zwei Jahrhunderten seine alte Stellung als Amts- und Literatursprache, nunmehr jedoch mit arabischem Alphabet und angereichert mit zahlreichen arabischen Lehnwörtern, zurückgewinnen konnte.
Die neupersische Literatur begann mit Rudaki im 9. Jahrhundert n. Chr. im Nordosten Irans in Chorassân, das seitdem als Wiege der Dichtkunst gilt, also etwa zu der Zeit, in der das althochdeutsche Hildebrandslied verfaßt wurde. In der klassischen Periode, d. h. bis zu Dschâmi, der im 15. Jahrhundert ebenfalls in Chorassân lebte, erreichte sie eine Formvollendung, die sie zum beliebtesten literarischen Instrument in einem weiten Kulturkreis machte. Nicht nur auf dem Gebiet der heute persischsprachigen Länder Iran, Afghanistan und Tadschikistan, sondern auch im Süden des asiatischen Teils der ehemaligen Sowjetunion, in Pakistan, einem großen Teil Indiens und dem Irak sowie am osmanischen Hof war Persisch die Sprache der Lyrik.
Einzelne Vertreter dieser Kunst wurden aber auch im Abendland bekannt. Das gilt etwa für Omar Chayyâm, den Dichter aus Chorassân, dessen Vierzeiler vor allem durch Edward Fitz Geralds Übersetzungen weltweit berühmt geworden sind. Ein Beispiel sei hier zitiert:
Ich sah den Töpfer, der in seiner Werkstatt stand
Die Töpferscheibe drehend formte er den Rand
Von einem Krug, dann auch den Henkel aus dem Lehm
Von eines Königs Schädel, eines Bettlers Hand.Um den Doppelsinn zu erfassen, muß man sich vor Augen halten, daß das persische Wort für »Töpferscheibe« vieldeutig ist; es kann auch für das Rad des Schicksals oder den Kreislauf des Weltgeschehens stehen.
Weltruhm erlangte auch der Schiraser Dichter Sa’adi. Folgende Verse von ihm stehen über dem Haupteingang des Gebäudes der Vereinten Nationen in New York:
Ein Glied desselben Leibes ist ein jedes Menschenkind
Weil von derselben Wesensart wir alle sind
Und trifft ein Schicksalsschlag ein Glied im Lauf der Zeit
So spüren alle seine Glieder dieses Leid
Wenn dich das Unglück anderer nicht quält
Dann ist der Name »Mensch« für dich verfehlt.Als Höhepunkt gilt das Werk von Hafis, dem Goethe im »West-östlichen Divan« gehuldigt hat. Das liegt einerseits an seiner scheinbar mühelosen Beherrschung aller sprachlichen Mittel. Aber auch sein dialektischer Umgang mit Regeln und seine Fähigkeit, noch ausgeklügelter als Omar Chayyâm auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu argumentieren, spielten dabei eine Rolle. Betrachten wir zwei Zeilen seiner Dichtung, um zu sehen, was damit gemeint ist:
Ich möchte einen starken Wein, der trunken macht sogar den stärksten Mann,
Daß ich für einen Wimpernschlag die Unrast dieser Welt vergessen kann.Hafis’ Werk beruht auf den Regeln der Dichtkunst, und seinem Genie bei ihrer Anwendung ist es vor allem zu verdanken, daß sie in der klassischen Epoche unangefochten galten. Anderen Regeln begegnet er mit Geringschätzung. Schon auf der lexikalischen Ebene brechen diese Verse mit einem Tabu; denn in islamischen Ländern ist der Weingenuß verpönt. Sie enthalten daneben eine literarische Anspielung für den Kenner: Der größte iranische Held, Rustam, liebte nach dem »Königsbuch«, dem um das Jahr 1000 herum von Firdausi verfaßten Nationalepos, den Wein. Aber sie stehen zugleich im Widerspruch zu dieser Überlieferung; denn jener Recke bewies auch dadurch seine Stärke, daß er so viel Wein trinken konnte, wie er wollte, ohne daß ihm dies etwas hätte anhaben können. Die beiden Zeilen haben indessen noch zwei weitere Bedeutungsebenen. Der Wein ist ein häufig verwendetes Symbol für die Liebe, ebenso wie Trunkenheit für Verliebtheit. Liest man den Vers dementsprechend, dann spricht sich in ihm die Sehnsucht des Verfassers nach einem Liebesabenteuer aus, das ihn die Alltagssorgen vergessen läßt. Schließlich ist die sinnliche Liebe auch ein Bild für die übersinnliche, die Liebe zu Gott, und die Trunkenheit für die mystische Einswerdung mit ihm. Man braucht sich nicht für eine Lesart zu entscheiden, vielmehr gehen die verschiedenen Bedeutungen ineinander über und ergänzen sich.
Die Klassiker entwickelten einen poetischen Kanon, der als so vollendet galt, daß niemand ihn zu erweitern wagte. Dazu gehörten gewisse Gedichtformen mit einem Versmaß, das von der ersten bis zur letzten Zeile durchzuhalten war, ein bestimmter Wortschatz, kettenartige Strukturelemente, die jedes Wort einer vorgegebenen Umgebung zuordneten, ein festes Register von Bildern und Metaphern sowie die Gliederung des Gedichts in Beyt und Messrâ (ganze und Halbverse), innerhalb derer ein Gedanke auszudrücken war. Zudem hatten die Gedichte eine Struktur, die den Reimen ganz bestimmte Positionen, besonders häufig nach dem Schema a a b a c a d a usw. zuwies; und meist mußte ein und derselbe Reim durch das ganze Gedicht durchgehalten werden.
Dieser Kanon, die schillernde Vieldeutigkeit und die virtuose Handhabung der poetischen Mittel faszinierten die Leser durch die Jahrhunderte, so daß kein Dichter sich traute, sie aufzugeben. Die Folge war eine gewisse Starre. Die späteren Lyriker glichen, um das bei ihnen besonders beliebte Bild eines paradiesischen Gartens zu verwenden, Gärtnern, die ihre Beete ständig neu arrangierten, es aber nicht wagten, andere Blumen zu pflanzen, geschweige denn den Garten zu verlassen. Entsprechend groß war die Aufregung, als 1921 ein längeres Gedicht mit dem Titel »Afssâne« erschien, dessen Verfasser viele dieser Regeln außer acht ließ. Es enthielt 127 Strophen von je fünf gleich langen Zeilen, von denen sich immer die zweite und die vierte reimen, und war in einem uralten, dem Âwestâ entnommenen Versmaß geschrieben, das längst niemand mehr verwendete. Es war durchaus formstreng, aber die Formen waren ganz und gar ungewohnt und das Thema neuartig. Der Gärtner hatte also exotische Blumen angepflanzt und auf Methoden einer längst vergangenen Tradition zurückgegriffen. Aber auf die traditionelle Vieldeutigkeit wollte auch Nimâ Yuschidsch, wie der Verfasser sich nach seinem Geburtsort Yusch nannte, nicht verzichten. Den Titel kann man als Frauennamen lesen, aber auch als »Märchen« oder »Phantasie«; und der Inhalt läßt sich ebenso als Ausdruck tiefen Liebeskummers verstehen wie als Lied eines Patrioten, der über die Lage seiner Heimat verzweifelt ist. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, sei hier zumindest eine Strophe zitiert:
Das Mitgefühl stieg dir zu Kopf wie Wein
Und mit Afssâne ließest du dich ein
Die ganze Welt flieht stets vor ihr
Du machtest dich mit ihr gemein.
Elend ist sie wie du und findet keinen sonst.Damals erlebte Iran eine Phase des Umbruchs, der Thron des alten Kaiserhauses, der Qadscharen, wankte, und der neue Herrscher Resâ Schâh war noch nicht etabliert. Aber bald darauf wurde die dekadente Dynastie der absoluten Monarchen durch eine nur notdürftig als Monarchie verkleidete Militärdiktatur mit einer äußerst strengen Zensur abgelöst. So ließ der neue Schah dem Dichter Mirsâ Mohmmad Farrochi Yasdi, der immer wieder gegen ihn polemisiert hatte, den Mund zunähen, ein bis heute in Iran unvergessenes Vorgehen. Es herrschte folglich kein günstiges Klima für Meinungsstreit und literarische Experimente. So dauerte es denn auch zwei Jahrzehnte, bis Nimâ Yuschidsch, mit bürgerlichem Namen Ali Essfandiâri (1897 –1960), den nächsten Schritt in seinem Reformwerk tun konnte. Nachdem Briten und Sowjets Resâ Schâh, der sein Land aus dem Zweiten Weltkrieg hatte heraushalten wollen, 1941 zum Rücktritt gezwungen und zunächst nach Mauritius, später nach Südafrika verbannt hatten, entstanden sofort vier große und eine ganze Reihe kleinerer literarischer Zeitschriften. In ihnen veröffentlichte Nimâ, wie die Iraner ihn meist liebevoll bei seinem angenommenen Vornamen zu nennen pflegen, gänzlich neue Gedichte. Er überstieg nunmehr, um das oben benutzte Bild noch einmal zu verwenden, die Mauer des Gartens, suchte außerhalb gelegene Felder auf und begann Landwirtschaft statt Gartenbau zu betreiben: Seine neue Lyrik war von der Natur seiner engeren Heimat am Rande des Kaspischen Meeres inspiriert, einer an Wald und Wasser reichen Gegend mit fruchtbaren Äckern, die in schroffem Gegensatz zum trockenen Wüstenklima des iranischen Hochlandes steht. Es ist sicher kein Zufall, daß gerade ein Mann dieses Landstrichs das Ideal des in einer Oase am Rande der Wüste gelegenen Paradiesgartens aufgab. Er verwendete neue Metaphern und verwarf die Rollen, die den einzelnen Wörtern der Überlieferung nach zukamen, ging aber auch in der Grammatik neue Wege. Dadurch gewann er dichterische Freiheit, aber gab auch all das auf, was sich seine Vorgänger im Laufe von zwölf Jahrhunderten erarbeitet hatten. Das Ergebnis war eine frische, überraschende Ausdrucksweise in einem ungewohnten, oft aber auch ungehobelt und linkisch wirkenden Stil. Ähnlich radikal verfuhr er mit den poetischen Formen. Er schrieb weder Gaselen noch Qassiden oder Vierzeiler wie Omar Chayyâm; seine Gedichte sind vielmehr frei gestaltet. Zwar verzichtete er nicht ganz auf Reim und Versmaß, aber die Reime hatten bei ihm keinen festgelegten Ort mehr, sondern wurden über das Gedicht verteilt, ab und zu standen sie nicht einmal mehr am Ende der Zeile, sondern mitten im Vers. Das Metron wurde zwar weiterhin von dem einmal gewählten Versmaß bestimmt, aber die Anzahl der Versfüße variiert, so daß Zeilen von ganz unterschiedlicher Länge entstanden. Die einschneidendste Veränderung war jedoch der neue Inhalt seiner Lyrik. Er benutzte die Feder als Schwert und stellte die Dichtung in den Dienst seines politischen Ideals von Solidarität und Gleichheit. Da die relative politische Freiheit, die 1941 herrschte, nicht von Dauer war, mußten die Dichter, die für gesellschaftliche Veränderungen eintraten, sich bald einer verschlüsselten Sprache bedienen, um die neue Zensur zu unterlaufen. So schrieb der Kommunist Nimâ, der den politischen Umsturz durch Mao in China begrüßte: »Nicht umsonst sind die Gelben rot geworden. / Die Röte hat die Mauer / nicht umsonst gefärbt.« Und er beklagte die schlechte Lage seines Heimatlandes im Vergleich zur Sowjet union: »Trocken ward mein Acker / Neben dem Feld des Nachbarn.« Wenn er von »Nacht« sprach, meinte er die finsteren Verhältnisse unter dem letzten Pahlawi-Schah, und die »Morgenröte« war die ersehnte Veränderung. Die »Nachtigall« war nun nicht mehr der Liebende, der seine Geliebte, die »rote Rose«, besang, sondern ein Verkünder neuer Ideen; und die Rose konnte jetzt die Revolution bedeuten.
(…)SINN UND FORM 4/2017, 503-520, hier S. 503-507
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Scherer, Marie-Luise
Die Geschichte von Lydia und Behn
Lydia Proske verbrachte die Wochenenden mit Hubertus Behn auf dem Lande. Sie hatten die Klappräder dabei, die einzige gemeinsame Anschaffung, zu der sie als Paar sich vorgewagt hatten. In der Stadt lebte jeder für sich. Ihre Treffen fanden in ihrer Wohnung statt, während Behn sich die seine als Refugium hielt. Bis auf sein Fahrrad in ihrem Keller, einen Schlafanzug in ihrem Bad, Zahnbürste und Trockenrasierer zeugte nichts von ihren Zusammenkünften.
Das Schlafzimmer lag Wand an Wand mit dem der Nachbarn, deren Liebestätigkeiten immer heftige Wortgefechte vorausgingen, denen nicht minder geräuschvolle Versöhnungen folgten. Das Wort Hure fiel, daraufhin einladendes Frauengelächter. Unter diesen Lauten vollzogen sich die Nächte von Lydia und Behn.
Behn hatte die eisblauen Augen eines Schlittenhundes. Die breiten Schultern überragten seinen schlanken Körper wie ein Joch. Er war, einem Kieselstein gleich, von trockener Glätte und kühl. Sie liebte den Anblick seiner Füße, wenn diese makellos und gotisch schmal außerhalb des Bettes hingen. Sie schliefen auf der Seite liegend ein. Wer hinter dem jeweils zugekehrten Rücken lag, umfaßte den anderen.
Doch so paßgenau und innig sie noch bei Tagesanbruch lagen, so unverbunden begingen sie den Morgen. Behn stand schon mit Jacke da, als das Kaffeewasser kochte. Er füllte seinen Tassenfilter, wartete im Radio auf Meldungen über Straßenstaus und hob für den Fall, daß Lydia dazwischenreden könnte, abwehrend eine Hand in ihre Richtung. Schon zwischen Tür und Angel sagte er: »Bis heute abend!« Sie gaben sich einen fast berührungslosen Wangenkuß, wie er zwischen unverzagten Eheleuten üblich ist. Nur daß es nicht die Koseformeln Liebling oder Liebes zwischen ihnen gab. Und ungeachtet ihrer Nähe in der Nacht wäre keinem die Idee gekommen, sich beim andern anzuschmiegen, wenn sie abends auf dem Sofa saßen.
Das Bett zu teilen bedeutete keinesfalls, daß man auch gemeinsam in der Wanne saß. In Filmen dagegen konnte Lydia von solchen Szenen nicht genug bekommen. Da waren die Wannen aber größer, hatten den breiten Rand für einen Cham pagnerkübel, und der Schaum blieb bis zum Schluß stabil. Und wenn man ausstieg, war man stellenweise noch bedeckt von knisternden weißen Seifenfetzen. Sie war befremdet, wenn jemand ihr am Telefon freimütig anvertraute: »Wir baden gerade.«
Sie hatte gleich das Bild vor Augen, eine kurze Standardwanne, ein stattliches Paar in wenig Wasser, das, dem Gesetz der Verdrängung folgend, immerhin zur Brust hochreichte, die Beine heuschreckenhaft im spitzen Winkel aufgestellt. Ein Mann und eine Frau, entspannt und selbstvergessen, vielleicht auch etwas aufgedreht, und die Emaille quietschte, wenn am flacheren Wannenende ein Rücken tiefer glitt.
Was störte sie an diesem Bild? Nur, daß es ihrem Kinoblick nicht standhielt. Auch die Offenbarung einer Freundin, sie bügele im Sommer nackt, verstörte sie. Jedermann sollte nackt bügeln, backen oder den Braten übergießen, soweit er nicht Mitteilung davon machte. Lydia hatte ein verqueres Verhältnis zur Nacktheit, ob diese nun arglos daherkam oder unerbittlich familiär wie bei jenen Paaren, deren Ehebündnis, wann auch immer, ein unbesorgtes Nacktsein kultivierte.
Das Lockere hingegen überforderte Lydia ganz allgemein. Das städtische Paar, das auf der Deichkrone eines Elbdorfes sich kosend vergißt. Er an die Sechzig, sie vielleicht dreißig. Er betört, eine fast geistesschwache Glückseligkeit im Blick. Mit einem Puppenwimmern, das kapriziöse Geschöpfe von sich geben, wenn jemand sie am Morgen weckt, räkelt sich die Frau und breitet die Arme aus. Wie schön diese Luft! Davon will sie mehr, und sie zieht die Bluse aus. Danach auch das Hemd, und er löst ihr den Büstenhalter im Rücken. Dann läuft die Frau mit tanzenden Brüsten zu den Kühen ins Vorland hinunter. Ein halbnackter Irrwisch, der das Grasen der Rinder unterbricht, die ihre Köpfe heben und die sanften Augen auf den Irrwisch richten.
Den Körper einer geschätzten Person behielt Lydia lieber bedeckt als entblößt im Gedächtnis. Und im Widerspruch dazu teilte sich ihr auf der Stelle die leibliche Beschaffenheit unter der Bekleidung mit. Sie erfaßte den Entwurf eines einst tadellosen Körpers, den Alter oder Trägheit verwüstet hatten. Sie erahnte die zukünftigen Formen einer noch nicht ausgereiften Gestalt, einem Züchter ähnlich, dem sich früh die Eignung eines Fohlens für Turniere zu erkennen gibt. Es war ein Vorauseilen zu späterer Schönheit, zu hohlbrüstiger Hagerkeit, zu freundlicher Korpulenz oder zur Pein starker Beleibtheit.
Nach einem Abendessen während jener Berliner Jahre, als linke Politik und freie Sitten verschwistert waren, gab der Gastgeber die Parole aus: »Jetzt wollen wir baden!« Er war Bildhauer. Eine tiefe Narbe auf der Stirn verlieh ihm etwas Erkämpftes. Die Haut des übrigen Gesichtes wie ein gehämmerter Messingteller voller kleiner Schluchten. Man befand sich in einer heruntergekommenen Villa, wie es viele gab in der damals halben Stadt. Die hohen Räume drückten die erinnerten Zimmerdecken aus Lydias Kindheit in die Tiefe. Das elterliche Wohnzimmer war in strenger Notwendigkeit zugestellt. Der Vater saß in einem Sessel im Stil des Chippendale auf vorgerutschtem Kissen. Nervös und seinen Sorgen hingegeben trommelte er mit den Nägeln der linken Hand auf die Lehne. Ein Trommeln, das mit den Jahren eine Vertiefung im Holz geschaffen hatte, vergleichbar einer flachen Seifenschale. Wenn er nicht trommelte, las er in dem Buch »Männer, die den Krebs bekämpfen«, denn die Mutter war krank.
Durch die geschliffenen, aufs Zierlichste gefügten Scheiben des Berliner Wintergartens gelangte nur noch ein opakes Licht wie durch Pergamentpapier. Was einmal gespänt und gebohnert gewesen sein mochte, war stumpf. Es fehlten die guten Geister, die in Schürzen wienernden Mädchen, die einst unterm Dach ihre Kammern hatten.
Der Handlauf einer Doppeltreppe schloß jeweils mit dem Oberkörper einer Nixe ab, an dem Springseile und Wetterjacken hingen. Zwischen den tropischen Paneelen des früheren Rauchsalons standen ein Trampolin und ein Rudergerät. Die Intarsien des Parketts waren teilweise eingesackt. Den Salon mit zwei geöffneten Schiebetüren beherrschte das Bett des Gastgebers, eine anzügliche Pfühle, abgestützt von großen orangeroten, unter den Vergnügungen des Mannes einknickenden Darjeeling-Dosen.
Der Gastgeber stand im Ruf, zumindest duldete er das Gerücht, ein enormes Geschlecht zu haben, das eine Türklinke niederzudrücken vermochte. Er legte als erster die Kleider ab, und vier seiner Gäste taten es ihm gleich. Alles entspannte Leute. Man kannte einander aus kreuz und quer gelebten Liebesbeziehungen, flott geführten Ehen, deren Haltbarkeit auf sexuellen Erfrischungen gründete. Kurz: Es gab eine Vorerfahrung der Körper.
Lydia hatte diese Vorerfahrung nicht. Sie war auch nicht links im damaligen Sinne. Sie hatte nur linke Pflichtgefühle. Sie mußte die rechte Presse lesen, um sich in einem linken Sinne zu empören, und umgekehrt reizten sie die linken Szeneblätter durch deren duzende Einvernahme, was ihre Gefolgschaft lähmte. Dabei war sie willens, den Rausch der Linken zu teilen, mit den Berauschten die Faust zu heben, in die Springflut der Demonstranten einzutauchen. Doch sie sprang nicht und rief nichts.
Als der Gastgeber ein Bein hob, um in die Wanne zu steigen, regte sich bei Lydia ihre chronisch zu nennende Unzugehörigkeit. Im Gegensatz zur Gelassenheit der übrigen Gäste suchte ihr Blick das legendäre Geschlecht des Bildhauers. Da dieses sich ruhig verhielt, war sie enttäuscht. Ihr fiel das unordentliche Gebilde eines gerupften grauvioletten Wildvogels ein.
Oft überkamen sie unstatthafte Gleichsetzungen von Mensch und Tier. Sie überkamen sie wie ein Zwang. Sie war ihnen ausgeliefert. Sie sah unter der hoch angesetzten Nase ihres Zahnarztes im Geiste einen angespitzten Bambusknebel stecken, mit dem man ein Kamel gefügig macht. Während einer Sendung über Großkatzen hatte sie Behn gefragt, wen er sich lieber in seinem Bett vorstelle: den Panther oder Gundel, eine bärtige Frau aus dem Bekanntenkreis? Behn hatte daraufhin gesagt: »Du bist krank!« und das Zimmer verlassen.
Natürlich hatte Lydia mit dieser Frage nicht der Sodomie das Wort reden wollen. Es war nur ein Spiel mit der Reizbarkeit Behns, der ihr Liebesverschwendung an Tiere vorwarf, ihre haptischen Reflexe, sie zu berühren, und wenn die Tiere unzugänglich waren, sich diese Berührung zumindest zu wünschen.
Einmal ein rundes Bärenohr anfassen!
Einmal die Wange am Dachsgesicht!
Auf dem Berliner Flughafen Tempelhof hatte sie das rote Band einer Absperrung angehoben, um einen Delphin zu betasten und seinem immerwährenden Lächeln aus der Nähe zu begegnen. Das gewaltige Tier maß etwa vier Meter in der Länge und war in derselben Maschine gelandet wie sie. Es lag im niedrigen Wasser einer Art Reisewanne, aus der sein Rücken ragte. Und noch bevor der zoologische Transportbegleiter Lydia zurückrufen konnte, hatte sie schon eine Hand auf den trockenen Rücken des Delphins gelegt. Er fühlte sich wie eine soeben gelöschte, noch nicht ganz erkaltete Kerze an. Mit diesem erregenden Tasterlebnis hatte sie Behn überschüttet, der sie in der Ankunftshalle mit einem seiner knappen Küsse begrüßte.
Sie hatte Behn die Geschichte aus Paris erzählt, wo ein Mann seine Frau wegen eines zahmen Geparden verlor. Der Mann war verrückt nach dem Anblick der Katze mit Namen Leocadie. Sie nahm, fließend hingestreckt, fast das gesamte Sofa ein, auf dem auch die Frau am Abend ruhte. Als die Frau einen Fuß gegen Leocadie gestoßen hatte, damit sie etwas zur Seite rücke, ließ die Gepardin in schönster Trägheit einen Hinterlauf zu Boden sinken. Jetzt vergaß sich der Mann in seiner Hingerissenheit für das Tier, dem keine Bewegung mißriet, und fragte die Frau mit Haß in der Stimme: »Liegst du nun endlich bequem?«
»Und diese Geschichte gefällt dir?« fragte Behn. Ja, sie gefiel ihr.
[…]
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Schklowski, Viktor
Schlaffer, Hannelore
- 5/2001 | Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern, S. 707 Leseprobe
Schlaffer, Hannelore
Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern
Tugenden
Das Alter wird heute als eine zweite Jugend begangen. Jugendlichkeit aber war zu allen Zeiten der Traum der Alten gewesen, nur haben sie sich dies nicht eingestanden. Im zweitausendjährigen Diskurs über das Alter ist immer nur von dessen Vorzügen die Rede: von seiner Würde, seiner Weisheit, seiner philosophischen Gelassenheit. Bei genauem Hinsehen jedoch stellt sich heraus, daß diese Auszeichnungen nichts sind als Stilisierungen, mit denen die Alten versuchten, sich gegen die Jugend zu behaupten. Bis ins 18. Jahrhundert hat man sich solcher Selbstdarstellung befleißigt, hat den körperlichen Verfall hinweg geredet und sich zu geistigen Höhen emporgeschwungen. Erst im 18. Jahrhundert verdrängt die wissenschaftliche Beobachtung des alternden Körpers die Schönrednerei über die letzte Lebensphase.
Altersweisheit und Alterstorheit jedenfalls sind Eigenschaften, die nicht das Leben, sondern die Literatur hervorgebracht hat. Sie sind utopische oder satirische Überzeichnungen, die der letzten Lebensphase zugeordnet werden. Die Definition von Jugend differiert – in der Literatur so gut wie im Leben - je nach Epoche oder Land, die Definition des Alters hingegen blieb bis ins zwanzigste Jahrhundert unverändert. Jugend ist ein historisches Phänomen, Alter eine Konstante.
Tiere altern nicht, Tiere sterben. Das Alpha-Männchen, das seinen Platz räumen muß, ist besiegt, nicht alt. Vermutlich war für den Menschen ähnliches vorgesehen, und so ist der Altersdiskurs lediglich als der Versuch des Alpha-Männchens, den Angriff der Jugend abzuwehren. Wer über das Alter schreibt, behandelt es deshalb als einen Abschnitt im Leben des gesunden, denk- und handlungsfähigen Menschen. Das Ausblenden der Krankheit gehört zur Typologie der Gattung. Cicero betrachtet Krankheit als Schicksal, das Junge wie Alte ereilt. In früheren Jahrhunderten, als nur die Widerstandsfähigen ein hohes Alter erreichten, galten die Jungen sogar als anfälliger, ihre Leiden wurden als besonders heftig und gefährlich beschrieben.
In seiner Rede vor Kollegen der Universität und den Honoratioren der Stadt Wien mußte Johannes van Swieten, Leibarzt Maria Theresias, 1763 erst einmal eigens auf den Zusammenhang von Alter und Krankheit aufmerksam machen: »Sobald nämlich durch ein langes Leben die dickwandigen Gefäße unseres Körpers sich verengen, hören fast alle Funktionen auf oder nehmen ab, die Sinne werden stumpf, das Gedächtnis wird unsicher ...«. Er lenkte jedoch sogleich wieder in den althergebrachten Diskurs ein: »Aber es gibt ein frisches, ein rüstiges Greisenalter, und daß dieses geschützt und bewahrt werden muß, wird niemand bezweifeln.« »Senex«, also Greis, ist für ihn geradezu ein Adelsdiplom.
Seit der Antike wird das Alter als Utopie entworfen. Selbst Schopenhauer erklärte es zum eigentlichen Glückszustand des Menschen: Krankheit ist für ihn ein Defekt im philosophischen System; das Leben sollte so lange währen, bis es in höchstem Alter mit einem schmerzlosen, einem »sanften Tod« endet. »Erst zwischen neunzig und hundert Jahren sterben die Menschen, dann aber in der Regel vor Alter, ohne Krankheit, ohne Todeskampf, ohne Röcheln.« Die präzise Terminierung gehört zur Alterstypologie. In seinem Streben nach Genauigkeit hat sich der Mensch des Siebener- bzw. des Dezimalsystems bedient, um Lebenszeit und Lebensart einander zuzuordnen. Mit fündunddreißig beginnt der Grieche die sechste Lebensphase, die sich laut Solon folgendermaßen gestaltete:
Drauf im sechsten reift des Mannes Gesinnung und stählt
künftig mag er nicht mehr wirken an nichtigem Werk. Vierzehn Jahre hindurch, im siebten und achten Jahrsiebent, blühen in Fülle und Kraft Rede ihm und der Geist. Auch im neunten noch manches, doch sinkt von der Höhe, kraftvoll männlichen Muts Weisheit und Wort ihm herab.Wem aber Gott das zehnte Jahrsiebent zur Neige vollendet,
ihn ereilt dann der Tod wohl zu schicklicher Zeit.Bis heute skandiert das Dezimalsystem das Leben durch runde Geburtstage. Alle zehn Jahre werden Körper und Geist angewiesen, wie sie sich künftig zu halten haben. Die Seele, die Gott gehört, kommt nicht in die Jahre, der Körper aber, an den die Moderne stärker glaubt, muß an jedem zehnten Geburtstag beweisen, wie gesund er noch ist. Geburtstage führen die antike Utopie vom jugendlichen Alter fort. Dabei werden dem Jubilar im Zehnjahres-, mittlerweile sogar im Fünfjahresrhythmus, die seinem Alter entsprechenden Gesten vorgezeichnet. Die Feier ist die Initiation in den nächsten Lebensabschnitt.
Als Cicero 44 v. C. »De senectute« schrieb und damit der Nachwelt einen Grundtext lieferte, wollte er den Beweis für die Brauchbarkeit der Unbrauchbaren erbringen. Er stellt Altern als Läuterungsprozeß dar, die Würde des alternden Menschen als eine Manifestation des reinen Geistes. Freigestellt von aller Praxis, überschaut dieser die Welt, als sei sie ein Fest: Alter ist Theorie als Lebenshaltung. Cicero nennt seine Schrift »Über das Alter« das Dokument seines Lebens. Ihre Abfassung habe nicht nur die Beschwerden des Alters beseitigt, sondern es sogar behaglich und angenehm gemacht. Ciceros Entwurf wird bis in die Neuzeit hinein nur um wenige Gedanken erweitert. Die philosophische Geistesverfassung, die dem Alter Würde und Wohlbefinden verleiht, setzt die Negation des Körpers voraus. Doch damit sich dessen Leiden wirklich in nichts auflösen, muß die Seele unsterblich sein. Sie absorbiert alle Eigenschaften der Jugend: Lebendigkeit, Erfindungskraft, Zukunft. Im 12. Brief an Lucilius schildert Seneca das Alter als eine Zeit, in der die Seele »voller Jugendkraft« ist und sich freut, »nicht mehr viel Gemeinschaft mit dem Körper zu haben«.
Die Freuden des Ackerbaus
Berühmte Männer, von Cicero bis Adenauer, waren Gärtner. Cicero zufolge werden »die Freuden des Ackerbaus ... in keiner Weise durch das Alter behindert und kommen andererseits ... dem Leben eines Weisen am nächsten. Man hat es dabei nämlich mit der Erde zu tun, die niemals den Befehl verweigert und niemals ohne Verzinsung das zurückgibt, was sie empfangen hat«.« Das ist die Haltung eines Grundbesitzers, der sich von seiner Liebhaberei sogar noch Gewinn erhofft. Der Garten der Moderne hingegen ist der stimmungsvolle Ort, wohin der Weise sich aus der Welt zurückzieht. Der Kreislauf von Werden und Vergehen gibt der Seele die Gewähr der Verjüngung. Jacob Grimm würdigt die weise Vorsorglichkeit der Greise, die »die stärkende Gartenpflege und Bienenzucht gern übernehmen, ihr Impfen, Pfropfen geschieht alles nicht mehr für sie selbst, nur für die nachkommenden Geschlechter, die erst des Schattens der Neupflanzung froh werden können.«
Die ewige Wiederkehr allerdings, derer sich der Greis beim Gartenbau vesichert, sieht sich in Frage gestellt durch das Nachlassen der Zeugungskraft, über das die Altersliteratur nur schwer hinwegzutrösten vermag. Hämisch durchstreicht die Natur die ideelle Deutung des Greises, indem sie ihm ihre hemmungslose Fruchtbarkeit entgegenhält. Wo alles liebt, Biene, Blume, Hase und Igel, schaut ein Liebesveteran nur zu. Entsagung ist des Gärtners Weisheit. Das Erlöschen der Liebeslust stellt die Utopie des glücklichen Alters mehr in Frage als Krankheit und Tod. Anders als diese äußeren Feinde gefährdet die Liebesunfähigkeit die Identität eines ganzen Lebens. Der verletzte Mannesstolz kompensiert die Beleidigung, indem er die intellektuelle Potenz aufwertet. Bereits Cicero kommt ohne solchen Trost nicht aus. Er stellt die Liebeslust unter Verdacht und rühmt ihr Versiegen als eine Segnung des Alters. Schopenhauer spricht ihm nach, indem er das Problem scheinbar sachlich, tatsächlich aber zynisch löst: «...jeder Genuß ist immer nur die Stillung eines Bedürfnisses: daß nun mit diesem auch jener wegfällt, ist sowenig beklagenswert wie daß einer nach Tische nicht mehr essen kann und nach ausgeschlafener Nacht wach bleiben muß. Viel richtiger schätzt Platon [...] das Greisenalter glücklich, sofern es den bis dahin uns unablässig beunruhigenden Geschlechtstrieb endlich los ist.«
Karikatur
Goethe hat im « Mann von funfzig Jahren« das Problem der falschen Jugendlichkeit als novellistische Tragikomödie behandelt. Die Liebe eines Fünfzigjährigen zu seiner blutjungen Nichte verstößt gegen das Gesetz der Natur. Als der überreife Liebhaber durch kosmetische Eingriffe seine Jugendlichkeit wiederzuerlangen sucht, erhebt der alternde Körper Einspruch gegen diese unangemessene Werbung: »Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er fürchtete, den zweiten zu verlieren. An eine künstlich scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter einem Dach befand. [...] Es ist ihm, als wenn der Schlußstein seines organischen Wesens entfremdet wäre und das übrige Gewölbe nun auch nach und nach zusammenzustürzen drohte.«
Alte Leute kennt die Literatur genug, doch sind sie, als Dienstpersonal, Eltern, Großeltern, Verwandte, immer nur Handlanger der Jugend, der die Poesie gehört. Die Jugend öffnet ihr Herz in der Lyrik, erlebt die Welt im Bildungs- und Abenteuerroman, trotzt Gespenstern im Schauerroman, kämpft fürs Vaterland im Epos, gegen ein mythisches Schicksal in der Tragödie und für das private Glück in der Komödie. Poesie ist Darstellung von Jugendlichkeit. Wo sich das Alter einmischt, macht es sich lächerlich. Die Thematisierung des Alters in der Literatur erfolgt bis ins 19. Jahrhundert hinein lediglich als Posse. Die Vettel lauert ihrem Ehegespons mit dem Nudelholz auf in Schwank und Karikatur; der lüsterne Alte quält die junge Gemahlin mit seiner Eifersucht in der Novelle (die ursprünglich zu den komischen Gattungen zählte); das Verhältnis von Sein und Schein wird in der Satire aufs Korn genommen, und alte Geizhälse hocken auf ihren Schätzen in der Komödie. Die Jungen verlachen in »ihrer« Literatur die Alten, als hätten sie deren Trostbüchlein allesamt gelesen, indem sie ihnen gerade die Eigenschaften vorhalten, die dort so beflissen wegphilosophiert werden. Jacob Grimm hat aus der deutschen Literatur Assoziationen über das Alter und die Alten zusammengetragen: mürrisch, grämlich, eigensinnig, altfränkisch, ableibig, protzend, sauersehend, karger, Knicker, Erbsenzähler, Filz, Unke, betrübte Hausunke. In seinen »Totengesprächen« zeichnet Lukian die Ruine eines Menschen: »Ein hinfälliger Greis, der nur noch drei Zähne hat, der kaum noch lebt, der sich zum Gehen auf vier Sklaven stützt, dessen Nase ständig einen Tropfen ausschwitzt, dessen Augen voller Schleim sind, unempfänglich für alle Sinnesfreuden, ein lebendiges Grab, das Gespött der Jugend.« Noch abstoßender wirkt das Geschöpf aus Juvenals Satiren: »Statt der Haut dieses häßliche Leder, diese hängenden Backen, diese Runzeln gleich jenen, die eine Affenmutter in den düsteren Wäldern Thabarkas um ihr altes Maul kratzt [...] Die Alten sind alle gleich; ihre Stimme zittert wie ihnen die Glieder zittern; kein Haar wächst mehr auf dem kahlen Schädel; ihre Nase ist feucht wie bei kleinen Kindern. Sein Brot kann der arme Alte nur mit zahnlosem Kiefer zermalmen. Er ist seiner Frau, seinen Kindern und sich selbst dermaßen zur Last, daß er sogar einen Erbschleicher abstoßen würde.«
Die Gebrechlichkeit der Alten ist für die Jugend ein Spaß. Daher sind Molières »Eingebildeter Kranker« und »Der Geizige« die Komödien des Alterns. Nur Goethe vermag diesen Spott noch zu überbieten. Faust, auch er ein Mann von »funfzig« Jahren, sehnt sich nach jungem Blut, und die Verjüngungskur in der Hexenküche, in der Affen und Meerkatzen dem mißmutigen Gelehrten einen Trank brauen, entbehrt nicht der Komik.
Politische Taktik
Ciceros Schrift ist eine Apologie gegen diese jugendliche Frechheit, die meint, wegen ein paar körperlicher Gebrechen sich über die Alten lustig machen zu dürfen. In Cicero wehrt sich der Staatsmann, der seine Funktionen nicht verlieren will, gegen die Jugend. Alle Reflexionen über das Alter haben ihren konkreten und taktischen Ursprung im politischen Denken der Antike. Altersweisheit ist Staatsphilosophie. Archaische Gesellschaften organisieren sich nach dem Alter, der Älteste regiert den Clan. Doch auch noch in frühen Hochkulturen liegt die Verwaltung des Staates in den Händen der Alten. Das Wort Senat kommt von senex, den Alten, die ihm angehören. Bis heute finden wir Reste dieses Anciennitätsprinzips, wenn zum Beispiel ein Richter mindestens vierzig Jahre, ein Bundespräsident fünfundvierzig Jahre alt sein muß. Nicht zufällig bezieht Cicero seine Theorie in wichtigen Teilen aus Platos »Politeia«, die damit beginnt, daß Glaukon, Polemarchos, Adeimantos, Nideratos, junge Männer, die sich beim Fest getroffen haben, den uralten Kephalos aufsuchen, um in seinem Beisein ein Gespräch über den Staat zu führen. Diese Szene nimmt den idealen Staat vorweg, der ein friedliches Zusammenwirken von Jung und Alt sein soll. Aus Cicero spricht der Politiker, der Einfluß behalten möchte. In der politischen Krise, in der gerade die Jungen um Nachfolge Cäsars kämpfen, verkündet der Dreiundsechzigjährige apodiktisch: »Denn bei den Greisen findet sich Verstand, Vernunft und Klugheit; wären sie nicht gewesen, so hätte es gar keine Staaten gegeben.« Sparta ist in der Antike das Vorbild aller Altersrhetorik und sollte es bis ins 18. Jahrhundert bleiben. Dort trafen die vierzig Geronten, die »herrschenden Greise«, die wichtigen Entscheidungen des Staates. Einen Abglanz dieser Gerusia findet noch Jacob Grimm in der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Den Autoren der Altersliteratur geht es nicht um kümmerliche Reste von Lebensgenuß oder um eine schmerzlose letzte Stunde, sondern um Autorität. Ciceros Ton wird herausfordernd, ja geradezu auftrumpfend, wo er sich gegen die Jugend behaupten muß: »Der Alte tut nicht, was die jungen Leute tun, aber er tut etwas viel Wichtigeres und Besseres. Große Dinge vollbringt man nicht durch körperliche Kraft, Behändigkeit und Schnelligkeit, sondern durch Planung, Geltung und Entscheidung; daran pflegt man im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen.«
Aufstieg der Jugend
In der Antike versucht das Alter, die Jugend zu überbieten, in der Neuzeit wird die Jugend immer mehr zu seinem Maßstab. Weisheit, jene Tugend, die immer dem Alter zuerkannt und nie der Jugend zugestanden wurde, ändert damit ihre inhaltliche Bestimmung: sie gelangt von souveräner Überlegenheit zu Resignation. Dieser Richtungswechsel leitet Montaignes Essay über das Alter ein: »Unter allen großen menschlichen Taten [...] glaube ich den größeren Teil zu finden, wenn ich jene zähle, die sowohl im Altertum wie zu unserer Zeit vor dem dreißigsten Altersjahr verrichtet worden sind, als nachher.« Er verlangt kürzere Ausbildungszeiten, was nichts anderes bedeutet als das Verdrängen der Alten aus den öffentlichen Ämtern. Ihre endgültige Amtsenthebung geschieht im 18. Jahrhundert. Aufklärung und Revolution werden von den Jungen getragen, die politischen Theorien richten sich fortan auf die Zukunft. Nur wo sich die Verhältnisse nicht ändern, sind alte Männer besser für ein Amt geeignet als junge. Deshalb häufen sich im 18. Jahrhundert die Versuche, den Verlust der politischen Autorität durch neue Lebensmodelle zu kompensieren. Jacob Grimm etwa betont die Wichtigkeit des Historikers und Gelehrten. Sein Bild vom blinden Sänger, der die Geschichte eines Volkes aufbewahrt, bezieht sich nicht nur auf das entstehende Nationalbewußtsein, sondern auch auf das schwindende Selbstvertrauen der älteren Generation. Indem Grimm die Funktionen des alten Mannes als Sänger und Gelehrter poetisiert und intellektualisiert, beschwichtigt er die böse Ahnung, daß das Alter in der modernen Gesellschaft an Würde verlieren muß. Grimm selbst fürchtet nicht Pensionierung, Altersschwäche und Krankheit, er fürchtet allein den Verlust des Augenlichts, das das Ende all seiner geistigen Arbeit bedeuten würde. Diese trübe Aussicht bindet er in ein geschichtsphilosophisches Konzept des Verhältnisses von Glück und körperlichem Verfall ein: Die mündliche Kultur der Antike und die schriftliche der Moderne setzen je unterschiedliche körperliche Fähigkeiten voraus. Für den antiken Menschen bedeutet der Verlust des Gehörs den Ausschluß aus der Gesellschaft, für den modernen Menschen, so meint der in der Bibliothek vergrabene Grimm, wäre es katastrophal, zu erblinden.
Wenn es nichts nützt, sich der Würde des Geistes zu versichern, dann soll wenigstens der Leib frisch bleiben. Van Swieten ist der erste, der zum Altersdiskurs Empfehlungen zu Ernährung und Körperpflege beisteuert, die sich nur wenig von den Ratschlägen der heutigen Zeit unterscheiden. Nicht zufällig gilt van Swieten als Begründer der Geriatrie. Das Aufblühen der praktischen Disziplin bedeutet den Untergang der Rhetorik vom Alter. Der Senior, der nun den Geronten ablöst, ist ein Experte für Wohlbefinden, kein Wohl- und Schönredner mehr wie Cicero.
Van Swietens reformierter Greis ist Rotweintrinker und Causeur, der über die Politik, der er enthoben ist, nur noch räsoniert. Aus seiner Schule stammt Fontanes »Stechlin«, einer der typischen Romane über das Alter, die es im 19. Jahrhundert so reichlich gibt. Der alte Stechlin wird von allen Seiten gedrängt, in die Politik zu gehen, doch darüber scherzt er viel lieber bei seinen Gastlichkeiten. Die genealogische Tatsache allerdings, daß er als Aristokrat ein Gut zu vererben hat, macht ihn zu einem politischen Menschen, der die Tradition des preußischen Landadels fortführt und deshalb gegen die Austrocknung des Alterns nur seinen Humor, die »Feuchtigkeit« der Plauderei, einzusetzen braucht.
Was aber wird aus jenen Alten, die nichts zu vererben haben? Männer, die weder über ein Amt, noch ein Landgut, noch Humor und Geselligkeit verfügen, sehen sich im Alter in die Atmosphäre des Kinderzimmers verwiesen; sie fungieren als Großväter? »Der Wandel der Familie«, sagt Simone de Beauvoir, »hat die Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern verändert: statt einer Gegnerschaft hat sich zwischen ihnen ein Bündnis entwickelt; da der Großvater nicht mehr Familienoberhaupt ist, wird er zum Komplizen des Kindes.« Die Altersdiskurs des 19. Jahrhunderts betreiben die Idyllisierung oder Infantilisierung des Alters, indem sie die Unschuld des Kindes mit der wiedergewonnenen Unschuld des Greises ins Kinderzimmer einsperren.
Dem steht der Aufbruch der Jugend gegenüber, die sich in politischen Bewegungen und in der Bohème sammelt. Sie polemisiert gegen die Lüge, die die sparsame Lebensfreude des Alters mit naiver Kindlichkeit gleichsetzt. Dickens, obgleich in seinem Werk so viele Großväter und kinderfreundliche Alte vorkommen, polemisiert gegen die Sentimentalisierung des Alters: »Wir nennen es einen Zustand ähnlich dem der Kindheit, aber es ist ihr armseliges und eitles Trugbild [...]. Wo sind in den Augen des alten Mannes Licht und Leben, wie sie aus den Augen der Kinder lachen? [...] Stellt das Kind und den in die Kindheit zurückgefallenen Greis nebeneinander und errötet über diese Eitelkeit, die den glücklichen Anfang unseres Lebens verleumdet.«
Untergang der Hoffnung
Das zwanzigste Jahrhundert will, nachdem endlich der Körper als wissenschaftlicher Gegenstand in den Blick gerückt ist, die Hoffnungslosigkeit aller Rettungsversuche nicht mehr leugnen. Jean Améry präsentiert sich als gealterten Bohemien, der, anders als Stechlin, nichts zu vererben, und anders als die Großväter, keinen Familiensinn hat. Jeglicher soziale Bezug, der ihm den körperlichen Verfall verklären könnte, fehlt ihm: »Was da immer dem Alternden empfohlen wird, wie er sich mit dem Niedergang abfinden, ja diesem allenfalls sogar Werte abgewinnen könne – Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befriedung -, es stand vor mir als niederträchtige Düperie, gegen die zu protestieren ich mir mit jeder Zeile aufgeben mußte.« Hermann Hesse, der immerhin für die Welt die Heilsvorstellung einer pädagogischen Provinz gerettet hat, verliert, sobald er sich seiner Vereinzelung bewußt wird, jeden Glauben an die tröstende Kraft des Geistes: »Man stirbt ja so verflucht langsam und stückchenweise: Jeder Zahn, Muskel und Knochen nimmt extra Abschied, als sei man mit ihm besonders gut gestanden.« Die Beschreibung der Schwäche, die bislang den komischen Gattungen vorbehalten blieb, wird nun zum Ausgang aller Überlegungen über das Alter. Wo aber die Kraft zum Verspotten und zur Komödie versiegt, beginnt der Nihilismus. Am physischen Verfall scheitert aller philosophische Scharfsinn. Altern ist für Améry eine Problem der Identität. Das Ich spaltet sich in einen Körper, der der Welt gehört, und ein Bewußtsein, das vor dieser Welt kapitulieren muß. Die Helle des Bewußtseins, in die der Tod das Subjekt taucht, muß seine Zerstörbarkeit mitdenken: »Ich bin Ich im Altern durch meinen Körper und gegen ihn: ich war ich, als ich jung war, ohne meinen Leib und mit ihm.« Der Untertitel von Amérys Buch »Revolte und Resignation« (1968) leugnet nicht die existentialistische Umdeutung des Studentenprotests, jenes letzten und erfolgreichen Aufstands der Jugend gegen die Gesellschaft der Erwachsenen. Seither hat die Jugend in allen Bereichen der Kultur die Herrschaft übernommen und erlaubt keine verschleiernden Reden über das Alter mehr.
Die Resignation führt bei Améry zu einer Umdeutung aller Tugenden des Alters. Die Erinnerungsfähigkeit, die die Voraussetzung für die Altersweisheit war, wird zu einem Zustand des Wahnsinns. Das Zeitgefühl wachse nur auf Kosten des Raumempfindens, das wegen der zunehmenden Bewegungslosigkeit immer mehr verloren geht. Zunächst scheint der greise Mensch sich damit zu trösten, daß sich sein Kopf mit gelebter Zeit und mit « um so größerer Seinsdichte« fülle. Die Zunahme an Erinnerung aber bedeutet, in direkter Umkehrung zur traditionellen Alterstheorie, eine Auflösung der Ordnung. Wer die Zeit vom Räumlichen ablöst, wer sie verinnerlicht, verliert die Orientierung. Je mehr Vergangenheit sich im alternden Bewußtsein speichert, desto ungeordneter flutet zeit durch sein Inneres: »Belangreicher aber ist, daß der Raster, dessen er bedarf zur Kommunikation beim Zeitaufzählen, ihn wenig angeht, daß er >vor-fünf-Jahren< nicht anders spürt als >vor-fünfzehn<. daß zwar die einzelnen Zeitschichten ihre spezifischen Gewichte für ihn wechseln, solcher Wechsel jedoch nichts zu schaffen hat mit der Chronologie. In diesem Sinne lebt, wer seine Zeit entdeckt, ganz und gar unhistorisch.« Damit hat Améry nicht nur, wie vor ihm schon geschehen, die politische Kompetenz der Jugend überlassen, er gesteht ihr auch das zuverlässigere Geschichtsbewußtsein zu. Selbst der Rettungsversuch Jacob Grimms, der den alternden Politiker zum Studium der Geschichte in die Bibliothek einsperren wollte, ist damit in Frage gestellt.
Da dem Chaos im Kopf des Alten die chronologische Ordnung von Geschichtsschreibung und Epos nicht mehr angemessen verfügbar ist, entdeckt Améry ein für ihn besser geeignetes Genre: die Lyrik. »Das Todesdenken wird zu einer monotonen und manischen Litanei, die eine unableugbare Ähnlichkeit hat mit gewissen Erzeugnissen moderner Poesie: Ich werde sterben sterben werde ich sterben ich werde werde ich sterben sterben ich werde ich werde sterben.« Dies »lyrische Todesgestotter«, das »todespoetische Geplapper« sei »der grundhäßliche Kitsch des abendbesonnten Idylls«.
Den Gewinn an Wahrheit, auf den Amérys Nihilismus insistiert, wollte das 20. Jahrhundert nicht mehr preisgeben. Die Autoren des von der Frankfurter Allgemeine Zeitung veranstalteten »Moses-Projekts« hegen keinerlei Illusionen mehr über das Alter. Lediglich ein Emeritus wie Odo Marquard zieht noch einmal alle Register des traditionellen Altersdiskurses. Peter Esterhazy hingegen parodiert dessen geheimes und ewiges Thema, den Wettbewerb zwischen Jung und Alt, indem er ihn auf das unbedeutende Spielfeld des Fußballplatzes verlegt: »Schon sind meine Gelenke [...] nicht mehr die alten. Diese metaphysische Dimension des Jammerns kenne ich als ausgedienter Fußballspieler. Als solcher habe ich Erfahrungen mit dem Körper, nämlich mit dem Altern, mit jener Hinfälligkeit der Zellen, die spätestens mit dreißig Jahren beginnt.« Der Agon mit der Jugend weicht endlich nostalgischer Bewunderung und zaghafter Imitation.
In der langen Literaturgeschichte des Alterns lädt der moderne Totentanz nun auch die Frau dazu. Da Alternde immer versuchten, Ämter und Würden zu behaupten, brauchten die Rhetoriker des Alterns Frauen, die öffentliche Personen nie waren, nicht zu berücksichtigen. Erst der Nihilismus, der Vergehen und Sterben ernst nimmt, schließt die Frauen mit ein. Zu »Geschöpfen ohne Potentialität« (Améry) macht die Gesellschaft Frauen früher als biologisch nötig. Ihre Frühvergreisung hängt mit dem Verjüngungsprogramm der Männer zusammen. Frauen altern gewissermaßen stellvertretend für die Männer, die im Blick auf die ewige Jugend ihres Geistes den Verfall des Körpers lieber an der Frau beobachten. Alternde Frauen hingegen konkurrierten nicht um die Staatsmacht und nicht um kulturelle Kompetenz. Frauen haben in der Gesellschaft deshalb die Klage übers Altern übernommen. Sie ist der Basso continuo im Kampfgetöse, das die Männer aufführen. Die Pupille des Mannes ist der Spiegel, in dem die Frauen ihren Wert prüfen. Aus diesem Auge spricht kein Trost, und deshalb paßt das weibliche Reden über das Alter so gut in jene Resignation, in der sich die alten Männer im Laufe der Geschichte erst so spät erst üben.
Männer haben geredet, um bleiben zu können, was sie sind. Frauen beschwören nun, da sie zum Sprechen aufgerufen sind, ihr Altern als Metamorphose, als eine Verwandlung in der Abfolge der Generationen: Frauen verwandeln sich in jenes »ewig Weibliche«, das von Männern stets nur humoristisch gefeiert, tatsächlich aber tabuisiert wird: in die Mutter. Jenny Erpenbeck, erst dreiunddreißig Jahre alt, sträubt sich noch gegen diese Rückkehr zu den Müttern: »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher, sagen sie mir, und ich erschrecke. Ich weiß es selbst, mein Nacken ist ihr Nacken geworden, mein Schweiß ihr Schweiß, meine Brüste ihre Brüste. All das, was ich an ihr gehaßt habe, bin ich geworden. Ich hungere, ich will meine Mutter aus meinem Leib heraushungern [...] es hilft nichts, [...] Ich spreche wie sie, als hätte sie mich übergezogen, wäre in meine Haut geschlüpft und spräche aus mir.«
Die Mutter ersteht wieder in der Tochter, die Tochter geht in die soziale Abseitigkeit des Mütterlichen ein. Nicht immer wird diese Entrückung aus dem Blickfeld von Mann und Gesellschaft als ästhetische Abwertung erfahren. Für Monika Maron entsteht daraus eine glückliche Symbiose: Meine Mutter »tut mir leid, weil sie nun so ein altes Kinde haben muss. Aber irgendwie wohnt der Natur doch immer auch der Ausgleich inne. Meine Mutter sieht nicht mehr gut, was für sie natürlich eher unangenehm ist, ihr hoffentlich aber den Anblick ihres alten Kindes gnädig verschönt.« Der Spiegel, den das ästhetische Urteil der alternden Frau vorhält, ist im Auge der Mutter erblindet. Das alternde Kind kann das Alter vergessen, wenn die Mutter es anschaut und immer noch schön findet. Nicht ewige Jugend, sondern ewige Kindlichkeit ist der Trost der Frauen im Alter.
Heute findet das Tauziehen um die Gestaltung der letzten Lebensphase nicht etwa zwischen den Greisen und den Jungen statt, sondern zwischen Männern und Frauen. Sie vertreten die zwei historischen Phasen des Diskurses: die Männer den alteuropäischen, der Altern als gesellschaftliche Situation behandelte, die Frauen den modernen, der es als persönliche, vor allem körperliche Erfahrung darstellt. Aktivität oder Sorge sind die Haltungen, die diesen historischen Positionen entsprechen. Vom Fitneßprogramm bis zu den Busreisen, die die Alten durch die Welt führen, als seien sie junge Eroberer, reichen die Versuche der Männer, sich frisch zu zeigen wie eh und je und einen Terminkalender vorzuweisen, so voll wie ihre noch berufstätigen Kollegen. Vom Müsli und Rettichsaft bis zur Akupunktur reicht das Gesundheitsprogramm, mit dem die Frauen kundtun, daß sie um die Hinfälligkeit des Körpers wissen. Andererseits schließen sich Frauen, indem sie die Universitäten besuchen, an den Glauben der Männer von der ewigen Jugend des Geistes an.
Terminologie und Inhalt des Redens über das Alter sind verschwommen geworden. Nicht einmal der geschlechtsspezifische Unterschied bleibt in ihm gewahrt. Der Geront hatte einen jugendlichen Krieger als Kontrahenten, aber kein weibliches Pendant. Der Altersdiskurs von heute müßte, wenn überhaupt er noch über praktische Verhaltensregeln in Zeitschriften hinausginge, von dem/der SeniorIn sprechen.
SINN UND FORM 5/2001, S. 707-715
- 6/2014 | Die Heimat tritt in den Krieg ein.
Brechts Mütter, S. 707 Leseprobe
Schlaffer, Hannelore
Die Heimat tritt in den Krieg ein. Brechts Mütter
In einem beträchtlichen Teil von Brechts Stücken ist die »Heldin« eine Mutter: in »Die Mutter«, »Die Gewehre der Frau Carrar«, »Mutter Courage«, »Der kaukasische Kreidekreis«, »Coriolan«; zudem hat Brecht Gerhart Hauptmanns Dramen »Der Biberpelz« und »Der rote Hahn« bearbeitet, in denen Mütter Hauptrollen haben. Carl Pietzckers Buch »Ich kommandiere mein Herz – Brechts Herzneurose« (1988) führt diese poetische Eigenart auf den frühen Tod von dessen Mutter zurück. Auf ihren Tod 1920 reagierte er so demonstrativ achtlos – am Tag danach veranstaltete er auf seiner »Bude« ein Gelage mit Freunden –, daß eine psychoanalytische Herleitung dieser Verdrängung sowie der Wiederkehr des Motivs der »Mutter« im Werk durchaus angebracht scheint.
Nun ist Brecht aber nicht nur ein Kind seiner Mutter, sondern auch ein Kind seiner Zeit. Die Mutter ist seit 1914, als in dem Sechzehnjährigen das literarische Bewußtsein erwachte, zu einer der Leitfiguren des Jahrhunderts, seiner Politik und Ideologie avanciert und daher Brecht auch von außen zugekommen. Im nationalistischen, sozialistischen wie faschistischen Lager rückt sie in eine dominante Position, verläßt den privaten Raum und wird zur politischen Funktion. Stets ist in den neuen Ideologien die mütterliche Existenz, dieser friedlichste aller sozialen Entwürfe aus nichts als Liebe und Sorge, mit dem Krieg verbunden. In allen politischen Modellen wird die Mutter zum ersten und wichtigsten Waffenlieferanten: Sie stellt das Menschenmaterial für den Krieg. Ihre vorzüglichste Eigenschaft ist es, einen Sohn zu haben, dem sie alle Pflege zukommen läßt, nur um ihn dem Vaterland oder einer Idee zu opfern. Mit der Mutter tritt die Heimat in den Krieg ein.
Brecht beteiligt sich in allen Werkphasen an der ideologischen Umdeutung der einst privaten Rolle. Seine Position wandelt sich vom kriegsbegeisterten Sohn zum politischen Erzieher der Mütter und schließlich zum Kritiker jener Mütter, die sich vom Nationalsozialismus zum Verrat an ihrem friedlichen Auftrag verführen ließen. Während in den dreißiger Jahren aus dem sozialistischen Kämpfer ein antifaschistischer Pazifist wird, entwickelt sich die Mutter in seinem Werk zur Kämpferin für die »Dritte Sache«, die stets die gute des Sozialismus ist: »Die dritte Sache«, so Brecht an Ruth Berlau, »ist der Sozialismus (…) keiner schuldet keinem etwas, jeder schuldet alles der dritten Sache.« Die Mutter im gleichnamigen Stück singt das »Lob der dritten Sache« und rühmt sich ihres Einsatzes dafür: »aber ich / Behielt meinen Sohn. Wie behielt ich ihn? Durch / Die dritte Sache.«
Angesichts der zunehmenden Kriegspropaganda der Nationalsozialisten zeigt jedoch auch Brecht am Beispiel der Mutterfigur, welche Folgen der Dienst an der falschen Sache hat. »Mutter Courage«, das Drama, das in Deutschland nicht zur rechten Zeit, nämlich während des Krieges, sondern erst 1949 in Berlin aufgeführt wurde, erfuhr durch die verspätete Rezeption eine Interpretation, die Brechts eigentliches Thema, die Auseinandersetzung mit der Mutterideologie des Dritten Reichs, in den Hintergrund rückte. Das Unglück der Kriegsgewinnlerin ist nicht nur, wie linke Deutungen annehmen, eine Kritik des Kapitalismus, der am Krieg verdienen will; vor allem ist es eine Farce über das Mutterglück, das der NS-Staat verspricht. Das Stück parodiert das Wörterbuch der Propaganda, die der Mutter das Opfer des Sohnes als heilige Pflicht einredet: »Deutschland muß erst wieder ein blühendes Mutter- und Kinderland sein, dann wird es ein mächtiges Vaterland werden«, verspricht 1938 ein Aufsatz über »Deutsche Mutter und deutscher Aufstieg« in der Zeitschrift »Politische Biologie«. Dagegen inszeniert, wie sich zeigen soll, Brecht mit seiner »Mutter Courage« ein regelrechtes Kabarett über diese Art Mutter-Gottesdienst.
Brecht schließt damit einen Lernprozeß ab, der 1914 mit einem zeitgemäßen Irrtum, dem Glauben an die Opferrolle der Mutter, beginnt. Der Glaube mündet in den Versuch, diesem Opfer einen Sinn als Beitrag zur kommunistischen Weltverbesserung zu verleihen, bis endlich Brecht der Ehrlichkeit des mütterlichen Opfers überhaupt mißtraut.
In den frühen Gedichten feiert Brecht, wie die meisten jungen Männer seiner Zeit, die Mutter als Muse des Krieges. Seine Vorstellung von ihren nationalen Aufgaben bezieht er aus der Stimmungslage zu Beginn des Ersten Weltkriegs. 1914 veröffentlicht er in der »München-Augsburger Abendzeitung« seine »Augsburger Kriegsbriefe«, in denen er mit Begeisterung den Krieg begrüßt: »Und das Große, was wir Deutschen wollen, ist einzig und allein: Unsere Ehre wahren. Unsere Freiheit wahren, unser Selbst wahren. / Und das ist aller Opfer wert.« In dem Gedicht »Der heilige Gewinn« rühmt er die Mutter: »Das ist schön, schön über all’ Ermessen / Daß Mütter klaglos die Söhne sterben sehn / Daß alle ihre Sorgen still vergessen / Und um den großen Sieg nun beten gehen«. Die Rolle, die die sozialistische wie die faschistische Propaganda der Mutter zumutet, ist 1914 vollständig entfaltet, und Brecht übernimmt sie: »Mutter sein in unseren Zeiten heißt: Leiden« und »eines anderen Leben leben«, so erklärt er im Gedicht »Mutter sein«. Leiden aber heißt »tausendmal sterben« mit dem Sohn und allen Söhnen.
Von Anbeginn an umgibt die Mutter – und auch diesmal folgt Brecht dem allgemeinen Entwurf – der marianische Glorienschein der Gottesmutter. Noch 1922 verklären sich die armseligen Umstände der Geburt Jesu im Glanz, den der Sohn auf das Gesicht der Mutter wirft: »Alles dies / Kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war / Gesang liebte / Arme zu sich lud / Und / Die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben«. ("Maria«) In diese Nachfolge ordnet sich auch Pelagea Wlassowa ein, die Heldin aus dem viel später entstandenen Stück »Die Mutter«, die der Sohn zur Sozialistin bekehrt: »ich habe Glück: ich / habe einen Sohn, der nötig ist.«
Wenngleich der Gymnasiast Brecht schnell von seiner Kriegsbegeisterung geheilt wird, da er sich die Toten, Kinder und Armen vergegenwärtigt, die der Krieg zurückläßt, erlischt das 1914 übernommene Bild der Mutter als Lebensspenderin des Krieges doch nicht so rasch. Mit dieser Figur besetzt er die Stücke der dreißiger Jahre, jener Zeit, da sich in Deutschland die Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten verschärfte. Mit der Arbeit an »Die Mutter« nach Gorkis gleichnamigem Roman begann er 1931; 1937 entstand als Parteinahme für den Spanischen Bürgerkrieg »Die Gewehre der Frau Carrar«, 1938/39 entwarf er »Mutter Courage« und plante gleichzeitig den »Kaukasischen Kreidekreis«; 1940 schickte er dem Stück eine Erzählung voraus. Es ist ein Unterschied, ob Brecht am Anfang oder im Verlauf der dreißiger Jahre, mit zunehmender Kriegspropaganda der Faschisten, an Mutterdramen arbeitet: je nach Zeitpunkt wird das Drama für die Mutterfigur zur Hagiographie oder zum Letzten Gericht.
[...]SINN UND FORM 6/2014, S. 792-800, hier S. 792-794
- 6/2015 | Zweierlei Sprache. Rilke, seine Frauen, seine Interpreten
- 1/2021 | Schreiben. Eine Gymnastik
- 2/2022 | Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman, S. 707 Leseprobe
Schlaffer, Hannelore
Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen worden. Doch gibt es Romane, Jean Pauls »Titan« etwa, Kellers »Grünen Heinrich« oder die Erzählungen Stifters, die nicht die Dramatik der großen Leidenschaft vorführen, sondern den Zauber einer erwachenden Neigung, die von Sünde kaum etwas ahnt und von Tragik nichts weiß. Während die literarisch zubereitete Leidenschaft durch starke Affekte enorme Effekte hervorbringt, äußert sich die erwachende Liebe in unscheinbaren Gesten, die im Gedächtnis des Lesers leicht wieder verblassen. Und doch sind häufig sie es, die, auch wenn sie nicht den Gang der Handlung bestimmen, der Erzählung Farbe geben und in der Erinnerung das Glück dieser Lektüren ausmachen.
Im Unterschied zur handlungsbestimmenden Leidenschaft steht für diesen Zustand der von der Pädagogik geprägte Begriff »Pubertät« zur Verfügung oder dessen poetische, durch Wedekind geprägte Version »Frühlings Erwachen«. Beide Bezeichnungen für den jugendlichen Liebesmorgen sind um die Jahrhundertwende entstanden, als Freud, Krafft-Ebing, Ricord, Charcot die Sexualität von einer Sünde zum Forschungsgegenstand erhoben. Die Leidenschaft war vom Skandal zum wissenschaftlichen Problem geworden, und damit entstand eine andere Literatur der Jugendlichkeit, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zog und ihren Niederschlag in den Internatsromanen fand, in Musils »Törleß« etwa, der den groben Sadismus erotisch erregter Pennäler darstellt, oder in Günter Grass’ witzigen Unanständigkeiten in der Novelle »Katz und Maus«.
Den Autoren dieser Werke war, im Unterschied zu ihren schüchternen Vorgängern, durch die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Pubertät bereits die Romantik abhanden gekommen, die früher solche Jugendspiele verklärte und die eben in Roman und Erzählung jene versteckten, aber so anrührenden Szenarien der Liebe vor dem Sündenfall hervorgebracht hat. Von »Daphnis und Chloe«, dem antiken Hirtenroman, bis zu Stifters »Bunten Steinen« hat sich für die ahnende und scheue Liebe ein Repertoire von Gesten entwickelt, das Furcht und Seligkeit dieses Zustands zu fassen sucht.
Nahezu zwei Jahrtausende liegen zwischen Longos’ Roman und den Erzählungen von Musil und Grass, und dennoch stehen sie sich nah. Sie gehören der Idylle an, jener Gattung, die den Menschen in einem der Natur nahen Zustand und in einer zeitlich wie räumlich geschlossenen, befriedeten Umgebung vorführt. Der Hirtenknabe und die Hirtin der Antike sind solche idyllischen Charaktere, was man von den Figuren der modernen Erzähler nicht behaupten kann – und doch: Sie sind deren letzte Version, denn sie führen die Zerstörung des Idylls vor. Die Figuren beider Werke befinden sich in eben dem Lebensalter wie Figuren dieser Gattung immer. Sie kennen die Normen der Gesellschaft nicht genau, und auch sie leben, wie die Bewohner der Idylle, für eine begrenzte Zeit in einem geschlossenen Revier, dem Internat. Dieses allerdings ist als Ort strengster Erziehung das Paradox der Idylle, ein idyllisches Gefängnis. Das Erwachen der Liebe, die hier, dem aufgeklärten Jahrhundert und seiner Wissenschaft entsprechend, als Sexualität zu bezeichnen ist, führt die von dieser Erfahrung überraschten Jugendlichen ebenso in Verwirrung wie das Hirtenpaar des Longos. Die weitgespannte Geschichte der sündelosen Liebe also führt aus dem bukolischen Milieu der Antike ins Internat der Moderne, aus dem unschuldigen Spiel der Naturkinder zur verstörten Psyche moderner Jugendlicher. Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht sich am Anfang ihrer literarischen Darstellung als tapsende Erfahrung, an ihrem Ende als Teil einer Erziehung, die sie stört und verstört, sie wird von der Wiese in eine geschlossene Anstalt verlegt, immer aber schildert sie eine Initiation.
Zwischen diesen Polen, Entstehung und Ende einer erotischen Gattung, sind in der Roman- und Erzählliteratur zahlreiche Szenen versteckt, die das in der Antike begründete Schema der Idylle nutzen und variieren. Es lohnt, mit Daphnis’ und Chloes Liebe beginnend, sich der Mittel zu erinnern, mit denen jene dem Leser so wohlgefälligen Einschübe, diese Paradiese im Roman, hergestellt werden.
Naivität ist der wesentliche Zug, den der Autor seinen Figuren verleiht, sobald er das Frühlingserlebnis der Liebe darstellt. In Erscheinung tritt die kindliche Unschuld gerade dadurch, daß die Sinne rege werden, was der Leser bemerkt, was Knabe und Mädchen selbst aber kaum wahrnehmen und gar nicht verstehen. Nachdem Chloe Daphnis, den Knaben, im Bade nackt gesehen hat, nachdem also das Kleid, Symbol der Sitte, abgelegt und der Mensch in seiner natürlichen Gestalt vor Chloes Blick erschienen ist, setzt für sie ein Zustand ein, der sie überrascht. Jede Begegnung versetzt von nun an das Paar in selig-unselige Verwirrung: »Als aber der Tag wieder heraufkam, litten sie wieder wie zuvor. Sie waren selig, wenn sie sich sahen, und trauerten, sooft sie voneinander gehen mußten. Sie litten und sehnten sich nach etwas, wußten aber nicht, wonach sie sich sehnten. Nur so viel wußten sie, daß für ihn der Kuß, für sie das Bad der Anfang des Unheils gewesen war.«
Zum Kuß war es zwischen den beiden Paaren, die Jean Paul im »Titan« zu einer der schönsten Szenen jugendlicher Liebesahnung zusammenführt, nicht gekommen, doch führt auch hier die Begegnung von Albano und Liane, von Rabette und Roquairol zu geheimer Verwirrung in den Gemütern aller vier Freunde. Der Autor situiert die Gruppe, dem Modell der Idylle gehorchend, »tief in den dreifachen Blüten der Jugend, der Natur und der Zukunft«, dort also, wo sie »den weitesten Himmel in sich trug, den die Menschenbrust umspannen kann«.
Im Jahrhundert der sexuellen Aufklärung ist es leicht zu erkennen, woher diese schöne Verwirrung rührt, aus der quasi-idyllischen Unschuld nämlich, in der die Erziehung damals den Zögling noch zu halten suchte. Man braucht dazu nicht aus Jean Pauls Erziehungsbuch »Levana«, seiner Antwort auf Rousseaus »Émile«, zu zitieren, um zu wissen, daß »Mädchen, wie Perlen und Pfauen« sind, und man sie »schätzt (…) nach keiner andern Farbe als der weißesten«. Verwirrung war das Resultat einer sexuellen Nicht-Erziehung, einer Erziehung zur Unwissenheit, die Mädchen vor allem, aber auch Jünglingen in jenen Zeiten angetan wurde. Die Jungfrau sei, so Jean Paul in der »Levana«, »ein von der Gegenwart eng umkettetes Gemüte«, womit er die strenge Erziehung zur sogenannten Unschuld meint, vor dem ein Jüngling »auf einmal Glück und Freiheit weit ausbreitet«. Der Geliebte überrasche nun als der, »der alle Träume verkörpert, die bisher die uneigennützige Seele in Sterne, in Frühlinge, in Freundinnen und kindliche Pflichten eingekleidet hatte«. Diese »kräftig und rein erzogene Jungfrau ist eine so poetische Blume der matten Welt«, daß sie gehütet werden muß.
Aber auch für den Jüngling setzt ein Zustand ein, der zum ersten Mal jenseits aller bürgerlichen Erziehung seine Entscheidung herausfordert. Für ihn ist die Liebe die erste Entdeckungsreise, die er unternimmt. Die Selbsterforschung des ahnungslosen Knaben, an deren Ende die Selbsterkenntnis als erotisches Subjekt steht, nimmt, wie jegliche Entdeckungsreise, den Umweg über viele Irrwege. Jean Paul weiß diese Antriebe, die Ziel und Zweck noch nicht gefunden haben, in Szenen eines Quidproquo zu fassen, wobei die Verwirrung der Herzen nicht mehr ausdrücklich eingestanden werden muß, sondern gestisch dargestellt und durch geradezu tänzerische Fehltritte der Paare angedeutet werden kann.
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 238-247, hier S. 238-240
- 3/2023 | Hildegard Knef, Schriftstellerin
Schlaffer, Heinz
- 5/2000 | Aufklärung über Kunst. Eine Anekdote Rivarols
- 6/2002 | Der Roman, das letzte Stadium der Literatur
- 2/2013 | Das Panorama der Irrtümer. Zu Flauberts »Versuchung des heiligen Antonius«
- 2/2015 | Die Vorzüge der »Leiden des jungen
Werthers«, S. 735 Leseprobe
Schlaffer, Heinz
DIE VORZÜGE DER »LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS»
Leicht ist es, Goethes »Werther« ein vorzügliches Buch zu nennen, schwer jedoch, diese Vorzüge zu bestimmen. ›Vorzüge‹ soll wörtlich heißen, daß dieses Werk vergleichbaren Werken, in diesem Fall anderen Liebesromanen, vorzuziehen sei. Immerhin wird, was zunächst als subjektives Geschmacksurteil erscheint, durch die Geschichte der Gattung selbst bestätigt: Nachdem »Die Leiden des jungen Werthers« veröffentlicht waren, haben sämtliche früheren Liebesromane, von Heliodors »Schöner Charikleia« bis zu Rousseaus »Neuer Heloise«, bei Schriftstellern wie bei Lesern, an Interesse und Ansehen verloren. Seitdem hat sich eine neue Art von Liebesroman gebildet, der Wertherische, und dies – zum Erstaunen des deutschen Literaturhistorikers – vor allem bei französischen Autoren. Sie berufen sich auf ein Vorbild, das in der deutschen Literatur, von kurzlebigen Reaktionen und Imitationen abgesehen, keine Nachfolge fand. Nichts Geringeres als die Autorität Goethes unterband in Deutschland eine Fortführung des Modells, das sein »Werther« geschaffen hatte. Sein zweiter Roman, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, ist dem ersten entgegengesetzt. Der tödliche Wahn Werthers, der allein aus der Liebe sein Glück ziehen wollte, weicht, bei den Interpreten der »Lehrjahre« mehr noch als bei seinem Autor, einem pädagogisch verwertbaren Konzept von Kunst und Bildung. Die herausgehobene Stellung »Wilhelm Meisters« in der deutschen Literatur- und Bildungsgeschichte konnte auch durch Goethes Rückkehr zu einer tödlich verlaufenden Liebesgeschichte in seinem dritten Roman, den »Wahlverwandtschaften«, nicht erschüttert werden. Der Bildungsroman, nicht der tragische Liebesroman, wurde vom deutschen Bürgertum als einer seiner Grundtexte anerkannt. Die Genealogie dieser spezifisch deutschen Gattung ließ man mit Wielands »Agathon« und Moritz’ »Anton Reiser« beginnen und bis zu Thomas Manns »Zauberberg« oder Hesses »Glasperlenspiel« reichen. Bildung aber ist der Liebesleidenschaft nicht förderlich. Deshalb wurde »Werther« ein folgenreiches Ereignis in der Geschichte des französischen, nicht jedoch des deutschen Romans.
In den »Fragmenten einer Sprache der Liebe« hat Roland Barthes seine leidvollen Erfahrungen der Liebe unter achtzig Stichworten rubriziert. Die Mehrzahl der kurzen Kapitel zitiert Sätze oder reflektiert Geschehnisse aus den »Leiden des jungen Werthers«. Diese »Fragmente« ergeben einen auf das Leben angewandten Kommentar zu Goethes Roman, den Barthes gar nicht als Roman behandelt, sondern als glaubwürdiges Dokument eines jungen Mannes, als »Stimme des Unheilbar-Liebenden«. Den Briefen Werthers entnimmt ihr betroffener Interpret Einsichten in Entstehung und Verlauf einer meist einseitigen, selten erwiderten Liebe. Sie kann so beginnen: »Aus dem Wagen steigend, erblickt Werther zum ersten Mal Lotte (in die er sich verliebt) im Türrahmen ihres Hauses (sie schneidet den Kindern Brot: eine berühmte, oft kommentierte Szene): wir lieben zunächst ein Bild. Denn an der Liebe auf den ersten Blick muß gerade das Zeichen ihrer Plötzlichkeit haften (das mich unverantwortlich macht, dem Schicksal unterworfen, schwärmerisch, hingerissen): und von allen Objektzusammenstellungen ist es das Bild, das sich offenbar am besten dazu eignet, ›zum ersten Mal‹ wahrgenommen zu werden: (…) das Bild heiligt das Objekt, das ich lieben werde.« Barthes verzichtet darauf, die Namen Wetzlar, Buff, Kestner zu erwähnen, damit die unmittelbare Wirkung und fortdauernde Wahrheit des »Werther« nicht durch den Rekurs auf historisch-biographische Umstände beeinträchtigt werde. Ausgelöscht sind die zweihundert Jahre, die zwischen Werthers Briefen und Barthes’ Fragmenten liegen. Ausgelöscht sind auch alle Liebesromane vor »Werther«. Als dieser erschien, beherrschten Richardsons »Clarissa« und Rousseaus »Neue Heloise« die Vorstellung der Leser von dem, was Liebe sei. Zweihundert Jahre später zitiert Barthes den Roman Richardsons gar nicht, den Rousseaus ein einziges Mal, »Werther« jedoch mehr als fünfzigmal. Eine solche Bevorzugung beruht nicht auf einer privaten Vorliebe; vielmehr bestätigt sie die anhaltende Verehrung des berühmtesten deutschen Romans in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Goethes Buch von 1774 hat eine Epoche des Liebesromans beendet und eine neue eröffnet.
Selbst politische Gegner wie Napoleon und Madame de Staël waren sich in der Verehrung dieses Romans einig, der »Die neue Heloise« in den Schatten stellte. Im Kapitel »Werther und Don Juan« seiner Aufzeichnungen »Über die Liebe« nennt Stendhal bereits ungescheut Saint-Preux eine »platte Person«, die, anders als der phantasievolle Werther, gar nicht zum Liebhaber in einem Roman tauge. Der Erzähler von Nervals »Sylvie« erkennt sich am Ende seiner Erinnerung an eine versäumte Liebe als »Werther, doch ohne Pistolen«. In Flauberts »Lehrjahren des Herzens« verweist die Hauptfigur auf ihren berühmten Vorgänger: »Ich verstehe die Werther« – offensichtlich gab es mittlerweile mehrere –, »die nicht ernüchtert sind, wenn Lotte Butterbrote streicht.« (Im deutschen Original fehlt die Butter auf dem Brot.) Zum Lieben braucht man keine Heroine, und man muß auch selbst kein Held sein. Diese Einsicht der französischen »Werther"-Leser fand in Deutschland keinen Anklang: Werthers empfindsamer, unmännlicher Charakter hat hier manchen Männern mißfallen. Sie hörten bereits aus Werthers Vorspruch zur zweiten Auflage die passende Losung für deutsche Jünglinge heraus: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach.« Goethe meinte: nicht in den Tod; die Pädagogen weiteten den Ratschlag aus: auch nicht zur Liebe. Friedrich Engels nannte Werther einen »schwärmerischen Tränensack«. Roland Barthes hingegen berichtet freimütig, daß ihn, nicht anders als Werther, ein unglückliches Liebesverhältnis zum Weinen bringen könne.
In Werther entdeckten die französischen Schriftsteller den Prototyp des modernen Subjekts, das den Ansichten der anderen, den gesellschaftlichen Umgangsformen, dem göttlichen oder gottlosen Weltplan nicht zustimmt und sich eine eigene Welt erträumt. Goethes skeptischer Blick auf die Gesellschaft wie auf den einzelnen hatte die soziale, psychische und intellektuelle Genese von Werthers Illusion freigelegt. Dieser Analyse folgt der französische Desillusionsroman; dabei deckt er weitere Fehlgriffe der Liebesphantasie auf, auch bei weiblichen Protagonisten. Weniger ihre Liebe zu Männern als Langeweile und die Lektüre trivialer Romane treiben Emma Bovary zum Ehebruch und in den Tod. Frédéric Moreau hält sein Dasein für verfehlt, weil er Madame Arnoux nicht zum Ehebruch bewegen kann und sich mit Monsieur Arnoux’ Mätresse begnügen muß. Ältere Liebesromane hatten immer nur die Frage gestellt, wie man eine Frau erobert; Constants »Adolphe « jedoch stellt die nicht weniger lebensnahe Frage, wie man eine Geliebte wieder loswird. Von Goethes Roman lernten seine Nachfolger die Methode, durch Beobachtung des eigenen Verhaltens und Bewußtseins die monströse Wahrheit aufzuspüren, die sich unter dem glückverheißenden Wort ›Liebe‹ verbirgt.
SINN UND FORM 2/2015, S.195- 204, hier S.195-197
- 2/2016 | Erzählen in Versen
- 3/2017 | Das Ansehen des Originals
- 2/2019 | Probleme des Plauderns
- 2/2023 | Der vorgetäuschte Brief. Zu einem Aphorismus des Prinzen de Ligne
Schlattner, Eginald
- 6/2010 | Gespräch mit Gerda Ziegler
Schleef, Einar
- 6/2018 | Herzkammern. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, S. 775 Leseprobe
Schleef, Einar
Herzkammern. Gedichte
Vorbemerkung
1. »Stinkstiefel!« Mit diesem Ausdruck bedachte der zornige Jürgen Holtz einmal im Interview den Regisseur Einar Schleef. Die Wortwahl war drastisch, und sie brachte mich damals, als Lektor und dramaturgischer Berater an Schleefs Seite, gegen den Schauspieler auf; klar, ich nahm Partei. Dabei ließ sich so ein Ausbruch nachvollziehen. Der Regisseur konnte im Probenprozeß verbissen, kleinlich, ja gemein reagieren. Gentleman-Regie gehörte nicht zu seinen Möglichkeiten. Wenn etwas Sehenswertes entstehen sollte, mußte hart gearbeitet, mußten Konflikte (an denen es nie mangelte) durchgekämpft werden. Zum öffentlichen Bild des Regisseurs, Autors, Malers, Darstellers, Fotografen gehört das beeindruckende Volumen seiner Arbeiten, gehören Lautstärke und Eindringlichkeit. Im schärfsten Kontrast dazu nun der Ton dieser unveröffentlichten Gedichte. Die Haltung dessen, der hier von Sterben, Tod und Totenreich spricht, wirkt entspannt, gelöst, ja erlöst. Nachdem alles vorbei ist, läßt sich die Lage offenbar gelassen, leise, in einfachen Sätzen und Worten beschreiben. So, in dieser Verfassung, wäre der Künstler im wirklichen Leben gern gewesen, stelle ich mir vor. Aber – es ist gar nicht alles vorbei. Drüben, wie sich herausstellt, am anderen Ufer, geht es weiter, geht dasselbe von vorn los. Erlösung? Nicht mal im Tod ist sie vorgesehen.
2. Einige Wochen nach Schleefs Tod im Juli 2001 konnte ich seine Wohnung in der Nußbaumallee im Berliner Westend noch einmal besuchen. In der einen Ecke des großen Zimmers stand der Fernseher. Ihm gegenüber ein breiter, alter Holzstuhl mit Schnurbespannung und Armlehnen, davor auf dem Parkett eine Fernsehzeitschrift, aufgeschlagen der Tag vor dem Tod, meine ich, mit Anzeige einer Sendung über einen Frauenmörder, die mir auffiel, weil der Sangerhäuser Frauenmörder Fritz Schnubbe sozusagen zu Schleefs Inventar gehörte, nachzulesen im »Tagebuch«, und weil 1999 Thomas Braschs »Mädchenmörder Brunke« erschienen war; rechts und links vom Stuhl seine Schuhe, es waren wohl eher Schlappen. Er hätte gleich wieder, aus der Küche oder vom Klo, vom Telefon, aus dem Bett oder vom Computer kommend, Platz nehmen und hineinschlüpfen können. Ein einsames Ensemble – das vor meinen Augen auftauchte, als ich diese Gedichte las. In dreien ist von schwarzen Schuhen die Rede, die aufgegeben, aufs Wasser gesetzt werden und später, getrocknet, an Land erneut bereitstehen. Zu vernehmen ist eine bis dato unbekannte Stimme des Künstlers, elegisch, leise. In romantischer Tradition ist vom Ich und von dem anderen, »meinem Schatten«, die Rede, von fallenden Blättern, Abend, Mond, vom Sterben, von Charons Kahn und dem Land der Toten.
3. In Schleefs Welt sind Tote allgegenwärtig. 1971, kurz nachdem er in Ost-Berlin sein Bühnenbild-Studium abgeschlossen hat, stirbt der Vater. Über seinen Tod hinaus hält er die Mutter in Sangerhausen auf Trab. Nachzulesen im Romanmonolog »Gertrud« (sowie im Briefwechsel des Sohns mit der Mutter). Ihr Hadern, ihre Todes- und Grabphantasien – täglich läuft sie auf den Friedhof – sind, nachdem der Sohn schreibend in sie hineingekrochen ist, kaum mehr von dessen eigener Befindlichkeit zu unterscheiden. In West-Berlin seit 1976 wohnhaft, beschäftigen ihn die Toten an der Mauer, die Selbstmörder, die von der Autobahnbrücke in der Nähe seiner Wohnung springen, der Aids-Tod eines Freundes sowie der Tod der Alten in dem Heim, auf das er täglich aus seiner Küche blickt. (Ihnen ist das Kapitel »Altensilo« in dem Gedichtkonvolut gewidmet, aus dem die folgenden Gedichte stammen.) Nach seinem Zusammenbruch im Januar 2001 während der Proben zu Elfriede Jelineks »Macht nichts« übernimmt der drohende Tod in Schleefs Leben das Regiment, auch im »Tagebuch«, wo lange Einträge von ihm handeln.
4. Töten, Selbsttötung, Sterben haben viele seiner Werke infiziert, die Stücke »Mütter«, »Wezel«, »Salome«, seine Erzählungen, den Groß-Essay »Droge Faust Parsifal« – und eben auch die Sammlung »Herzkammern«, der die vorliegenden Gedichte entnommen sind. »Herzkammern« wurde nicht veröffentlicht. Schleef hat überhaupt keine Gedichte veröffentlicht. Einige frühe finden sich im zweiten Band des postum publizierten »Tagebuchs «, dem der Autor zugleich die Rolle einer Arche Noah verstreuter eigener Texte zugewiesen hatte. Um so erstaunlicher scheint mir, daß aus den »Herzkammern« auch dort nichts auftaucht. »Gertrud« kam 1980 heraus, »Zuhause« (mit hundert Fotos von Sangerhausen und Umgebung) 1981, der Erzählband »Die Bande« 1982, das Theaterstück »Wezel« 1983, »Gertrud 2« 1984. Offenbar fand Schleef in diesen Jahren auch noch Zeit für Gedichte. Oder waren sie früher entstanden? 1982 bewarb er sich mit den »Herzkammern« um einen Lyrikpreis. Gernot Krämer zog das Typoskript ans Licht. Von den 75 Gedichten wählte die Redaktion elf aus.
Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Vorbemerkung zu Einar Schleef, Herzkammern. Gedichte
SINN und FORM 6/2018, S. 775-776
Schlegel, Friedrich
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Aphorismen zum Roman
- 4/1977 | Aphorismen zur Literatur
Schlenstedt, Dieter
- 3/1966 | Ankunft und Anspruch. Zum neueren Roman in der DDR
- 6/1974 | Kraft gespannten Wesens
- 3/1986 | Zwei Vokabeln zum Geburtstag
Schlenstedt, Silvia
- 1/1984 | Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss´ »Die Ästhetik des Widerstands«
- 4/1989 | Suche nach Halt in haltloser Lage - Die Kulturarbeit deutscher Juden nach1933 in Deutschland und die Dichterin Gertrud Kolmar
Schlesak, Dieter
- 3/1993 | Siebenbürgische Elegien und andere Gedichte
- 6/1993 | Die nachzustotternde Welt. Paul Celans »Wahn-Sinn« - Leid und Erkenntnis eines millenaren Zeitbruchs
- 1/1996 | Begegnungen mit E. M. Cioran. Briefe, Erinnerungen, Gedanken
- 1/1999 | Cioran - ein Meister des Briefeschreibens
Schlesinger, Klaus
- 3/2014 | »Eine Art Beweisnotstand«. Aus dem Tagebuch 1991. Mit einer Vorbemerkung von Astrid Köhler, S. 323 Leseprobe
Schlesinger, Klaus
AUS DEM ARCHIV DER AKADEMIE DER KÜNSTE »EINE ART BEWEISNOTSTAND» Aus dem Tagebuch 1991
Vorbemerkung
Am 28. Oktober 1991 stand im »Spiegel« ein »Offener Brief an Sarah Kirsch, Jürgen Fuchs und Wolf Biermann«:
»Wenn schon, denn schon – ich war auch mal ein Spitzel! Die ‚Einsamkeit der weißen Weste’ paßt mir also nicht. Seit Posen/Ungarn (`56) war ich dagegen. Nicht gegen den Kommunismus, aber gegen die asiatische Despotie. Ohne Herkunft, Studentin vor dem Staatsexamen, liiert mit einem isländischen Studenten – war ich erpreßbar. Und ich unterschrieb, September `57. Ich wollte nämlich nicht, wie Erich Loest, sieben Jahre in Bautzen sitzen, wo mir, da ich keine Familie, gar keine Blutsverwandten hatte, niemand auch nur eine Schachtel Zigaretten gebracht hätte. Die Scham beißt ein Leben lang, aber sie ist auch eine energische Lehrerin. Ihr seid auch mal in der Partei gewesen, genau wie ich. Zwar habe ich mir erlaubt auszutreten, was damals (`57) noch verboten war, doch Komplizen waren wir alle. Das kriegt Ihr nie raus, was ich alles weiß, über Leute, mit denen wir befreundet sind. Und eher will ich im polnischen Wald verbluten, als mich auf einen deutschen Richterstuhl setzen.
Berlin, Helga M. Novak"
Gleichwohl muß die Autorin noch am selben Tag in einem Telefonat mit Sarah Kirsch ihr Schweigegelübde gebrochen und Namen genannt haben: falsche. Denn noch am 28. Oktober erhielt Klaus Schlesinger einen Anruf des Journalisten Jürgen Serke, und man verabredete sich für den 31., an dem die hier abgedruckten Seiten aus Schlesingers Tagebuch einsetzen. Sie führen uns in eine Debatte zurück, die im Sommer 1990 begann und in deren Verlauf viele, meist bekannte Künstler und Intellektuelle der DDR einander bezichtigten, nicht nur mit dem Unrechtsstaat kollaboriert, sondern auch für dessen Geheimdienstapparat gearbeitet zu haben. An Fällen wie Ibrahim Böhme und Sascha Anderson zeigt sich, daß es dabei durchaus nicht nur um individuelle Schuldfragen, sondern um die politische Deutungshoheit über die Rolle von Literatur, Kunst und Kultur in der DDR ging. So überrascht es kaum, daß die Situation oft auch zur Austragung privater Fehden genutzt wurde und sich erneut bestätigte, wie eng das Politische und das Private miteinander verwoben sind. Mit einem solchen Fall haben wir es hier zu tun.
Klaus Schlesinger (1937-2001) war während und nach der Wende weder ein Advokat der schnellen Wiedervereinigung noch einer der pauschalen DDR-Verdammung. Zwar hatte auch er, wie viele seiner Kollegen und Freunde, den Staat als Dissident verlassen, weil sein Ausschluß aus dem Schriftstellerverband im Sommer 1979 einem Berufsverbot gleichkam, doch er bestand darauf, nie im Westen angekommen zu sein, und gehörte zu den ganz wenigen Ausgereisten, die ihre Staatsbürgerschaft bis zum Ende beibehielten. »Ich setze meinen Fuß in die Tür eines Hauses, in dem ich mich nicht niederlassen will«, hatte er im März 1980 beim Umzug nach Westberlin notiert. Er versuchte sich die DDR als Projektionsfläche für soziale Utopien zu erhalten, beteiligte sich in Westberlin aber auch aktiv an sozialen und politischen Initiativen, namentlich an der Friedensbewegung und der Hausbesetzerszene sowie an linken Publikationen wie der »literataz«. Fast zehn Jahre lang –also noch im Herbst und Winter 1991 – wohnte er in einem der besetzten Häuser in der Potsdamer Straße, der »Potse«. Zunächst indes hatte er mit Hilfe von Sarah Kirsch eine Wohnung in Charlottenburg gefunden, in dem Haus, in dem sie mit ihrem Partner lebte. Dort lernte er auch Helga M Novak kennen, die seit ihrer gemeinsamen Zeit am Leipziger Literaturinstitut mit Kirsch befreundet war. Sie war 1966 exmatrikuliert worden und kurz danach ausgereist. Schon zehn Jahre vor Biermann hatte man ihr »wegen Verbreitung regimekritischer Texte« die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt. Sie hatte in Island und in Westdeutschland gelebt und war erst kurz vor Schlesinger nach Westberlin gezogen. In seiner Chronik »Fliegender Wechsel« (1990) vermerkte er: »Erster Eindruck: Schwierige, harte Frau, extrem im Verbalen, achtete auf jeden Satz, kritisierte mich einmal scharf für eine Großkotzigkeit (…). Zweiter Eindruck (…): lebendige, anziehende Frau, in Gefühlsdingen absolut und mit aufregender Biographie. Ich hätte stundenlang zuhören können. Und streiten. Sentenz, auf einer Gitanesschachtel notiert: Liebe erklärt man wie Krieg.«
Ihre Beziehung gestaltete sich in der Tat turbulent und endete im September 1982 mit einer ungewöhnlich bitteren Trennung: »Gebrüll, Vorwürfe auf beiden Seiten; der Gipfelpunkt war ihr Satz: (…) Ich werde mich fürchterlich an Dir rächen! – ich brülle zurück, daß es mir nichts ausmacht und daß sies eben machen soll, und daß ich auf solch einem Niveau nicht mehr mit ihr rede (…). Es hat sich schon einmal einer an mir gerächt aus dem einfachen Grund, daß ich unser Verhältnis verlassen habe und nicht er, und er hat es auf eine gemeine Weise getan: Thomas Brasch mit seiner Stasilüge.« (Tagebuch 13.8.–13.9.1982. AdK, KSA, 143) Schlesinger konnte damals noch nicht ahnen, daß sie ein Gleiches tun würde, allerdings zu einem Zeitpunkt, als eine solche Unterstellung auf weit fruchtbareren Boden fiel: im Herbst 1991.
Die Gerüchteküche kam sofort auf Hochtouren, ein Gegenmittel gab es nicht. Besonders perfide war für Schlesinger, daß weder Sarah Kirsch noch Helga M. Novak sich öffentlich äußerten und er somit auch nicht öffentlich widersprechen konnte ("Nachher stehe ich mit einem Verleumdungsprozeß am Hals da!«). Die »Neuigkeit« verbreitete sich so subkutan wie wirkungsvoll. Im November untermalte Wolf Biermann einen an mutmaßliche Stasi-Spitzel adressierten Abschnitt seiner Mörike-Preisrede mit der Bemerkung »Nicht wahr, lieber Klaus?« Einige Journalisten behandelten Schlesinger wie einen erwiesenen Stasi-Mitarbeiter, Karl Corino fand in seinen Texten plötzlich deutliche Hinweise auf eine solche Verstrickung. Man forderte ihn zu Stellungnahmen auf und ermunterte andere Autoren wie Lutz Rathenow zu »Enthüllungen« über ihn. Bereits angenommene Rundfunkmanuskripte wurden vorerst nicht produziert.
Noch am 28. Oktober schrieb er an Sarah Kirsch und nach einigem Zögern auch an Helga M. Novak: »Liebe Helga, ich weiß nicht, ob Du nun Opfer einer Halluzination geworden bist oder was Dich sonst bewogen haben mag, Sarah gegenüber zu behaupten, ich hätte Dir einst eine Stasi-Mitarbeit ‚gestanden’ (…). Was ich aber weiß: daß Du, auch um deinetwillen, ganz schnell aktiv werden und Deine Phantasmagorie aus der Welt schaffen solltest. Schreib Sarah oder besser: Ruf sie an und dementiere den Quatsch!« Sarah Kirsch hatte er aufgefordert, ihn, wenn schon, wenigstens öffentlich zu beschuldigen, »damit ich endlich Gelegenheit bekomme, diese ganze schmutzige Sache vor einem Gericht zu klären«. Da keine von beiden reagierte, war ihm diese Möglichkeit versagt, und seine Entwürfe für einen »Offenen Brief in die polnischen Wälder« blieben in der Schublade. Seine Entlastung hing von den schleppenden Nachforschungen der Gauck-Behörde ab: »Absurde Situation, in der ich, eben noch Betroffener, mich als (potentieller) Täter überprüfen lassen muß.« (Tagebuch 20.12.1991-1.2.1992, Heft 2, AdK, KSA 171)
Die Qual des Wartens spricht nicht nur aus seinen Tagebuchnotizen, sondern auch aus der Korrespondenz seines Anwalts Hans-Christian Ströbele mit der Gauck-Behörde. Dessen drängende Anschreiben, stets mit der Bitte um schnelles Handeln, wurden wie in Amtsstuben üblich bearbeitet: Zunächst wurde auf die Menge derartiger Anfragen und die zu erwartende Bearbeitungsdauer verwiesen, dann wurden immer wieder neue Angaben eingefordert. Und natürlich mußte Ströbele »glaubhaft machen, daß die beantragte Auskunft zur Abwehr einer gegenwärtigen und drohenden Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Herrn Schlesinger unerläßlich und unaufschiebbar ist«.
Das gelang schließlich, unter anderem durch ein Schreiben des Journalisten Hans-Georg Soldat, der die Existenz und das Diffamierende des Gerüchts bestätigte. Der erlösende Brief der Gauck-Behörde datiert vom 15. Januar 1992 (ein gleichlautendes Telefonat hatte es bereits zwei Tage vorher gegeben). Nun erst, da die Anschuldigung amtlich widerlegt war, konnte sich Schlesinger öffentlich dazu äußern. Unter dem Titel »Ich gestehe! Ich verlange!« beschrieb er in der »Zeit« vom 14. Februar 1992 das ihm Widerfahrene als Rufmord und skizzierte den äußeren Ablauf des Geschehens, die Reaktionen von Kollegen, die sich bis dato Freunde genannt hatten, sowie seinen eigenen Umgang mit der Situation. Ihm lag vor allem daran, die existenzvernichtende Wirkung solcher Verleumdungskampagnen zu zeigen. Später wurde daraus der Text »Das Gerücht«, den er in den Essayband »Von der Schwierigkeit, Westler zu werden« (1998) aufnahm. Der Titel verweist auf die gleichnamige Grafik von A. Paul Weber, auf der eine Schlange an den unzähligen Fenstern eines Häuserblocks vorbeihuscht und in jedes etwas hineinraunt, während ihr Schwanz zu monströser Größe anwächst.
Eine der schlimmsten Erfahrungen dieser zweieinhalb Monate war, daß Schlesinger sich auf seine Menschenkenntnis nicht mehr verlassen konnte und Vertrauen zum Fremdwort wurde. Freunde und Kollegen, die er gut zu kennen geglaubt hatte und die auch ihn gut genug hätten kennen sollen, um zu wissen, wie absurd die Anschuldigung war, hielten es plötzlich nicht mehr für unmöglich, daß er doch »dabeigewesen« sein könnte. Mochte dies nach mehreren spektakulären Enttarnungen verständlich sein – die Staatssicherheit gewann dadurch nachträglich größere Macht über die Betroffenen, als diese ihr selbst zugebilligt hatten. Was folgte, war eine regelrechte Hetzjagd, die fälschlich Beschuldigten das Leben zur Hölle machte. Schlesinger hatte zeitweise Angst, aus dem Haus zu gehen, nicht nur wegen aufdringlicher Journalisten, sondern auch weil er befürchten mußte, bestimmte Freunde oder Kollegen zu treffen. Das galt natürlich nicht für jeden: Ulrich Plenzdorf glaubte von den Anschuldigungen kein Wort, Friedrich Dieckmann hielt sie für aberwitzig, desgleichen Bettina Wegner ("Tina«, »T«), Kurt Bartsch und Irene Böhme, Inge und Stefan Heym, Adolf ("Eddy«) und Brigitte Endler. Keine drei Wochen nach seiner offiziellen Entlastung durch die Gauck-Behörde saß er denn auch mit diesen Freunden im ehemaligen Stasi-Hauptquartier in der Normannenstraße und arbeitete sich durch die zahllosen Ordner seiner Opferakte. Gegen Ende seiner fast vierzig Seiten umfassenden Notizen dazu findet sich eine Art Zusammenfassung der Eindrücke: »Wahrnehmung der Stasi: Roman, der das Wesen der Figuren nicht getroffen hat. Trivialroman. Sprache – selektives Denken/selektive Sicht – Verstärkung dessen, was man zu sehen glaubt bzw. sehen will. (…) Die IMs: Die Gruppe derer, die wir sowieso im Verdacht hatten bzw. zu denen wir kein Vertrauen hatten. Dann die, bei denen ich es nicht erwartet hätte. Die beiden Gruppen ebenfalls unterschiedlich. Zu ‚Kurt’ und ‚Pedro’ werde ich weiterhin Beziehungen haben. ‚André’, der sich durch die Akte zieht, habe ich damals weder als Schriftsteller noch als Mensch ernsthaft wahrgenommen. (…) Mit ‚Büchner’ werde ich bestimmt irgendwann reden, und es wird kein rücksichtsvolles Gespräch werden. (…) Opfer/Täter: Nein, ich war kein Opfer, ich war Täter. Ich habe mich doch entschieden, etwas zu tun.« Auch diese Auseinandersetzung brachte er in einem »Zeit"-Artikel zum vorläufigen Abschluß ("Ich war ein Roman«, 17. April 1992).
Auch wenn diese Monate nach Schlesingers Aussage für größere literarische Projekte zu schnellebig und zu aufwühlend waren ("Keine Zeit für Erzählthemen. Nicht mal für Gedanken darüber«), brachten sie doch etliche Ideen, die sich später als produktiv erweisen sollten. Und sie verstärkten einen für Schlesinger ohnehin typischen Zug: Geschichtserzählung ist bei ihm ein behutsames Tasten nach Erinnerungen, ein Bewußtmachen ihrer Tücken, eine fortwährende Suche nach der historischen Wahrheit, geleitet von Vorsicht vor übereilter Verurteilung anderer und der Suche nach der eigenen historischen Schuld. In seinem 1996 erschienenen Roman »Die Sache mit Randow« sollte diese Art des Nachdenkens über Geschichte zu einem neuen Höhepunkt finden.
In Schlesingers Nachlaß im Archiv der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz liegt ein gutes Dutzend Tagebücher aus verschiedenen Lebensabschnitten, schmale schwarze Hefte, in enger Handschrift beschrieben. Manche davon hat er abgetippt oder abtippen lassen, weil er sie für mehr als bloßes Rohmaterial und (nach leichter Überarbeitung) für publizierbar hielt. Die 1990 veröffentlichte Chronik seines Umzugs nach Westberlin etwa, »Fliegender Wechsel«, ist auf diese Art zustande gekommen. Auch die hier abgedruckten Seiten hatten für ihn diese Qualität. Denn was sich weder in den erwähnten Artikeln in der »Zeit« noch in seinen in dieser Situation konzipierten Erzähltexten wie dem »Randow« findet, sind die Unmittelbarkeit und Intensität des Erlebten, die aus diesen Notizen sprechen. Nirgends sonst bekommt man die emotionale Wucht, das Aushaltenmüssen der Verletzung und die Härte der seelischen Belastung, die mit der Beschuldigung einhergehen, so akut wie auf diesen Seiten zu spüren. Und nirgends sonst läßt sich der Prozeß der literarischen Ideenfindung so gut nachvollziehen wir hier. Es ist im übrigen nicht das einzige Kleinod, das noch aus dem Nachlaß zu heben wäre.
Astrid Köhler
[…]
SINN UND FORM 3/2014, S. 323-343, hier: S. 323-326
Schlichter, Rudolf
- 4/1997 | Briefe an Ernst Jünger
Schlieffen, Auguste
- 3/1992 | Lebenslauf des Friedrich Magnus Graf Schlieffen
Schlögel, Karl
- 6/1992 | Die Aktualität der russischen Moderne. Bilder aus dem postsowjetischen, posttotalitären, postmodernen Moskau
Schlösser, Anselm
- 4/1981 | Der Friedensgedanke bei Shakespeare
Schlösser, Anton
- 1/2014 | Der alte Maler in seinem Haus. Gedichte
Schlüter, Herbert
- 3/2010 | Herbert Schlüter, Klaus Mann. Briefwechsel 1933-1949
- 3/2010 | Aus dem Italienischen Tagebuch
Schmidgall, Renate
- 3/2013 | Gedichte
- 6/2019 | Die Prawda auf der Toilette
- 2/2021 | Warschau, achtziger Jahre
- 6/2022 | Paweł Huelle. Eine Spurensuche
Schmidt, Arno
- 5/1983 | Briefe an Werner Steinberg
Schmidt, Diether
- 6/1993 | Die Asche brennt auf seinem Herzen. Fritz Cremer - immer im Widerstand
Schmidt, Karl Heinz
- 2/1978 | Zur Dramaturgie des Volker Braun
Schmidt, Kathrin
- 5/1995 | Gedichte
- 4/1998 | Die Sturzgeburt
- 4/2000 | Gedichte
- 2/2019 | Werkswesen. Gedichte
- 4/2019 | Gesucht: Zeitgeist_in (m/w/d). Weimarer Rede, S. 576 Leseprobe
Schmidt, Kathrin
Gesucht: Zeitgeist_in (m/w/d)
Ich bin Psychologin von Beruf und habe die erste Phase meines Berufslebens als solche verbracht, habe in Kinderheimen und Polikliniken der DDR Dienst getan. Wenn das Wort »Heimerziehung« fällt, denkt man heutzutage sofort an jene der DDR, meinetwegen auch an Wochenkrippen, an Jugendwerkhöfe und dort herrschende Mißbrauchsverhältnisse, nicht nur sexueller Art. Daß aber der Zeitgeist auch in Kinderheimen des Westens lange Zeit auf repressive Erziehungsformen setzte, daß es dort länger als im Osten auch in der Schule die Prügelstrafe gab, daß der Zeitgeist mit schwarzer Pädagogik auch dort sein Unwesen trieb, vergißt sich leicht. Da ich nicht davon ausgehen kann, daß ausgesuchte Sadisten den Erzieherberuf wählten, nehme ich an, daß, geschützt vom Zeitgeist, viele der Protagonisten in Ost und West meinten, das Richtige zu tun, die Kinder auf ein pflichtbewußtes Leben vorzubereiten, ihnen Flausen und unnötige Gefühle auszutreiben, wenn sie auf Repression setzten. Der Zeitgeist schaut aus seinem Winkelchen und macht das Geschehene weder besser noch entschuldbar, aber daß er eine Größe ist, die jedem Menschen ins Handwerk pfuschen kann – kann man das einfach bestreiten?
Auch ich habe meine Tochter im zarten Alter von zehn Wochen einer DDR-Krippe überantwortet. Ich war Studentin im dritten Studienjahr und machte es nicht nur so, wie man es von mir erwartete, sondern so, wie es alle anderen auch taten. Wir waren um die dreißig Studenten und hatten am Ende des Studiums an die vierzig Kinder. Die Anschauung war da. Meine Tochter nahm das sehr übel, antwortete mit mehreren Lungenentzündungen in den ersten beiden Lebensjahren, die man allerdings eher auf das berüchtigte Jenaer Kesselklima schob als auf die Krippe. Auch da machte ich mit. Ich wußte und konnte es damals nicht besser. Es hat keinen Zweck, mich dafür zu ent-schuldigen, denn das hieße im Wortsinne, mir selbst die Schuld abzunehmen. Auch meine Tochter kann ich nicht um Entschuldigung bitten, denn das bedeutete, daß ich sie aufforderte, die Schuld von mir abzustreifen. Ich möchte ihr nichts zumuten, was sie gar nicht kann. Es bleibt mir nichts als zu bereuen, daß ich so handelte, und das tut weh. Damit lebe ich.
Sie ahnen vielleicht schon, wohin mich mein Denken wedelt, indem ich das angenommen Große, in vermeintlichem Konsens Ausgehandelte in meine eigenen kleinen Verhältnisse, soziale Herkunft in persönliche Erfahrungen übersetze: Ich kann den Zeitgeist nicht mehr außer acht lassen, der mich oft genug auf sich selbst verweist, wenn ich Vergleiche zwischen dem Aufwachsen meiner Kinder und dem meiner Kindeskinder anstelle und die sozialen Verhältnisse berücksichtige.
In einer Zeit, da solcherart Vorgehen nicht en vogue ist, einer Zeit also, in der Ich zu sagen nicht unbedingt das Wir nach sich zieht und die Geschichte bzw. soziale Herkunft eines Menschen vorsorglich ausgeblendet bleibt, kann es wichtig sein, an verstörende Vorgänge in demokratischen Gesellschaften zu erinnern, die es in sich haben.
Wir haben die Gelbwesten in Frankreich, die Pegida-Aufzüge in Dresden oder namensverwandte Spaziergänge in anderen Städten Deutschlands vor Augen. Mir scheint, daß das erlebte Wir-Gefühl nach solchen Demonstrationen in ein um so stärkeres Ich mündet. Ein Phänomen, das wohl neu ist und unter den Bedingungen des vergangenen Jahrhunderts so nicht zu haben war. Das Ich war nichts. Im Faschismus war es das Volksganze, der große, gesunde Volkskörper, in dem man sich unkenntlich machen und mitlaufen oder Verbrechen begehen konnte. Im sogenannten Sozialismus war es das Kollektiv, dem sich Einzelinteressen unterzuordnen hatten und das in der DDR so kleinbürgerlich daherkam, daß es kein Verbrechen schien, sich ihm zu fügen, dafür aber vermeintlich individuellen Schmuck am Balkon der Neubauwohnung anzubringen, der aus irgendwo ergatterten Wagenrädern mit dicken Holzspeichen oder abenteuerlichen Kreationen aus dem Holz alter Bierkisten bestand.
Heute protestieren viele Ichs gemeinsam gegen die »Eliten«, derer sie sich entledigen wollen. Dabei fällt auf, daß der Elitebegriff keineswegs vor allem die besonders Reichen, die besonders Prominenten, die Stars und Sternchen meint, sondern sich auf den Begriff der Macht fokussiert. Das können, je nach Hierarchiestufe, von oben nach unten Politiker auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene sein, aber es sind vor allem auch Menschen mit einer gewissen Bildung, die es ihnen gestattet, nun in Ämtern, Jobcentern oder Arbeitsagenturen sogenannten Kunden gegenüberzusitzen. Ihre Empathie hält sich oft in engen Grenzen, wie Fallschilderungen beweisen, und ihre Arbeitssituation ist womöglich ebenfalls bedroht, wenn sie nicht die geforderte Anzahl von »Kunden« abfertigen, Sanktionen verhängen und unnahbar erscheinen, um die Gespräche kurz halten zu können. Zur sogenannten Elite können Lehrer gehören, die nichts wissen oder nichts wissen wollen von der häuslichen Lebenssituation von Schülern und auch aufgrund zeitlicher und fachlicher Überlastung versuchen müssen, sie als Kinderkunden zu sehen, denen sie Wissen zu vermitteln haben, wofür sie bezahlt werden. Das ist kein Rundumschlag gegen Lehrer, sondern ein Hinweis auf ihre Situation, in der sie sich so oder so verhalten können oder müssen, was natürlich auch von der Motivation ihrer Studienwahl oder ihrer individuellen Belastbarkeit abhängt. Zu dieser Elite gehören auch Ärzte, die im Schnellverfahren urteilen (müssen) und die mit dem Ausstellen eines Rezeptes oder regelmäßigen Labortests einen Kundenstamm bei Laune halten, der ihnen das Auskommen sichert. Ich selbst trage seit vielen Jahren einen Herzschrittmacher und werde zu regelmäßigen Kontrollen in ein Berlin-Hellersdorfer Herzzentrum eingeladen. Sowohl der Name als auch Personalausstattung und Einrichtung der Praxis haben sich mit den Jahren immer wieder verändert. Gleich blieb, daß bis zum letzten Jahr nicht einer der Ärzte, die immerhin so viel »Macht« haben, meinen Schrittmacher kurzzeitig vom Netz zu nehmen, um die verbliebene Herzfunktion zu messen, sich mir namentlich vorstellte. Oftmals sah ich ihn ohnehin nur ein einziges Mal und habe in der Erinnerung abgespeichert, daß er mir nicht einmal in die Augen geschaut hat bei der Begrüßung, sondern mit dem Blick auf die Akte den Raum betrat und auf die Akte konzentriert blieb. An dieser Stelle würde ich gern sagen: Das muß nicht stimmen, denn vorstellen kann ich es mir noch immer nicht. Allerdings kam im letzten Jahr erstmals eine Ärztin zu mir ins Kabuff, die sogleich ihren Namen nannte, was mich ein wenig perplex dastehen ließ. Sie hatte so viel Zeit, mich zu fragen, weshalb. Ich erzählte ihr, daß ich die Namen ihrer Vorgänger jeweils erst dem Befund entnommen habe, der mir mitgegeben worden sei. Nach der Untersuchung fragte sie mich, wie es mir beim Treppensteigen erginge. Ich gab schweren Herzens Schwierigkeiten zu, die ich aufs Rauchen zurückführte. Sie meinte hingegen, daß mein Schrittmacher seltsamerweise so eingestellt sei, daß er auf stärkere Belastung nicht reagiere und mit 60 Schlägen pro Minuten eine Treppe in die Dachwohnung eines Fünfgeschossers schwerfallen dürfte. Sie programmierte ihn um, und ich konnte auf der Stelle wieder Treppen steigen. Seither bestehe ich darauf, meine Termine grundsätzlich bei dieser Ärztin einzufordern, die mir versicherte, ein paar Jahre in der Praxis bleiben zu wollen. Ich glaube nicht an den Zufall, daß es eine Frau war, die mir in die Augen schaute und eine Frage stellte, deren Beantwortung meine Lebensqualität entscheidend verbesserte. Ich werde aber den Teufel tun, eine »Elite« für etwas zu verdammen, was im System der Gesellschaft schon angelegt ist. Denn: Wer ist diese sogenannte Elite? Wie sieht ihre soziale Herkunft, ihre soziale Zusammensetzung aus?
[...]SINN UND FORM 4/2019, S. 437-456, hier S. 440-443
Schmidt, Marianne
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Schmitt, Albert R.
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Schmölders, Claudia
- 1/2009 | Der Meteorit von Tunguska. Zur Geschichte des Katastrophismus, S. 100 Leseprobe
Schmölders, Claudia
Der Meteorit von Tunguska. Zur Geschichte des Katastrophismus
I.
»In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 konnten Zehntausende von Bewohnern Mittelsibiriens eine außergewöhnliche Naturerscheinung beobachten. Am Himmel stieg eine blendendweiße Kugel auf, die sich mit rasender Geschwindigkeit von Südosten nach Nordwesten bewegte. Sie überflog das Jenesseier Gouvernement - eine Strecke von mehr als 500 Kilometern - und brachte unter ihrer Bahn den Erdboden zum Beben, die Fensterscheiben zum Klirren; der Putz fiel von den Wänden, die Mauern bekamen Risse [...] Man hielt das Ende der Welt für gekommen. Kurze Zeit nach dem Verschwinden des glühenden Balles erhob sich hinter dem Horizont eine riesige Feuersäule. Und im Umkreis von 750 Kilometern waren Detonationen zu hören. In allen meteorologischen Stationen Europas und Amerikas registrierten die Seismographen die Erschütterungen der Erdrinde.«
Mit diesen Sätzen beginnt Stanislaw Lems Roman „Die Astronauten« aus dem Jahr 1951. Es war sein erster Science-fiction-Roman, und in gewisser Weise wurde es auch sein berühmtester. Die Story setzt ein mit der wahren Geschichte der Tunguska-Explosion, dem sogenannten Tunguska-Event aus dem Jahr 1908, soweit es damals bekannt war. Die Schilderung fußte auf den Angaben des russischen Mineralogen Leonid Kulik, der sich die Erforschung des Geschehens zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Zwischen 1921 und 1938 unternahm er eine Reihe von Expeditionen in das entlegene sibirische Gebiet, um das Rätsel dieser Explosion zu lösen - denn fast alles daran war rätselhaft.
Zwar formulierte Kulik schon bald seine These, wonach ein Meteorit in fünf bis zehn Kilometern Höhe explodiert und zersplittert sei, ein Meteorit von offenbar lockerer steiniger Substanz, nur ließ sich das bis heute nicht bestätigen. Man fand keinerlei Überreste und vor allem keine Krater und keine dicke Staubschicht über der Taiga, wie sie hätte entstehen müssen, wäre ein größerer Einschlag erfolgt. Sicher war nur, und frühe Fotografien zeigten es, daß eine gewaltige Druckwelle rund 80 Millionen Bäume auf einer Fläche von 2000 Quadratkilometern in radialer Form niedergedrückt hatte, daß diese Bäume großenteils verkohlt waren; daß aber doch eine ganze Reihe von ihnen, wiewohl entblättert, noch aufrecht standen, wie Telegraphenmasten in der Gegend verteilt. War also die Druckwelle nicht ganz so stark gewesen?
Nach der neuesten wissenschaftlichen Diskussion allerdings doch. Man hat berechnet, daß die Sprengkraft der Explosion zehn bis zwanzig Megatonnen TNT betrug, also zehnmal so stark war wie die Atombombe von Hiroshima, und das nächstgelegene Observatorium von Irkutsk maß Störungen im Erdmagnetfeld wie nach einer Atombombenexplosion; Augenzeugen wollten gar einen riesigen Wolkenpilz gesehen haben. In den folgenden 72 Stunden, also vom 30. Juni bis zum 2. Juli 1908, sah man in ganz Europa lange und ungewöhnlich farbige Dämmerungen und helle Nächte. Nur radioaktive Rückstände fand man nicht. Im Lauf der Zeit, zuletzt Anfang der sechziger Jahre, sammelte man auf Initiative der Moskauer Akademie der Wissenschaften Berichte von etwa 900 Personen. Alle sprachen von Hitze, Donner und einer Druckwelle, einem leuchtenden Objekt und großer anhaltender Helligkeit. Strittig blieb der Verlauf der Flugbahn des leuchtenden Objekts. Die einen hatten es von Südost nach Nordwest fliegen sehen, die andern eher von Süden nach Norden oder Nordost. Bis heute widersprechen die Berichte einander und demzufolge auch die Deutungen der Wissenschaft. Seit Beginn der dreißiger Jahre hielt man in Amerika den Einschlag eines Kometen für wahrscheinlicher, weil Kometen nicht aus Eisen bestehen wie ein Meteorit, sondern aus schmutzigem Eis, das naturgemäß keine Rückstände hinterläßt. Kurz, das Ganze blieb ein Rätsel und ein physikalisches Unikum; ein „Impact"-Geschehen ohne Impact; für die einfache menschliche Wahrnehmung auch fast wundersam, weil es die Menschheit so ungeschoren davonkommen ließ und so wenig Schaden anrichtete. Zwar wurden Hütten zerstört, zwar starben viele Tiere, aber an Menschen angeblich nur ein Bauer, vor Schreck. Denn das Gebiet der Tungusen oder Ewenken, wie sie heute heißen, ist schwach besiedelt und riesengroß. Wollte man dem sibirischen Schamanismus huldigen, dieser Urquelle aller Märchen, könnte man an ein Experiment der Götter denken, ein Experiment in weiser Voraussicht zwar, aber dennoch mit drohendem Unterton.
II.Und dazu gibt es in der Tat eine große, eine tiefsinnige und globale Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, viele Mitspieler aus aller Welt hat und zu ziemlich philosophischen Konsequenzen führt. Zwar beginnt sie bei den schamanischen Tungusen und verläuft märchenhaft; dennoch ist sie kein Märchen, sondern eher das Gegenteil, eine Tragödie. Denn keinem andern Ereignis glich dieses tungusische offenbar derart wie dem ersten amerikanischen Atomversuch rund vierzig Jahre danach, den ein nicht unbekannter Zeitgenosse 1946 folgendermaßen beschrieb: „Vor etwas mehr als einem Jahr erhellte frühmorgens in der Wüste von Arizona ein blendender Schein von ungewöhnlichem Glanz die fernsten Berggipfel und löschte die ersten Strahlen der Sonne aus. Dann eine furchtbare Erschütterung... Es ist geschehen. Zum erstenmal auf Erden hatte ein Atomfeuer, von der Wissenschaft des Menschen geschickt entzündet, für eine Sekunde den Raum verbrannt. Doch nach vollendeter Tat, nachdem der Traum, einen neuen Blitz zu schaffen, einmal verwirklicht war, hat sich der Mensch, von seinem Erfolg betäubt, bald wieder sich selbst zugekehrt: und im Lichte des Blitzes, den er aus seiner Hand hatte schießen lassen, versuchte er zu begreifen, was sein Werk aus ihm selbst gemacht hatte. Sein Liebe war heil. Aber was war mit seiner Seele geschehen?«
Diese Sätze über die drohende menschliche Atom-Allmacht stammten von einem der anregendsten und seltsamsten Naturforscher des 20. Jahrhunderts, vom französischen Jesuiten Teilhard de Chardin. Als Paläoanthropologe verbrachte er einen Großteil seines Lebens in China und versuchte, die Wissenswelten von Natur und Religion miteinander zu verschmelzen. Darwins Evolution war für ihn kein blinder Prozeß, sondern ein Art physische Arbeit am christlichen Aufstieg. Gott als Christus kam zwar zur Erde und in die Unterwelt, aber seither ist seine Mission die Himmelfahrt, nicht nur die eigene, sondern buchstäblich die der Menschheit. Schon 1916, als junger begeisterter Leser des französischen Philosophen Henri Bergson, notierte Teilhard in sein Tagebuch: „Durch die Inkarnation ist Gott in die Natur herabgestiegen. Um sie zu überbeseelen [!] und zu sich zurückzuholen: das ist in seiner Substanz das christliche Dogma... Was könnte besser denn eine aufsteigende Anthropogenese den herabsteigenden Erleuchtungen einer Christogenese als Hintergrund und Basis dienen?«
Teilhard, der fromme Mann in China, beschrieb 1946 den ersten Atomblitz der Weltgeschichte aus Los Alamos, ohne Hiroshima zu erwähnen. Es paßte nicht in sein Erlösungsprogramm. Ebenfalls 1946 entwarf dagegen der sowjetische Autor Alexander Kazantsev die erste literarische Tunguska-Erzählung namens „Die Explosion«. Als Augenzeuge des verwüsteten Hiroshima war ihm die Ähnlichkeit mit dem sibirischen Schauplatz aufgefallen. Hier wie dort waren die Bäume durch die Druckwelle niedergedrückt, aber hier wie dort waren auch einige dünn wie Streichhölzer stehen geblieben. Kazantsevs These war: Kein Meteorit konnte über der Tunguska-Region explodiert sein, sondern nur ein atomgetriebenes Raumschiff von Außerirdischen, und zwar durch einen Unfall. Daß sich von diesem Raumschiff ebenfalls keine Reste fanden, focht die Leser der Geschichte offenbar nicht an; sie wurde und wird bis heute als Science-fiction konsumiert.
Doch einige Jahre später korrigierte Stanislaw Lem seinen Kollegen. Auch in Lems Roman explodiert ja ein außerirdisches Raumschiff über der Tunguska-Region, aber es bleibt wenigstens eine Nachricht in Gestalt einer Drahtspule mit elektromagnetischen Signalen erhalten. Da der Roman im Jahr 2003 spielt, haben die Menschen bereits einen Supercomputer, der sie entziffern kann. Die Nachricht lautet: die Außerirdischen kamen von der Venus und wollten die Erde zerstören. Die Menschen sind zutiefst erschrocken. Sie planen eine Friedensinitiative und fliegen selber zur Venus. Dort aber finden sie nur die Überreste einer hochtechnisierten Kultur, die sich offenbar atomar selbst ausgelöscht hat.
Lems Roman „Astronauci« erschien, wie gesagt, 1951 und wurde zu einem Schlüsselwerk des Kalten Krieges. 1955 erschien er auf deutsch unter dem Titel „Der Planet des Todes«; 1960, während die Russen vergeblich Lunik-Sonden zum Mond schickten, verfilmte der ostdeutsche Regisseur Kurt Maetzig den Stoff unter dem Titel „Der schweigende Stern«; es war der erste SF-Film der DDR. Im selben Jahr lief der Streifen auch in der Bundesrepublik, wieder unter einem anderen Titel, „Raumschiff Venus antwortet nicht«. Und im Vorfeld der Kubakrise, 1962, gab es dann auch eine amerikanische Version namens „First Spaceship to Venus«. Mit nur wenigen Schnitten und ein paar neuen Takes hatte man hier Russen in Amerikaner verwandelt - die Botschaft vom unbedingt zu erhaltenden Frieden angesichts atomarer Bedrohung war aber dieselbe geblieben.
Aber war damit das Rätsel von Tunguska gelöst? Keineswegs. Auch Leonid Kuliks dritte Expedition im Jahr 1938 (nach 1921 und 1927) brachte keine neuen Ergebnisse. Zwar wurden auf seine Initiative hin Luftaufnahmen der Region angefertigt, aber merkwürdigerweise werden diese bis heute nur selten öffentlich gezeigt. 1939 brach der zweite Weltkrieg aus, Kulik wurde eingezogen und starb 1942. Seine Theorie vom Meteoriten wurde zudem seit Anfang der dreißiger Jahre bestritten; Howard Shapley, der spätere Chef des Harvard-Observatoriums, plädierte für die Kometenlösung, die allmählich die Oberhand zu gewinnen schien. Der Streit zwischen den Anhängern der Meteoriten- und der Kometenthese schwelt aber bis heute. Gelöst werden könnte er inzwischen durch eine dritte These, womöglich die überzeugendste bisher. Der russische Geologe Andrej Olchowatow und nach ihm der Bonner Astrophysiker Wolfgang Kundt wollen einen irdischen, nämlich vulkanischen Vorgang nachweisen. Tektonische Verschiebungen hätten riesige Mengen Gas freigesetzt, das Gas sei aufwärtsgetrieben und explodiert. Erklären ließen sich so eine ganze Reihe von Phänomenen: das Fehlen von Rückständen, die vielen kleinen Explosionen, von denen die Rede war, das tagelange helle Licht. Nur das leuchtende Flugobjekt war mit der These nicht zu verbinden, und so wird also weiter nach einem Meteoriten gesucht. Italienische Forscher wollen ihn jetzt in einem vom Epizentrum nur acht Kilometer entfernten See namens Tscheka ausgemacht haben. Sollte es diesen See wirklich vor 1908 nicht gegeben haben, hat diese These natürlich ebenfalls viel für sich - vorausgesetzt, man findet am Seegrund den gesuchten kostbaren steinigen Beweis.III.
Lassen wir aber die Wissenschaftler von heute erst einmal unter sich. Mindestens ebenso interessant ist nämlich der zeitgenössische Kontext dieses Naturtheaterstücks aus dem Jahr 1908. Teilhard, der gläubige Evolutionsforscher, hat sich zu dem Event nicht unmittelbar geäußert, konnte auch nichts davon wissen, denn die Explosion wurde erst sehr spät in ihren Details bekannt, und 1908 studierte er noch Physik und Chemie in Kairo. Doch in den zwanziger Jahren, als Doktorand der Geologie in Paris, traf er dort auf den Mann, der Leonid Kulik, den Erforscher der Tunguska-Explosion, entdeckt und ausgesandt hatte, nämlich auf Vladimir Vernadsky, den großen russischen Geologen. Was Vernadsky mit Kulik verband, war die Mineralogie. Ein Jahr nach Ausbruch des ersten Weltkriegs, und also noch vor der Russischen Revolution, wurde Vernadsky zum Chef einer Kommission ernannt, welche die Rohstoffvorkommen des Landes erforschen sollte. Meteoriten versprachen Eisengewinn, Kulik sollte dafür sorgen, und eben deshalb beharrte er wohl auch auf seiner Theorie. Mit dem frommen Teilhard dagegen verband Vernadsky die Leidenschaft für die Geologie und die eigentümliche geognostische Idee, wonach sich die Erde zunehmend mit einer »Noosphäre« umgebe. Vernadsky hat den Begriff wohl in Analogie zu dem der »Biosphäre« geprägt, der gleichfalls von ihm stammen soll.
Aber was sollte »Noosphäre« bedeuten? Natürlich meinten der Franzose und der Russe nicht ganz dasselbe. Vernadsky, der 1945 in Moskau starb, verstand darunter die Tatsache, daß die Erde in ihrer rein materialen Gestalt immer mehr von menschlichen statt von geologischen Kräften verwandelt wird, und dies, obgleich die Menschheit insgesamt, könnte man sie auf einem Flecken Erde versammeln, nur einen lächerlich kleinen Platz einnehmen würde. Nicht schiere Menschenkraft also, sondern die immer einflußreicheren Maßnahmen der humanen Intelligenz modellieren demnach den Planeten bis in seine physikalische Konsistenz hinein. Hätte Vernadsky die Klimakatastrophe von heute erlebt, er hätte eine zwar tragische, aber doch glänzende Bestätigung seiner These gefunden.
Die Idee, daß sich der Geist die Erde nicht nur untertan macht, sondern sie morphologisch umwandelt, hat Teilhard in vielen Schriften verfochten. Nur meinte er damit natürlich den Geist Gottes hinter der technischen Begabung von Ackerbauern, Tierzüchtern und Stadtplanern. Eine überraschend handfeste Version von Noosphäre entstand in den vierziger Jahren mit dem Projekt von Radiosatelliten im All. Die Vorstellung, daß um die Erde irgendwann ein regelrechter Orbit aus Intelligenz kreisen könnte, wie heute mit Tausenden von Informations- und Kommunikations-Satelliten, lag damals den meisten und erst recht den gläubigen Menschen noch fern, jedenfalls in Europa. Aber eben nicht in Amerika. Es war der jüngst verstorbene berühmte Arthur C. Clarke, später Mitautor von Stanley Kubricks Film »2001 – Odyssee im Weltraum«, der 1945 als erster geostationäre Satelliten vorschlug, und dies wohlgemerkt in einer Zeit nuklearer Experimente und enormer militärisch-raketentechnischer Fortschritte. Die Ideen über Raum und Weltraum, die seit der kopernikanischen Wende in Umlauf waren und mit den Fortschritten der Luftfahrt immer vertrauter wurden, wandelten sich von Grund auf. Eroberungsphantasien und Evolutionsprojekte schienen realisierbar, sie gewannen einen Realitätskoeffizienten, den sie bisher nicht oder eben nur im Science-fiction- Filter besaßen.Nicht überall war es eine angstfreie oder gar manische Noosphärenstimmung. In Deutschland dichtete um diese Zeit Gottfried Benn in seinem bekannten Sound das Drama vom »Verlorenen Ich« (1943). Es begann mit den Worten:Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion –: Gamma-Strahlen-Lamm –,
Teilchen und Feld –: Unendlichkeitschimären
Auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.
Und endete mit den Zeilen:
Ach, als sich alle einer Mitte neigten
Und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,
und alle rannen aus der einen Wunde,
brachen das Brot, das jeglicher genoß –,
oh ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlor’ne Ich umschloß.So also klang es auf der kulturellen Vorderbühne in Deutschland, während auf der technisch-militärischen Hinterbühne ein Wernher von Braun erste Erfolge mit der V2 erzielte.
Ganz anders war die Stimmung in Frankreich. Als im selben Jahr 1943 Antoine de Saint-Exupéry seine kindergerechte Raumphilosophie namens »Der kleine Prinz« in die Öffentlichkeit entließ, wurde das Buch schlagartig zum Weltbestseller, mitten im Krieg, und blieb es bis heute. Saint-Exupéry brauchte das All nicht zu fürchten. Für seine kindlichen Leser konnte er Planeten wie kleine Wohnungen darstellen, auf denen nur sehr verschiedene Leute wohnen, denn er war Pilot und hatte eine innige Beziehung zu seiner Maschine. »Das Flugzeug ist wohl eine Maschine – indes welch ein unendlich fein empfindendes Gerät!« schrieb er in seinem ebenfalls weltberühmten Essaybuch »Wind, Sand und Sterne« von 1939. Hier schilderte Saint-Exupéry dann auch ein Ereignis, das merkwürdig sowohl an Tunguska erinnert wie Kubricks metaphysischen Film antizipiert. Als Pilot fliegt er über eine flache Muschelkalkformation, muß aber notlanden. Auf dem Boden, dem »weißen Tuch«, wie er es nennt, fällt ihm plötzlich etwas auf. »Da durchfuhr es mich wie einen Forscher im Augenblick einer großen Entdeckung: ich sah auf diesem Tuch kaum zwanzig Meter vor mir einen schwarzen Kiesel. […] Mit klopfendem Herzen hob ich meinen Fund auf: ein harter schwarzer Stein von Faustgröße, schwer wie Metall und tropfenförmig […] Auf ein Tuch, das man unter einem Apfelbaum ausbreitet, fallen Äpfel – ein Tuch unter den Sternen kann nur Staub von Gestirnen erhalten. Kein Meteor hatte je so eindeutig seine Herkunft dargetan wie dieser schwarze Stein.«
Soweit das Meteor-Erlebnis von Saint-Exupéry. Dank der hohen Auflagen seiner, übrigens sofort auch in den USA erscheinenden Bücher war es wohl weithin bekannt. Ob Arthur Clarke davon Kenntnis hatte? Ob seine Erzählung »The Sentinel« von 1948, diese Vorlage für Kubricks »Odyssee 2001«, deshalb dieselbe astrale Hochstimmung verbreitet wie die des französischen Piloten? Clarkes Story spielt im Jahr 1996. Die Crew des Raumschiffs, das zum Mond entsandt wurde, hat sich im sogenannten Mare Crisium, dem »Meer der Krisen«, niedergelassen; der Kapitän sieht auf einem Hochplateau in der Ferne ein schimmerndes Objekt. Mühsam klettert er hoch und erblickt ein Kunstwerk, ein Artefakt, genau so, wie später in Kubricks Film »Odyssee 2001« der Monolith gefunden wird: »Ich empfand eine herzerhebende und merkwürdig unaussprechliche Freude. Denn ich liebte den Mond, und nun wußte ich […]: Der alte, so verachtete Traum der ersten Entdecker war wahr. Es hatte also doch eine lunare Zivilisation gegeben – und ich war der erste, der sie gefunden hatte.«
Egal, ob Clarke nun Saint-Exupérys Text kannte oder nicht – die beiden Szenen verhalten sich auffällig komplementär. Der Pilot auf Erden findet eine erregende Botschaft aus dem All – der Pilot im All findet eine erregende Botschaft der Erde oder mindestens eine vertraute Intelligenzleistung. Bei Clarke ist es zwar eine glitzernde Pyramide und kein Meteorit, doch in der Filmfassung bei Kubrick wird daraus ein schwarzer, meteoritartiger Stein, glatt und glänzend, wie bei Saint-Exupéry, wenn auch ungleich größer und deutlich von Hand bearbeitet …IV.
Aber zurück zum Tunguska-Rätsel. Schließlich hat es seit 1946 unzählige Geschichten, Filme, ja sogar Comics, Songs und neuerdings auch Computerspiele darüber gegeben, eine kulturelle Noosphäre eigener Art. Aber kann die popkulturelle Verarbeitung dieser größten in der Neuzeit bekannt gewordenen Explosion auch nur annähernd gerecht werden? Und blieb dieses Umspielen der Katastrophe, ihre Einbettung in jugendgerechte Planspiele oder Untergangsszenarien wirklich die einzige Reaktion?
Natürlich nicht. Natürlich steht der Name Tunguska seit hundert Jahren für eine gigantische Katastrophe, auf die der Mensch keinen Einfluß hat. Doch zugleich, durch die Assoziation mit der Atombombe, steht er auch für das Gegenteil, für die ungeheure Zerstörungs- und Selbsttötungsmacht der Menschheit. Last, but not least gehört das Tunguska-Event auch in jene Kategorie, die Reinhart Koselleck in der neueren Geschichtsschreibung vermißt hat: die des Zufalls. Schon Leonid Kulik hatte ja bemerkt: »Wäre der Meteorit um nur vier Stunden und 48 Minuten eher niedergegangen, so hätte im Explosionszentrum das damalige St. Petersburg gelegen und niemand weiß, was dann davon noch übriggeblieben wäre.« Eine Vision, die sich noch ausspinnen läßt. Denn hätte es nach einer solchen Katastrophe überhaupt eine russische Revolution geben können, einen ersten Weltkrieg und einen zweiten? Hätte nicht Hitlers These vom zu erobernden Lebensraum im Osten in sich zusammenfallen müssen, wäre bekannt gewesen, daß sich dort gar nicht leben ließ?
Doch so, wie die Explosion erfolgt war, über einem fast menschenleeren Raum, ohne Krater, ohne Steinbrocken und Rückstände, blieb es eben bei einer eigentümlich reinen Demonstration von physischer Kraft, lautem Donner und vor allem von Licht. Von einer Feuerkugel sprachen die Augenzeugen, von tagelanger Helligkeit, die noch in England die Gegend erleuchtet haben soll. Man habe noch nachts auf dem Golfplatz spielen und Zeitung lesen können, hieß es. An dieses Phantasma des astralen Lichts hat nun vor wenigen Jahren der russische Autor Wladimir Sorokin erinnert. Sein Roman »Das Eis« von 2002 handelt von einer Lichtsekte in den zwanziger Jahren, die sich vom tungusischen Kometen – also nicht Meteoriten – himmlische Eisstücke besorgt, sozusagen eisige Detektoren, um mit deren Hilfe die Auserwählten auf Erden zu finden und ihrem himmlischen Lichtursprung zuzuführen.
Kurz, der Name Tunguska steht im Raum des Imaginären sowohl für Erlösung als auch für Vernichtung und Katastrophe, für überirdische Macht, aber auch, kraft phänotypischer Assoziation, für menschliche. Es ist eine Ambivalenz, die man noch nicht genügend gewürdigt hat. Denn seit den Schriften von Hans Blumenberg über die kopernikanische Wende steht – jedenfalls in der deutschen »Astro-Noetik« – ein ganz anderes Modell im Raum. Astro-Noetik ist ein glücklicher Ausdruck für alle Arten von Erkenntnis über das Wesen der Sterne und der Planeten, die als erloschene Gestirne um uns kreisen. Blumenberg hat den Terminus für die eigene Lehre geprägt. Im Kern ist es eine Literaturtheorie, eine Art Astro-Poetik, denn unsere Wahrnehmung der Sterne wie auch des Lichts gilt dem Philosophen als wesentlich metaphorisch: »Der kopernikanische Umsturz«, schrieb er 1965, »ist nicht als theoretischer Vorgang Geschichte geworden, sondern als Metapher: die Umkonstruktion des Weltgebäudes wurde zum Zeichen für den Wandel des menschlichen Selbstverständnisses, für eine neue Selbstlokalisation des Menschen im Ganzen der gegebenen Natur oder für den Verlust dieser Lokalisierbarkeit und für die Bedeutungslosigkeit einer Weltstelle.«
Die Geschichte der Astronomie hat diese Meinung inzwischen widerlegt. Nicht Ohnmacht, sondern Allmacht hat sich emotional durchgesetzt. Nichts zeugt mehr von menschlicher Ambition, von großer Selbstüberhebung, wenn nicht Größenwahn, als die unermüdliche Verbesserung der Werkzeuge, mit denen seit Urzeiten das All erforscht und in Dienst genommen werden soll. Tunguska ist dafür ein gutes Beispiel. Im März 2008 wurde bekannt, daß das russische Militär die amerikanischen Raketenpläne in Osteuropa mit einem neuen Luftabwehrsystem beantworten will – es soll Tunguska 1 heißen, als sei mit diesem Namen nicht eines der größten Beispiele menschlicher Ohnmacht zu assoziieren, sondern im Gegenteil, als habe man Kräfte wie diese längst diszipliniert. Es zeigt sich, mit andern Worten, daß die sprachsymbolische und filmische Verarbeitung des Tunguska-Events nicht annähernd an dessen schillernde Mehrdeutigkeit in der Realität heranreicht. Immer ist es nur ein einzelner denkbarer Aspekt, der die Autoren reizt, und natürlich mögen sie dabei nie an Zufall denken. Dabei spielen Meteore oder Kometen seit Menschengedenken die Rolle von zielgeführten Unheilsboten, von ausgesandten und empfangenen Vorzeichen für das Kommende. (Und den Bibelforschern sei gesagt: Der immer wieder zitierte Stern von Bethlehem ist schon aus diesem Grund nicht als Komet oder Meteor zu deuten; die bisher plausibelste Interpretation spricht vielmehr von einer ungewöhnlich dichten astralen Konstellation zu dieser Zeit.)
Wie dem auch sei: Als die zentralsibirische Erde im Jahre 1908 unter der ungeheuren Explosion eines blendenden Objekts erzitterte, das den Himmel tagelang erleuchtete, als sei die Sonne stehengeblieben, war dieses Ereignis astropoetisch erstaunlich gut vorbereitet. Wie ein Fanal nämlich mochte den Zeitgenossen das Buch des damals bekanntesten französischen Astronomen, Camille Flammarion, vorkommen, das 1894 unter dem Titel »Das Ende der Welt« erschienen war. Zwar gab es damals eine ganze Reihe von Büchern zum Weltuntergang, doch anders als diese lieferte es eine merkwürdige Synthese aus Science-fiction und biblischer Geschichte. In einem großen Bogen von der Johannes-Apokalypse bis ins Jahr 2500 rekapitulierte Flammarion das Szenarium einschlagender Meteoriten und Kometen und ihrer Vorhersage. Ein ganzes Kapitel war auch dem unseligen Pressewesen gewidmet, dem jede Katastrophe recht ist, wenn nur die Auflage steigt.
Irdische Katastrophen durch außerirdische Gesteine waren damals freilich schon längst Gegenstand wilder Spekulationen und unglücklich angewandter Rationalität. 1773 berechnete ein französischer Astronom den Einschlag eines Kometen auf den Tag genau, leider wurde diese Vorhersage öffentlich und eine Hysterie war die Folge. Nicht das Ereignis trat ein, sondern Fehlgeburten und ominöse Todesfälle – es wurde ein Lehrstück über die soziale Verpflichtung von wissenschaftlichen und publizistischen Institutionen. Wie sollte man es verantworten, wenn die Berechnung nicht stimmte? Kein Wunder, daß der größte astropoetische Kollege von Flammarion, Jules Verne, dieses Thema ebenfalls aufgriff. In seinem satirischen Roman »Die Jagd nach dem Meteor« übertrug er es auf einen Meteor, der nicht nur in die Erde einschlägt, sondern geradezu von der Erde eingefangen werden soll, weil er aus Gold besteht. »Der Fall erfolgte genau zu der von Zephyrin Xirdal vorhergesagten Stunde. Um 6 Uhr 57 zerriß ein blendender Lichtschein den Himmel. Bankier Lecoeur und sein Neffe standen geblendet vor ihrer Hütte. Gleichzeitig krachte ein dunkler Donner und die Erde bebte. Der Meteor war herabgestürzt. 500 Meter entfernt lag ein Block gleißenden Goldes. ›Er brennt‹, stammelte der Bankier hoch erregt. Tatsächlich, die Goldkugel glühte. Ihre Temperatur mochte über 1000 Grad betragen. Deutlich zeigte sich die poröse Struktur (die Sternwarte von Greenwich hatte den Meteor ganz richtig mit einem Schwamm verglichen). Zahllose Kanäle und Hohlräume durchsetzten die Kugel. Zischend entwich nach allen Seiten die Luft.«
Intrigen werden gesponnen, Liebesgeschichten zerstört, bis am Ende der gnädige Autor die goldene Kugel ins Meer rollen läßt, zum grenzenlosen Ärger der Spekulanten. Jules Verne starb 1905. Der Roman wurde erst von seinem Sohn Michel aus dem Nachlaß herausgegeben, angeblich 1908, also im ominösen Tunguska-Jahr. Ob Verne junior von dem Ereignis gehört hatte? Man weiß es nicht. Sicher ist nur, daß der Text nahezu alle Elemente der Tunguska-Folklore enthielt: das glühende Objekt, die lockere Struktur des Meteoriten, sogar den geschätzten Umfang, Donner, Blitz und bebende Erde.V.
Der Plot hatte viele Nachfolger. 1933 erschien von Philip Gordon Wylie die Story »When Worlds Collide«. Erzählt wurde von der drohenden Gefahr eines planetarischen Zusammenstoßes und der Anstrengung, ein Raumschiff für Überlebende zu bauen. Es gelingt auch, ein paar tausend Menschen auszufahren, aber die Kämpfe um Überlebensplätze sind natürlich ein düsteres Abbild dessen, was wenige Jahre später dem jüdischen Volk zustoßen sollte. Wylie selbst war kein Jude, sondern Sohn eines Presbyters aus Massachusetts; möglicherweise war aber sein Ko-Autor Edwin Balmer jüdischer Herkunft. Jedenfalls wirkte er noch am Drehbuch des Films mit, der 1951 uraufgeführt wurde – also im selben Jahr, in dem Stanislaw Lem den Tunguska-Impakt verarbeitete. Ob auch der Film »When Worlds Collide« vom Tunguska-Ereignis inspiriert wurde, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Ganz sicher hat die Romanvorlage aber einen Weltbestseller mit dem ganz ähnlichen Titel »Worlds in Collision« inspiriert, »Welten im Zusammenstoß«, der 1950, also fast zeitgleich mit Lems Roman, in den USA erschien. Verfaßt hatte das Buch ein russischer Jude namens Immanuel Velikovsky, und sein Thema war in der Tat die Geschichte der planetarischen Kollisionen und Katastrophen seit Menschengedenken. Nur war er eben kein Astronom, nicht einmal Physiker oder Geologe, sondern vor allem ein Mythenzertrümmerer und Psychoanalytiker. Und doch sollte er mit diesem ersten und allen folgenden Büchern das Ideogramm der kosmischen Katastrophe entdecken, ja zum Erfinder des neueren sogenannten Katastrophismus werden.
Die Geschichte dieses Verfassers ist zu aufregend, um hier nicht wenigstens andeutungsweise Vermutungen darüber zu äußern. Als Sohn eines jüdischen Rabbiners und leidenschaftlichen Zionisten kam er 1895, im Geburtsjahr der Psychoanalyse, im weißrussischen Witebsk zur Welt. Nach abenteuerlichen Stationen, zunächst in Moskau, wo er das Abitur machte, dann in Palästina, Wien und Berlin, wo er abwechselnd als Psychoanalytiker, Arzt und Philologe agierte, landete er 1939 in New York und begann über den Kosmos als physikalisches Drama zu schreiben. Er begleitete den zweiten Weltkrieg gleichsam mit einer Metahistory eigener Art. Schließlich mußte er nicht nur den Holocaust miterleben, sondern auch das Ende seiner Heimatstadt Witebsk. 1941 brachen die Deutschen dort ein und ermordeten mehr als tausend Juden; drei Jahre später machte die Rote Armee die Stadt praktisch dem Erdboden gleich. Doch Witebsk war um 1908 eine kulturelle Hochburg der jüdischen Gemeinde gewesen; zahlreiche hochbegabte Köpfe stammten von dort, etwa Marc Chagall oder auch Isser Harel, der spätere Leiter des israelischen Mossad. All das hatte nun ein Ende.
Mit einer Phalanx von Argumenten aus den Mythologien der Welt, vor allem aber aus der Bibel, suchte Velikovsky in diesen Jahren eine buchstäblich revolutionäre These zu beweisen, daß nämlich unsere Erde nicht immer auf ihrem heutigen Orbit kreiste. Um 700 v.Chr. sei sie vielmehr zweimal kurz hintereinander durch Einwirkung aus dem All aus dem Takt gebracht worden. Und zwar angeblich von der Venus, die als ein Stück abgespaltener Jupitermaterie umherflog und auch mit dem Mars kollidiert sei. Erst im Jahr 687 hätten alle drei Planeten ihre gegenwärtigen Orbits eingenommen und damit auch das Jahr der Umläufe verlängert, von 360 auf 365 Tage. Lauter Hypothesen mit unabsehbaren Konsequenzen, die von der offiziellen Wissenschaft bestritten wurden und werden. Nichtsdestotrotz entwickelte Velikovsky, der Kulturforscher, zu fast allen planetarischen Ereignissen eine naturwissenschaftliche Theorie, etwa zur Hitze der Venus, zur Radioaktivität auf dem Mond, und vielem mehr. Selbst an Einstein, der ihm durchaus wohlgesonnen war, richtete er immer wieder Briefe mit wilden Thesen, die dieser mit wachsender Ironie zurückwies. Doch am meisten interessierte Velikovsky die Idee der kosmischen Katastrophe, die überwältigende kosmische Kontingenz gewissermaßen, welche die altmodische Vorstellung eines statischen Universums mit gleichbleibenden Rotationen Lügen strafte. Unter den Astronomen tobte ein Kampf. Der Verlag Macmillan erbat Gutachten, aber derselbe Harlow Shapley, der Anfang der dreißiger Jahre das Tunguska-Event als Kometenexplosion erklärt hatte, schrieb nun den wohl schneidendsten Verriß, den jemals ein Autor mit ernsten Ambitionen erhalten haben dürfte. Als das Buch dennoch erschien, drohte dem Verlag die Abwanderung seiner Autoren; Velikovsky mußte sein Werk nach einem Jahr in einen anderen Verlag überführen. Hätte es damals schon eine Kulturwissenschaft gegeben, man wäre vielleicht nicht so rüde mit ihm verfahren. Denn was immer er auch im einzelnen vorbrachte, Velikovsky tat es ja keineswegs als ausgebildeter Astronom, sondern als Kulturdeuter und vor allem als Leser des Alten Testaments. Tatsächlich steht die Bibelexplikation im Zentrum seines kosmologischen Interesses. Die Tunguska-Explosion hat er natürlich als Zeitzeuge erlebt. 1908 war er dreizehn; Nachrichten über solch eine Katastrophe mochten ihn zuinnerst getroffen haben. Vielleicht wurde sogar in der Schule oder der Gemeinde darüber gesprochen, denn wenige Themen wurden damals in bestimmten russischen Zirkeln eingehender besprochen als Weltraumthemen. Der russische sogenannte Kosmismus war damals en vogue, erste Raketenforscher machten sich ans Werk, und die Idee, daß die Menschheit sich ins All hinauf entwickeln müsse, war im Schwange. Autoren wie Chlebnikov, Solowjow, und vor allem der legendäre Raumforscher Konstantin Ziolkowski proklamierten parareligiöse Vorstellungen der Weltseele, einen frühen Kommunismus mit esoterischen, aber auch biologisch fragwürdigen Aussichten auf die Ewigkeit.
Auch in Deutschland gab es verwandte Spekulationen. Ausgerechnet Oswald Spengler skizzierte in seinem Weltbestseller »Der Untergang des Abendlandes « (1918) eine höchst pathetische Vorstellung von der Bestimmung des Menschen im Weltraum. Auch Spengler war natürlich kein Astronom, sondern schrieb kulturdeutende Astropoesie – aus dem Geist deutscher Gotik: »Es ist das hinaus- und hinaufdrängende und eben deshalb der Gotik tief verwandte Lebensgefühl, wie es in der Kindheit der Dampfmaschine durch die Monologe des Goetheschen Faust zum Ausdruck gelangte. Die trunkene Seele will Raum und Zeit überfliegen. Eine unnennbare Sehnsucht lockt in grenzenlose Fernen. Man möchte sich von der Erde lösen, im Unendlichen aufgehen, die Bande des Körpers verlassen und im Weltraum unter Sternen kreisen.«
Mit all diesen harmonisierenden Vorstellungen räumte Velikovsky nun auf. Ein Leben im Weltall wäre die Hölle, weil hier kontingente Ereignisse von größter Zerstörungsmacht stattfinden. Daß er eben jenes Tunguska-Ereignis, das er als Junge erlebt und das seine Gedankengänge womöglich ausgelöst hatte, in seinem Buch von 1950 nur beiläufig erwähnt, muß psychoanalytisch zu denken geben. Die Anmerkung fünf zum ersten Kapitel lautet schlicht: »Am 30. Juni 1908 fiel in Sibirien bei 60°56’ nördlicher Breite und 101°57’ östlicher Länge eine Eisenmasse, deren Gewicht auf 40000 Tonnen berechnet wurde.«
Hatte ausgerechnet er die ganze Diskussion um und mit Leonid Kulik nicht verfolgt? Erwähnte er die Explosion deshalb nicht? Oder wollte er sich in der Ära des kalten Kriegs, als Gast der Vereinigten Staaten, nicht unnütz mit einem sowjetischen Theorem befassen, das nur mittelbar sein eigenes Buch inspiriert hatte? Immerhin verrät die Selbstverständlichkeit, mit der Velikovsky von einer Eisenmasse spricht, daß er sich Kuliks These vom Meteoriten über Tunguska zu eigen gemacht hatte und nicht die Kometenthese seines größten Feindes, Harlow Shapley.VI.
Noch näher liegt aber eine ganz andere Erklärung. Velikovskys Buch beginnt ja mit dem Hinweis auf das Buch Josua, Kapitel zehn, Vers 11 bis 14. Josua ist der starke Mann nach Moses, der das Volk Israel nach Kanaan führt. Der Text erzählt von unerhörten Wundern. Die Mauern von Jericho fallen unter Trompetenschall, das Rote Meer wird durchquert, und ähnliches. Vor allem eine Wundertat muß dem jungen Velikovsky imponiert haben, als man sie ihm vorlas, Josuas Kampf gegen die Ammoniter: »Und da sie [die Ammoniter] vor Israel flohen den Weg herab zu Beth-Horon, ließ der Herr einen großen Hagel vom Himmel auf sie fallen, bis gen Aseka, daß sie starben. Und viel mehr starben ihrer von dem Hagel, als die Kinder Israel mit dem Schwert erwürgten. Da redete Josua mit dem Herrn des Tages, da der Herr die Amoriter dahingab vor den Kindern Israels und sprach vor dem gegenwärtigen Israel: ›Sonne stehe still zu Gibeon, und Mond im Tal Asalon!‹ Da stand die Sonne und der Mond still, bis daß sich das Volk an seinen Feinden rächte. Ist dies nicht geschrieben im Buch des Frommen? Also stand die Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen beinahe einen ganzen Tag. Und war kein Tag diesem gleich, weder zuvor noch danach, da der Herr der Stimme eines Mannes gehorchte; denn der Herr stritt für Israel.«
Diese Verse nun kommentiert Velikovsky als Erwachsener im Jahr 1950 folgendermaßen: »Diese Geschichte geht über das hinaus, was auch der phantasievollste oder frömmste Mensch glauben kann. Die Wogen der stürmischen See mögen das eine Heer ertränkt, das andere gnädig verschont haben. Die Erde konnte auseinanderbersten und Menschenwesen verschlingen. Der Jordan konnte durch ein herabgerutschtes Stück Uferböschung aufgestaut werden. Jerichos Mauern mögen umgestürzt worden sein – wenn auch nicht durch Trompetenstöße, so doch durch ein zufälliges Erdbeben. Daß aber Sonne und Mond in ihrer Bewegung am Himmelsgewölbe innehalten sollten – das konnte nur eine Ausgeburt der Phantasie, ein dichterisches Gleichnis, eine Metapher sein, eine böse Zumutung für gläubige Menschen, ein Gegenstand des Spottes für die ungläubigen.«
So könnte man tatsächlich denken. Doch Velikovsky fährt fort: »Nach dem Wissen unserer Zeit – nicht der Zeit, in der das Buch Josua oder das Buch Jasher geschrieben wurde – konnte sich so etwas nur ereignen, wenn die Erde eine Zeitlang in ihrer Bewegung auf der vorgezeichneten Bahn einhielt. Ist eine solche Störung vorstellbar? Keinerlei Anhaltspunkte für eine noch so schwache Störung finden sich in den heutigen Annalen der Erde verzeichnet. Jedes Jahr besteht aus 365 Tagen, 5 Stunden und 49 Minuten. Ein Abweichen der Erde von ihrer regelmäßigen Rotation ist denkbar, aber nur in dem sehr unwahrscheinlichen Fall, daß unser Planet einem anderen Himmelskörper mit genügend großer Masse begegnen würde, um den vorgezeichneten Lauf unserer Welt zu stören … Daß ein Komet mit unserem Planeten zusammenstößt, ist nicht sehr wahrscheinlich, aber der Gedanke ist darum keineswegs völlig abwegig.«
Hier also steht das Argument vor der Tür. Auf den folgenden 300 Seiten wird Velikovsky mit allen Mitteln versuchen, die Schilderung des Josua ins naturwissenschaftliche Recht zu setzen. Die Bibel, so sein Argument, spricht von wahren Tatsachen, nicht von Wundern oder physischen Unmöglichkeiten. Was Josua erlebt, soll tatsächlich eine ungeheure Szene im planetarischen Geschehen sein. Die Venus hat die Erdrotation verdreht oder sogar angehalten, so daß es wirken muß, als stünden Sonne und Mond plötzlich still. Auch ein Meteoritenschauer wird von Josua beschrieben, als er von Hagel und fallenden Steinen spricht, die mehr Feinde getötet hätten als das Volk Israel mit seinen Waffen.
Velikovskys Lesart hätte man wahrscheinlich in Deutschland eher begriffen als in den USA. Denn genau so, mit dem Vorrang der buchstäblichen gegen die metaphorische Lesart, hatte fast hundert Jahre vorher der deutsche Archäologe Heinrich Schliemann argumentiert, als er Homer gegen den mythologischen Strich las, um das historische Troja zu finden. Und genau so liest heute übrigens Raoul Schrott seinen Homer, um wiederum Schliemann zu korrigieren. Doch bei Velikovsky kam noch etwas anderes hinzu. Der Vater war Zionist; und auch und gerade Zionisten wie er und der hochverehrte Theodor Herzl suchten nach dem Gelobten Land nicht mehr symbolisch, sondern in der Wirklichkeit. In seinen Memoiren, die heute auf einer Website der Princeton- Universität stehen, zitierte Velikovsky andächtig, was Herzl im Jahr 1897 in einem Pariser Hotel ins Tagebuch schrieb: »Ich werde den dornigen Pfad der Tradition unseres Volkes wieder betreten. Ich werde es zum Gelobten Land führen. Ich halte das nicht für Fantasie. Ich baue keine Luftschlösser. Ich werde ein richtiges Haus bauen.« Genau so, im genauen Wortsinn, wollte auch Velikovsky das Alte Testament lesen. Die Szene mit der stillstehenden Sonne, die der Führer des Volkes Israel mit Stentorstimme von seinem Gott verlangte, muß ihm in den vierziger Jahren wie eine zionistische Initialzündung in den Sinn gekommen sein. Denn es war ja nicht nur eine Beschreibung kosmischer Unglaublichkeiten, sondern sie zeigte die Macht des Josua über Gott selber. Er, der Mensch, konnte ihm, seinem Gott, befehlen, Sonne und Mond in ihrem Lauf anzuhalten – eine unerhörte Vorstellung. Aber es war eben dieser Josua, der das Volk Israel rettete und nach Kanaan führte – so wie Herzl das jüdische Volk nach Palästina.
Velikovsky unterzeichnete das Vorwort im September 1949, ein Jahr nach der Gründung des Staates Israel. Natürlich kommt diese Koinzidenz mit der Realpolitik in seinem Text nicht vor; schließlich geht es darin um den größten Angriff auf astronomische Grundsätze seit Newton. Die metaphorische Lektüre der Bibel, meinte er, ließ sich mit Sigmund Freud als Verdrängungsleistung erklären. Alles wurde erst sinnvoll, wenn man das Buch Josua wie einen astronomischen Tatsachenbericht las. Mit ihm konnte man offenbar sämtliche Mythen der Welt korrigieren. Geschehnisse wie die Sintflut etwa ließen sich weltweit in den Mythen feststellen, wenn man nur den Kalender richtig bestimmte. Und mit seiner Kalenderreform ist Velikovsky vielleicht noch berühmter geworden als mit seiner Bibeldeutung.
Denn als »Welten im Zusammenstoß« 1978 erstmals auf deutsch erschien, gab es begeisterte Reaktionen bei esoterischen Köpfen. Gunnar Heinsohn schrieb im »Freibeuter« einen flammenden Artikel, in dem Velikovsky als Märtyrer einer verbohrten akademischen Wissenschaft vorgestellt wurde. Eine Gesellschaft zur Kalenderreform wurde gegründet, und in den neunziger Jahren behauptete der Historiker Herbert Illig, daß wir im traditionellen Kalender 300 falsche Jahre zählen. Eine von Historikern für absurd gehaltene These. In einem Punkt hatte Heinsohn aber womöglich recht. Auffällig bald nach Velikovskys Tod 1979 übernahm die akademische Astronomie Aspekte des Katastrophismus. Walter und Luis Alvarez vertraten 1980 die These, vor 65 Millionen Jahren habe ein auf zehn Kilometer Durchmesser geschätzter Asteroid die Erde getroffen und eine universale Katastrophe heraufbeschworen. Ungeheure Staubwolken hätten den Himmel monatelang verdunkelt, eine neue Eiszeit sei ausgebrochen und mit ihr das Ende der Dinosaurier gekommen. Den stärksten Beweis für Velikovskys biblische Thesen lieferte aber der Einschlag des Kometen Shoemaker-Levy 9 im Jahr 1994 auf dem Jupiter. Zum ersten Mal konnten die wissenschaftliche und mit ihr die Weltöffentlichkeit die Wirkung eines solchen Impakts beobachten und konstatieren, daß derartige Geschehnisse in der Natur vorkamen. Auch der Mond war womöglich durch eine solche »Katastrophe« entstanden. Es etablierte sich, mit andern Worten, eine neue Glaubensrichtung in der Weltraumforschung. Sie traf auf die bisher gängige Meinung, daß die astralen Prozesse graduell, gleichmäßig und ohne dramatische Kollisionen verliefen.VII.
Die Diskussion zwischen den sogenannten Katastrophisten und den Gradualisten konnte übrigens historisch interessierte Beobachter an den berühmten Disput über die Erdentstehung um 1800 erinnern. Die sogenannten Neptunisten glaubten damals an die Entstehung aus dem Wasser, die andern an einen vulkanischen Ursprung. Goethe gehörte zu den Neptunisten, Alexander von Humboldt bekehrte sich spät zu den Vulkanisten. Von einem Phänomen wie der planetarischen Kontingenz und vom Katastrophismus waren sie freilich alle weit entfernt.
Wie unter einem Brennglas sah der junge Kant in seiner »Naturgeschichte des Himmels« von 1755 die Fronten einer Diskussion, die den Zufall in günstiger Absicht proklamierte, also keinen katastrophischen, sondern im Gegenteil einen geordneten generativen Zufall zwecks Erzeugung des Lebens, den er schon beim Studium der antiken Lehrmeinungen kenngelernt hatte: »Die […] Lehrer der mechanischen Erzeugung des Weltbaues leiteten alle Ordnung, die sich an demselben wahrnehmen lässt, aus dem ungefähren Zufalle her, der die Atomen so glücklich zusammentreffen liess, dass sie ein wohlgeordnetes Ganze ausmachten. Epikur war gar so unverschämt, dass er verlangte, die Atomen wichen von ihrer geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu können. Alle insgesamt trieben diese Ungereimtheit so weit, dass sie den Ursprung aller belebten Geschöpfe eben diesem blinden Zusammenlauf beimassen und die Vernunft wirklich aus der Unvernunft herleiteten. In meiner Lehrverfassung hingegen finde ich die Materie an gewisse notwendige Gesetze gebunden …«
Und damit wandte er sich seinem Lehrer Newton zu, der sogar dem Halleyschen Kometen eine regelmäßige Umlaufbahn zutraute. Doch weder er noch die späteren Kombattanten wollten etwas wissen von etwaigen kontingenten Einbrüchen des Weltalls in den irdischen Haushalt. Denker wie der französische Baron Buffon blieben Ausnahmen. Als der Naturkundler Ernst Florens Chladni 1794 behauptete, die vielen auf Erden aufgefundenen Meteorsteine stammten aus dem Weltall, stieß er auf ungläubiges Staunen. Goethe, der ihn als Entdecker der Schallwellen schätzte, widersprach ihm energisch. Meteore, meinte er, seien vielmehr Produkte einer verdichtenden Atmosphäre. »Durchsichtig erscheint die Luft, so rein / und trägt im Busen Stahl und Stein. / Entzündet werden sie sich begegnen. / Da wird’s Metall und Steine regnen«, dichtete er, und in seiner Schrift zur Morphologie von 1817 würdigte er Chladni als einen Bruder im Geiste mit Interessen, die in ihrer Widersprüchlichkeit nicht notwendig wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Das leicht satirische Porträt eines Zwitters aus Dichter und Naturforscher hätte ihm, der doch selbst einer war, gewiß nicht gefallen: »Wer darf mit unserm Chladni rechten, dieser Zierde der Nation? Dank ist ihm die Welt schuldig, daß er den Klang allen Körpern auf jede Weise zu entlocken, zuletzt sichtbar zu machen verstanden. Und was ist entfernter von diesem Bemühen, als die Betrachtung des atmosphärischen Gesteins. Die Umstände der in unsern Tagen häufig sich erneuernden Ereignisse zu kennen und zu erwägen, die Bestandteile dieses himmlisch-irdischen Produkts zu entwickeln, die Geschichte des durch alle Zeiten durchgehenden wunderbaren Phänomens nachzuforschen, ist eine würdige, schöne Aufgabe. Wodurch hängt aber dieses mit jenem Geschäft zusammen? Etwa durchs Donnergeprassel, womit die Atmosphärilien zu uns herunterstürzen? Keineswegs, sondern dadurch daß ein geistreicher, aufmerkender Mann zwei der entferntesten Naturvorkommenheiten seiner Betrachtung aufgedrungen fühlt, und nun eines wie das andere unablässig verfolgt. Ziehen wir dankbar den Gewinn der uns dadurch beschert ist.«
Aber Goethe hatte unrecht und Chladni hatte recht. Die Konsequenzen sind bekannt. Zunehmend rechnet die Menschheit mit Einbrüchen aus dem All. Vor wenigen Monaten wurde an der Berliner Humboldt-Universität der erste Lehrstuhl für Impakt-Geologie eingerichtet. Und die Möglichkeit eines Impakts von »Atmosphärilien« zieht die größte Institution der Weltraumforschung, die NASA, schon seit Jahren in Erwägung. 2005 beauftragte der amerikanische Kongreß das Institut mit der Abschätzung der Gefahr eines Einschlags von sogenannten Near Earth Objects, kurz NEOs genannt, sowie mit der Entwicklung von Abwehrmaßnahmen, etwa in Gestalt von Atomraketen. Ein umstrittener Vorschlag. In der Zeitschrift »Scientific America« hieß es dazu im März 2008, die wirklich gefährlichen NEOs von ca. zehn Kilometer Durchmesser seien allesamt zu weit entfernt, um dergleichen zu rechtfertigen. Von den vermutlich 4000 Objekten mit einem Durchmesser von ca. 400 Metern und mehr wurden erst annähernd 1500 lokalisiert. Sie könnten die Erde alle 100000 bis 160000 Jahre touchieren. Wieder anders steht es natürlich mit noch kleineren Brocken ab einer Größe von 70 Metern Durchmesser, deren es Abertausende gibt. Wie sollen wir uns vor all dem schützen – und müssen wir es? Die meisten fallen ohnehin ins Meer.
Daß wir mit den Widrigkeiten der Kontingenz im terrestrischen Maßstab fertig werden müssen, steht außer Frage, auch und gerade bei der Klimakatastrophe. Niemand kann sich dagegen versichern, und doch wird es ein großes Geschäft der Versicherungen werden. Denn sie sind es, die aus der langen religiösen und literarischen Tradition der Unheilsverkündungen den größten säkularen Nutzen gezogen haben. Wenige Poeten dürften diesen Umschwung so seismographisch genau empfunden haben wie Franz Kafka. Er war bekanntlich kein Astropoet, ja er fürchtete sich sogar vor allem, was sich in der Luft abspielte. Er war Jurist und dachte als solcher. Seinen Aufnahmeantrag als Angestellter bei der Arbeiter Unfallversicherung schrieb er am 30. Juni 1908.SINN UND FORM 1/2009, S. 100-118
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Schnitzler, Arthur
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- 5/2017 | »Es ist eine sehr seltsame Gefühlsmischung, die Sie erwecken«. Briefwechsel mit Alfred Kerr 1896-1925. Mit einer Vorbemerkung von Elgin Helmstaedt, S. 11 Leseprobe
Schnitzler, Arthur
»Es ist eine sehr seltsame Gefühlsmischung, die Sie erwecken«. Briefwechsel mit Alfred Kerr 1896-1925
Vorbemerkung
Als 1984 der zweite Band der Briefe Arthur Schnitzlers erschien, hieß es im Vorwort: »Obwohl Schnitzler es fast immer ablehnt, eigene Werke zu interpretieren, gibt es dennoch Briefe, die über seine inhaltlichen und ästhetischen Intentionen einigen Aufschluß geben.« Unter den fünf Adressaten, die solche Schreiben erhielten, war der Kritiker Alfred Kerr. Dabei lagen den Herausgebern gerade einmal vier Briefe an diesen vor, von denen sie drei veröffentlichten.
Bis 2013 besaß das Alfred-Kerr-Archiv der Akademie der Künste nur Schnitzlers letztes Schreiben an Kerr von 1925. Der Großteil der restlichen Briefe galt jahrzehntelang als verschollen. Als Kerr 1933 mit seiner Familie aus Deutschland fliehen mußte, wurde der größte Teil seines Besitzes konfisziert, darunter auch die Schnitzler-Briefe. In einem Zwischenlager der Gestapo nahm eine literaturinteressierte, vielleicht auch Schnitzler verehrende Sekretärin die Briefe an sich. Nach dem Krieg wagte sie nicht, mit ihrem »Fund« an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie vererbte die wertvollen Autographen ihrem Neffen, der sie 2013 einem Auktionshaus anbot. Nach Absprache mit der Familie Kerrs, den rechtmäßigen Eigentümern der Briefe, konnte die Akademie ein Vorkaufsangebot aushandeln und die Manuskripte erwerben.
Die Kerr-Autographen wiederum werden seit 1938 in Cambridge betreut. Schnitzlers Haus in Wien, in dem die Familie auch nach seinem Tod 1931 wohnte, wurde beim deutschen Einmarsch 1938 beschlagnahmt und versiegelt. Auf Initiative eines gerade in der Stadt befindlichen Studenten der University of Cambridge wurde der Nachlaß mit Einverständnis der Familie und mit Hilfe der englischen Botschaft nach England gebracht. Die vorliegenden 49 Briefe bzw. Karten Schnitzlers und 42 Schriftstücke Kerrs, aus denen hier eine umfangreiche Auswahl abgedruckt wird, sind bis auf wenige Ausnahmen unveröffentlicht.
Der Briefwechsel zwischen Arthur Schnitzler und Alfred Kerr setzte 1896 ein. Beide waren sich zwei Jahre zuvor bei einer Geburtstagsfeier der Mutter von Adele Sandrock, Schnitzlers damaliger Freundin, vermutlich zum ersten Mal begegnet. Ein halbes Jahr später schrieb Kerr in einer Kritik, wie Schnitzler in seinem Tagebuch vom 4. Dezember 1894 vermerkte, »über die ›entzückenden Anatoldramen und ein schmerzliches poesievolles Stück Märchen‹«. Autor und Kritiker waren zu diesem Zeitpunkt etwa dreißig Jahre alt und standen kurz vor ihrem Durchbruch in der literarischen Welt. Kerr, 1867 als Alfred Kempner in Breslau geboren und in einer akkulturiert-jüdischen Weinhändlerfamilie aufgewachsen, war in Berlin bei dem bekannten Germanisten Erich Schmidt promoviert worden. 1893 erschien im »Magazin für Litteratur« seine erste Theaterkritik, ab 1895 verfaßte er wöchentlich »Berliner Briefe«, u. a. für die »Breslauer Zeitung«, die auch in Berlin gelesen wurde. Darin schrieb er über Literatur, Theater, Ausstellungen, Reisen und das Alltagsleben.
Schnitzler wurde 1862 in Wien in eine jüdische Ärztefamilie hineingeboren. Er studierte ebenfalls Medizin, arbeitete nach seiner Promotion zum Doktor med. bis 1888 im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (wo auch der Neurologe Sigmund Freud praktizierte) und wechselte dann als Assistent seines Vaters an die Allgemeine Poliklinik. Nach dessen Tod 1893 eröffnete er eine Privatpraxis. Er wollte literarisch tätig sein und sah diese vor allem als Mittel zum Zweck des Lebensunterhalts. Mit zunehmendem schriftstellerischem Erfolg reduzierte er den Praxisbetrieb, gab ihn aber nie ganz auf.
1891 schloß Schnitzler sich der literarischen Vereinigung »Jung-Wien« an, wo er Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr, Felix Salten, Gustav Schwarzkopf und Paul Goldmann kennenlernte – sowie den siebzehnjährigen Hugo von Hofmannsthal, der sich »Loris« nannte. Die Gruppe wandte sich vom Naturalismus ab und wurde zur wichtigsten literarischen Bewegung der österreichischen Moderne. Schnitzler ragte durch sein psychologisches Einfühlungsvermögen hervor, besonders in den frühen Texten verarbeitete er auch eigene Erlebnisse. Schon bald wurde er mit den »Anatol"-Szenen einem größeren Publikum bekannt. Seine vielbeachtete Novelle »Sterben« erschien 1894 in der »Neuen Deutschen Rundschau«, die aus der »Freien Bühne« hervorgegangen war. Deren Gründer Otto Brahm war auch Intendant des Deutschen Theaters Berlin und führte am 4. Februar 1896 Schnitzlers Schauspiel »Liebelei« erstmals in Deutschland auf, mit populären Darstellern wie Agnes Sorma, die im ersten Brief an Kerr erwähnt wird. Schnitzler reiste zu den Endproben an, ärgerte sich, verhandelte mit dem Regisseur, machte letzte Textänderungen, prüfte die Publikumsreaktionen bei der Premiere und feierte hinterher mit Theaterleuten und Journalisten, darunter Alfred Kerr.
Zu diesem Zeitpunkt hatten beide schon eine gewisse Bekanntheit erreicht. Drei Tage später, am 7. Februar, begann der sich über einen Zeitraum von 29 Jahren erstreckende Briefwechsel. Er setzt ein mit zwei der typischen kurzen Brieflein, die beide sich schrieben, wenn sie in derselben Stadt waren und ein Treffen vereinbaren wollten, und die kaum mehr als Ort und Zeit enthielten. Die Stadt war meist Berlin, der Wohnort Alfred Kerrs; manchmal aber auch Wien, wo Arthur Schnitzler lebte. Verabredungsbriefe könnte man sie nennen – und dazu auch die Briefe zählen, die beide sich schickten, wenn sie auf Reisen waren und sich unterwegs ein Treffen erhofften. Besonders viele dieser Verabredungsbriefe wurden 1900 gewechselt – im Vorfeld einer Alpenwanderung, die sie mit Paul Goldmann, Richard Beer-Hofmann und Leo Van-Jung unternahmen.
Im ersten Brieflein von 1896 schickte Kerr mit »ergebenstem Gruß« Terminvorschläge an den »Verehrte(n) Herr(n) Schnitzler«. Dieser antwortete noch am selben Tag aus seinem Hotel dem »Geehrte(n) Herr(n) Kerr« und unterzeichnete mit »Ihr ergebener Arth Schn«. Adressiert war der Brief an »Herrn Alfred Kerr / Schriftsteller«. Schwingt darin ein wenig Ironie mit? Im nächsten Brief spricht Schnitzler lieber vom »Verhältnis zwischen Autor und Kritiker«. In bezug auf Kerr ist mit der Bezeichnung »Schriftsteller« aber schon etwas Wesentliches gesagt. Der aufstrebende Theaterkritiker, der inzwischen auch für die »Neue Deutsche Rundschau« und die Wochenschrift »Die Nation« schrieb, hatte genau diesen Anspruch an sich. 1905, im Vorwort seiner Gesammelten Schriften »Das neue Drama«, sprach er es deutlich aus: »Der wahre Kritiker bleibt ein Dichter: ein Gestalter. (…) Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt: so daß sie noch auf Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind. Die Kritik, die als eine Dichtungsart anzusehen ist.«
In der 1917 erschienenen fünfbändigen Ausgabe seiner Schriften, »Die Welt im Drama«, bekräftigte Kerr seine Auffassung von der Kritik als vierter Kunstform neben Epik, Lyrik und Dramatik und erklärte sich selbst zum Schriftsteller. Aus den 48 (!) Paragraphen des Vorworts spricht, man kann es nicht anders sagen, leichter Größenwahn: »ihr fühlt, daß in der Entwicklung der Menschensprache hier ein Kilometerstein unverwechselbar leuchtet«. Und er sorgt auch für den Fall des ausbleibenden Erfolges vor: »Sei ein Jahrhundertschriftsteller und arbeite ständig auch an Zeitungen (…) die Zeit ist kaum dafür.«
Ende August 1896 besuchte Kerr Schnitzler in Wien. Die Briefanreden in dieser Phase bezeugen die enger werdende Beziehung: »Liebster Herr Schnitzler« und »Mein lieber Doctor Kerr« heißt es schon im Januar 1897. Die gegenseitige Anrede »Lieber Freund« führt Schnitzler Anfang Februar 1900 ein, sie blieb über alle Konflikte und Pausen hinweg bis zu den letzten Briefen. Geduzt haben beide sich nicht, das vermied Schnitzler aber auch bei langjährigen und engen Freunden wie Schwarzkopf und Hofmannsthal. Bei den ersten Verabredungsbriefen blieb es jedenfalls nicht. Schon Schnitzlers Schreiben vom 19. März 1896, also kurz nach dem ersten Treffen, ist länger, inhaltsreicher. Er bedankt sich für einen Artikel in der »Neuen Deutschen Rundschau« – mit Abkürzungen und Andeutungen, in einer das Gelesene und die entstehende Beziehung psychologisch deutenden Sprache. Zu dieser zweiten Kategorie kann man 23 Briefe zählen: 15 von Schnitzler und 8 von Kerr. Solche Beziehungsbriefe, wie ich sie nennen möchte, sind bis zu sieben Seiten lang. Und sie sind die entscheidenden: Es geht um die Freundschaft, um Gefühle und Befindlichkeiten, um das Schrei ben, um (meist sehr emotionale) Reaktionen auf Schnitzlers Stücke bzw. Kerrs Kritiken. Kerr bewunderte Schnitzlers frühe Werke. Dieser war angesichts seines sonst schwierigen Verhältnisses zur Kritik erfreut über die kundige Anteilnahme. Er wollte verstanden werden.
Schnitzlers Stück »Freiwild«, in dem der Duell-Kodex des österreichischen Militärs kritisiert wird, wurde am 3. November 1896 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Während seines Aufenthalts traf Schnitzler Kerr eine Woche lang täglich. Beide waren nicht nur bei der Premiere, sondern auch bei zahlreichen Besuchen, Treffen und Mahlzeiten zusammen, meist in größeren Runden wie bei Oscar Bie, dem Herausgeber der »Neuen Deutschen Rundschau«. Am 5. November notierte Schnitzler in seinem Tagebuch: »Bei Bie. Dort Kerr; von meinem Stück nicht befriedigt; ähnliche Ansichten wie ich.« Hier deutet sich ein Muster an, das in den Briefen häufig wiederkehrt. Kerr kritisiert Schnitzlers Texte, und der sich selbst gegenüber äußerst kritische Schnitzler stimmt zu. Einige Male versucht der Autor, bestimmte Motive und Figurenkonstellationen vorsichtig zu erklären; manchmal wirbt er geradezu um Verständnis. So kommt es zu den für Schnitzler so seltenen Aussagen darüber, wie er schreibt. 1904 war in dieser Hinsicht das ertragreichste Jahr. Über Entstehung und Aufbau seiner Dramen »Der einsame Weg« und »Der Schleier der Beatrice« – letzteres heute vergessen, von Schnitzler selbst aber geschätzt – gab der Verfasser ausführlich Auskunft. Privates hingegen wird selten besprochen. Wie Kerrs Leben in dieser Zeit verlief, läßt sich in der 2016 erschienenen Kerr-Biographie von Deborah Vietor–Engländer nachlesen.
Um 1905 war Kerr als Essayist beliebt und als Kritiker gefürchtet; sein Ansehen stand dem Schnitzlers nicht nach. Trotzdem schlich sich in ihre Beziehung ein Ungleichgewicht ein. Wenn Schnitzler sich vorsichtig gegen eine Einschätzung Kerrs wehrte, entstanden Pausen in der Korrespondenz, schien ein Abbruch des Kontakts zu drohen. Eine Frage des Selbstbewußtseins? Schnitzler schien es in die Wiege gelegt worden zu sein, Kerr mußte es sich wieder und wieder erkämpfen. Hatte Kerr von der Schriftstellerkarriere geträumt, um die er Schnitzler beneidete? Schaut man sich seine Besprechungen von dessen Dramen an, drängt sich die Vermutung auf, daß der Kritiker den Schriftsteller auf mehr oder weniger subtile Art in die Schranken weisen wollte. Kerr vergab an Schnitzler Plätze in einem von ihm selbst ausgerufenen Wettbewerb mit anderen Schriftstellern. Dabei verhielt sich Kerr ambivalent: Lob und Kritik verkehrten sich zuweilen in ihr Gegenteil. Ein über ein Jahr lang angekündigter Artikel über Hofmannsthal und Schnitzler, nach dem letzterer immer wieder fragte, erschien schließlich im Juni 1900 in der »Neuen Deutschen Rundschau«. Von den sieben Abschnitten des sechsseitigen Textes (wie fast immer durch römische Zahlen gegliedert, Kerrs Markenzeichen) befaßt sich nur der letzte auf einer halben Seite mit Schnitzler, alles Vorangegangene galt Hugo von Hofmannsthal. Daß dieser erste Teil auch noch »fast panegyrisch« ausfiel, entschuldigt der Verfasser schon vor Erscheinen gegenüber Schnitzler als »Sympathie ohne Herzlichkeit «. Der zunächst dürftig wirkende letzte Abschnitt von »Aus der Wiener Mappe« galt allerdings einem unveröffentlichten Text, dem skandalumwobenen und von der Zensur lange verhinderten »Reigen«. So war selbst diese halbe Heftseite eine Ermutigung, und Schnitzler reagierte entsprechend erfreut. In einem ausführlichen Artikel in der »Neuen Deutschen Rundschau«, der nach der Uraufführung von Schnitzlers Schauspiel »Der einsame Weg« 1904 erschien und die Premiere des »Schleiers der Beatrice« mit einbezog, urteilte Kerr hingegen: »Die Beatrice und dieses Schauspiel mit ihrem tiefen Sinn für etliche Beziehungen des Daseins (…) stehen in Deutschland doch ohne Mittelglied hinter den Lebensstücken von Gerhart Hauptmann.« Was als Lob gedacht war, traf Schnitzler hart. In seinem nächsten Brief spricht er ungewöhnlich ausführlich über seine Gestaltung der Figuren und begründet selbstempfundene Mängel mit eigenen Charakterschwächen. Was ihn wirklich verletzt hatte, vertraute er aber nur seinem Tagebuch an: »Kritik Kerr (N. D. Rsch.) Eins. Weg; sehr günstig, mich doch an empfdl. Stellen treffend. – Stellt mich nach Hauptmann (mit Bea. und E. Weg) – dann lang nichts. – Wozu die Location. – Ich glaube wohl dass Hauptm. mehr Künstler ist als ich; – ahne aber, daß ich für später mehr werde zu bedeuten haben. –"
1905 erntete Schnitzlers Freund Richard Beer-Hofmann in der »Neuen Rundschau« Kerrs überschwengliches Lob für »Der Graf von Charolais«. Das Stück, eine Bearbeitung, wird eigentlich zerpflückt, die Sprachkunst des Verfassers aber in den Himmel gehoben: Der Artikel endet mit »Ave! –Ave! – Ave!« Im vorletzten Absatz, als Fazit, spricht Kerr von seiner Erschütterung: »Seit Gerhart Hauptmanns Landung hat in Deutschland keiner solche Worte gesprochen. (…) man spürt die Nähe des Unbeschreiblichen; (…) Hier wirkt eine verborgene Macht (…). Unter den Österreichern, die heute die Dichtung ihres Landes machen, steht Beer-Hofmann gesondert da. Ist er frei von snobistischer Kultur, die sich bei Hofmannsthal im strenger Eklektischen äußert, bei Schnitzler im Lebemanngestus (…)?« Letzterer setzte sich in seinem Tagebuch ausführlich damit auseinander. Er spürte Neid und verachtete sich dafür. Von Kerr spricht er als dem »berufensten Kritiker«. Kurz zuvor, Anfang Januar 1905, sah Schnitzler sich genötigt, in einem langen Brief auf eine Bemerkung Kerrs zu reagieren, die ihn herabwürdigte. Er war als Schriftsteller und Arzt um ein Gutachten in einer Plagiatsaffäre um Kerrs Konkurrenten Siegfried Jacobsohn gebeten worden und hatte diesem bescheinigt, möglicherweise unabsichtlich abgeschrieben zu haben, was Kerr wiederum absurd fand. Seine öffentliche Zurechtweisung Schnitzlers war ein herber Einschnitt – die Freundschaft war an ihrem Tiefpunkt angelangt.
Ab diesem Zeitpunkt kam kein rechter Austausch mehr zustande. Mehr als sieben Jahre, von Anfang 1911 bis Mitte 1918, wechselten beide keine Briefe mehr. Es gab nur gelegentliche Meldungen. Als passend dafür erwiesen sich Ansichtskarten – neben den Verabredungs- und den Beziehungsbriefen die dritte Korrespondenzform. Der Text war dabei naturgemäß kurz, außer Datum, Anrede und Unterschrift meist nur ein Gruß, manchmal auch mit Bemerkungen von Mitreisenden. Ansichtskarten schrieben sich Kerr und Schnitzler von Anfang an, aber in der mittleren Phase ihrer Beziehung wurde die Kürze symptomatisch und von beiden auch als Überrest eines vormals intensiveren Kontakts wahrgenommen. So heißt es im Sommer 1910 außer Gruß und Unterschrift auf den Karten nur noch »hier unser Jahresbriefwechsel« (Kerr) bzw. »›Briefwechsel‹ Kerr – Schnitzler, Band 16« (Schnitzler).
Auch Kerrs Kritiken zu Schnitzlers Werken bzw. Aufführungen wurden seltener. 1910 stellte er in einer Besprechung der späten Uraufführung des »Anatol"-Zyklus fest: »Der Arthur ist längst ein Klassiker geworden.« Aber Klassiker langweilten ihn. Er wollte Neues sehen, er wollte Entwicklung. Seine vereinzelten Schnitzler-Kritiken nach 1911 haben die Eigenart, immer einen grundsätzlich würdigenden Satz zu enthalten, sich ansonsten aber über den einst verehrten Schriftsteller fast lustig zu machen. Als im Mai 1917 in Berlin ein Schnitzler-Abend im Theater in der Königgrätzer Straße stattfand, rezensierte ihn Kerr mit einem seiner bissig-humorvollen Gedichte. »Aus friedlichen, verschollenen Zeiten / ragt wie ein dämmerndes Symbol / die Eleganz der Innigkeiten / des sucherischen Anatol (…) Der Held ist wählerischer, zarter / beim Artur!! (…) In Arturs Welt, vom Stil betaut / lacht man nicht so erfrischend laut.«
Könnte das nachlassende Interesse Kerrs daran liegen, daß er den Zenit im Schaffen seines österreichischen Freundes erreicht sah und auf die kommenden Stücke nicht mehr sonderlich gespannt war? Tatsächlich sind sich die Theaterhistoriker heute weitgehend einig, daß der Aufführung des Dramas »Professor Bernhardi« 1912 in Deutschland – in Österreich blieb es bis 1918 verboten – keine großen Theatererfolge Schnitzlers mehr folgten. Kerr erklärte nach Schnitzlers Tod »Professor Bernhardi« und Hauptmanns »Die Weber« zu den einzigen zwei Zeitstücken »von dauernder Kraft« und »mit Dichtungswert «, die er kenne. Im Erstaufführungsjahr hatte er nicht darauf reagiert. Dabei hätte es passende Publikationsmöglichkeiten durchaus gegeben. Kerr schrieb seit 1901 nicht nur für den »Tag«, sondern gab von 1912 bis 1915 auch eine eigene Zeitung heraus, an der er vorher schon zwei Jahre intensiv mitgearbeitet hatte: den »PAN«. Schaut man sich an, welche Rolle Schnitzler in diesem Unternehmen spielt, muß man sagen: keine. Texte von ihm wurden nicht veröffentlicht; angebotene Texte über ihn lehnte Kerr ab. Auch als 1917 Kerrs Gesammelte Schriften erschienen, waren nur wenige Schnitzler-Kritiken enthalten. Sechs Texte, geschrieben zwischen 1905 und 1915, abgedruckt auf 25 Seiten, immerhin versammelt in Band II, »Der Ewigkeitszug«; Band IV trägt den Titel »Eintagsfliegen « … »Come here, good dog!« steht als Motto zwischen der Überschrift »Arthur Schnitzler« und den nachfolgend aufgeführten Kritiken. Kerrs Text zur »Komödie der Worte« von 1915 ziert der Untertitel »Schnitzlers achtzigster Geburtstag«, was den bei Erscheinen des Buches tatsächlich erst Fünfundfünfzigjährigen gekränkt haben dürfte. In sein Tagebuch schrieb Schnitzler am 13. Februar 1918: »Nm. [Nachmittags] in Kerr (Welt im Drama) alles über mich gelesen. Anfangs hatte er ein schönes, später noch ein achtungsvolles Verhältnis zu mir – aber eigentlich begann sein Abfall sofort nach der Liebelei. Im Ganzen bleibt er, bei aller Geckerei, ein famoser und wahrhaft origineller Kerl. –"
1918 wollte der inzwischen fünfzigjährige Kerr heiraten; seine zukünftige Frau Inge Thormählen war dreißig Jahre jünger als er. Mit dem schönen Anlaß der Verlobung versuchte Schnitzler die alte Freundschaft wiederaufleben zu lassen. Im Brief vom 5. Juli 1918 sprach er, dessen Ehe sich gerade aufzulösen begann, sogar von Seelenverwandtschaft. Zur achtjährigen Unterbrechung der Korrespondenz äußerte er sich vorsichtig umschreibend. Zwei Jahre später, im Mai 1920, unternahm Schnitzler einen letzten Versuch: Zur zweiten Hochzeit Kerrs mit Julia Weismann – die erste Frau war ein Vierteljahr nach der Hochzeit an der Spanischen Grippe gestorben, Kerr hatte nur knapp überlebt – gratulierte er und äußerte die Hoffnung, man möge sich doch einmal wiedersehen. Alfred Kerr reagierte nicht. Erst als fünf Jahre später ein Aphorismus von Schnitzler über Kritik mit dem erfundenen Titel »Schnitzler über Kerr« in verschiedenen deutschen Tageszeitungen erschien, schickte Kerr einen Dreizeiler. Die Antwort Schnitzlers, in der er sich gegen die Titel-Text-Collage und eine beigefügte Glosse der Redaktion verwahrt, ist sieben Seiten lang. Hier spricht er so deutlich wie in keinem anderen Brief auch einmal Kritik an Kerr aus. »Endlich!« möchte man als Leser ausrufen. Aber damit endet der Briefwechsel zwischen Schnitzler und Kerr endgültig.
Arthur Schnitzler starb am 21. Oktober 1931 in seiner Heimatstadt Wien an einer Hirnblutung. Alfred Kerr würdigte und beschrieb in mehreren Artikeln, u. a. im »Berliner Tageblatt« vom 22. Oktober und einem Rundfunkvortrag am 8. November 1931, den verstorbenen »adligen Freund«: »Menschlich war Schnitzler (…) nicht sehr überströmend. Immer etwas präokkupiert – beschäftigt mit der Arbeit, die er vorhatte. (…) Wenn Schnitzler herzlich wurde, war es noch immer eine verhaltne Herzlichkeit. Auch in seinen guten Jahren.« Er würdigte Schnitzler als »Erweiterer des Wissens von der Seele« und bestätigte ihm ein »verborgenes Kämpfertum«, ein »Kämpfertum mit Grazie«. Kerr verteidigte den als »Erotiker« verkannten Schriftsteller, den man immer wieder auf die »süßen Mädel aus der Vorstadt« habe reduzieren wollen. Schnitzler sei ein Dichter gewesen, »der in seiner Sprache die Entwicklung vorwärts bringen half«. Als höchstes Lob rückte Kerr ihn sogar in die Nähe seines Idols Henrik Ibsen – und mehr als das: »Der Mann aus Wien, Schüler Ibsens, kam in Punkten über das Nordphänomen hinaus. (…) Was von ihm bleibt, ist ein deutscher Besitz. Ueber die darin verborgne Vielfalt ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«
Arthur Schnitzlers Fazit steht in seinen (posthum erschienenen) »Aphorismen und Notaten«: »Allzuoft betont er, daß er nicht nur ein großer Kritiker, sondern auch ein größerer Dichter sei als die meisten derjenigen Autoren, über die er zu schreiben hat. Vielleicht hat er recht; aber er sollte das Urteil der Nachwelt überlassen.«Elgin Helmstaedt
SINN UND FORM 5/2017, S. 581-618, hier S. 581-586
Schö, Lau
Schober, Rita
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Schoch, Julia
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Schoch, Julia
LITERATUR ALS RACHE Vom Auftauchen und Verschwinden des Georges Hyvernaud
I
Die Aufmerksamkeit, die einem Schriftsteller zuteil wird, ist nicht nur von seinem literarischen Können abhängig. In beträchtlichem Maße scheint es gerade auf außerliterarische Talente anzukommen. Kraft und Durchhaltevermögen, Dickhäutigkeit gegenüber Kritik, die Fähigkeit, sich vorzudrängeln und zugleich geschmeidig zu bleiben, sowie eine gewisse Selbstüberhebung sind allesamt gute Voraussetzungen, um sich im Literaturbetrieb gleich welcher Zeit zu etablieren und vor allem dauerhaft dort zu halten.
Im Fall Georges Hyvernauds (1902–1983) erscheint es besonders fatal, daß er keine dieser Eigenschaften besaß. Zumindest ist man geneigt, das Vergessen, dem seine Bücher jahrzehntelang anheimfielen, auf dieses außerliterarische Manko zu schieben. Welch himmelweiter Gegensatz zwischen dem Autor in Person und seinen Texten! Man stelle sich einen zurückhaltenden, beinahe linkischen Menschen vor, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen will, dann aber, übermannt von Selbstzweifeln und spontaner Ernüchterung, von seinem Vorhaben absieht und still heimgeht. Zu Hause übermannt ihn Ärger über sein Versagen, und vor lauter Wut über diese ihm nur allzu bekannte Ohnmacht beginnt er wie rasend zu schreiben. (Der Furor, das Gewaltsame im Schreiben der Lebensmurmler, der Stammler, wäre eine eigene Analyse wert.) Nein, Georges Hyvernaud war sicherlich keine jener beeindruckenden Gestalten, die man in Intellektuellen gern verkörpert sieht. Aber wollte er das überhaupt sein, eine Instanz? Seine Hellsichtigkeit und sein Mißtrauen ließen ihn hinter solchen Rollen (hinter allen Rollen!) zeitlebens falsche Posen, selbstverpaßte Etiketten wittern. Diese angeklebte Würde war ihm nicht nur peinlich, sie wurde auch sein Thema. Stets hat Hyvernaud an der Entlarvung und Enttarnung des Menschen gearbeitet, um zu zeigen, was diesen wirklich ausmacht: das Mittelmaß. Eine Durchschnittlichkeit in Gestalt und Gehalt, die sich durch falsches Heldentum oder philosophische Programme immerfort aufzuwerten versucht. Und das in sämtlichen sozialen Schichten. Bei einer bleibt er allerdings besonders häufig hängen, den sogenannten kleinen Leuten mit ihrem vermeintlichen kleinen Glück. Als Sohn einer Näherin und eines Schlossers ist Hyvernaud mit der kleinbürgerlichen Welt vertraut, und das heißt ganz konkret: beengte Wohnungen, Belästigung durch Geräusche und Gerüche, Armseligkeit nicht nur in materiellen Dingen, sondern auch im Denken. Die Menschen, von denen er erzählt, haben keinen Durchblick, begehren nicht auf, fügen sich dem sogenannten Schicksal. Immer wieder tauchen in seinen Büchern die Erkennungszeichen solcher Leben auf, Bügelbrett und Vogelkäfig, Kaktus und Spülstein, der Gasmann und das gute Geschirr, Sonntagsanzüge und Sonntagsbraten, alles Elemente einer Welt, die keine Höhenflüge zuläßt. Sein Schreiben: auch eine Rache an diesen Verhältnissen. Für Hyvernaud halten sie einen auf ewig gefangen, gerade unter widrigen Umständen. Gerade unter Extrembedingungen, scheint er sagen zu wollen, wird der Mensch, was er immer schon war – und auf keinen Fall ein Held.
II
Extrembedingungen. Müßig darüber nachzudenken, was andere Erlebnisse und Erfahrungen aus ihm gemacht hätten. Für Georges Hyvernaud waren es fünf Jahre, die nicht nur sein Schreiben in Gang setzten, sondern auch seine Sicht auf den Menschen besiegelten: 1939 wird er, damals Lehrer in Rouen, zur Armee eingezogen, gerät im Mai 1940 bei Lille in deutsche Gefangenschaft und kommt in ein Lager in der Nähe von Arnswalde in Pommern (heute: Choszczno). Befreit wird er erst im April 1945, aus einem Lager im westfälischen Soest, wohin die vor den Russen und Amerikanern flüchtenden Deutschen die übriggebliebenen Gefangenen getrieben hatten. Mit acht engbeschriebenen Oktavheften und ein paar losen Blättern in der Jackentasche gelangt er nach Paris, wo er bis zu seinem Tod bleibt. »Später werden die Historiker drüber schreiben, über dieses unförmige Abenteuer, in dem wir versackt sind. In den Büchern werden kurze, klare Sätze stehen: ›Die Deutschen machten auf ihrem Feldzug gegen Frankreich zwei Millionen Gefangene …‹ Es wird Landkarten geben, mit Pfeilen und Kreisen, um zu erklären, wie das Ganze abgelaufen ist.« So knapp kommentiert der Erzähler in Hyvernauds erstem Buch »Haut und Knochen« (1949) das Erlebte.
Auch wenn sein erster veröffentlichter Roman unter dem Eindruck der Gefangenschaft entsteht, wäre es falsch zu glauben, Hyvernauds Menschenbild sei im Lager geprägt worden. Nein, Krieg und Lager haben es nur mehr bestätigt. Jean-Paul Sartre schrieb später über seine Zeit als Kriegsgefangener (die freilich sehr viel kürzer war), er sei im Lager glücklich gewesen: Nicht mehr individuell sein Heil suchen zu müssen, sondern als austauschbares Teilchen am Abenteuer Kollektiv teilzunehmen, gab seinem Leben eine völlig neue, wunderbare Wendung. Der Beginn seines Engagements war gesetzt. Hyvernauds Erfahrungen waren andere.
Ein Mann kommt nach fünf Jahren aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause. Er trifft auf die alte Welt: Verwandte, seine Ehefrau, ehemalige Freunde – sie haben eine Flasche Wein für ihn bereitgestellt, eine Torte gebacken. Man plaudert, lacht, bittet um Geschichten. Was er denn so erlebt, wie er sich so durchgeschlagen habe, kommt die Frage aus der Runde. Naiv, drollig und ignorant, und der Mann antwortet brav. Äußerlich scheint der Ich-Erzähler in »Haut und Knochen« problemlos an die Unschuld der Vorkriegszeit anzuknüpfen. In Wahrheit aber rückt er von allem ab. In Wahrheit, das heißt in seinem Innern, wo mit Furor eine Stimme zu sprechen beginnt. Eine Stimme, die alles, was der Mann jetzt, im Frieden, sieht und hört, aufs Unerbittlichste mit dem abgleicht, was er gerade erlebt hat. Bei seiner Mobilmachung 1940 war Hyvernaud kein ahnungslos in den Krieg taumelnder Gymnasiast mehr. Er gehörte einer Generation an, die zwischen zwei Weltkriegen ihr Leben entwerfen mußte: Beim ersten waren sie zu jung, beim zweiten schon zu erwachsen, um ihn noch in unschuldiger Verwirrung zu erleben. Auch die Mitgefangenen, die als Figuren in seinen Büchern wiederkehren, sind keine jungen Männer mehr. Wie Hyvernaud, der nach der École Normale Supérieure 1924 in die Lehrerausbildung geht, 1936 heiratet und ein Jahr später Vater einer Tochter wird, lassen sie alle ein Leben mit Familie und Beruf zurück. Diese »vom Krieg zusammengetrommelte Generation« ist Hyvernauds erstes Beobachtungsobjekt. Zum genauen, erbarmungslosen Hinsehen zwingt ihn auch das ständige Eingeschlossensein in der Menge. Vielleicht der größte Fluch für einen, der denkt und schreibt: nie allein sein. Das Bedrängtwerden durch die anderen pariert er in seinen Büchern mit schneidendem Urteil über sie. Aus ihren Unterhaltungen – sie kreisen meist um Zeitungsmeldungen, Schnulzenrefrains, Anekdoten Handlungsreisender – kann er nichts als »die Offenbarung ihrer inneren Armut« heraushören. Ob Krieg oder Frieden, der Mensch bleibt sich gleich. Es ist klar, daß aus dieser Sicht kein wohltemperierter, hübsch gefertigter Realismus erwachsen kann. Statt dessen ein Geflecht von Szenen und Bildern, so wiedergegeben, wie sie sich der Seele eingeprägt haben. Erinnerungen und Wahrnehmungen, die ungeschützt über- und nebeneinanderliegen. Die Freizeit – so nennt es Hyvernaud – der Gefangenen, das Absitzen des Krieges, das Warten, die Latrinen, die Toten im Russenlager nebenan, die Macken der Mitgefangenen, der Wahnsinn, der menschliche Verfall um ihn herum. Doch darf man sich nicht täuschen: Hyvernauds Bücher sind keine Zeitzeugenberichte, keine Erinnerungsliteratur. Die Erinnerung dient dazu, die Gegenwart zu beschreiben, nicht umgekehrt. Denn da ist die Wiederbegegnung mit all den Gespenstern in den Straßen von Paris, als der Krieg vorbei ist …
III
Im Dezember 1946 erscheint ein Kapitel aus »Haut und Knochen« in der von Sartre soeben gegründeten Zeitschrift »Les Temps Modernes«. Es heißt sogar, Sartre habe Hyvernaud die Mitarbeit angeboten. Der jedoch lehnt ab, vielleicht, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Wußte er, der nie ein Parteibuch besaß, aber seit 1935 Mitglied des »Comité de Vigilance des intellectuels antifascistes« war, daß es in einer Zeit, in der einander widersprechende Ideologien jegliches Denken zu Parolen und Leitsätzen zusammenstauchten, kein freies Sprechen geben konnte? Daß er hätte Kompromisse schließen müssen? Wer eine solche Entscheidung trifft, geht das Risiko ein, nicht gehört zu werden. Oder erst viel später.
Fest steht: Als der Roman 1949 bei den Éditions du Scorpion herauskommt, findet er kaum Anerkennung. Immerhin, es werden 3000 Exemplare verkauft, es gibt hier und da Besprechungen, doch der Autor ist schnell wieder vergessen. Mag sein, daß der kleine Pariser Verlag nicht die glücklichste Wahl war, um eine breitere Leserschaft zu erreichen. In erster Linie aber stand das Buch im Widerspruch zu allem, was der politisch-literarische Betrieb der Nachkriegszeit in Frankreich erwartete. Von ehemaligen Kriegsgefangenen akzeptierte man erbauliche, realistisch erzählte Fluchtgeschichten, allenfalls noch Anekdoten aus dem harten Lagerleben. Hyvernauds Erzählung von Verfall und Zerrüttung aber wirkte gänzlich unheldisch. Sie widersprach dem Widerstandsund Befreiungsmythos der Franzosen. Keine Ideen, keine Vorschläge für Politik und Gesellschaft, über die man hätte diskutieren können.
[…]
SINN UND FORM 5/2013, S. 636-642
- 3/2015 | Das erfüllte Leben
- 5/2016 | Meine Mythomanien oder Wie sich Wirklichkeit in Literatur verwandelt
Schock, Ralph
- 3/2008 | Gespräch mit Hartmut Lange, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
Gespräch mit Hartmut Lange
RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum beschäftigt Sie das Thema so sehr?
HARTMUT LANGE: Der Tod beschäftigt einen immer dann, wenn man den Zenit seiner Lebenskurve überschritten hat und sieht, daß es nicht nach oben, sondern nach unten geht. Mich beschäftigt der Tod schon seit meinem vierzigsten Lebensjahr.
SCHOCK: Da hatten Sie den Zenit Ihrer Lebenskurve doch noch nicht erreicht.
LANGE: Da war ich schon drüber hinweg. Da war der Hegelsche Rationalismus, jene Form von Vernunft, die die Ich-Perspektive des einzelnen zur Menschheit und zur Weltgeschichte hin überschreitet und der ich so lange anhing, bei mir schon passé. Das geschah in dem Augenblick, als ich mein Selbst entdeckte. Ich fühlte mich plötzlich Philosophen wie Kierkegaard sehr nahe. Kierkegaard fürchtete vor allem die Endlichkeit, und er verzweifelte fast daran. Bei seiner Flucht in den Glauben gibt es Parallelen zu Pascal. Pascal versuchte mit Transzendenzentwürfen über das Nichts und die Leere hinwegzukommen. Bei mir war es ähnlich. Ich entdeckte plötzlich, daß der Rationalismus mir die Welt zwar erklären kann, aber an meiner existentiellen Ungewißheit nichts ändert: ich bin nichts als eine flüchtige Erscheinung. Aber das Ego will ja nicht einfach von der Erde weggefegt werden, und so kommt es, daß man sich so lange mit dem Tod beschäftigt, bis einem diese Grenzüberschreitung vertraut wird. Goethe, der ja noch in einer pantheistischen Gewißheit lebte, sagte von sich, er beschäftige sich so lange mit der Natur, bis er wünscht, dieselbe zu sein. Da ist der Schritt vom unerlösten Subjekt zur angeschauten Objektivität getan. Auch ich war gewillt, eine Brücke zur Transzendenz zu finden. Ich habe »Die Selbstverbrennung« geschrieben, einen theologischen Roman, in dem ich mich als Pfarrer sah, als Nihilist, der versucht, durch Verstandesfrömmigkeit die Angst vor der Endlichkeit zu überwinden. Das gelingt natürlich nicht. Wenn man Rationalist ist, muß man die Dürre und die Kälte des Nihilismus aushalten. Nur ist es dann so, daß man sich fast nur noch mit dem Nichts beschäftigt. Und das Nichts, das ist ja der Tod.
SCHOCK: Sie sprachen vom unerlösten Subjekt. Als Sie mit dem Schreiben anfingen, waren Sie Marxist. Auch der Marxismus hat die Unerlöstheit des Subjekts zum Thema. Was ist der Unterschied zwischen existentieller und marxistischer Unerlöstheit?
LANGE: Der Marxismus ist eine Soziallehre, die auf einem Glücks- oder Heilsversprechen basiert, auf einer Teleologie, einer Geschichtsentwicklung zum Besseren hin. Er sieht das Subjekt durch seine sozialen Bedingungen, seine Zivilisation determiniert, aber er sieht es nicht als Einzelwesen. Der Marxismus begreift das Subjekt nicht existentiell, sondern gesellschaftlich und geschichtlich. Als Marxist können Sie sagen: Wenn der Mensch sozial befreit ist, dann ist der Endpunkt der Geschichte erreicht, dann herrscht Vernunft in Staat und Produktion. Aber mein Erschrecken bestand ja in der Erkenntnis, daß der Marxismus die existentielle Basis des Subjekts, also Angst, Endlichkeit und Tod, ausblendet. Wir wurden doch dazu erzogen, unser Ich gänzlich aus dem Spiel zu lassen. Uns wurde gesagt: habt euch nicht so albern mit euerm Selbst. Jede Art Subjektivismus wurde hart bekämpft. In meiner Not habe ich mich dann an anderen Philosophien festgehalten. Ich wechselte von der Hegelschen Erkenntniseschatologie und der Marxschen Soziallehre, die ja beide streng rationalistisch und vernunftorientiert sind, zu Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und Kierkegaard. Kierkegaard und Pascal fassen die Transzendenz noch christlich auf. Bei Schopenhauer ist das schon nicht mehr der Fall, und Nietzsche ist bereits die Antwort auf den säkularen Nihilismus. Wenn man begreift, daß man sich zwar politisch und sozial, aber nicht existentiell befreien kann, dann wird die Luft dünn, dann beginnt die Bodenlosigkeit, der freie Fall. Ein freier Fall, der kein Ende kennt und in dem man versuchen muß, zur Ruhe zu kommen.
SCHOCK: Bei Ihnen hat dieses Pascalsche Erschrecken aber keine religiöstheologische Grundierung mehr.
LANGE: Pascal gelang es noch, in die Apologie des Katholizismus zu flüchten. Auch Kierkegaard, obwohl hochgradig verzweifelt, gelang noch die Flucht in die Glaubensgewißheit. Bei ihm ist die Angst noch fest mit der Erbsünde verbunden. Das ist bei uns inzwischen alles weg. Sie können heute das metaphysische Erschrecken vor der Endlichkeit nicht mehr mit einem christlichen Transzendenzversprechen überwinden, und auch mit keinem anderen mehr. Sie können aber, und das ist bei mir der Fall, ein Transzendenzbegehren entwickeln. Das findet zwar keine Erfüllung, ist aber in sittlicher Hinsicht besser, als wenn Sie keins hätten. Es gibt von Pascal den wunderbaren Satz: »Dies verrät äußerste Geistesschwäche, wenn der Mensch nicht erkennt, wie groß sein Elend ohne Gott ist.« Damit hat er nicht die Gottesgewißheit postuliert, sondern nur gesagt: Wenn es Gott nicht gibt und der Mensch darüber nicht erschrickt, ist er geistlos. Dem würde ich zustimmen, denn ich wünschte immer noch, es gäbe Gott, obwohl ich überzeugt bin, daß es ihn nicht gibt.
SCHOCK: Könnte man das nicht metaphysische Ironie nennen?
LANGE: Es ist ein unerfülltes Transzendenzbedürfnis. Ich versuche, der Grauzone der Verzweiflung zu entkommen. Ironie hat dort keinen Platz.
SCHOCK: Man könnte so tun, als gäbe es Gott.
LANGE: Nein, das kann man nicht, das ist naiv. Der Unterschied ist, daß Sie Gott brauchen, aber wissen, daß es ihn nicht gibt. Sie können nicht so tun, als gäbe es ihn, das wäre doch Maskerade. Ich möchte den sehen, der das schafft und damit leben kann.
SCHOCK: Wie gelingt es Ihnen, Ihr Transzendenzbegehren zu stillen? Durch das Schreiben?
LANGE: Ja, der Künstler ist ein Selbstheiler, der seine Empfindlichkeit und Verwundbarkeit ins Ästhetische hebt und sich so ein Erfolgserlebnis verschafft. Mit jeder Sache, die man sich von der Seele schreibt, wird man ein Stück freier. Wobei im Rücken schon wieder die nächste Tür aufgeht und das nächste Gespenst erscheint, das man wegschreiben muß.
SCHOCK: Was ist denn das Erfolgserlebnis des Autors Hartmut Lange?
LANGE: Daß etwas gelungen ist.
SCHOCK: Eine Novelle, ein Satz, ein Gedanke?
LANGE: Nein, die Beschreibung eines Zustands. Wenn ich feststelle, daß ich meine eigene und auch einen Teil der objektiven Wahrheit ins Ästhetische gehoben habe, gibt mir das ein Gefühl der Genugtuung. Kunst kommt von Können, und wenn es einem gelingt, sein Können zu beweisen, hat man ein Erfolgserlebnis. Hinzu kommt der Wunsch zu überdauern. Markus Lüpertz wurde einmal gefragt, warum er male. Er antwortete, daß er in den Köpfen der Menschen drei, vier Sekunden länger zu überleben hoffe. Sartre sagte, er habe keine Angst vor seinem Sterben, aber vor dem Tod der Gattung, da er dann in ihrem Gedächtnis nicht mehr aufgehoben wäre. Der schlimmste Gedanke für mich ist, daß das ganze Bemühen um Transzendenz eines Tages durch veränderte kosmische Bedingungen - sofern man der Astrophysik glauben darf - einfach weggewischt wird.
SCHOCK: Das heißt, vor Ihnen tut sich ein dreifacher Gefahrenhorizont auf: erstens der nihilistische Abgrund, zweitens die Schreibtischkante, mit der Sie ihn verdecken, und drittens das Gefühl, daß beide, Abgrund wie Schreibtisch, zusammen mit der Gattung einmal verschwinden könnten.
LANGE: Dann hätte selbst der Nihilismus keinen Sinn mehr. Der Nihilismus definiert sich ja mittels Affirmation. Man will etwas behalten, schafft es aber nicht. Man sieht, daß es aufgezehrt wird. Wenn wir wissen, daß wir aufgrund sich ändernder kosmischer Bedingungen als Gattung verschwinden, erlischt nicht nur die Sozial-, Subjekt- und Kulturgeschichte, sondern auch das Andenken an die Menschheit überhaupt.
[...]SINN UND FORM 3/2008, S. 329-331
- 5/2009 | Gespräch mit Christoph Hein, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
Gespräch mit Christoph Hein
RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
HEIN: Von ein paar Sachen bin ich sehr angetan und frage mich, ob ich dazu noch in der Lage wäre.
SCHOCK: Vielleicht war er in diesen Punkten weiter als der ältere Kollege?
HEIN: Er war auf jeden Fall unbeschwerter. Ich glaube, das hat mit der schönen Naivität zu tun, die man im Laufe des Lebens verliert. Ein Kind bewegt sich ja viel eleganter als ein zu Bewußtsein gekommener Erwachsener.
SCHOCK: Das sagt auch Kleist in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater. Fühlen Sie sich, um im Bild zu bleiben, denn heute eher als Marionette als früher?
HEIN: Nein, das nicht. Aber alles ist schwieriger geworden, weil man mehr Erfahrung hat. In anderen Berufen ist Erfahrung hilfreich, in meinem Beruf ist sie auch eine Erschwernis. Wenn man über jede Bewegung nachdenkt, die man in der Kindheit und Jugend mit Eleganz und Anmut einfach ausgeführt hat, wenn man sie also bewußt produziert, dann ist das eine Schwierigkeit.
SCHOCK: Kleist meinte, der gute Schauspieler müsse die Anstrengung vergessen machen, um die Anmut der Marionette wiederzuerlangen. Wenn er anfängt zu lernen und sich seines Tuns bewußt wird, verliert er seine ursprüngliche Naivität und muß sie sozusagen auf einer höheren Stufe zurückgewinnen.
HEIN: Kleist erinnert auch an die anmutige Skulptur des dornausziehenden Knaben. Er beschreibt, wie ein Freund eine ähnliche Haltung im Spiegel sah und vergeblich versuchte, sie nachzumachen.
SCHOCK: Der Knabe erleidet durch das Bewußtsein ein Lebenstrauma – wir nähern uns der Claudia Ihres Buches. »Der fremde Freund«, 1982 in der DDR erschienen, kam ein Jahr später in der Bundesrepublik unter dem Titel »Drachenblut« heraus. Die Änderung wurde nötig, weil gerade ein Buch von Klaus Harpprecht erschienen war, »Der fremde Freund: Amerika, eine innere Geschichte«. Welcher Titel gefällt Ihnen im nachhinein besser?
HEIN: Mein Titel ist nach wie vor »Der fremde Freund«. Ich glaube, er beschreibt auch die Novelle viel genauer. »Drachenblut« ist mir ein wenig zu düster, zu mythologisch belastet. Da denke ich eher an Fantasy-Literatur.
SCHOCK: Es ist natürlich eine Anspielung auf die Siegfriedsage, auf das Bad im Drachenblut und das berühmte Lindenblatt, das sich auf die Schulter des Helden legt – die verwundbare Stelle, an der Hagen von Tronje später mit der Lanze zustößt. Aber Sie haben nicht protestiert gegen diese mythologische Assoziation.
HEIN: Nein, ich fand die Titeländerung unnötig. Rein rechtlich war sie es auch, weil meine Novelle vor dem Harpprecht-Buch erschienen war. Ich wurde um einen neuen Titel gebeten, aber da ich keinen hatte, überließ ich es dem Luchterhand Verlag, einen zu finden. Diesen neuen Titel habe ich dann registriert und hingenommen. Bei den Übersetzungen haben sich einige Länder für diesen, andere für jenen Titel entschieden, also etwa »Dragonblood« oder »The Distant Lover«.
SCHOCK: Geschah das unabhängig von der Blockzugehörigkeit? Oder übernahmen beispielsweise die polnischen, russischen, rumänischen Übersetzungen den DDR-Titel?
HEIN: Das war den Verlagen freigestellt. Meist haben sie den genommen, der zu ihrer Sprache oder ihrer Kultur besser paßte.
SCHOCK: Sind denn beide Fassungen textidentisch?
HEIN: Da wurde nicht ein Komma verändert. So etwas habe ich nie akzeptiert. Texte sind für mich heilig, und zwar nicht nur die eigenen. Das hat vielleicht mit meiner Herkunft zu tun. Als Pfarrerssohn habe ich das so gelernt.
SCHOCK: Die Novelle beginnt, wenn man von dem Traum-Vorspiel absieht, auf das wir noch zu sprechen kommen, mit einer Beerdigung. Claudia, eine junge Ärztin, macht sich bereit, ihren Freund Henry Sommer zu Grabe zu tragen. Nach diesem ersten Kapitel kommen lange Rückblenden auf ihre Beziehung, auf die gescheiterte Ehe, auf Abtreibungen, auf ihre Kindheit. Dann wird die Beerdigung wieder aufgegriffen, im vorletzten Kapitel, und im letzten erfährt man, wie sich Claudia ein halbes Jahr später entwickelt hat und was mit ihr geschehen ist. Aus einer konkreten Erinnerungssituation wird so eine Art Lebensbilanz. Der Ort der Handlung ist unzweideutig die DDR: Man kann es aus Details erschließen, aus Wörtern, die Sie verwenden, aber auch aus historischen Anspielungen, etwa auf den 17. Juni. Die Zeit, 1981, ist ein bißchen schwieriger zu erschließen. Die Novelle spielte, als sie erschien, in der unmittelbaren Gegenwart. Claudia ist zu diesem Zeitpunkt vierzig, sie wurde also 1941 geboren. Das heißt, sie ist zwei, drei Jahre älter, als Sie damals waren. Auffallend ist, daß es keinen expliziten Erzählkommentar gibt. Sie schildern alles aus Claudias Perspektive. Was für eine Frau ist sie eigentlich?
HEIN: Eine Person, die ich schätze. Sie ist mir zwar fremd, aber ich kann ihre Haltung und Lebensumstände nachvollziehen. Sie hat eine gewisse Härte. Übrigens hat die Novelle einen durchgehenden Subtext: Wenn Claudia bestimmte Dinge sagt, merkt der Leser auch, was sie nicht sagt, nicht sagen will. Das ist eine Erfahrung, die wir oft sogar mit Freunden machen. Wir fragen, wie es ihnen geht, und die Antwort ist: Wunderbar! Doch an den Augen oder der Haltung oder am Ton erkennen wir, daß das nicht stimmt. Diese Art von Subtext wollte ich dem Buch einschreiben – für den Leser, der sich darauf einläßt. Wenn er es aber nicht will, muß das Ganze trotzdem funktionieren.
SCHOCK: Hat dieser Subtext mit Angst zu tun?
HEIN: Ja, und auch mit Verdrängung. Unsere Kommunikation wäre überfordert, wenn wir auf ein »Wie geht’s?« die Antwort bekämen: »Gut, daß du mich fragst! Setzen wir uns, ich muß dir erst mal eine Stunde lang alles erzählen.« Wir brauchen diese kleinen Verabredungen, damit wir eine Freundlichkeit sagen können, ohne daß uns der andere gleich mit seinem ganzen Leben konfrontiert.
SCHOCK: Welche weiteren Aspekte spielen bei dem Subtext noch eine Rolle?
HEIN: Claudia sagt, daß sie nicht darüber nachdenken will, mit wem sie zusammenlebt, und meint damit sich selbst. Sie hat Angst, das herauszubekommen, und fürchtet, daß sie dann ein Fall für die Psychiatrie würde. In dem Zusammenhang spricht sie auch von der besten aller möglichen Heilanstalten. Zu Voltaires Zeit gab es die Rede von der besten aller möglichen Welten. Geblieben und für uns erreichbar ist nur noch die beste aller möglichen Heilanstalten.
SCHOCK: Das Wort taucht noch an einer anderen Stelle auf. Als Claudia bei einem Ostseeurlaub die Touristen in ihrer Einheits-Wetterkleidung sieht, sagt sie: Die sehen aus wie aus einer Heilanstalt. Das ist wohl auf die DDR gemünzt?
HEIN: Nein, das ist auf beide deutsche Staaten gemünzt, denn dieser sogenannte Friesennerz, ein westliches Kleidungsstück, wurde damals im Westen wie im Osten gern getragen. Auf einmal sah man überall die gleiche orange, offenbar sehr praktische Strand- und Regenbekleidung.
SCHOCK: Trotzdem: Heilanstalt, Anstalt DDR, das ist schon eine naheliegende Assoziation. Dazu kommt, daß im Grunde alles, was Claudia erlebt, entweder trist oder banal oder pervers ist: das aggressive Verhalten gelangweilter Jugendlicher und noch manches andere. Was hat eigentlich die Zensur zu Ihrem DDR-Bild gesagt?
HEIN: Günther de Bruyn hat mich damals gefragt, wie ich es geschafft hätte, dieses Buch durch die Zensur zu bringen. Es war aber gar keine große Leistung meinerseits. Die hatten den Text wohl nicht so überaus mißtrauisch angeschaut. Ich war noch nicht so bekannt, und es war ein kleines Buch. Als es hieß, daß da was gestrichen werden sollte, tat ich so, als sei ich aufgeschlossen, denn ich wußte, daß sich darin eigentlich nichts streichen läßt. Es gibt keinen besonders schlimmen oder bösen Satz. Es war das Klima, der Ton der Novelle, der eine für die Zensur schwer erträgliche Stimmung beschrieb. Durch das Streichen eines einzelnen Satzes oder einer Seite ließ sich daran gar nichts ändern.
SCHOCK: Volker Braun zum Beispiel mußte 25 Jahre auf die Druckgenehmigung für ein Theaterstück warten. Man hätte auch Ihr ganzes Buch verbieten können, Gründe hätte man gefunden: Alkoholmißbrauch, Handwerker betrügen ihre Kunden, gesellschaftliche Gleichgültigkeit, Langeweile, schmutzige und verwahrloste Gegenden; ein Künstler propagiert die Anarchie und das Asoziale, lehnt also die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers explizit ab. In der DDR sei alles »wie im 19. Jahrhundert«. Die Lehrer sind sadistisch, die Portiers feindselig. Hinnert tritt aus Opportunismus in die Partei ein. Jedes dieser Details müßte doch eigentlich unerträglich sein für einen Zensor.
HEIN: So wie Sie das auflisten, läuft es mir auch jetzt noch kalt den Rücken runter. Offenbar hatte man eine solche Zusammenstellung nicht vorgenommen. Vielleicht lag es einfach daran, daß ich noch so jung und neu im Geschäft war, ich weiß es nicht genau. Ich hatte später bei anderen Sachen Schwierigkeiten mit der Zensur, bei Theaterstücken, wo ich auch zehn, zwölf Jahre warten mußte, und beim nächsten Roman. Nach dem aufsehenerregenden Erfolg des »Fremden Freundes« wurde er mit großem Mißtrauen betrachtet und bekam keine Druckgenehmigung. Daß er überhaupt erschien, war die Leistung des Verlegers, Elmar Faber, der ihn schließlich auf eigene Faust herausbrachte. Das ist meines Wissens das einzige Buch, jedenfalls das einzige belletristische, das ohne Druckgenehmigung, also gegen den Willen der Zensur erschienen ist.
SCHOCK: Wie ging das?
HEIN: Der Verleger erzählte mir, er habe anderthalb Jahre lang immer wieder um die Zustimmung der Zensurbehörde gebeten und sei immer abschlägig beschieden worden. Dann hatte er die Faxen dicke. Er rief in der Druckerei an und sagte, er habe die Druckgenehmigung. Dort sah man keinen Anlaß, das zu überprüfen. Und noch ehe das hohe Haus es mitbekam, nach zwei Tagen nämlich, war der Roman vergriffen. Daraufhin wurde der Verleger ins ZK ein- bestellt. Es ging um seinen Kopf, um die Frage, ob er das Haus weiter leiten dürfe. Meinen westdeutschen Verlag hatte ich gebeten, noch zu warten, weil es den Ostverlag in Schwierigkeiten gebracht hätte, wenn das Buch dort zuerst erschienen wäre. Luchterhand hat mitgemacht, obwohl es sicher schon aus ökonomischen Gründen schwierig war, ein bereits fertig gedrucktes Buch nicht auszuliefern.
SCHOCK: In einem Interview sagten Sie im Zusammenhang mit dem »Fremden Freund«, es müsse über den Stand unserer Zivilisation gesprochen werden, über die seelischen Kosten, die dieses durch die moderne Produktionsweise bestimmte Leben verursacht. Demnach wäre Claudia also der Prototyp eines Menschen, den die Verhältnisse in der DDR hervorgebracht haben. Das ist doch eigentlich auch Dynamit.
HEIN: Das ist allerdings eine nachträgliche Überlegung.
SCHOCK: Aber zu DDR-Zeiten?
HEIN: Ich kann nicht mit einer theoretischen, abstrakten Haltung an einen Text herangehen. Ausschlaggebend für diese Arbeit war der Tod eines Bekannten. Ich hatte die Geschichte zunächst aus der Sicht eines Mannes erzählt. Nach einem halben Jahr langweilte mich das. Die Hälfte des Romans war fertig. Ich habe alles weggeworfen und mich entschlossen, ihn aus der Sicht der Frau zu erzählen. Das war natürlich ein Wagnis. Der Verlag sagte gleich: So etwas ging im 18. Jahrhundert, aber heute nicht mehr! Das wußte ich ja alles, aber ich wollte es einfach mal probieren. Als ich später gefragt wurde, warum dieses Buch in ganz verschiedenen Ländern so erfolgreich war, kam mir der Gedanke, daß ich darin wahrscheinlich die Kosten unserer Zivilisation beschreibe: Die Großfamilie ist zerschlagen. Unsere Produktion braucht sie nicht mehr. Sie braucht den ständig verfügbaren Single, der von niemandem behindert wird. Der Single ist das in unserer Zivilisation bevorzugte Individuum. Vielleicht war das einer der Gründe für den internationalen Erfolg der Novelle. […]
SINN UND FORM 5/2009, 628-639, hier S. 628-632
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Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen. - 2/2011 | »Am besten gefiel mir wieder Regler«. Gustav Regler und Klaus Mann, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
»AM BESTEN GEFIEL MIR WIEDER REGLER» Gustav Regler und Klaus Mann
Es war der Auftritt der Roten Armee auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller im August 1934 in Moskau, der die unterschiedlichen Positionen von Gustav Regler und Klaus Mann schlagartig hervortreten ließ: Differenzen, die nicht nur ihren Briefwechsel grundierten, sondern auch in ihren Autobiographien Spuren hinterließen. Einige Wochen nach dem Kongreß veröffentlichte Mann in der von ihm herausgegebenen Exilzeitschrift »Die Sammlung« seine »Notizen in Moskau« (2. Jg., Heft 2 /Oktober 1934). Auf das martialische und von ihm als bedrohlich empfundene Auftreten der Soldaten kam er gleich zu Anfang zu sprechen: »Im Kongreß (…) erschien eine Abordnung der Roten Armee. Die Korridore zwischen den Stuhlreihen füllten sich plötzlich mit gefährlich stampfenden Soldaten, ein Teil von ihnen eroberte sogar das Podium. Helle Wonne bei der Literatur. Dieses war der Moment, wo ich mich am fremdesten in Moskau fühlte. Ich stand stumm. Und ich konnte meine Hände nicht zum Beifall zwingen. Es muß – dachte ich – eine Rote Armee geben und sie muß stark sein –: harte Notwendigkeit, kein Pazifismus wagt sie mehr zu leugnen. Aber warum die helle Wonne?«
Auf jenen »Moment des Schreckens (…), als die bewaffnete Macht eindrang in den Saal der Literatur und dort mit Jubel begrüßt ward«, auf just dieses Detail in Manns Aufzeichnungen reagierte Regler wenig später in einem Interview: »Ich glaube, Klaus Mann ist hier noch im Bann des bürgerlichen Pazifismus, dieses ›Opiats der Nachkriegsjahre‹, mit dem man die wachsende revolutionäre Welle abzuleiten suchte. Deshalb sieht Mann, der sich tapfer in die Reihen der Antifaschisten gestellt hat, einen Augenblick noch unter altem Gesichtswinkel, hört in Moskau nur die ›Stiefel der Uniformierten in den Saal der Literatur stampfen‹, hört nicht das Referat des Soldaten, das nicht nur im Niveau des Stils, sondern auch in den Gedankengängen wirklich die neue Welt vertrat« (Volk und Schriftsteller in Sowjetrußland – Eine Unterredung mit Gustav Regler, in: Deutsche Freiheit, Saarbrücken, 25. /26.12.1934, Nr. 288).
Regler hatte Manns Einwänden also nur Parteijargon und herablassende Besserwisserei entgegenzusetzen und bestätigte damit den Eindruck von Oskar Maria Graf, einem anderen Kongreßteilnehmer: »Gustav Regler trug stets eine gefurchte Stirn, sah ungemein beschäftigt aus, gab sich selbstbewußt und roch geradezu nach abschreckender Tüchtigkeit. ›Du bist Katechet!‹, sagte ich auf den ersten Blick zu ihm und witzlos antwortete er: ›Du wirst lachen, als Katholik war ich einmal drauf und dran, es zu werden'. ›Nein-nein, ich meine, Du bist Katechet auf alle Fälle! Derzeit kommunistischer!‹, sagte ich. (…) Er wußte alles, sah alles, verstand alles und fühlte sich stets verpflichtet, uns anderen, wenn wir etwas bemängelten, das vom sowjetischen und marxistischen Standpunkt begreiflich zu machen. (…) Er war geradezu grotesk beflissen, und wenn man das Wort ›Sekretär‹ als Zustand auffaßt, dann hatte man den ganzen Gustav Regler. Es läßt sich denken, daß er so etwas wie ein kommunistischer Musterschüler war« (Reise in die Sowjetunion 1934).
An Reglers dogmatische Sturheit erinnerte sich Mann in seiner Autobiographie »Der Wendepunkt«. Im 9. Kapitel der 1952 erschienenen deutschen Fassung charakterisiert er ihn so: »Mein begabter Freund Gustav Regler (ich empfehle seinen Roman ›Der verlorene Sohn'!) ist noch derartig kommunistisch, daß einem vor so viel militantem Glaubenseifer etwas ängstlich zumute wird«. Wenige Seiten später kommt er auf den Kongreß zu sprechen, mit ähnlichem Tenor: »Am deutschsprechenden Tisch ging es besonders angeregt zu. Theodor Plievier, Gustav Regler, Andersen-Nexö vertraten das marxistisch-leninistischstalinistische Dogma in seiner reinsten und starrsten Form.«
Dieses wenig schmeichelhafte Urteil beschäftigte Regler offenbar so sehr, daß er in seiner eigenen, 1958 erschienenen Autobiographie »Das Ohr des Malchus« darauf einging. Seltsamerweise nicht im Zusammenhang mit seiner ausführlichen Schilderung des Kongresses; an dieser Stelle findet sich bloß eine knappe Reminiszenz an den Kollegen: »Es kam Klaus Mann, der unsäglich Feinfühlende, das häßliche Entlein, dem viel zu wenige sagten, daß er ein Schwan war, in manchen Augenblicken schon gezeichnet von der Melancholie, die ihn 1949 dann übermannte (zum Schaden Europas); er war gespannt auf Gorki, fürchtete aber, daß der Alte von der Menschlichkeit seines ›Nachtasyls‹ abgerückt sei. ›Ich kenne nur einen Mann‹, sagte er,mit dem eigenen Familiennamen spielend, ›dem niemals der Ruhm zu Kopf steigen wird'. Er meinte seinen Vater, den er verehrte.« Doch in einem nach Abschluß des Manuskripts entstandenen Anhang erwähnt Regler das Bild, das Mann von ihm gezeichnet hatte und das ihm keine Ruhe ließ – und versucht es zögerlich zu dementieren: »Klaus Mann. Er beschrieb den Kongreß in seinem ›Wendepunkt'; er deutete mit liebenswerter Toleranz auf den Tisch, an dem ich mit Plivier [!] saß; ich machte den Eindruck eines starren Marxisten, so scheint es, und war es wohl auch im Gespräch ›nach außen'.« Mann also eher bestätigend denn widerlegend, fährt er fort: »Hervorzuheben ist die Güte dieses tragischen Liberalen. Kein ironisches Wort ist je zwischen uns gefallen; er hatte die besten Manieren; er war ein angenehmer, aber gefolterter Sohn seines großen Vaters. Seine Verwirrungen und Probleme lagen auf ganz anderen Gebieten.« Legte Regler die Betonung (vielleicht unbewußt) auf das erste Wort des Satzes? Meinte er möglicherweise: Seine Verwirrungen und Probleme – im Unterschied zu den eigenen? Etwa dem Problem seiner lange nicht durchschauten Glaubenssehnsucht, die ihn in die KPD geführt hatte?
Bereits sieben Jahre vor ihrer ersten Begegnung findet sich bei Regler ein Hinweis auf Klaus Mann. In einem Notizbuch führt er unter seinen Lektüren dessen Debüterzählungen auf: »15.–20. 5.26: Klaus Mann: Vor dem Leben«. Die Förmlichkeit der Anrede in Reglers erstem Brief – offenbar die Antwort auf eine Einladung des acht Jahre Jüngeren, Beiträge für die »Sammlung« zu schreiben – läßt vermuten, daß es zuvor keinen persönlichen Kontakt gab. Die wechselnden Grade von Vertrautheit kann man an den Anredeformeln ablesen: zuerst höflich-korrekt ("Sehr geehrter Herr Klaus Mann«), einmal, im Oktober 1934, freundschaftlich ("Lieber Klaus«), danach wieder etwas distanzierter ("Lieber Klaus Mann«); zum Du kam es jedoch nie.[...]
SINN UND FORM 2/2011, S. 177-183
- 5/2011 | »Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren.« Gespräch mit Peter Kurzeck, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
»Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren«. Gespräch mit Peter Kurzeck
RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?
PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.
SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?
KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor »Übers Eis«, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: »Kein Frühling« zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und »Keiner stirbt« im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.
SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.
KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich »Kein Frühling« fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.
SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des »Oktober"-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.
KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.
SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim »Vermessen der Zeit« ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?
KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.
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SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633
- 5/2013 | Ein Exil, das kein Ende nahm. Über David Luschnat, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
EIN EXIL, DAS KEIN ENDE NAHM Über David Luschnat
Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, entschuldigen Sie diesen Brief (und bestätigen Sie mir bitte, daß Sie ihn erhalten haben). Es handelt sich um eine wichtige Sache, nämlich um einen Menschen. Der deutsche Schriftsteller David Luschnat, kein Kommunist, nicht einmal ein Jude, ein ganz harmloser Mann mit einigen seltsamen Ideen, ist aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat keinen ›Namen‹, kein Geld, er kann nicht einmal die Reise zur Grenze bezahlen. (…) Sie sind Schweizer, Journalist. Sie können Herrn Luschnat vielleicht beistehen. (…) Ich erröte bei dem Gedanken, daß ich ohnmächtig bin und auch bei dem, daß die Welt so böse, so vertrackt gemein ist. Herr David Luschnat hat nichts mehr getan, als Herr Thomas Mann: beide haben Deutschland verlassen. Beide sind Schriftsteller. Über ihren litterarischen Grad hat die Polizei nicht zu entscheiden. (…) Was ist das für eine Welt! Was ist das für ein Land, in dem so was möglich ist. Herr Luschnat hat keinen Nobelpreis! Deshalb wird er ausgewiesen! Spätestens am 4.XII. muß er das Land verlassen. Und er stirbt mit seiner Frau schon seit Hitler vor Hunger. (…) Er hat einen Rekurs gemacht, damit er bleiben kann, aber der wird abgewiesen, denn Herr Luschnat hat ja keinen ›Namen‹. Ich bin wütend, ich möchte Bomben schmeißen.« Doch auch Seelig, der Schriftsteller, Mäzen und Freund Robert Walsers, konnte die Ausweisung nicht verhindern.
Kennengelernt habe ich den damals Ausgewiesenen vier Jahrzehnte später, als ich über Gustav Regler zu arbeiten begann. Laut einer Notiz in der »Weltbühne « vom Januar 1933 plante die Berliner Ortsgruppe des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller (SDS) eine Anthologie zum Thema »Krieg«. Einige Beiträger waren genannt, darunter Regler. Weitere Manuskripte wurden erbeten an Herrn David Luschnat, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 37. Da die Anthologie nirgends nachweisbar war, wandte ich mich an den Herausgeber. An Regler könne er sich gut erinnern, schrieb er, wo die Beiträge für die Anthologie geblieben seien, wisse er aber nicht. Und er lud mich ein, ihn und seine Frau in Tourrettes-sur-Loup zu besuchen. Ich könnte in einem Cabanon auf ihrem Grundstück wohnen, auch einen großen Pool gebe es.
Nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz waren David Luschnat und Lotte, seine mehrere Jahre jüngere Frau, in dem bei Vence in den Meeralpen gelegenen Bergdorf untergekommen. Etwas außerhalb des Ortes lebten sie, bald mit Sohn und Tochter, in einem nur zehn Quadratmeter großen ehemaligen Stall, später immerhin auf eigenem Grund; das Geld für den Erwerb des steinigen, sonnenverbrannten Landes hatten ihnen in den vierziger Jahren amerikanische Quäker gespendet. Ihre Wohnsituation änderte sich erst Anfang der sechziger Jahre, als Lotte, die im Februar 1933 mit einem offenen Brief an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme ihre Stelle als Referendarin gekündigt hatte, von der Bundesrepublik eine Wiedergutmachung bekam: eine Pension, die dem entsprach, was sie nach Beendigung ihrer Laufbahn in der Position einer Studiendirektorin bekommen hätte. Damit bauten sie ein bescheidenes Häuschen, bestehend aus einem Schlafzimmer, in dem Lottes Bücher standen, einem Wohnraum, einem geräumigen Bad, einer Küche mit großem Gefrierschrank und Davids Arbeitszimmer mit Bibliothek, Manuskriptschrank und Schreibtisch.
Dem ersten Besuch 1975 folgten weitere, meist für mehrere Wochen, im Gepäck immer Dinge, die in Haushalt oder Garten gebraucht wurden. Ich führte kleinere Reparaturen aus, fällte einen krummen Baum und schnitt auf den oberen Terrassen des ein Hektar großen Geländes die Garigue zurück. Auf den unteren Terrassen bewirtschaftete Lotte ihren Garten, in dem sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang zu arbeiten begann. Danach drehte sie ihre Runden im Pool. Die beiden, seit Jahrzehnten Vegetarier, waren weitgehend Selbstversorger.
Er: klein, untersetzt, schlurfender Gang, lethargisch, melancholisch bis zum Fatalismus, tagsüber oft im abgewetzten Bademantel. Stundenlang in seiner Bibliothek vergraben. Das herunterhängende linke Augenlid schob er beim Lesen nach oben. Umständlich und abenteuerlich ungeschickt für jede handwerkliche Arbeit. Eines Abends bot er meiner Frau und mir auf Lottes Vorschlag hin das Du an. Alle vier Wochen telefonierte sie nach einem Taxi, das ihn zum Frisör brachte. Als er bei einer solchen Gelegenheit aus dem Dorf Marmelade mitzubringen wagte, brach ein Gewitter über ihn herein. Zwei Tage lang, bis das Glas leer war, gab es morgens, mittags und abends nichts anderes für ihn. Gleichwohl sagte er: »Ohne meine Frau wäre ich längst tot.«
Sie: schlank, groß und agil. Pfiffig, schlagfertig, unsentimental, zupackend, keck. Gelegentlich geradezu charmant. Typ Berliner Göre. Kurzes weißes Haar, hellblaue Augen, klarer Blick, das Gesicht voller Runzeln. Irritierend unprüde. Politisch bestens informiert, mit dezidierten Meinungen und bisweilen recht eigenwilligen Thesen über deutsche und französische Politiker oder den Nahostkonflikt. Ehe sie zu früher Stunde schlafen ging, löste sie das Kreuzworträtsel aus dem »Nice Matin«. Einmal hatte sie sich aus irgendeinem Grund über mich geärgert, deshalb gab es abends für mich nichts zu essen. Als sie wegen einer Archivrecherche über den Stauferkaiser Friedrich II. nach Italien reiste, richtete sie zu Hause für zwei Wochen alles her. Doch sie mußte bald zurück: David hatte sich, als er Scheite zu spalten versuchte, mit der Axt schwer verletzt. Dabei hatte sie ausreichend Brennholz zurückgelassen, doch er war der Meinung, es reiche vielleicht nicht. Mit einer Erziehungsfrage wandte sie sich einmal an Sigmund Freud in London, seinen Antwortbrief zeigte sie mir eines Abends. Auch sie schrieb, veröffentlicht ist kaum etwas. Ihre Autobiographie, an der sie gelegentlich arbeitete, trug – vielleicht mit einem Hauch von Selbstkritik – den Titel »Mit dem Kopf durch die Wand«. Sie stellte Horoskope, jedes Jahr orderte sie die Ephemeriden. Im Spätsommer reisten sie per Taxi nach Überlingen, um in der Buchinger-Klinik zu fasten, er drei Wochen, sie eine Woche länger.
Nachmittags trafen wir uns unter dem knorrigen Olivenbaum zum Gespräch. Einmal brachte ich ein Tonbandgerät mit, das Porträt Luschnats sendete der Saarländische Rundfunk am 14. Oktober 1978. Er erzählte aus seinem Leben: von der Geburtsstadt Insterburg, über die er eine Novelle schrieb. Vom Vater, einem Pfarrer, der eine freie Gemeinde gegründet hatte. Von der Mutter, die die Familie mit Nähen durchbrachte. Vom Gymnasium ("Marteranstalt«), von seiner Tätigkeit als Hilfsmonteur bei Siemens & Halske ("28 Pfennig die Stunde«). Am 3. Juli 1915 wurde er eingezogen, im September 1918 erlitt er eine Schußverletzung. Es sei zu gefährlich gewesen, die Kugel herauszuoperieren; später verkapselte sie sich, die rote Narbe am Hals blieb. Gelegenheitsarbeiten: Transportbegleiter, Frachtenkontrolleur, Korrekturleser, Seifenhändler, Aufkäufer leerer Ölfässer. »Aufkäufer leerer Ölfässer?« »Ja«, sagte er, »das war der Hunger.«
1918 wurde er Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, ab 1925 lebte er, »mehr schlecht als recht«, als freier Autor. In den folgenden drei Jahren erschienen drei schmale Hefte mit Lyrik: »Kristall der Ewigkeit«, »Die Sonette der Ewigkeit«, »Abenteuer um Gott«. Er selbst bezeichnete sich als religiösen Sozialisten und Pazifisten. Nachdrucke brachten u.a. die »Frankfurter Zeitung«, die »Sozialistischen Monatshefte« und die »Weltbühne«. Ein Band wurde im »Völkischen Beobachter« besprochen, den Beleg hatte er aufgehoben: Unverständnis, Spott, Verachtung. Die beiden 1927 erschienenen Sammlungen »Stimmen der Jüngsten« und »Anthologie jüngster Lyrik«, letztere mit einem Vorwort von Stefan Zweig und herausgegeben von Willi R. Fehse und Klaus Mann, enthalten Gedichte von ihm.
»Inzwischen begannen Militarismus, Antisemitismus und verwandte Strömungen immer weitere Volksschichten zu infizieren«, erzählte er. Auch den Schutzverband: »Der Hauptvorstand war gerne bereit, sich dem heraufdämmernden Hitler-Zeitalter irgendwie anzupassen.« Doch die große Mehrheit der Berliner Ortsgruppe, mit 900 Autoren ein Drittel aller SDS-Mitglieder, opponierte. Ab 1931 gehörte er neben Georg Lukács, Andor Gábor, Franz C. Weiskopf und Hermann Budzislawski deren Vorstand an. Wegen einer Kampagne zur Befreiung des wegen »literarischen Hochverrats« verhafteten Ludwig Renn und einer vom Hauptvorstand untersagten Goethe-Feier mit Erich Mühsam, Ernst Bloch und Lukács – beide hatte er mitorganisiert – warf man ihn aus dem Verband.
[…]
SINN UND FORM 5/2013, S. 707-714
- 4/2014 | »Die Spuren des Lebens der Armen
verschwinden«. Ein Gespräch mit Gert Heidenreich
über »Die andere Heimat«, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
»DIE SPUREN DES LEBENS DER ARMEN VERSCHWINDEN» Ein Gespräch mit Gert Heidenreich über »Die andere Heimat»
RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind auch der Koautor des Drehbuchs. Wie kam es zu dieser Kooperation?
GERT HEIDENREICH: Edgar Reitz hatte seit vielen Jahren die Idee, sich mit der Auswanderung aus dem Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend nach Brasilien, zu beschäftigen. Zum einen, weil auch Vorfahren von ihm ausgewandert waren, deren Nachkommen noch in Südamerika leben, zum anderen, weil sich Edgars verstorbener jüngerer Bruder Guido als eine Art linguistischer Privatgelehrter mit indigenen Sprachen beschäftigt hat. 2009 fragte Edgar Reitz mich, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm einen solchen Film zu erarbeiten und gemeinsam das Drehbuch zu schreiben. Wir kannten uns zwar schon ein bißchen, hatten aber noch nie etwas zusammen gemacht. Ich hatte noch nie ein Spielfilm-Drehbuch geschrieben, bloß einige Theaterstücke fürs Fernsehen bearbeitet, aber das ist ja etwas ganz anderes. Und er hatte wohl aufgrund meiner Romane, von denen er einige gelesen hatte, den Eindruck, mit mir könnte es gehen. Er braucht für die Fiktionalisierung eines Stoffs, eines Materials immer einen Partner, im Gespräch entwickelt er die besten Ideen. So kam es dazu, daß er mich fragte, und ich sagte erst einmal: »Ich habe keine Ahnung, ob ich das kann.« Aber ich wolle mir gern von ihm sagen lassen, wie er sich das denke, was er schon geplant und vorbereitet habe, und dann sind wir ein paar Tage im Hunsrück spazierengegangen. Während er dabei erzählte, was für Geschichten er sich ausgedacht hatte, merkte ich, daß auch bei mir sofort Bilder und Ideen für eine Handlung entstanden. Das ging dann so hin und her. Es war sehr merkwürdig, eine Art gemeinsames Phantasieren. Danach haben wir beide gesagt: Ja, wir versuchen es.
SCHOCK: Was stand zu Beginn der Zusammenarbeit fest? Was war vorgegeben? Der Schauplatz offenbar, der Hunsrück. Kannten Sie den? Edgar Reitz sagt, durch die Region sei es für ihn ein persönlicher Stoff. War er das auch für Sie?
HEIDENREICH: Er ist dort geboren, von dort geflohen und wieder dorthin zurückgekehrt. Für mich war das eine fremde Gegend. Ich bin zwar ab und zu durch den Hunsrück gefahren, aber mit seiner Geschichte, mit den Menschen, habe ich mich eigentlich nur mittels der Filme von Edgar Reitz beschäftigt, vor allen Dingen »Heimat 1« und »Heimat 3«. Die kannte ich sehr gut. In »Heimat 2« hat mein Stiefsohn Michael Seyfried eine größere Rolle gespielt. Diese Zyklen haben mich vor allem filmisch interessiert, weil der Autorenfilmer Reitz einen ungemein genauen psychologischen Zugriff auf die Figuren hat, und das fasziniert einen als Romancier. Vieles von dem, was er über den Hunsrück Mitte des 19. Jahrhunderts recherchiert hatte, mußte er mir erst mal vermitteln. Als wir anfingen, gab es ein Treatment, in dem schon die beiden Brüder vorkamen – ein Bodenständiger und ein Träumer, der unbedingt auswandern will und sich schon fast als Indianer fühlt –, aber es gab im Grunde noch keine Handlung. Dann haben wir uns erst einmal an die Recherchen gemacht – eine große Schwierigkeit, wenn es um arme Menschen geht. Der Reichtum bleibt, die Paläste des Adels stehen noch; es gibt eine Fülle von Dokumenten, ganze Adelsregister, mitunter sogar Biographien, so daß man sich das Leben der Reichen relativ leicht erschließen kann. Es ist auch leicht, Reichtum im Film zu zeigen: Sie brauchen nur ein Schloß, ein paar Kerzenständer, ein schönes Buffet, ein paar Kostüme und Musik, und schon haben Sie einen Ball. Die Spuren des Lebens der Armen verschwinden, ihre Welt muß von Grund auf rekonstruiert werden. Deshalb ist es teuer, Armut zu drehen, und billig, Reichtum zu drehen. Auch beim Recherchieren ist der Aufwand viel größer. Das war uns von Anfang an klar, aber wir haben großes Glück gehabt.
SCHOCK: In welcher Hinsicht?
HEIDENREICH: Um das zu erklären, muß ich kurz auf die historische Situation eingehen: Die angrenzende Pfalz, wo die Lebensumstände ganz ähnlich waren, kam nach dem Ende der napoleonischen Besetzung zu Bayern, während der Hunsrück preußisch wurde. Aber die Preußen kümmerten sich so gut wie gar nicht um die Gegend. Sie machten allerlei Auflagen und verhängten drakonische Strafen für den sogenannten Waldfrevel, also wenn die armen Leute Holz holten, aber kümmerten sich nicht um ihr Leben und ihre Lage. Der bayrische König Max dagegen wollte, aus welchen Gründen auch immer, genau wissen, wie es seinen Untertanen in der Pfalz ging, und stellte zu diesem Zweck sogenannte Kantonsärzte ein. Das waren Beamte des Münchner Hofs, die in verschiedenen Regionen oder Kantonen der Pfalz lebten und jedes Jahr einen umfangreichen Fragenkatalog durcharbeiten mußten. Über fast alles wurde Buch geführt, nicht nur über Geburten und Todesfälle, sondern auch darüber, wie die Menschen lebten, wie ihre Betten aussahen, wie viele Personen darin schliefen, welche Rolle Sexualität vor und in der Ehe spielte, wie es um die Wasserversorgung, um Heilkräuter und den Aberglauben bestellt war. All diese Informationen waren jährlich abzuliefern, wofür die Ärzte umfängliche Recherchen auf sich nehmen mußten. Für sie war das schlimmer als für uns heutzutage die Steuererklärung, doch für uns ist es ein Glück, denn ihre Berichte sind erhalten. Sie liegen im Landesarchiv in Ludwigshafen und sind wegen ihrer kalligraphischen Schrift gut lesbar. Hoch lebe König Max, der es uns ermöglicht hat, diese Verhältnisse, die man im wesentlichen auf den Hunsrück übertragen kann, so genau zu studieren! Das war wirklich eine große Erleichterung.
SCHOCK: Wurden diese Berichte von der Geschichtsforschung bisher gar nicht aufgearbeitet?
HEIDENREICH: Das schon, es sind ja auch zwei oder drei Bände transkribiert und mit Anmerkungen versehen worden, und man weiß sogar, wo die Kantonsärzte geschwindelt oder es sich leichtgemacht haben. Aber wir wollten die Quellen selbst konsultieren und haben, gerade im Hinblick auf Alltagssituationen oder den Aberglauben, auch sehr davon profitiert. Dann kam irgendwann der Punkt, an dem wir die Figuren gestalten mußten, Edgar Reitz nennt das die Fiktionalisierung des Materials. Da sagte er den für mich überraschenden Satz: »Denk jetzt mal nicht ans Drehbuch, sondern tu das, was du kannst, schreib eine Erzählung.«
SCHOCK: Wann war das ungefähr? Wie lange hatten Sie sich schon darüber unterhalten?
HEIDENREICH: Das war nach sechs, sieben Wochen Arbeit. In dieser Zeit haben wir natürlich auch schon über die Figuren phantasiert. Wie das beim Schreiben so geht, ergaben sich in der Erzählung neue Konstellationen zwischen den Figuren und den Geschichten. Bevor ich anfing, habe ich vor allen Dingen Namensrecherchen betrieben. In der Prosa wie auch im Film ist es ja ungeheuer wichtig, daß die Namen zu den Figuren passen. Heutzutage gibt es im Internet die wunderbare Möglichkeit, die Häufigkeit von Vor- und Nachnamen in einer Region zu einer bestimmten Zeit festzustellen. So konnte ich Namen finden, die damals im Hunsrück gebräuchlich waren, und brauchte nur ein bißchen Intuition, um die Vor- und Nachnamen zu verkoppeln. Auf diese Weise entsteht schon etwas von dem, was wir Authentizität nennen. Wenn eine Figur einen Namen trägt, bekommt sie ein Gesicht und wenig später auch ein Schicksal. Damit habe ich begonnen und dann in drei Monaten die ganze Erzählung geschrieben – es sind bloß 130 Seiten –, und das war der Stand der Dinge, als wir mit dem Drehbuch begannen. Edgar Reitz sagte zu Recht: »Jetzt sind wir im Bereich der Fiktion, jetzt müssen wir noch einmal bei Null anfangen, denn das Drehbuch zu schreiben ist etwas völlig anderes, als die Erzählung zu schreiben.« Ich kann auch gerne darlegen, warum das so ist: Ich schreibe meine Romane und Erzählungen so, wie es meist bei zeitgenössischer Prosa der Fall ist, nämlich mit Vor- und Rückblenden, Assoziationen und Erinnerungen. Meine Erzählung »Die andere Heimat« ist im Prinzip eine komplette Rückblende, ausgehend vom Tag des Abschieds der Auswanderer, der vom Vormittag bis zum Nachmittag geschildert wird. In dieser Spanne sind sämtliche Erinnerungen, Erlebnisse und Wandlungen der Figuren enthalten. Das wollte Edgar Reitz auf keinen Fall. Er wollte keine Rückblenden. Ich habe das zuerst nicht verstanden, weil es das ja auch im Film gibt – ich habe dreizehn Jahre als Filmkritiker gearbeitet und kenne mich ganz gut aus. Aber er meinte, Rückblenden seien ein intellektuelles Stilmittel, und wir hätten es hier mit einem archaischen Stoff zu tun, mit armen Menschen, die ums Überleben kämpfen. Archaische Geschichten werden, wie man an den großen Epen der Menschheit sehen kann, immer linear erzählt. Deswegen wollte er, daß auch der Film linear erzählt. In dieser Hinsicht war die Erzählung unverfilmbar. Wir brauchten also einen Punkt, wo die Geschichte beginnen konnte, und es war klar, daß die Hauptfigur Jacob, der Träumer, schon in der ersten Szene in einer typischen Situation auftreten mußte. Deshalb beginnt der Film damit, daß der Vater, ein Feind des Lesens, erst das Buch und dann den Sohn hinausschmeißt.
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SINN UND FORM, 4/2014 S. 470-479, hier S. 470-473
- 2/2015 | »Eine andere Wahrnehmung der Welt«.
Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
»EINE ANDERE WAHRNEHMUNG DER WELT« Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen.
JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel.
SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben?
WAGNER: Von 1994 bis 2003 haben wir elf Ausgaben gemacht. Der Titel »Die Außenseite des Elementes« ist im Grunde eine Art sprachliches Ready-made, nämlich der Aufkleber, mit dem Glaser die Außenseite einer Fensterscheibe bekleben, also die Wetterseite. In der DIN-A4-Pappschachtel befindet sich eine gedruckte Loseblatt-Sammlung mit Lyrik aus aller Welt, im Original und in Übersetzung, aber auch Prosa, Zeichnungen, Radierungen und so weiter. Durch den Verzicht auf Heftung und Seitennumerierung waren die Leser eingeladen, selbst die Reihenfolge zu bestimmen: das Lieblingsgedicht nach oben zu legen, vielleicht sogar eine Zeichnung, die sie besonders mochten, herauszunehmen, zu rahmen und an die Wand zu hängen. Mit anderen Worten: Es war eine nichthierarchische Publikation, bei der die Käufer in den Gestaltungsprozeß eingebunden werden sollten. Das Ganze zum Selbstkostenpreis und gewissermaßen als literarische Hommage an Marcel Duchamp und seine Schachtelkunst.
SCHOCK: Sie haben auch Arbeiten von Lyriker-Kollegen herausgegeben. Beachtung fanden zum Beispiel die 2003 erschienene Anthologie »Lyrik von Jetzt« und der einige Jahre später veröffentlichte Nachfolgeband.
WAGNER: Beide Bücher habe ich mit Björn Kuhligk herausgegeben. Es war der Versuch, die Lyrik unserer Generation zu sammeln. Wir wußten ja, wie aufregend das war, was in der deutschsprachigen Poesie geschah. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß der Reichtum an großartiger Lyrik seit Mitte der neunziger und erst recht in den letzten zehn Jahren seinesgleichen sucht, daß es vielleicht seit dem Frühexpressionismus keine solche Vielfalt individueller Stimmen mehr gegeben hat. Wenn man das selbst erlebt und sieht, wer in den Cafés und Kneipen liest, wer in den kleinen Zeitschriften, von denen es ja wimmelt, publiziert, hat man den Wunsch, es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die in der Regel gar nichts davon ahnt.
SCHOCK: Sie wurden 1971 in Hamburg geboren und haben dort und in Dublin und Berlin Anglistik studiert. Sind Sie in einem literarischen Elternhaus aufgewachsen?
WAGNER: Ich bin in einem Haus mit einer großen Bibliothek aufgewachsen, und meine Eltern haben mich schon in frühester Kindheit zum Lesen ermuntert. Zuerst waren das vor allem Romane, die Lyrik kam dazu, als ich vierzehn, fünfzehn war, und hat mich regelrecht zum Glühen gebracht. Emily Dickinson hat einmal geschrieben: »Wenn es sich anfühlt, als würde Deine Schädeldecke abgehoben, dann weißt Du, es ist Poesie.« Und das geschah mir zum Beispiel mit den Frühexpressionisten Georg Heym, Georg Trakl, besonders aber mit englischsprachigen Dichtern. Der erste, der mich so begeistert hat, daß ich dachte: So würde ich die Sprache auch gern beherrschen, als eine Magie zweiter Ordnung, war Dylan Thomas, der berühmte walisische Dichter, der auch eine wunderbare Stimme hat. Eine Freundin beschrieb sie einmal als »a rich old fruity portwine of voice«, als volle, fruchtige Portweinstimme, was es sehr gut trifft. Ich habe seine Stimme, seine Gedichte und auch sein Hörspiel »Unter dem Milchwald« gehört und war hin und weg.
SCHOCK: Sie sind mit Ihren Veröffentlichungen außerordentlich erfolgreich, sind Mitglied mehrerer Akademien, wahrscheinlich fast überall eines der jüngsten, Ihre Gedichte wurden in allen wichtigen Anthologien gedruckt, die Liste der Ehrungen und Preise bei Wikipedia ist beinahe länger als Ihr biographischer Eintrag. Können Sie als Lyriker auskömmlich leben?
WAGNER: Ich bin in jedem Fall beglückt und wurde reich beschenkt, gar keine Frage. Das ändert aber nichts an der Faustregel, daß man von Lyrik nicht leben kann. Niemand, der ein geregeltes Auskommen haben möchte, sollte darauf hoffen, das mit dem Schreiben von Gedichten erreichen zu können. Das ist, anders als bei Romanen, im Grunde unmöglich, und viele befreundete Dichterentscheiden sich deshalb ganz bewußt für einen Brotberuf. Sie sind zum Beispiel Buchhändler, arbeiten beim Rundfunk oder an einer Universität. Es ist möglich, als freier Lyriker zu leben, wenn man verschiedene Einkünfte hat, in meinem Fall etwa durch eigene Bücher, durch Lesungen in Buchhandlungen oder Literaturhäusern, durch Übersetzungen und Rezensionen. Doch selbst dann ist man darauf angewiesen, ab und zu ein Stipendium zu bekommen, das einem ein halbes Jahr oder länger Sicherheit und Unabhängigkeit schenkt.
SCHOCK: Haben Sie angesichts all der Ehrungen und Preise eine bestimmte Strategie, um nicht abzuheben, um auf dem Teppich zu bleiben?
WAGNER: Mein Teppich ist so gut verlegt, daß ich die gar nicht brauche, und es ist auch kein fliegender Teppich. Es mag banal klingen, aber für mich ist das Gedicht das Entscheidende. Ich bin erstaunt und beglückt, daß meine Texte so positiv aufgenommen werden, aber was mich wirklich glücklich macht, ist das Gelingen eines Gedichts. Ich glaube, so geht es allen, die Gedichte schreiben. Das liegt an der Wichtigkeit, die man der Sprache beimißt, dem Wunsch, all ihre widerstrebenden Elemente – das Musikalische, die Semantik, die Metaphern, die Paradoxien – auf engstem Raum zu vereinen, zum Klingen zu bringen und etwas zu schaffen, das dem Diktum von Emily Dickinson entspricht, das zu einer anderen Wahrnehmung der Welt führt, zu einer Explosion im Kopf. Der Wunsch, das zustande zu bringen, ist so groß, daß er das Hauptaugenmerk beansprucht.
SCHOCK: Diesen Anspruch haben Sie in dem wunderbaren Gedicht »giersch« exemplarisch eingelöst. Können Sie erzählen, wie so ein Text zustande kommt? Giersch ist ja eigentlich ein Unkraut. Manche Leute essen ihn auch als Gemüse. Haben Sie das mal probiert?
WAGNER: Nein, ich bin auch kein Gartenbesitzer, aber ich habe mir sagen lassen, daß er gut schmeckt. Man kann Suppe daraus machen, Salat, auch Quiche, was mir gut gefällt, weil Quiche und Giersch – als Giersch-Quiche – eine wunderbare Wortkombination ergibt. Jeder Gärtner liebt und haßt den Giersch, aber man kann unmöglich so viel davon essen, daß der Garten gierschfrei wird. Ich saß einmal als einziger Balkonbesitzer unter lauter Kleingärtnern, die sich über ihre Gierscherfahrungen austauschten und jammerten und stöhnten. Als Unbeteiligter konnte ich mich ganz auf das Wort Giersch konzentrieren, in dem wunderbarerweise schon die Gier enthalten ist, die ihn ausmacht. Ich ließ mich von dem Gespräch wegtreiben und begann über die Laute dieses Wortes nachzudenken. So kam es zu dem Gedicht. Wenn man es zum ersten Mal hört, wird man vielleicht nicht merken, daß es eine klassische Form bedient. Es ist ein Sonett, allerdings ein unterwandertes oder, wie es sich für den Giersch gehört, ein überwuchertes. Die Klangstruktur des Wortes sprengt mit ihrem sprachlichen Wurzelwerk die Form, bricht sie auf und überwuchert das ganze Gedicht.
SINN UND FORM 2/2015, S. 214-228, hier S. 214-216
- 5/2017 | Monsieur Schneider
- 2/2019 | »Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Wilhelm Genazino, S. 329 Leseprobe
Schock, Ralph
»Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Wilhelm Genazino
RALPH SCHOCK: Du hast für den Saarländischen Rundfunk deinen Roman »Bei Regen im Saal« eingelesen. Wie war die Wiederbegegnung mit dem Buch?
WILHELM GENAZINO: Im großen und ganzen hat es mir gut gefallen. Wenn ich es noch einmal schreiben müßte, würde ich den einen oder anderen Satz streichen, aber das ist normal. Um gewisse Aufdringlichkeiten zu bemerken, zum Beispiel überdeutliche Erläuterungen, die die Mitarbeit des Lesers überflüssig machen, braucht man eben Abstand.
SCHOCK: Gab es auch die eine oder andere Stelle, wo du denkst: Da hätte ich noch einen Satz ergänzen müssen?
GENAZINO: Natürlich, aber das gehört zu den Wonnen des Wiederlesens. Von einer kleinen Stelle aus ergibt sich plötzlich ein Panorama auf neue Texte, und ich notiere mir das auf einen Zettel, damit ich es nicht vergesse. Das kommt dann in den nächsten oder übernächsten Roman, falls es den noch gibt.
SCHOCK: Wie arbeitest du? Wie kommt ein Einfall oder eine Wahrnehmung in den Roman?
GENAZINO: Wenn ich ungefähr weiß, wohin es läuft, sehe ich Szenenfolgen und Kapitel vor mir. Und dann fange ich an, Material zu suchen, zum Beispiel auf den Zetteln, die ich bei mir habe, oder zu Hause auf anderen, die ich in einen sogenannten ewigen Werkstattbericht mit fortlaufender Nummer und fortlaufendem Code übertragen habe. Ich mache auch einen Index von den Zetteln und Inhalten. Wenn ich zum Beispiel im Roman eine Supermarkt- oder auch eine Urlaubssituation habe, kann ich nachschauen und finde dann tatsächlich eine Notiz, die ich vor zehn oder fünfzehn Jahren geschrieben habe.
SCHOCK: Es gibt berühmte Schriftsteller und Philosophen, die auf diese Weise gearbeitet haben, Arno Schmidt oder Hans Blumenberg zum Beispiel. Wie findest du im Index die Passagen? Wie tief ist der gegliedert? Wenn du zum Beispiel eine Frau beschreiben willst, kommt dann ein Unter-Index: Beine, Augen, Haare, und noch ein Unter-Index: blond, rot …?
GENAZINO: Der Index ist natürlich genauer chiffriert, und so erscheint nicht das Wort Frau, sondern zum Beispiel das Wort Nachmittagssex. Also gucke ich unter Nachmittag. Dann habe ich drei oder vier Eintragungen, die ich alle lese und von denen ich die eine oder andere verwenden kann. Aber die Aufzeichnungen haben noch einen anderen Vorteil, nämlich den, daß das Wiederlesen sofort neue Texte auslöst. Dann mache ich sozusagen neue Notate über einen alten Fall.
SCHOCK: Kriegt eine verwendete Notiz eine Anmerkung oder einen roten Punkt, wird sie weggeworfen oder durchgestrichen?
GENAZINO: Die kriegt einen Strich an der Seite und ein v., das bedeutet verwendet. Dann weiß ich sofort, ich muß etwas anderes suchen.
SCHOCK: Weißt du auch, in welches Werk sie eingeflossen ist?
GENAZINO: Nein, sie begegnet mir nur, wenn ich die Bücher wiederlese. Dann kommt mir alles bekannt vor, und trotzdem klingt es Gott sei Dank ganz neu.
SCHOCK: Notierst du auch Zitate aus Büchern?
GENAZINO: Ja, aber die werden mit Z. gekennzeichnet. Es sind in der Regel Lieblingszitate, die ich schon lange irgendwo einbauen will. Meistens erscheinen sie in Essays und werden auch als solche ausgewiesen. Essays schreibe ich fast genauso gern wie Romane, nur braucht man dafür erheblich mehr Zeit, wenn sie etwas taugen sollen. Häufig stellt man auch fest, daß ein Thema schon so gut behandelt wurde, wie beispielsweise das Thema Heimat durch Danilo Kiš, daß sich der Aufsatz erübrigt.
SCHOCK: Ich bilde mir ein, daß man deine Romane fortlaufend lesen könnte und kaum merken würde, daß man schon im nächsten ist. Ist die Art und Weise, wie du Romane konzipierst, die Ursache dafür, daß sie wie Abschnitte eines einzigen großen Textes wirken?
GENAZINO: Ich kann den Eindruck nachvollziehen, merke aber schon, wo ein Roman zu seinem Ende findet und wo ein anderer anfängt. Was wiederkehrt, ist eine gewisse Grundstabilität, oder besser gesagt, Grundinstabilität der Hauptfigur. Von Unbehaustheit war in den sechziger und siebziger Jahren oft die Rede.
SCHOCK: Dein neuer instabiler Held heißt Reinhard und ist ein Modernisierungsverweigerer, er hat keinen Computer, keinen Laptop, kein Handy, nur eine Schreibmaschine. Wenn man dich ein bißchen kennt, erkennt man eine gewisse Ähnlichkeit.
GENAZINO: Es steckt tatsächlich ziemlich viel von mir in Reinhard, und das habe ich natürlich auch gemerkt, aber es war mir mit einer seltsam gewachsenen Souveränität egal. Früher hätte mich das gestört, auch weil ich mich meiner Herkunft schämte. Früher wollte ich die noch verheimlichen.
SCHOCK: Die Scham oder die Herkunft?
GENAZINO: Die sind oft identisch. Die Herkunft ist der Grund für die Scham. Inzwischen weiß ich, daß es bei vielen Schriftstellern, die ich schätze, genauso war und für jemanden, der mit einer gewissen Erdverbundenheit lebt und schreibt, auch völlig normal ist. Niemand erwartet, daß der Autor ausgerechnet über die Urgründe hinwegspringen will, das wäre albern und töricht. Zum Glück ist mit der Jugend auch die Scham verschwunden.
SCHOCK: Deine Protagonisten sind, soweit ich mich erinnern kann, alle um die vierzig, auch im neuen Roman. Warum läßt du sie nicht mit dir altern?
GENAZINO: Da habe ich noch eine gewisse Hemmung, weil ich das reale Alter ganz gut kenne, auch weil in der Straße, wo ich wohne, zwei Altersheime sind. In »Bei Regen im Saal« wird beschrieben, wie die Bewohner eines Altersheims nachmittags ausfahren und in ihren Rollstühlen mit einer Hebebühne auf ein Fahrzeug gehoben werden. Dieser kleine Vorstoß ist mir zum Glück, glaube ich, ohne Peinlichkeit gelungen. Daß das Altwerden einen solchen technischen Aufwand auch der Helfer nach sich zieht, überfordert mich, und ich habe noch nicht die Kurve gekriegt, eine reale Demenz mit allem, was das heißt, zu beschreiben. Die Kühnheit, so etwas Unbeschreibliches zu riskieren, fehlt mir. Vielleicht kommt sie noch, das muß man abwarten. Aber es kann ja auch passieren, daß ich selber dement werde, und dann hat sich die Sache auf diesem Umweg erledigt. Über beide Möglichkeiten denke ich häufig nach. Ich glaube aber nicht, daß ich darunter leiden werde, wenn ich keinen Demenz-Roman schreibe.
SCHOCK: Und wie wäre es, von jetzt aus betrachtet, für dich, wenn du dement würdest und keine Bücher mehr zu schreiben bräuchtest?
GENAZINO: Ich glaube, ich könnte es hinnehmen, ich habe ja genug geschrieben. Schwieriger wäre es, dauernd Hilfe zu brauchen. Man kann ja als schwer dementer Mensch nicht mal allein auf die Toilette gehen. Wenn man Glück hat, findet man eine Person, deren körperliche Nähe einen nicht bedrückt. Aber wenn man Pech hat, ist einem der Helfer unsympathisch, und man kann es nicht sagen, weil er ja ein Helfer ist. Davor habe ich Angst.
SCHOCK: Dein Reinhard hat wie viele andere deiner Protagonisten einen seltsamen Job, er ist Überwinder. Was muß man sich darunter vorstellen?
GENAZINO: Das ist ein Therapeut ohne Ausbildung oder einfach nur ein Helfer. Also genau das, worüber wir eben gesprochen haben. Er vertreibt Leuten die Langeweile oder die Einfallslosigkeit, die ja auch dramatisch sein können. Jemand, der sich langweilt – ein uraltes Thema, das mich schon lange fasziniert. Aber dieser Zustand wird von der Gesellschaft als normal angesehen, es gibt keine Langweile-Therapeuten. Wahrscheinlich mit gutem Grund, weil sonst herauskäme, daß sich drei Viertel der Bevölkerung langweilen und man leider zu der Minderheit gehört, die damit nicht fertig wird. Das ist schwierig, und deswegen nennt er sich Überwinder. Er hilft den Leuten sozusagen, die Normalität zu überwinden, die ihr unbegriffenes Problem ist.
SCHOCK: Ist Langeweile eigentlich ein schöpferischer oder ein lähmender Zustand?
GENAZINO: Sehr gute Frage. Manchmal das eine und dann wieder das andere. Langeweile ist transformativ, das heißt, es kann als eine echte Langeweile anfangen, man glotzt gegen die Wand und weiß nicht, was man machen soll. Und plötzlich formt sich daraus ein Keim, ergibt sich ein Anhaltspunkt für den Ausstieg aus der Langeweile. Wenn ich guter Laune bin, versteige ich mich manchmal zu der Aussage, es gebe gar keine Langeweile: Man muß nur den Mut haben, auf ihr Verschwinden zu warten, und den haben die Leute natürlich nicht. Wie oft hört man ein Kind sagen: »Mama, mir ist langweilig«. Ein Kind hat das Recht, so etwas Alarmierendes zu sagen in der Hoffnung, daß die Mama weiß, was es jetzt machen soll, und meistens weiß sie es ja auch. Aber von einem Erwachsenen erwartet man, daß er die Transformation abwarten kann, und wenn er ein bißchen Erfahrung mit sich selber hat, wird er zugeben, daß sie zu den merkwürdigsten Ergebnissen führen kann. Und die sind interessant und nicht mehr langweilig.
[…]
SINN UND FORM 2/2019, S. 161-167, hier S. 161-164
- 4/2020 | Die Abkürzung. Eine jugoslawische Erzählung
- 2/2023 | Vierhundertfünfundsechzig
Schöfer, Erasmus
- 4/1984 | Katina - Ein Abschied in die Zukunft
Scholem, Gershom
- 4/2007 | Im Gespräch über Walter Benjamin (1968)
- 3/2009 | Ernst Jünger und Gershom Scholem. Briefwechsel 1975-1981
Schöller, Wilfried F.
- 1/2009 | Das Erbe der Spaltung - Sechs Jahrzehnte P.E.N. in Deutschland
Scholochow, Michail
Scholze, Dietrich
- 1/1982 | Des Roggenvolks unschuldige Mundart. Tadeusz Nowak: »Und wenn du König und wenn du Henker bist«, Roman, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1980
- 3/1989 | Empörung gegen die Allmacht der Form
- 6/2006 | Der sorbische Dichter Jurij Brezan (1916-2006)
Schönberg, Arnold
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Drei Briefe an Hanns Eisler
Schönemann, Horst
- 2/1989 | Gespräch mit Ludwig Martienssen
Schönlau, Rolf
- 2/2021 | Was ist was?
Schorlemmer, Friedrich
- 5/1990 | Gespräch mit Daniil Granin
- 4/2008 | Gespräch mit Daniil Granin und Franziska Thun-Hohenstein, S. 482 Leseprobe
Schorlemmer, Friedrich
(…)
DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben anfing, habe ich mich kaum mit dem Krieg befaßt, das war noch zu schwer für mich. Aber dieses Rätsel ließ mir keine Ruhe. Ich suchte eine Antwort in der Kriegsliteratur, aber es gab keine. Doch jetzt, nach über sechzig Jahren, gibt es doch Antworten von Historikern. General von Leeb befehligte die deutschen Truppen vor Leningrad. Ich habe mich mit seinem Sohn getroffen, der die Tagebücher seines Vaters veröffentlicht hat, und ich habe die Tagebücher anderer Heerführer gelesen. Danach beschloß das Oberkommando Ende August, Leningrad nicht einzunehmen. Die Generäle sahen nicht ein, warum sie diese Stadt überhaupt erobern sollten. Denn was sollten sie damit anfangen? Und da entschied man, sie soll verhungern. Wir in den Schützengräben waren entschlossen, Leningrad zu verteidigen. Und die deutschen Soldaten glaubten lange, die Einnahme der Stadt sei bloß eine Frage der Zeit. Aber dann wurde die deutsche Panzereinheit in Richtung Moskau umgelenkt. Und auch in bezug auf Moskau fragte man sich: Und was machen wir, wenn Moskau erobert ist? Napoleon stand 1812 vor derselben Frage. Rußland ergab sich nicht, und Kutusows Armee war einfach abgezogen. In solchen Momenten zeigt sich die Absurdität des Krieges, die Absurdität des Ziels. Es hat sich der Mythos herausgebildet, Leningrad sei durch die heldenhafte Verteidigung gerettet worden. Die Heldenhaftigkeit, das Heldentum bestanden vermutlich in etwas ganz anderem, nämlich darin, daß Rußland, die Sowjetunion, nicht kapituliert hat. Selbst dann nicht, als die Deutschen vor Moskau standen. Als Schriftsteller interessiert mich gerade diese, die psychologische Dimension.Was war im Oberkommando oder bei Hitler eigentlich los? Der Plan Barbarossa sah doch vor, daß nach dem schnellen Vormarsch der Wehrmacht die Kapitulation erfolgte. Ja, die Deutschen hatten schwere Verluste, und es stimmt, daß der Oberkommandierende davon träumte, Leningrad einzunehmen, und daß die Panzertruppe von Manstein und auch General von Leebs eine Woche wartete, ehe sie die Panzerarmee nach Moskau umleitete. Es gibt die Vermutung, er habe darauf gewartet, daß einer der Generäle aus eigener Initiative versuchen würde, die Stadt zu besetzen, aber das ist die Mentalität der deutschen Militärs, daß sie nicht eigenmächtig handeln, sondern Befehle befolgen. Unsere wären natürlich durchgebrochen. Vor solch einer Stadt stehen und sie nicht einnehmen, das geht nicht. Aber solche Eigenmächtigkeiten gab es bei den Deutschen nicht. Unsere Historiker wundern sich über das, was bei der Blockade passierte. Vielleicht muß man die Geschichte umschreiben, das ist nicht weiter schlimm, das muß man ja eigentlich immer. Wir, die wir die Stadt verteidigten, wußten nicht, was dahintersteckte. Daß das grausame Vorhaben, die Stadt auszuhungern, zum Konzept der deutschen Heeresführung gehörte, wußten wir natürlich nicht. Der Krieg wurde begonnen, aber er war nur bis zur Hälfte geplant. Noch heute gibt es viele weiße Flecken, viel Unverständliches. Und das ist das Brot des Schriftstellers. Wo die Dokumente enden, fängt die Literatur an.
(…)
SINN UND FORM 4/2008, S. 482-490, hier S. 483-484
Schöttker, Detlev
- 5/1998 | Reduktion und Innovation. Die Forderung nach Einfachheit
- 2/2001 | Kampf um Ruhm. Zur Unsterblichkeit des Autorsubjekts
- 3/2009 | »Vielleicht kommen wir ohne Wunder nicht aus.« Zum Briefwechsel Jünger-Scholem, S. 303 Leseprobe
Schöttker, Detlev
Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershom Scholem
Bald nach dem Tod von Gershom Scholem im Februar 1983 in Jerusalem bat Jacob Katz im Auftrag des Leo Baeck Instituts ehemalige Korrespondenzpartner, darunter auch Ernst Jünger, um die Übersendung von Briefen. Auf dem Schreiben notierte dieser neben dem Kürzel EJ und einem Erledigungszeichen: „30.V.83 mit Kopie von fünf Briefen«. Dies waren, abgesehen von einer kurzen Danksagung, alle Schreiben, die sich in Jüngers Besitz befanden. Er selbst hat vier Briefe an Scholem geschickt, die als Durchschriften in seinem Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach vorhanden sind. Hinzu kommt eine Postkarte, die die Korrespondenz einleitete und heute im Scholem-Archiv der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem liegt. Alle elf Schreiben werden hier erstmals veröffentlicht. Sie haben zwei Schwerpunkte, die für beide Briefpartner von großer Bedeutung waren: Es geht erstens um Scholems Bruder Werner, der mit Jünger zur Schule ging und 1940 als KPD-Mitglied im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde, und zweitens um Walter Benjamin, Scholems lebenslangen Freund und Briefpartner, dessen Schriften Jünger ebenfalls kannte.
Schon der erste Kontakt zeigt, daß beide gut über einander informiert waren. In seinem Antwortschreiben betont Scholem, daß er zwei Bücher Jüngers gelesen habe und nun „bewegt« sei, dessen Handschrift zu sehen. Daß er ihm Wünsche zum 80. Geburtstag übermittelt, dürfte zu der ausführlichen und beinahe heiteren Antwort Jüngers beigetragen haben, die wenig später folgte. Auch der weitere Austausch zeugt von Auskunftsfreude und gegenseitigem Respekt. Welche Bücher Jüngers Scholem gelesen hatte, ist unklar. Doch dürfte er mit einigen Werken spätestens seit Ende der zwanziger Jahre vertraut gewesen sein. So veröffentlichte Benjamin 1930 unter dem Titel „Theorien des deutschen Faschismus« eine umfangreiche Besprechung des von Jünger herausgegebenen Sammelbandes „Krieg und Krieger«, die er Scholem - wie alle anderen Arbeiten auch - nach Jerusalem schickte, wo dieser sie archivierte.
Vermutlich kannte Scholem auch Hannah Arendts „Report from Germany«, der 1950 in der Zeitschrift „Commentary« erschienen war und einen Abschnitt über Jünger enthält. Bis zu ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem« (engl. 1963, dt. 1964) gehörte Arendt zu Scholems engsten Vertrauten. Danach brach er den Kontakt ab, weil er die These über die Mitwirkung der Judenräte am Holocaust nicht akzeptierte. In ihrem Bericht beschreibt sie die erste Reise durch ihr Heimatland nach dem Krieg, die sie im Auftrag der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction von August 1949 bis März 1950 gemacht hatte, und zeichnet ein anderes Bild von Jünger als die politische Publizistik in Deutschland. Zu den 1949 erschienenen „Strahlungen« heißt es: „Ernst Jüngers Kriegstagebücher liefern vielleicht den besten und ehrlichsten Beweis für die Schwierigkeiten, denen das Individuum ausgesetzt ist, wenn es seine moralischen Wertvorstellungen und seinen Wahrheitsbegriff ungebrochen in einer Welt erhalten möchte, in der Wahrheit und Moral jeglichen erkennbaren Ausdruck verloren haben. Trotz des unleugbaren Einflusses, den Jüngers frühere Arbeiten auf bestimmte Mitglieder der nazistischen Intelligenz ausübten, war er vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein aktiver Nazigegner und bewies damit, daß der etwas altmodische Ehrbegriff, der einst im preußischen Offizierskorps geläufig war, für individuellen Widerstand völlig ausreichte« (Besuch in Deutschland, 1993).
Ob Scholem über jene Konstellation informiert war, die Hans Magnus Enzensberger in seinem „Hammerstein oder der Eigensinn« (2008) bekanntgemacht hat, ist unklar beziehungsweise unwahrscheinlich. Demnach war sein Bruder Werner mit einer Tochter von Kurt von Hammerstein, dem Chef der deutschen Reichswehr, befreundet. Am 3. Februar 1933 nahm Hammerstein in seiner Dienstwohnung an einer Besprechung teil, bei der Hitler erstmals über seine Kriegspläne sprach, was wenig später Stalin auf geheimen Wegen mitgeteilt wurde. Zwar dürfte Werner Scholem für die Übermittelung der Information nicht verantwortlich gewesen sein, wie Enzensberger nahelegt, doch gehörte er zu einem Milieu, in dem Konservative, Nationalsozialisten und Widerstandskämpfer in Verbindung standen. Daß er Deutschland nicht rechtzeitig verlassen hatte, wie Jünger verwundert registrierte, hängt möglicherweise mit seiner vorgesehenen oder tatsächlichen Spionagetätigkeit für die KPD zusammen. In seinem Totengespräch mit Werner Scholem läßt Enzensberger diese Frage offen.
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SINN UND FORM 3/2009, S. 303-304 - 4/2010 | Dolf Sternberger und Walter Benjamin. Ein Photographie-Aufsatz und seine Folgen, S. 303 Leseprobe
Schöttker, Detlev
Dolf Sternberger und Walter Benjamin Ein Photographie-Aufsatz und seine Folgen
Für Rolf H. Krauss
1938, vier Jahre, nachdem er in die Redaktion der »Frankfurter Zeitung« eingetreten war, veröffentlichte Dolf Sternberger sein Buch »Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert«. Walter Benjamin verfaßte eine aggressive Rezension, die er in der »Zeitschrift für Sozialforschung« veröffentlichen wollte. Doch wurde sie hier nicht gedruckt, sondern erschien erst 1972 aus dem Nachlaß im dritten Band der »Gesammelten Schriften«. Die Lektüre machte Sternberger betroffen, wie das Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe seines Buches von 1974 zeigt. Dennoch hielt er auch hier an seinem ursprünglichen, fast vierzig Jahre zurückliegenden Bekenntnis fest: Benjamin sei sein Vorbild.
Das Motiv für die Attacke suchte Sternberger in Benjamins Buchprojekt über die Vorgeschichte der Moderne im 19. Jahrhundert, das unter der Bezeichnung »Passagen-Werk« bekannt geworden ist. Die Konkurrenzhaltung – Benjamin sprach von einem Plagiat – war allerdings nicht der einzige Grund für seinen Angriff. Vielmehr zeigen die hier erstmals abgedruckten Briefe von Peter Suhrkamp, Dolf Sternberger, Rudolf Geck und Ernst Bloch, daß es weitere und vermutlich sogar wichtigere Motive gab. Es handelt sich zum einen um Sternbergers Photographie-Aufsatz, der im Herbst 1934 erschien, zum anderen um eine Absage der »Frankfurter Zeitung« an Benjamin vom Sommer 1935, in die Sternberger als Redaktionsmitglied einbezogen war.
IAls Sternberger Benjamin am 22.August 1934 nach Paris schrieb, berichtete er von einem Buch zum Phänomen der Sozialversicherung, das er noch im selben Jahr veröffentlichen wollte. Obwohl das Manuskript weitgehend abgeschlossen war, ist das Buch nicht erschienen. Über die Gründe wurde nichts bekannt. Daß er zugleich an einem umfangreichen Aufsatz über Photographie arbeitete, der knapp zwei Monate später in der »Neuen Rundschau« gedruckt wurde, erwähnte Sternberger dagegen nicht. Benjamin hörte davon eher zufällig durch Peter Suhrkamp. Anlaß war Benjamins Bitte an den S.Fischer Verlag, ihm die gerade erschienene Ausgabe von Hofmannsthals »Gesammelten Werken« für eine Rezension in der »Frankfurter Zeitung« zu übersenden. Dieser Brief ist zwar nicht erhalten, doch geht der Inhalt aus Suhrkamps Antwort und einem weiteren Brief Benjamins an Gershom Scholem vom 15. September 1934 hervor. Suhrkamps Schreiben erklärt sich aus seiner Stellung im S. Fischer Verlag: 1932 wurde er Redakteur der hauseigenen »Neuen Rundschau«, ein Jahr später auch Vorstandsmitglied. Benjamin war darüber möglicherweise durch Brecht informiert, der seit Anfang der zwanziger Jahre mit Suhrkamp befreundet war. Es ist deshalb kein Zufall, daß Benjamin seine Anfrage aus Skovbostrand bei Svendborg schickte, wo er seit Sommer 1934 in der Nähe Brechts lebte, nachdem er im März 1933 von Berlin über Ibiza nach Paris geflohen war. In der »Frankfurter Zeitung« konnte er bis März 1935 noch Rezensionen und literarische Texte anonym oder unter Pseudonym veröffentlichen; die »Literarische Welt«, in der er früher auch über Hofmannsthal geschrieben hatte, war dagegen 1933 eingestellt worden.
Sternberger kannte Suhrkamps Brief an Benjamin. Ob dies schon zum Zeitpunkt seiner Abfassung der Fall war, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Fünfzig Jahre später aber erhielt er eine Kopie von Siegfried Unseld, der 1975 über seinen Vorgänger die »Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern« veröffentlicht hatte, so daß er über viele Details informiert war. Dennoch äußerte er sich in einem Begleitbrief vom 21. Februar 1984 verwundert über das Schreiben, das ihm möglicherweise erst bei der Vorbereitung zur Neuauflage der Biographie in die Hände gefallen war (sie erschien 1991). Unseld schreibt: »Lieber Dolf, als Anlage schicke ich Ihnen die Kopie eines Briefes von Peter Suhrkamp an Walter Benjamin. Ein Kuriosum; niemand wußte, daß Suhrkamp und Benjamin in Verbindung standen. Er hat mir das selber nie erzählt. Und das zweite Kuriosum: der Photographie-Aufsatz, ›den wir noch miteinander anfingen‹, ist zwar im Oktober 1934 veröffentlicht worden, aber der Autor heißt nicht Walter Benjamin, sondern Dolf Sternberger. Ich nehme an, Suhrkamp hat einmal mit Benjamin ein solches Projekt besprochen, ausgeführt aber haben Sie es. Ich freue mich, mit Ihnen darüber zu sprechen.«
Ob Unseld mit Sternberger über den Vorgang gesprochen hat, läßt sich ihrem Briefwechsel nicht entnehmen. Die drei involvierten Autoren aber kannten sich seit Beginn der dreißiger Jahre gut. Während Suhrkamp mit Sternberger seit 1932 über dessen Beiträge für die »Neue Rundschau« korrespondierte, lernte er Benjamin Anfang 1930 durch Brecht kennen. Suhrkamps Name taucht in einer Liste möglicher Mitarbeiter der Zeitschrift »Krise und Kritik« auf, die Benjamin und Brecht im Rowohlt Verlag herausgeben wollten (vgl.Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht, 2004, S. 298). In einem Radioessay zum Band »Deutsche Berufskunde«, der im Dezember 1930 im Südwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde, wies Benjamin zuvor nachdrücklich auf Suhrkamps Beitrag über Journalismus hin. Die nähere Bekanntschaft aber bezeugt nur der hier abgedruckte Brief vom September 1934. Benjamin und Sternberger wiederum hatten sich 1932 in Frankfurt bei Ernst Schoen, dem künstlerischen Programmleiter des Südwestdeutschen Rundfunks, kennengelernt. Nachdem Sternberger 1934 seine gerade erschienene Dissertation »Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie« an Benjamin nach Paris geschickt hatte, korrespondierten beide miteinander. Am 10. Januar 1934 bedankte sich Benjamin für das Buch. Seine Äußerung »Später einmal hören Sie Ausführlicheres« hat Sternberger offenbar als Ankündigung einer Rezension aufgefaßt und mehrfach nachgefragt. Am 22. August 1934 teilte er Benjamin seine Anstellung bei der »Frankfurter Zeitung« mit und erwähnte zwei Beiträge: den Artikel »Stefan Georges Ruhm« sowie den Aufsatz »Jugendstil. Begriff und Physiognomik«, der im September-Heft der »Neuen Rundschau« erscheinen werde und Benjamin »in vielem sehr verpflichtet« sei.
Benjamin antwortete am 4. September 1934, daß er Sternbergers Arbeiten »gern« lese. Der Photographie-Aufsatz allerdings wird von beiden auch in weiteren Briefen mit keinem Wort erwähnt. In einem Schreiben vom 29. Juli 1935, also über zehn Monate später, vertröstete Benjamin seinen Korrespondenzpartner schließlich wegen der Rezension des Heidegger-Buchs und erbat eine Zusammenfassung sowie die Nennung der wichtigsten Abschnitte. Zwar bekam er die gewünschten Angaben in einem Brief vom 12. August 1935, machte die Besprechung in einem weiteren Schreiben vom 1. September aber von der Publikation des Textes in der »Frankfurter Zeitung« mit entsprechender Honorierung abhängig. Er bat Sternberger deshalb, mit Rudolf Geck, dem Leiter der Feuilleton-Redaktion, zu sprechen, der ihm zuvor am 2.August mitgeteilt hatte, daß die Zeitung Beiträge aus dem Ausland nicht mehr in allen Fällen bezahlen könne. Den Brief legte Benjamin seinem Schreiben an Sternberger bei, so daß er sich als Original in dessen Nachlaß befindet.
Die Mitteilung Gecks hat Benjamin aus zwei Gründen getroffen: zum einen gefährdete sie ein Buchprojekt mit kurzen Prosatexten in der Nachfolge der 1928 erschienenen »Einbahnstraße«, von dem bereits einige Stücke in der »Frankfurter Zeitung« publiziert worden waren; zum anderen ging ihm dadurch eine weitere Publikationsmöglichkeit und Einkommensquelle verloren, so daß sich die ohnehin prekäre Lage im Pariser Exil weiter zu verschärfen drohte. Zwar hat Sternberger nach eigener Aussage mit Geck über die Honorierungsfrage gesprochen, wie er Benjamin am 5. September 1935 mitteilte, zugleich aber deutlich gemacht, daß es sich bei der Besprechung um eine Ausnahme handele. »Selbstverständlich«, so Sternberger, »würde ich es völlig verstehen, wenn Sie unter diesen Umständen die Sache lieber wieder zurückgeben würden.«
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SINN UND FORM 4/2010, S. 437-444
- 4/2011 | Gespräch mit Klaus Demus und Anja S. Hübner über Paul Celan
- 4/2011 | »Gefährlich leben!« Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger, S. 303 Leseprobe
Schöttker, Detlev
»Gefährlich Leben!« Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger
Seit ihrer ersten Begegnung in Paris 1941 stand die Korrespondenz zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger im Zeichen von Einvernehmen und Verschwiegenheit. Einvernehmen herrschte darüber, intellektuell unabhängig zu bleiben, obwohl beide in Institutionen tätig waren, die von den Nationalsozialisten kontrolliert wurden. Verschwiegenheit war Voraussetzung, um die verbleibenden Spielräume, ob in Wehrmacht oder Presse, nutzen zu können. Während der 45jährige Jünger seit Erscheinen seines Romans »Auf den Marmorklippen« im Jahr 1939 über seine Verehrer in soldatischen Kreisen hinaus auch eine Leserschaft gefunden hatte, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand, versuchte der zwölf Jahre jüngere Sternberger als Redakteur der »Frankfurter Zeitung«, bürgerliche Tugenden im Feuilleton zu bewahren. Zugleich hielt er Kontakt zu Vertretern der jüdischen und linken Intelligenz wie Hannah Arendt und Walter Benjamin, die 1933 emigriert waren und im Juni 1940, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich, aus Paris fliehen mußten.
Über die äußeren Bedingungen ihrer Tätigkeit verlieren die Briefpartner kein Wort, so daß ihre Korrespondenz auf den ersten Blick nur Unverfängliches enthält. Schaut man genauer hin, erweist sie sich geradezu als Paradebeispiel für die Möglichkeiten und Grenzen, unter den Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft abweichende Auffassungen mitzuteilen. »Gärten und Straßen«, Jüngers Tagebuch der Jahre 1939 und 1940, das mit einer Notiz über die Arbeit an den »Marmorklippen« beginnt, war die Basis der Verständigung, der Roman selbst, in dem Jünger durch allegorische Darstellung unterschwellig Kritik an der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft übte, der Bezugspunkt. Sternberger hat diese, von Jünger selbst heruntergespielte Deutung 1980 zur These eines Essays gemacht und dabei den lange unterbrochenen Kontakt wieder intensiviert.
I
Kennengelernt hatten sich beide im Oktober 1941 im Pariser Hotel »George V«. Dorthin lud Hans Speidel, von 1940 bis 1942 Chef des Generalstabs beim Militärbefehlshaber in Frankreich, regelmäßig Offiziere und Gäste zum Abendessen ein. Jünger war als Vertrauter Speidels ständiger Teilnehmer der sogenannten »Georgsrunde«, zu der auch Sternberger gebeten wurde. Anlaß war dessen Vortrag »Das glückliche und das gefährliche Leben« im Deutschen Institut in Paris. Der Text erschien im Dezember 1941 in zwei Teilen in der »Frankfurter Zeitung« und gehört zu jenen Essays, die Sternberger neben seinen tagesjournalistischen Beiträgen seit Ende der zwanziger Jahre in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte. Die meisten wurden später in überarbeiteter Form in verschiedene Auswahlbände sowie in die zwölfbändige Ausgabe seiner »Schriften« (1977–96) aufgenommen.
Über die näheren Umstände des Vortrags berichtete Sternberger 1988 aus Anlaß des Wiederabdrucks im neunten Band der »Schriften«. Demnach reiste er, da er – auch wegen seiner jüdischen Ehefrau – über keinen Paß verfügte, auf Einladung des Pariser Korrespondenten der »Frankfurter Zeitung« mit einem zeitlich begrenzten Militärausweis in die französische Hauptstadt. Das Deutsche Institut, das den Vortrag organisierte, hatte offiziell die Aufgabe, Kulturpropaganda zu betreiben, doch entzog sich Sternberger dieser Erwartung. Vielmehr verglich er die französische Glücksauffassung mit dem heroischen Lebensideal der Deutschen, ohne eine Wertung vorzunehmen. Aber auch dieser Vergleich bildete nur den Rahmen für Überlegungen zu einer Existenzform, für die er den Begriff des »tragischen Helden« verwendete. Es ging allerdings nicht um darstellende Kunst, sondern um das politische Verhalten eines bestimmten Typus, zu dem Sternberger mit Bezug auf Nietzsches »Fröhliche Wissenschaft« schreibt: »Darum sucht er die Gefahr auf. Darum heißt die berühmte Parole, von der Nietzsche sagt, sie sei das Geheimnis, die größte Fruchtbarkeit vom Dasein einzuernten: ›Gefährlich leben!‹ Vivere pericolosamente – so ist es ja die Parole des Faschismus geworden. Dieses Wort kann in der Tat als Motto jenes modernen tragischen Heroismus, dieses absoluten Heroismus gelten, dessen Kronzeuge Friedrich Nietzsche ist« (Schriften IX, S. 87f.).
Es ist anzunehmen, daß Sternberger frühere Arbeiten Jüngers kannte, in denen er Überlegungen zum Leben in der Gefahr entwickelt hatte. So heißt es in »Der Kampf als inneres Erlebnis« von 1922: »Mut zu besitzen, das heißt: jedem Schicksal gewachsen zu sein.« Vermutlich aber orientierte sich Sternberger in erster Linie an der Haltung der beiden Romanhelden in den »Marmorklippen«, einem Brüderpaar, das Ähnlichkeiten mit dem Autor und seinem Bruder Friedrich Georg aufweist. Wie diese setzten auch die Protagonisten des Romans ihre gemeinsame Arbeit als Natur- und Sprachforscher fort, als die Anhänger des »Oberförsters« das Land durch »Übergriffe und Gewalttätigkeiten« in Angst und Schrecken versetzten.
Das Brüderpaar des Romans erkundet zudem unter Lebensgefahr ein Haus, in dem ein einzelnes »Männlein« sein mörderisches Unwesen treibt. Die Schilderung der sogenannten »Schinderhütte« bei Köppelsbleek bildet den Höhe- und Wendepunkt der »Marmorklippen«: »Auch an den Bäumen, die die Rodung säumten, bleichten die Totenköpfe, von denen mancher, dem in den Augenhöhlen schon Moos gewachsen war, mit dunklem Lächeln uns zu mustern schien. (...) Das Innere der Scheune lag fast im Dunkeln, und wir erkannten nur dicht am Eingang eine Schinderbank mit aufgespannter Haut. (...) Dann fiel der Schatten eines großen Vogels auf den Platz. Er rührte von einem Geier, der mit ausgezackten Schwingen auf das Kardenfeld herniederstieß. Erst als wir ihn bis an den roten Hals langsam im aufgewühlten Grunde schnäbeln sahen, erkannten wir, daß dort ein Männlein mit der Hacke am Werke war und daß der Vogel seine Arbeit begleitete, so wie der Raabe dem Pfluge folgt. (...) Zugleich trieb mit dem Winde ein zäher, schwerer und süßer Hauch der Verwesung an, der uns bis in das Mark der Knochen erzittern ließ.«
Sternberger hat diese Szenerie in seinem Essay von 1980 als Allegorie auf die Konzentrationslager gedeutet, die Jünger in »prophetischer Phantasie« vorweggenommen habe. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans aber war das Quälen und Töten politischer Gegner in Kerkern und Lagern längst Bestandteil des nationalsozialistischen Terrors. Auf die nachfolgende Passage spielt der Titel von Sternbergers Beitrag »Eine Muse konnte nicht schweigen« an. Hier liefert Jünger nicht nur ein Bild der Diktatur als säkularisierter Hölle, sondern schildert zugleich die Reaktionen Betroffener: »Das sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt. Dann schweigen die Musen, und die Wahrheit beginnt zu flackern wie eine Leuchte in böser Wetterluft. Da sieht man die Schwachen schon weichen, wenn kaum die ersten Nebel brauen, doch selbst die Kriegerkaste beginnt zu zagen, wenn sie das Larvengelichter aus den Niederungen auf die Bastionen emporgestiegen sieht. So kommt es, daß Kriegsmut auf dieser Welt im zweiten Treffen steht; und nur die höchsten, die mit uns leben, dringen bis in den Sitz des Schreckens ein. Sie wissen, daß alle diese Bilder ja nur in unserem Herzen leben, und schreiten als durch vorgestellte Spiegelungen durch sie in stolze Siegestore ein.«
Jünger lieferte hier vermutlich eine Erläuterung für seine Existenz im Dritten Reich, in der sich auch Sternberger wiedererkennen konnte. Den Mitgliedern der »Georgsrunde« war dessen distanzierte Haltung zum Nationalsozialismus offenbar bekannt, sonst wäre die Einladung an ihn kaum erfolgt. Denn bei den Essen, auf die ausgiebige Trinkgelage folgten (vgl. Brief 4), wurde nicht nur über Kunst und Literatur gesprochen, sondern auch über die Unwägbarkeiten der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik sowie die Gegensätze zwischen Militär- und Parteiapparat. Jünger hat darüber in seinem Pariser Tagebuch immer wieder Andeutungen gemacht und unter dem 1. November 1941 über das Zusammentreffen mit Sternberger berichtet: »Abends im George V., wo an der Tafelrunde auch Nebel und Sternberger als Gäste teilnehmen. Dieser letztere, mir durch seine Aufsätze bereits bekannt, erschien zunächst blasiert, gebeugt und teilnahmslos, wachte dann aber auf seltsame Weise auf, vom Wein und vom Gespräch wie durch ein Elixier belebt.«
Offenbar konnte Sternberger die Vorbehalte des von ihm verehrten Autors nicht gänzlich ausräumen, da Jünger die Aufzeichnung in die »Strahlungen« von 1949 übernahm (sie wurde erst in späteren Ausgaben getilgt). Wie der erste Brief Sternbergers vom Dezember 1941 zeigt, hatte er Jünger noch ein zweites Mal bei der deutschen Kunstmäzenin Lilly von Schnitzler getroffen, die mit ihrem Mann bis 1944 in Paris lebte. Auch hier wurde über den Vortrag gesprochen, wie dem Hinweis auf die »Figur des Scheiternden« zu entnehmen ist (Brief 1). Sternberger übersandte Jünger dazu den Essay »Hohe See und Schiffbruch«, den er 1935 in der »Neuen Rundschau« veröffentlicht hatte. Hier geht es nicht nur um das Motiv des Scheiterns (das Sternberger im Nachdruck in den Schriften VI herausnahm), sondern auch um die »Idee des ›gefährlichen Lebens'«, die naturgeschichtlich gedeutet wird. Damit hatte Sternberger die Maxime der »Marmorklippen« gleichsam vorweggenommen.
Eine direkte Diskussion wurde von den Korrespondenzpartnern natürlich vermieden. Beide kannten, wie mehrere Briefe zeigen, den Fall Gerhard Nebel, eines Vertrauten Jüngers, der nach einem Artikel in der »Neuen Rundschau« wegen einiger Formulierungen von Paris auf die Kanalinsel Alderney strafversetzt worden war (vgl. Brief 5). Statt dessen drehte sich der Briefwechsel um Eintragungen in Jüngers Buch »Gärten und Straßen«, die Sternberger in seinen Briefen kommentierte. Nachdem er bereits eines der ungebundenen Autorenexemplare erhalten hatte (Brief 2), verfaßte er gleich nach Erscheinen eine Besprechung, die am 16. März 1942 in der »Frankfurter Zeitung« erschien. Jünger las den Text noch am selben Tag, wie ein Eintrag im Pariser Tagebuch zeigt: »Am Abend kam Oberst Speidel in mein Zimmer; er brachte mir einen Aufsatz, den Sternberger in der ›Frankfurter‹ über mich schrieb«. Vom früheren Ressentiment ist hier nichts mehr zu spüren. In der Tat erweist sich Sternberger als guter Kenner von Jüngers Ästhetik: »Es geht hier nicht nur um Bilder, sondern um Urbilder. Im Zeitlichen sucht der Autor des Ewigen habhaft zu werden – oder vielmehr: sucht er ins Ewige hindurchzublicken, ewige Ordnungen oder Muster zu enthüllen« (Schriften VIII, S. 300).
Zwar finden sich vergleichbare Überlegungen auch in »Gärten und Straßen«, doch spielt Sternberger hier wohl auf Jüngers Idee der »stereoskopischen Wahrnehmung« an, auf die dieser zuvor in anderen Arbeiten eingegangen war: in den beiden Fassungen des »Abenteuerlichen Herzens« (1929 und 1938) und im »Sizilischen Brief an den Mann im Mond«, den Jünger in den von Sternberger ebenfalls erwähnten Essayband »Blätter und Steine« (1934) aufgenommen hatte. »Und doch«, so heißt es dort, »gilt unser höchstes Bestreben jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimen ruhenden Körperlichkeit erfaßt«. Daß es dabei um die erwähnten »Urbilder« geht, zeigt eine Formulierung im »Abenteuerlichen Herzen«, wo (in der ersten wie in der veränderten zweiten Fassung) über den »stereoskopischen Genuß« zu lesen ist: »Es gibt an dieser Tafel keine Speise, in der nicht ein Körnchen vom Gewürz der Ewigkeit enthalten ist.«
[…]
SINN UND FORM 4/2011, S. 437-447
- 5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch, S. 303 Leseprobe
Schöttker, Detlev
Detlev Schöttker und Anja S. Hübner DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
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Schöttker, Detlev und Anja S. Hübner
- 5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch, S. 672 Leseprobe
Schöttker, Detlev
Detlev Schöttker und Anja S. Hübner DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
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Schroetter, Richard
»Wir ahnten nicht, was kommen würde«. Gespräch mit Victor Brombert
RICHARD SCHROETTER: Man kennt Sie als einen der führenden amerikanischen Komparatisten, als Romanisten und Literaturkritiker, aber auch aus dem Film über die ›Ritchie Boys‹, jene jungen Emigranten, die im Zweiten Weltkrieg in Camp Ritchie für Spezialeinsätze ausgebildet wurden. Sie kamen1923 zur Welt und verbrachten Ihre Kindheit in Leipzig. Was hat Ihre Eltern, wohlhabende jüdische Kaufleute aus Rußland, dazu bewogen, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen?
VICTOR BROMBERT: Bei Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 waren sie auf der Hochzeitsreise in Dänemark und mußten sich plötzlich entscheiden, wo sie bis zur Rückkehr in die Heimat leben wollten. Damals glaubten sie noch, es handle sich um ein vorübergehendes Exil. Weil mein Vater Geschäftsbeziehungen nach London hatte, übersiedelten sie dorthin, blieben aber nur ein Jahr, denn meine Mutter fühlte sich in England nicht wohl.
SCHROETTER: Welche Erinnerungen haben Sie an Leipzig?
BROMBERT: Die Wohnung lag in der Ferdinand-Rhode-Straße, nicht weit vom Gewandhaus, hatte einen herrlichen Wintergarten und war so groß, daß ich mit dem Fahrrad durch die Flure fahren konnte. Mit der Kinderfrau sprach ich Deutsch, in der Schule natürlich auch, und ab und zu sogar mit meiner Mutter, die auf einem Mädchenpensionat in Wien gewesen war. Noch heute zähle ich manchmal auf deutsch, etwa bei der Gymnastik. Komplizierte Texte lese ich ohne Mühe, nur bei einem anspruchsvollen intellektuellen Gespräch hätte ich Schwierigkeiten. Hin und wieder ging ich mit meinem Vater odermeiner Großmutter im Rosentaler Wäldchen spazieren. Die Wintertage warengrau, jedenfalls im Vergleich zu Frankreich, das ich schon vor der Emigration kennenlernte. Das hing mit dem Tod meiner Schwester zusammen. Sie starb mit fünf in Breslau auf dem OP-Tisch. Man hatte noch erwogen, sie wegen des Gehirntumors zu einem Spezialisten in die USA zu bringen. Nach diesem Schlag reiste meine Mutter nach Nizza und nahm mich mit. Ich entdeckte den Süden, das blaue Meer, die Kaps, und auf einmal kam mir Leipzig noch grauer vor.
SCHROETTER: Das war 1931. Nahmen Sie damals auch Politisches im Alltag, auf der Straße wahr?
BROMBERT: Einmal erlebte ich, wie zwei Demonstrationszüge aufeinander zumarschierten, Kommunisten gegen Nazis, beide mit Transparenten, Knüppeln und Marschliedern. Nach ein paar Minuten war die Straße übersät mit Verwundeten, und überall war Blut. Das hat mich geprägt, seitdem verabscheue ich Kundgebungen und Menschenmassen. Andere Erinnerungen an Leipzig habe ich wohl einfach ausgeblendet. Im nachhinein wird mir klar, daß das nicht nur am Frankreich-Erlebnis lag, das alles überstrahlte. Ich habe diese Zeit als bedrohlich erlebt und auf meine Weise darauf reagiert. Mit der Sprache machte ich es ein paar Jahre später ähnlich: Ich tat so, als könne ich kein Deutsch, oder machte den französischen Akzent nach.
SCHROETTER: Agitation und politische Gewalt kannten Ihre Eltern doch schon aus Rußland.
BROMBERT: Sie gehörten dort zu den assimilierten Juden, ihre ökonomische Situation verschaffte ihnen das Privileg, in St. Petersburg oder in Moskau zu wohnen und nicht im Schtetl. Sie waren Kosmopoliten, beherrschten drei oder vier Sprachen und hatten an der Universität studiert. Mein Vater hörte in Paris Reden von Jean Jaurès und Anatole France, ehe er in Rußland seinen Jura-Abschluß machte. Meine Eltern kannten schon einiges, was den deutschen Juden noch erspart geblieben war. Sie wußten, wie leicht Antisemitismus in Gewalt umschlagen kann. Ich wuchs auf in einer Atmosphäre bürgerlichen Komforts, aber mit dem Bewußtsein, daß wir nicht so recht dazugehörten. Wir waren keine Deutschen, aber auch keine Russen mehr, wir waren Staatenlose.
SCHROETTER: Was für Pässe hatten denn Ihre Eltern?
BROMBERT: Sie hatten die russische Staatsbürgerschaft mit der Revolution verloren und lebten als geduldete Ausländer in Deutschland. Sie hatten sogenannte Nansen-Pässe, nach dem Völkerbundkommissar für Flüchtlingsfragen Fridtjof Nansen. Diese Pässe stellte das Land aus, wo sich der staatenlose Emigrant aufhielt. Immerhin konnten meine Eltern Grundbesitz erwerben, ihre Firma lief sehr gut, die Geschäftsbeziehungen reichten bis nach China. Es war ein Import-Export-Großhandel, hauptsächlich mit Pelzen. Mein Vater reiste zu Auktionen nach London, doch eigentlich war er eine poetische Seele und ein Liebhaber der Dichtung, kein Geschäftsmann. Zum Jurastudium war er bloß gekommen, weil man doch irgendwas studieren mußte.
SCHROETTER: Als Sie neun waren, verließ die Familie Deutschland. Das war sicher ein riskanter Augenblick.
BROMBERT: Wir flüchteten 1933 mit einem Nachtzug in die Schweiz, mein Onkel und seine Familie waren im selben Zug. Die Eltern hatten mir streng verboten, ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis die Tür des Schlafwagenabteils zu öffnen. Wir hörten, wie zwei, vielleicht auch drei Polizisten einstiegen und den Schaffner fragten, ob Juden im Zug seien. Er sagte nein, obwohl er es besser wußte. Das hat uns gerettet. Man hätte uns sonst wohl aus dem Zug geholt und wegen »Devisenschieberei« angeklagt, da meine Eltern einiges an Bargeld bei sich hatten. Ich habe oft an diesen Schaffner denken müssen. Vielleicht war er ein aufrechter Sozialdemokrat. Seinetwegen habe ich mich immer geweigert, alle Deutschen für schuldig zu halten.
SCHROETTER: Also stimmen Sie nicht überein mit Daniel Jonah Goldhagens These vom latenten Antisemitismus der Deutschen?
BROMBERT: Überhaupt nicht, ich bin schockiert von seiner historischen Unkenntnis. Die Situation der deutschen Juden vor dem Nationalsozialismus war vergleichsweise beneidenswert. Für die russischen Juden war Deutschland ein Hort der Aufklärung, wo die staatliche Ordnung Schutz gewährte. Wer es sich leisten konnte, machte dort Urlaub und genoß den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde. Gegen Frankreich hatte man Vorurteile wegen der Dreyfus-Affäre – ein Mißverständnis der französischen Geschichte. Goldhagens Buch ist parteiisch und historisch teilweise unzutreffend. Mich ärgern seine These eines eingeborenen und gleichsam vererbten Antisemitismus und die Schlüsse, die er daraus zieht. Es gibt keine von Antisemitismus freie Gesellschaft, nicht einmal bei den Juden. Natürlich ist der Holocaust etwas historisch Einmaliges wegen des systematischen Vorgehens und der Blindheit, der vorsätzlichen oder partiellen Blindheit vieler Menschen. Aber wir sind alle blind gegen bestimmte Dinge in unserer Gesellschaft. Wir hören ab und zu, oder wissen oder erraten, was in Polizeistationen und Gefängnissen vor sich geht. Doch wir vergessen es lieber und freuen uns, wenn die Polizei uns hilft. Wir sind alle dazu fähig, die unerfreulichen Seiten unserer Gesellschaft auszublenden. Das ist natürlich keine Entschuldigung für das Geschehene. Zudem legen einige Gesellschaften größeren Wert auf Gehorsam als andere. In Italien hat ein Befehl nicht viel zu bedeuten, man kümmert sich nicht darum oder macht das glatte Gegenteil. In Deutschland befolgt man die Gesetze, im guten wie im schlechten.
SCHROETTER: Ihre Eltern glaubten damals offensichtlich, in Frankreich vor den Deutschen sicher zu sein. Nach einem Umweg über die Schweiz ließen sie sich im Spätherbst 1933 in Paris nieder. Der Kontrast zwischen Leipzig und der französischen Metropole muß doch sehr groß gewesen sein.
BROMBERT: Paris war eine Offenbarung. Wir wohnten zuerst bei meiner Tante, ehe wir eine schöne möblierte Wohnung bezogen. Ich entdeckte das Alltagsleben, die Straßenmärkte, die Farben und Gerüche, und als ich älter wurde und zur Schule ging oder sie schwänzte, machte ich auf eigene Faust Entdeckungen.
SCHROETTER: Warum schwänzten Sie die Schule?
BROMBERT: Mit zwölf, dreizehn war ich noch ein fleißiger Schüler und gewann mehrere Preise, doch dann änderten sich meine Interessen. Ich hatte dauernd Frühlingsgefühle und sah auf der Straße den Frauen nach. Die meisten meiner Freunde waren sitzengeblieben, teilweise sogar mehrmals, und daher älter als ich. Auch ich sah älter aus: mit dreizehn wirkte ich wie fünfzehn, mit vierzehn wie siebzehn. Ich wurde faul, las aber viel. Meine Streifzüge durch Paris machten mir Appetit auf Literatur und Kunst. Ich war dreisprachig, ohne eigentlich eine Muttersprache zu haben, Französisch wurde zum Medium meiner Weltwahrnehmung. Ich brauchte die Atmosphäre und Kultur dieser offenen, liberalen, vergnügungssüchtigen Gesellschaft. Vom Gären im Untergrund und von den heraufziehenden Bedrohungen merkte ich nicht viel. Paris war für mich eine Art Wiedergeburt. Tatsächlich bin ich ja in Berlin zur Welt gekommen, wo meine Mutter von einem berühmten Arzt behandelt wurde. Aber ich lernte die Stadt erst kennen, als ich 1945 mit der US-Armee zurückkehrte.
SCHROETTER: Dann begann Ihr Leben also da, wo Ihre Autobiographie »Trains of Thought« endet.
BROMBERT: Ich weiß nicht, ob ich meinen Geburtsort in dem Buch überhaupt erwähne. Ich wollte lange nicht darüber sprechen und habe ihn verleugnet. Heute sehe ich, daß das albern war, aber ich habe viele Jahre gebraucht, um diese innere Freiheit wiederzuerlangen.
SCHROETTER: In Paris fühlten Sie sich endlich frei, freier jedenfalls als in Leipzig. Ihre Autobiographie beginnt mit einem Schlüsselerlebnis, einer Szene wie aus einem Truffaut-Film. Sie erzählen von einer Busfahrt durch das sechzehnte Arrondissement, Passy, Auteuil, eine »Oase der Normalität«, wie Sie schreiben. Doch der vierzehnjährige Brombert und sein Freund sind unterwegs zu einem Bordell in der Innenstadt, wo es zu einer keuschen Begegnung mit einer jungen Prostituierten kommt. War das nicht ein gewagtes Unterfangen für einen Jungen Ihres Alters?
BROMBERT: Das hing von der sozialen Klasse ab. In den proletarischen Vierteln war die Promiskuität wohl größer, doch im blasierten und bourgeoisen sechzehnten Arrondissement beschränkte sich das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen meines Alters auf ein bißchen Flirten. Es gab getrennte Schulen, nur im Kino konnte man sich küssen oder Händchen halten, aber das war noch keine sexuelle Initiation. Die erlebten Jungen wie ich meist mit einer Hausangestellten oder einer Professionellen. Ich hatte Glück: Der Vater eines Freundes gab uns Geld und nannte eine Adresse. Mein Vater wäre nie auf so etwas gekommen. Es war das beste Etablissement in Paris und ziemlich bekannt, wie ich später merkte. Ich fand es nicht nur luxuriös und ästhetisch, ich erlebte auch Zärtlichkeit und habe den Besuch in dankbarer Erinnerung. Überhaupt übte Paris auf mich eine erotische Faszination aus.
SCHROETTER: Wie war Ihr Verhältnis zu den Mitschülern?
BROMBERT: Wir wußten natürlich, daß es auch in Frankreich Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gab, wie überall. In jedem Land zeigen sie sich in anderer Gestalt. Es gibt provinziellen, städtischen, rechten, linken, religiösen, ja sogar sozialistischen Antisemitismus. Mein Vater konnte mir viele Dinge gut erklären, die Dreyfus-Affäre zum Beispiel. Er sah alles in einem größeren Kontext und nicht nur in bezug auf die jüdische Frage. Damals regierte die Volksfront unter Léon Blum, der übrigens auch Jude war. So oft er irgendwo auf der Leinwand erschien, gab es einen Aufruhr. Man sagte »sale juif«, Drecks-jude, ohne sich viel dabei zu denken. Von all dem wußte ich, aber im sechzehnten Arrondissement spielte man höchstens ironisch darauf an. Gewalt spielte keine Rolle, nur einmal wurde ich in eine Schlägerei mit einem anderen Jungenverwickelt.
SCHROETTER: Wie kam es dazu?
BROMBERT: Wir schubsten uns vor dem Klassenzimmer, er sagte wie üblich Drecksjude, das kam fast automatisch, und alle um uns herum wiederholten es. Ich wollte nicht kämpfen, er wohl auch nicht, aber der Gruppenzwang ließ uns keine Wahl. Er kam mir sozusagen vor die Fäuste, ich könnte nicht einmal sagen, daß ich zielte. Am Ende blutete er. Ich will nichts beschönigen: Die Sache hatte einen ernsten Hintergrund, doch wir nahmen sie nicht ernst. Die Gesellschaft war damals wie ein Club, dessen Mitglieder entweder Juden oder Antisemiten waren. Wir spielten gemeinsam Tennis und waren freundlich zueinander. Wir ahnten nicht, was kommen würde.
SCHROETTER: Konnte man das überhaupt?
BROMBERT: Man muß sich immer fragen, was man damals empfand, und von dem absehen, was später die Erfahrung lehrte. Die Versuchung ist groß, rückwirkend zu deuten. Als nach der Niederlage Marschall Pétain an die Macht kam, war mein Vater wie viele Juden froh darüber. Nicht weil er ihn mochte: Man wußte, daß er ein Ultrakonservativer und ein Feind des parlamentarischen Systems war. Daß er ein Antisemit war, wußte man noch nicht, aber man konnte es sich denken. Doch wenigstens blieb Frankreich das Schicksal Polens erspart. Es bekam keinen »Gauleiter«, sondern ein Staatsoberhaupt, das die Deutschen als Gesprächspartner respektierten, jedenfalls eine Zeitlang. Es war das einzige besiegte Land, dem Waffenstillstandsverhandlungen und sogar eine Art Friedensvertrag angeboten wurden. Man glaubte, Pétain werde das Land und die Juden schützen. Doch der Schutz galt nicht für alle. Schon bald wurden Unterschiede gemacht, erst zwischen französischen und ausländischen Juden, dann zwischen französischen und »neuen« französischen Juden, dann zwischen jenen, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, und den anderen. Schließlich war selbst das vorbei. Das Beschämende am Waffenstillstand war eine Klausel, wonach jede Person ausgeliefert werden mußte, die die Deutschen haben wollten. Das betraf zwar nicht die Franzosen selbst, aber alle, die auf französischem Boden Zuflucht gefunden hatten, und das waren ja vor allem Nazigegner, viele davon Juden. Wir wußten von dieser Klausel, glaubten aber anfangs, sie beträfe uns nicht. Die französischen Juden hielten Antisemitismus für ein Problem der deutschen Emigranten. Ähnliches hatten meine Eltern schon in Deutschland erlebt, wo die Juden auch geglaubt hatten, sie wären gesellschaftlich respektiert. Sie hörten damals Leute sagen: »Ich war in der Wehrmacht, ich habe das Eiserne Kreuz. Das Problem sind die Ostjuden, die sollten wir nicht ins Land lassen.« Es gab also einen regelrechten jüdischen Antisemitismus. Selbst in den USA weigerten sich einige jüdische Mitglieder der Regierung Roosevelt, ihre Stimme zu erheben und Unterstützungs- oder Rettungsmaßnahmen zu veranlassen. Sie wollten keinen Ärger machen. Meine Eltern waren sensibilisiert für dieses Denken, sie hatten das Beispiel Rußlands und Deutschlands noch vor Augen. Wir hatten keine großen Illusionen und wußten, daß uns eine neuerliche Flucht bevorstand. Zum Glück hatten wir die Mittel dazu.
SCHROETTER: Diese Flucht begann in einem mondänen Badeort in der Normandie vor einer geradezu Proustschen Kulisse.
BROMBERT: Den Sommerurlaub verbrachten wir meist am Meer, ein- oder zweimal auch in Marienbad. Wir fuhren nach Cabourg, Deauville oder Trouville. Beim Überfall auf Polen waren wir gerade in Deauville, und meine Eltern beschlossen, sicherheitshalber nicht nach Paris zurückzukehren. Zwar hatte mein Vater dort Geschäfte zu erledigen, doch wir blieben bis Mai 1940. Dann kam der Blitzkrieg, und es wurde klar, daß Frankreich bald zusammenbrechen würde. Nun hieß es rennen, wollten wir nicht in der Falle sitzen. Wir fuhren kurz nach Paris und reisten von dort nach Bordeaux, wo ich das Abitur machte. Die Deutschen rückten immer weiter vor, und das Vichy-Regime übernahm die Macht. Wir versuchten, mit einem Schiff zu fliehen, umsonst. Auch die Flucht nach Spanien glückte uns nicht. Eine Zeitlang hielten wir uns in den Bergen versteckt, wie übrigens auch andere Familien aus Paris, darunter viele Juden. Schließlich gingen wir nach Nizza, wahrscheinlich wegen der Nähe zum großen Hafen von Marseille und zu Italien, das trotz Mussolini einen vergleichsweise humanen Eindruck machte. Die Stimmung war gespannt, doch die Menschen verhielten sich leichtsinnig, fast hedonistisch. Vater bemühte sich ununterbrochen, uns Visa zu besorgen, letztlich mit Erfolg.
SCHROETTER: Im Sommer 1941 konnten Sie über Sevilla ausreisen und gelangten mit dem Bananenfrachter »Navemar« nach New York. Selbst auf Frachtern kostete die Überfahrt damals ein Vermögen.
BROMBERT: Soweit ich mich erinnere, mußten wir tausend Dollar pro Person bezahlen, das entspräche heute mindestens dem Zehn-, wenn nicht dem Fünfzehnfachen. Wir hatten ein US-Einreisevisum, das schwer zu kriegen war, weil es für jedes Herkunftsland Quoten gab. Polen hatten nur geringe Chancen, für Italiener oder Deutsche war es sicher leichter. Zudem bauten die Amerikaner weitere Hürden auf, um den Einwandererstrom zu begrenzen. Man brauchte ein Transitvisum für Spanien sowie ein Ausreisevisum für Frankreich, das für militär- oder arbeitsdiensttaugliche Männer schwer zu kriegen war. Doch das Schwierigste war, all diese Papiere und die Fahrkarten gleichzeitig zu bekommen. Das Schiff wartete ja nicht! An Bord gab es Kabinenplätze für fünfzehn Passagiere, aber man hatte nicht weniger als 1200 Tickets verkauft. Wir waren also gleichsam die Bananenfracht. Wegen der U-Boot-Gefahr fuhren wir auf Zickzackkursen und waren volle sechs Wochen unterwegs. Es gab nicht viel zu essen und keine medizinische Versorgung, etliche Passagiere starben unterwegs. Eine Vergnügungsreise war das wahrlich nicht, aber sie rettete uns.
SCHROETTER: Die Ankunft in den USA muß doch ein großer Einschnitt gewesen sein. Wie haben Sie das erlebt?
BROMBERT: Die größte Herausforderung bestand in der Begegnung mit mir selbst. Ich war verhätschelt worden, und selbst Krieg und Flucht verstärkten bis zu einem gewissen Grad meine Passivität: Man brauchte keine Entscheidungen zu treffen, es gab keine Zukunft, die Frage der Berufswahl stellte sich nicht. Als mir bewußt wurde, daß nun alles anders würde, entschied ich mich, auf eine amerikanische Schule zu gehen, weit weg von den Eltern. Sie verstanden das sehr gut, und so wurde ich mit achtzehn in ein Vorbereitungscollege in Pennsylvania aufgenommen. Das war kurz vor Pearl Harbour. Uns war klar, daß wir in den USA bleiben würden, und doch träumte ich davon, zurückzukehren. Ich hing an meinen Erinnerungen und Freunden und fühlte mich als Franzose. Ich wunderte mich über die amerikanischen Jungen und Mädchen meines Alters. Sie waren sehr nett, aber in jeder Hinsicht naiv: intellektuell, erotisch, sexuell. Mir schienen sie fünf Jahre jünger. Ich hatte Heimweh, sah mich als Patrioten und wollte von den Eltern unabhängig sein. Ich träumte von der Armee und hoffte auf den Kriegseintritt der USA, der wenig später auch erfolgte. Zum Glück wurde ich nicht in den Pazifik geschickt, sondern nach Europa. Die zweite Panzerdivision, der ich angehörte, trug den Spitznamen »Hell on Wheels« und hatte unter General Pattons Befehl gestanden. Bei der Invasion in der Normandie im Juni 1944 ging sie gleich nach den Pionieren an Omaha Beach an Land. Damals entdeckte ich, daß ich kein Held war, obwohl ich gern einer gewesen wäre.
SCHROETTER: Wie fühlten Sie sich als Sproß aus wohlhabendem, behütetem Hause in der Armee?
BROMBERT: Das war ein Schock für mich. Nach der Grundausbildung kam ich erst zum medizinischen Corps und dann zu einem Aufräumkommando, vermutlich weil ich die amerikanische Staatsbürgerschaft noch nicht hatte und Ausländer nicht in Kampfeinheiten durften. Schließlich bemerkte man meine Mehrsprachigkeit und steckte mich in ein Ausbildungszentrum des militärischen Geheimdienstes, Camp Ritchie in der Nähe von Washington, D. C.
SCHROETTER: Was war Ihre Aufgabe, wie wurden Sie eingesetzt?
BROMBERT: Ich gehörte zu einem sechsköpfigen Aufklärungs- und Verhörteam, das an vorderster Front agierte. Wir versuchten von französischen Zivilisten Informationen über die deutschen Truppen und ihre Stellungen zubekommen. Wir machten auch Radiosendungen in der Hoffnung, deutsche Soldaten zum Aufgeben zu bewegen, allerdings ohne großen Erfolg. Später diente ich als Übersetzer und Befrager von Kriegsgefangenen und kam in den Hürtgenwald und die Ardennen.
SCHROETTER: Darüber haben Sie in Ihrer Autobiographie »Trains of Thought« geschrieben. Können Sie etwas über Ihre Erlebnisse dort berichten?
BROMBERT: Die Schlachten in den Ardennen und im Hürtgenwald waren in vielerlei Hinsicht blutiger als die Invasion in der Normandie. Bei der Landung an Omaha Beach dauerte die Todesangst ein paar Stunden oder Tage, die deutschen Armeen zogen sich zurück, wir rückten nach, zeitweise herrschte beinahe Euphorie. Wir befreiten Paris und stießen bis zur belgischen Grenze vor. Es sah so aus, als wäre der Krieg bald vorbei. Doch weit gefehlt: Als wir den Albert-Kanal erreichten, der Antwerpen und Lüttich verbindet, trafen wir auf erbitterten Widerstand. Desgleichen bei Aachen, wo die Deutschen eigenen Boden verteidigten. Die amerikanischen Generäle waren wild entschlossen, durch den Hürtgenwald vorzustoßen, obwohl nicht die geringste Notwendigkeit dazu bestand, es war dabei nichts zu gewinnen. Das Ergebnis waren die fürchterlichsten, blutigsten, demoralisierendsten Kämpfe, die ich erlebt habe, ein zähes Ringen um jeden Zentimeter Boden, mit all den Schrecken einer Kriegführung im Wald, wofür die amerikanische Armee überhaupt nicht ausgerüstet war. Die Deutschen hatten damit Erfahrung, sie kannten das aus Rußland. Ich gehörte damals zur 28. Infanteriedivision, die schrecklich dezimiert wurde. Ganze Regimenter wurden aufgerieben. Danach verlegte man uns zur Erholung in eine vermeintlich ruhigere Gegend in Luxemburg. Doch gerade dort, in der Nähe von Wiltz, griffen die Deutschen erneut an. Sie hatten hervorragende Einheiten, einige waren dafür ausgebildet, in amerikanischen Uniformen Chaos und Panik zu verbreiten. Die Ardennenschlacht war ein Debakel für die Amerikaner und Engländer. Unser einziger Vorteil war, daß den Deutschen der Treibstoff ausging, während wir Reserven hatten. Dafür hatten sie den Angriff genau geplant und auf die Wetterlage abgestimmt, sodaß wir keine Luftunterstützung bekommen konnten. Die Landschaft war tiefverschneit, und es war bitter kalt. Die wichtigste Erfahrung bestand darin, daß ich ein paar Wahrheiten über mich herausfand. Meine romantischen Jugendlektüren über Krieg und Krieger hatten mich darauf gebracht, daß auch ich ein Held sein könnte. Doch als ich zum ersten Mal unter Beschuß geriet, lernte ich Angst und Panik kennen. Wohl auch deshalb schrieb ich später das Buch »In Praise of Antiheroes« (Lob der Antihelden). Ich wollte mich mit dieser Erfahrung auseinandersetzen, und ich glaube, ich habe sie ehrlich beschrieben. Ich entdeckte damals auch, daß körperlicher Mut nicht die größte Tugend ist: Man kann ein mutiger Gangster, ein mutiger Faschist sein. Moralischer Mut ist etwas anderes. Ironischerweise können bittere geschichtliche Erfahrungen sich für Überlebende positiv auswirken. Wer weiß, ob ich ein guter Student und schließlich Gelehrter geworden wäre, wenn Hitlers Armeen Frankreich nicht angegriffen hätten. Vielleicht hätte ich mich auf die Stellung und das Vermögen meines Vaters verlassen und wäre ein verwöhnter Sohn geworden. Ich hatte nicht viel Ehrgeiz. In Frankreich, in Europa überhaupt mußte man damals früh wissen, was man wollte, sonst war der Zug abgefahren. In Amerika dagegen konnte man fünf oder sogar fünfzehn Jahre später kommen und noch etwas Neues ausprobieren. Davon habe ich profitiert.
SCHROETTER: Wie ging es weiter nach der Ardennenschlacht?
BROMBERT: Ich wurde ins Elsaß verlegt und nahm an der Befreiung von Colmar teil. Später überquerten wir bei Remagen den Rhein, und ich wurde einer großen Einrichtung des Alliierten Kontrollrats in der Nähe von Frankfurt zugeteilt. Der Krieg ging nun rasch zu Ende. Vorübergehend setzte man mich bei der Entnazifizierung des Saargebiets ein. Wir suchten nach Kreisleitern, Gauleitern, später auch nach kleineren Fischen. Doch die amerikanische Militärregierung setzte einige der Festgenommenen schon am nächsten Tag wieder in ihre Ämter ein, weil man sie für unentbehrlich und verläßlich hielt: Es ging gar nicht um Strafverfolgung, sondern bloß darum, die Dinge am Laufen zu halten. Das dämpfte meinen Enthusiasmus. Auch beim Kontrollrat war ich unzufrieden. Es war das alte Problem, die Unmöglichkeit eines Dialogs zwischen Soldaten mit Fronterfahrung und Bürokraten. Schließlich bat ich um Versetzung nach Berlin. Zu meinen Aufgaben dort gehörten die Betreuung von Vertriebenen und Kontakte mit den Sowjets. Da ich Russisch sprach, nahm ich an Verhandlungen und Sitzungen teil. Es war nicht sehr erbaulich, das Verhalten der Sowjets im besetzten Berlin aus der Nähe mitzukriegen. Auch unsere Leute waren keine Engel, doch sie betrieben eher Schwarzmarktgeschäfte. Ich hatte zwei bewegende Erlebnisse in Berlin, die ich in »Trains of Thought« beschreibe. Inmitten der Zerstörung kam es zu einer Opernaufführung, ohne Dekor, ohne Kostüme, aber herrlich gesungen und gespielt. Es war »Fidelio«, ein Stück über Gefangenschaft und Freiheit, die Opfer der Tyrannenherrschaft und Erlösung durch die Liebe. Selbst den Kerkermeister Rocco fand ichbewundernswert. Sein Gehorsam geht nur bis zu einem gewissen Punkt, dann hat er die großartige Zeile: »Das Leben nehmen ist nicht meine Pflicht.« Er weigert sich, den Gefangenen zu töten. Das ist ein Akt des Widerstands, zwar kein großer, aber ein bedeutungsvoller. Und der machte seinen Part zum Mittelpunkt der Oper. Das andere Erlebnis hatte ich in einer unzerstört gebliebenen Villa in der Nähe von Onkel Toms Hütte. Dort im Garten wurde eines Abends Shakespeares »Sommernachtstraum« in einer wundervollen deutschen Übersetzung aufgeführt. Es war ein märchenhaftes, zauberisch suggestives, irreales, poesiedurchtränktes, ein verspieltes Schauspiel in der trostlosen Umgebung dieser Stadt. Diese beiden Aufführungen verkörperten für mich die Erfahrung des Überlebens, des Weiterlebens, und daß der Krieg endlich zu Ende war. Ich freute mich darauf, etwas Neues anzufangen, denn in der Zwischenzeit hatte ich meine eigentliche Leidenschaft entdeckt: über Literatur zu forschen und zu lehren. So hatte ich nun auch ein Ziel vor Augen, ich wollte Universitätsprofessor werden.
SCHROETTER: Mit welchen Gefühlen kehrten Sie in das zerstörte Deutschland zurück?
BROMBERT: Mit ganz gemischten. Eines hatte gar nicht direkt mit Deutschland zu tun: Ich war entsetzt über den Jubel, mit dem die amerikanische Presse und das Militär den Einsatz der Atombombe begrüßten. Das fand ich obszön. Man kann darüber streiten, ob er nötig war, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Doch als ich von der Zerstörungskraft der Bombe las, von den Leichen, die so sehr verbrannt waren, daß man Frauen und Männer nicht mehr unterscheiden konnte, empfand ich das als furchtbare Bedrohung für die Zukunft. Außerdem merkte ich die Heuchelei, denn die gleichen Zeitungen hatten sich über die deutschen V2-Raketenangriffe auf London und vieles andere empört. Und dann ärgerte mich noch, daß die Amerikaner sich in Deutschland durchweg wohler zu fühlen schienen als in Frankreich. Vielleicht lag es daran, daß viele Soldaten deutsche Vorfahren hatten, vielleicht spielte das gemeinsame protestantische Ethos eine Rolle, oder daß die Dörfer in Deutschland ein bißchen wie in Amerika aussahen, jedenfalls mehr als die französischen. Es gab zwar ein striktes Fraternisierungsverbot, doch es wurde kaum beachtet. Wenn ich bei Deutschen eingeladen war, legte ich großen Wert auf Abstand und machte nur Konversation – meist mit den Frauen, denn Männer waren kaum da, und die Frauen hielten mit großem Mut alles am Laufen. Ein Unterschied zu Frankreich fiel ins Auge: Dort nahm das Denunziantentum nach Kriegsende epidemische Ausmaße an: Jeder wollte ein Widerstandskämpfer gewesen sein, alle anderen waren Kollaborateure. In Deutschland dagegen konnte ich niemanden zum Sprechen bringen. Keiner wollte andere belasten. Ich fragte mich, warum das so war: Es hatte wohl mit Angst zu tun, aber auch mit Stolz und einem gewissen Sinn für Würde, den ich gegen meine Überzeugung gut fand.
SCHROETTER: Haben Sie sich im Krieg jemals etwas geschworen, falls Sie das alles überleben würden?
BROMBERT: Nur für den Fall, daß ich diesen oder jenen Moment überlebe. Beten konnte ich nicht, aber ich schwor zum Beispiel, daß ich mich nie beklagen würde, falls ich überlebe. Natürlich habe ich nicht Wort gehalten.
Aus dem Englischen von Gernot Krämer
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Schulze, Ingo
»Ich möchte Ihnen Hoffnung machen«. Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung
Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs Griechenland) aufgerufen zu werden. Der Dozent, der schließlich die Tür öffnete und mich hereinbat, sagte, während ich aufstand und auf ihn zuging: »Ach, wissen Sie schon? Gestern ist Fühmann gestorben!«
In diesem Augenblick brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte Franz Fühmann nie persönlich erlebt, war nie auf einer Lesung von ihm gewesen, ich hatte ihm nie geschrieben, ich hatte weder Fernsehbilder von ihm gesehen noch wußte ich, wie seine Stimme klang. Ich kannte nur einige seiner Bücher. Trotzdem lebte ich in der Gewißheit, in ihm einen wohlwollenden Leser zu haben, sobald ich nur etwas Selbstgeschriebenes vorzuweisen hätte. Ich würde nicht leichtfertig sein, denn in unserem Land, so schien mir, gab es kaum jemanden, der nicht schrieb und seine Texte nicht Fühmann schicken wollte. Auch mir war er die Versicherung dafür, nicht unbeachtet zu bleiben, sollte meine Schreiberei etwas taugen. Ich weiß nicht, woher ich damals diese Gewißheiten nahm. 1984 hatte ich von ihm gerade die im Jahr zuvor erschienenen Essays gelesen. Lag es an seinem Text über Wolfgang Hilbig? Da schenkt Fühmann seinem Verlag einen Schriftsteller. Und welcher unveröffentlichte Autor träumte nicht davon? Oder lag es an seiner Vorlesung »Das mythische Element in der Literatur« oder den E. T. A.- Hoffmann-Essays? Und noch während meines Grundwehrdiensts hatte ich »Vor Feuerschlünden«, seinen großen Trakl-Essay, gelesen, der den Schattenriß einer Autobiographie in sich barg. Dessen Offenheit, das Vorweisen der eigenen grauenhaften Irrtümer, war bestürzend und befreiend. Nicht weniger unerhört war Fühmanns Reflexion darüber, daß er selbst nach Salzburg fahren durfte, während anderen diese Möglichkeit verwehrt wurde. Wer von denen, die fahren durften, sprach sonst darüber? Wenige Wochen vor jener ersten Prüfung hatte ich einen Vortrag halten dürfen, ein Vergleich von Christa Wolfs »Kassandra« mit Fühmanns »König Ödipus«, es ging um die verschiedenen Arten des Umgangs mit dem Mythos. Daher wußte der Dozent, daß mich dieser Autor etwas anging. Doch 1984 gab es für den einundzwanzigjährigen Studenten kaum Bücher, die ihn nicht ergriffen, veränderten, erhoben, quälten oder zum Epigonen machten. Beinah jedes Zeugnis von Geistigkeit konnte brisant werden, jede Lektüre, jedes Gespräch fand in einem Alltag statt, den politisiert zu nennen sich erübrigte. Alles war politisch. Einen anderen Alltag kannte ich nicht. Doch warum ausgerechnet Franz Fühmann? Der Sternenhimmel der ostdeutschen Literatur leuchtete schließlich hell.
Als Kind habe ich nicht gelesen, drängte aber darauf, vorgelesen zu bekommen. Relativ früh bekam ich »Das hölzerne Pferd – Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus. Nach Homer und anderen Quellen neu erzählt von Franz Fühmann« geschenkt. Bei Fühmann sind die Götter keine erhabenen Wesen, aber mächtig und gefährlich. »Poseidon hat in meiner Vorstellung oft Züge eines Bahnhofvorstehers«, schreibt er 1973. »Den Apollo könnt’ ich mir ganz gut so denken, den Hermes und Ares zur Not, den Hephaistos, Hades, Dionysos gar nicht. Auch Zeus nicht, ihn am wenigsten: Dies Amt wäre für ihn zu groß / Den Prometheus auch nicht, der spielte herum … Aber Epimetheus wäre die ideale Besetzung.« Wenn meine Langeweile zu groß wurde, nahm ich mir das Buch heraus und blätterte zu jener Stelle – ich erkannte sie an den Illustrationen –, an der die Trojaner die Griechen fast zu besiegen scheinen. Weil es in dieser Neuerzählung soziale und ökonomische Unterschiede gibt, gewinnt eine Figur wie Thersites an Bedeutung. Er, der einzige ohne Genealogie und Adelsrang, der Mann aus dem Volk, der »immer zum Friedensschluß und zur Rückkehr in die Heimat geraten« hat, erzählt bei Fühmann von Prometheus, denn »die Götter sind grausam und böse und den Menschen feind«. Doch Fühmann weiß: »Im Mythos ist immer der ganze Mensch da, auch als Geschlechts-, auch als Naturwesen, aber nie auf diese reduziert.«
Auf Troja und Odysseus folgte beim abendlichen Vorlesen bald das Kinderbuch »Prometheus«. In ihm entdeckt Fühmann eine Figur, die Aufstieg und Fall verschiedener Zeitalter verbindet. Der Menschenfreund Prometheus wird zum Protagonisten eines Machtkampfs, der den jungen Lesern oder Zuhörern ein Gefühl für das Gewordensein der Welt gibt, für die Abfolge von Bündnissen und Kämpfen, aus denen Hierarchien und damit Herrschaftsverhältnisse entstehen. Erwachsenen mußte es schon damals (und heute erst recht aufgrund der postum erschienenen Teile) als Parabel auf das 20. Jahrhundert erscheinen. Das gilt auch für die »Nibelungen« und erst recht für »Reineke Fuchs«, der im Grunde bereits ein Muster für alle Mafia-Serien liefert: Der Schurke ist tatsächlich ein Schurke, aber als Leser hält man ihm unfaßbarerweise die Treue.
Fühmanns Neuerzählungen von Mythen und Sagen beunruhigten mich als Kind. Warum findet Hektor solch ein schmähliches Ende? Warum muß Prometheus so schrecklich leiden und gewinnt nicht gegen Zeus? Warum sind Götter eitel und egoistisch? Das waren nicht jene Figuren, die ich später im Museum fand. In einer Gegenwart, in der alles überdeutlich in Gut und Böse aufgeteilt war, stifteten Fühmanns Neuerzählungen Verunsicherung. Man wußte ja nicht einmal, wer die Guten und wer die Bösen waren. Diese Verunsicherung war für mich (und nicht nur für mich) noch wichtiger als die lustvolle Vermittlung weltliterarischer Stoffe, über die wir in der Schule (mit Ausnahme des »Reineke Fuchs«) kaum etwas hörten. Im Schullesebuch der 8. Klasse begegnete ich Fühmann mit »Kabelkran und blauer Peter«. Ich war irritiert, vielleicht sogar etwas enttäuscht, daß »mein« Autor, der doch bisher ganz der häuslich-vertrauten Atmosphäre angehört hatte, nun »allen« gehörte und Götter und sprechende Tiere keine Rolle spielten. Ich kann mich nicht mehr an die Lesestellen erinnern. Sie werden den Vierzehnjährigen nicht vom Hocker gerissen haben.
Wer heute in Bitterfeld an dem großen, gerade einmal wieder vor dem Abriß geretteten Kulturhaus vorüberfährt, in dem einmal herausragende nationale und internationale Ensembles und Solisten auftraten, in dem die Arbeitenden und ihre Kinder sich in Ballett und Fotografie, in bildender Kunst und Schauspiel versuchen konnten, dem bleibt der Spott über den »Bitterfelder Weg« im Hals stecken, auch wenn dieser in mehrfacher Weise ein Irrweg war. Denn was tatsächlich für »Bitterfeld« tauglich gewesen wäre, wie zum Beispiel der grandiose Roman »Erziehung eines Helden« von Siegfried Pitschmann, dem zweiten Ehemann von Brigitte Reimann, der aus freien Stücken und vor dem Bitterfelder Beschluß auf den Baustellen von Hoyerswerda / Schwarze Pumpe geschuftet hatte, wurde nicht nur nicht gedruckt. Der Autor wurde durch absurde Kampagnen gedemütigt und zum Selbstmordversuch getrieben.
Fühmann hat sich dem Anspruch des »Bitterfeldes Wegs« gestellt und immer wieder versucht, ihn zu erfüllen. Doch sein Widerspruch ist grundsätzlicher Art: »Was zum Beispiel empfindet ein Mensch, der weiß, daß er sein Leben lang so ziemlich dieselbe Arbeit für so ziemlich dasselbe Geld verrichten wird, als beglückend und was als bedrückend an eben dieser Arbeit; wo bringt sie ihm Reize, wo Freude, wo Leid, in welchen Bildern, auf welche Weise erscheint sie in seinem Denken und Fühlen usw. usw. Ich weiß es nicht und kann es nicht nachempfinden, und der Arbeiter spricht, obwohl er mein Freund ist, nicht darüber, weil es für ihn die allerselbstverständlichsten Dinge sind, so selbstverständlich, daß man die Frage danach gar nicht versteht, weil man die Antwort eben in Fleisch und Blut hat, nicht im Mund.«
Fühmann schummelt nicht. Es ist der Blick von einem, der die Welt der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht aus eigener Erfahrung kennt, sich das aber als Defizit ankreidet und sich damit nicht abfinden will.
»Aufs Gymnasium kamen Arbeiter nicht; nach dem Abitur war ich zur Wehrmacht gekommen und hatte ein Maschinengewehr bedienen gelernt; in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatte ich in einem kleinen Waldlager Bäume gefällt und dann Karl Marx gelesen, und nach meiner Entlassung war ich für zehn Jahre an einen Büroschreibtisch geraten«, wo er seine Zeit »mit der Gliederung von Lektionen und Referaten, mit Aktennotizen und einem Rattenkönig an Papier und Protokollen hingebracht« hat. Hier macht sich einer auf den Weg, der nur den »Abklatsch der Wirklichkeit auf Rotations- und Schreibmaschinenpapier« kennt.
Fühmann, für den »Wahrheit und Schreiben« Synonyme sind, markiert eher die Unterschiede, die ihn von den Arbeitern trennen, als daß er die Grenzen mit seiner erzählerischen Kraft verwischt. Weil er die Voraussetzungen seines Schreibens benennt, weil sein Blickwinkel nichts vortäuscht, weiß ich als Leser immer, woran ich bei ihm bin.
Deshalb ist »Kabelkran und blauer Peter« heute wohl noch interessanter als bei seiner Veröffentlichung 1961. Denn diejenigen, deren Arbeit körperliche Schufterei ist, werden heute in der Literatur, im Film und Fernsehen kaum noch sichtbar – und wenn, dann als underdogs in den Nachmittagsprogrammen. Diese Exkursion des Schriftstellers auf die Werft (er hat viele weitere Versuche unternommen, in Großbetrieben zu arbeiten) liest sich von heute aus auch als Beginn eines Weges, der zu seiner literarischen Schürfarbeit »Im Berg« führen wird. Seine Erzählungen entdeckte ich nicht selbst. Anfang 1978, in den Winter ferien der 9. Klasse, saß ich der Malerin Gerda Lepke in ihrem winzigen Atelier am Laubegaster Ufer in Dresden Modell. Ich hatte gerade die Hermann-Hesse- Romane und Erzählungen gelesen und rang mit mir, ob ich in den sogenannten persönlichen Gesprächen mit unserem Klassenlehrer, der uns für die Offizierslaufbahn werben oder zumindest das Zugeständnis eines dreijährigen Armeediensts abpressen wollte, nicht doch, wie mein Banknachbar, er war Mitglied im Kreuzchor, bekennen sollte, den Dienst an der Waffe aus religiösen Gründen zu verweigern. Während Gerda mit der schräg vor ihr liegenden Leinwand kämpfte – die Pinsel waren an Stöcke gebunden – und mir von dem Duft der Ölfarben und des Terpentins, dem vielen Kaffee und dem überheizten Raum schon etwas flau war, sprach sie darüber, daß sie sich gerade mit Fühmann »beschäftige«. Sie schien immer einen Autor zu haben, mit dem sie sich beschäftigte. Und darunter waren einige, die ich auch aus meinen Lesebüchern kannte, Kurt Tucholsky und Majakowski zum Beispiel, aber auch ein gewisser Robert Walser, von dem ich noch nie gehört hatte. Nun sprach sie über Fühmanns Erzählungen. Vor allem die erste, »Kameraden«, empfahl sie mir nachdrücklich (die unter dem Titel »Betrogen bis zum jüngsten Tag« verfilmt worden war). Ich kaufte mir den Band (oder bekam ich ihn geschenkt?) und muß zumindest bis zum »König Ödipus« gelangt sein. Etwas später las ich den Zyklus »Das Judenauto«, ohne mir des Glücks bewußt zu sein, ihn in der ursprünglichen Fassung kennenzulernen, die allerdings erst 1979 herausgekommen war, achtzehn Jahre nach der Erstpublikation. Wiederum vier, fünf Jahre später, ich war schon Student, nahm ich mir die Erzählungen wegen des »Ödipus« erneut vor. Erst da fielen mir die Verletzungen auf, die Fühmann seinen Texten aus Überzeugung oder Selbstzensur zugefügt hatte. In »König Ödipus« planen Wehrmachtssoldaten während der Okkupation Griechenlands eine Aufführung der Tragödie des Sophokles. In langen Gesprächen bemühen sie sich um deren Deutung und offenbaren dabei ihren Rassenwahn wie ihre Blindheit für die eigene Situation. Die langen Sätze der Beschreibungen und wörtlichen Reden winden sich wie Schlangen um die Figuren. Immer gehetzter wird der Erzählduktus, der das Geschehen auf die Katastrophe zuführt. Die Peripetie blitzt auf den letzten zwei Seiten wie eine Erkenntnis auf, die nicht gänzlich unvorbereitet kommt, jedoch in der Eindeutigkeit, ja Konformität, mit der sie geschildert wird, die Novelle ihrer Ambivalenz beraubt und einen Hauptmann dem Publikum sagen läßt, was Sache ist: »und nun brach die neue Zeit des Menschenrechts aus den Schlünden des Balkans und den Hainen des Maquis und den sanften Ebenen Polens und rollte donnernd her aus den Weiten Rußlands, um die alte Zeit zu begraben, der anzugehören einfach schon Schuld war«.
Es zerstört nicht die Novelle, aber es bleibt ein Kratzer, den man wie auf einer Schallplatte hört. Das als Fühmanns Tribut für eine Veröffentlichung zu deuten, wäre zu billig. Allein äußeren Zwängen hätte er sich nicht gebeugt. Die vierzehn Erzählungen von »Das Judenauto« fügen sich zu einer großen Lebenserzählung, die man heute wohl »Roman« nennen würde. Dafür, wie Fühmann die eigene Verblendung nachzeichnet, gibt es, soweit ich das sehe, kaum Vergleichbares in deutscher Sprache. Kindheit, Jugend, die Zeit im Arbeitsdienst, in der Wehrmacht und der sowjetischen Gefangenschaft werden aus der Position desjenigen erzählt, der die nationalsozialistische Gesinnung verinnerlicht hat. Dieses »ich«, sei es das Kind mit seiner Angst vor den Juden oder der Landser, der noch Anfang Mai 1945 auf die Wunderwaffe hofft, quält mich als Leser, weil er keinen Ausweg aus seiner Logik findet, einem Gespinst aus Antisemitismus, Nationalismus, Antikommunismus, Herrenmenschentum, Angst und Rechtfertigung von Kriegsverbrechen. Die Unerbittlichkeit vorzuführen, die dieses Denken beherrscht, es nacherlebbar zu machen, wie ein Glauben auch Lüge und Verbrechen zu integrieren vermag, ist die Leistung dieser Prosa. Die zwei letzten Erzählungen fallen heraus und bekennen sich nun, da sich das erzählende Ich dem Abgrund entkommen glaubt, zur im Entstehen begriffenen neuen Welt, deren Licht aus dem Osten kommt. Dabei bleibt Fühmanns Darstellung so anschaulich und deutlich, daß ich als Leser die alten Muster unter dem neuen Bekenntnis sehe. Nun sollen sie aber wirklich einer anderen, einer besseren Sache dienen. In den Nachbemerkungen zur Ausgabe von 1979 schreibt Fühmann: »Diese vierzehn Episoden des ›Judenautos‹ werden hier dem Leser zum ersten Mal in der ursprünglichen Gestalt des Gesamtzyklus mitgeteilt. Die bisher gedruckte Version folgte dem Redigierungsvorschlag meiner damaligen Lektoren, die jene erste Fassung für unlesbar hielten. Heute scheint es mir eher umgekehrt, aber es ist meinen Autoritäten von damals gelungen, mich zu überzeugen, und ich füge hinzu: Sie hatten’s nicht schwer.« Fühmann spricht von einem literarischen Qualitätsgefälle »zwischen der ersten und der letzten Geschichte«, wobei die Vorschläge der Lektoren »auf eine Angleichung« hinausliefen, »wenn auch auf eine nach unten«.
Sein Zusatz »Sie hatten’s nicht schwer« ist etwas, worauf man immer wieder bei Fühmann trifft. Er schiebt das Versagen nicht auf andere, auf die Zensur. Seine inneren Nöte und Schuldgefühle, auch seine Hilflosigkeit, gehören dazu. »Ich widerstehe jedoch auch heute der Versuchung«, fährt Fühmann fort, »diesen Zyklus, dessen methodischer Eklektizismus mir bald weh tat, zu verstümmeln oder umzuarbeiten, also eine erste ästhetische Reflexion über den Ort meiner selbst in der neuen Gesellschaft auf den Stand einer zweiten und dritten zu bringen, anstatt eben diese zweite und dritte als bewußteres Leben und Schreiben zu leisten und die erste zu lassen, was sie gewesen ist: Stufe. Im Prozeß der Selbstfindung eines Autors sind alte Arbeiten nur korrigierbar durch neue, vorausgesetzt, daß sie das überhaupt sind (…).« Nach einem Hinweis auf Brecht heißt es dann: »Das Endziel meiner literarischen Bemühungen wäre die Darstellung Eines, von dem ich erfahren könnte, dieser sei ich. Ich werde sie wohl nie in dem Grade vollbringen, in dem ich ihr Vollbringen wünsche wie fürchte: Nicht der äußere Zensor, der innere ist das Hauptproblem. Nebenbei: Die Identität dieser Instanzen (…) macht letztlich den Mangel des ›Judenautos‹ aus.«
Das Bestehen einer Zensur in der DDR öffentlich anzusprechen ist das eine, den eigenen Anteil daran zu benennen das andere. Fühmann legt den Zusammenhang beider Zensuren offen. Für ihn ist Veränderung ein gesellschaftlicher und ein persönlicher Prozeß, also etwas, das sich gegenseitig beeinflußt und in Bewegung ist. Für die Selbstermächtigung und Emanzipation, die Fühmann im Laufe seines Lebens gelingt – bei allen Skrupeln, die an ihm in verschiedenste, mitunter entgegengesetzte Richtungen zerren –, brauchen Staat und Gesellschaft letztlich bis zum Herbst 1989, auch wenn sich der Spielraum zuvor stetig erweitert hat.
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Es war der freundliche Wunsch der Canitzgesellschaft Berlin, zum Auftakt ihres Seminars über Harry Graf Kessler jemanden zu hören, der sich früh und lange mit diesem Thema beschäftigt hat, um so etwas Authentisches über die Wiederentdeckung dieses Autors in den letzten drei Jahrzehnten zu erfahren. Was ich Ihnen bieten kann, sind Details über eigene Unternehmungen und Erlebnisse, die mit der Erforschung der Figur und des Werkes zu tun haben. Sie führen aber vielleicht auch auf Grundtatsachen jeder biographischen Recherche.
Kessler gehört nicht zu denjenigen Figuren der Zeitgeschichte, die nach 1945 vollkommen verschwunden waren und erst mühevoll ins öffentliche Bewußtsein zurückgeholt hätten werden müssen. Freilich, die sogenannte Wissenschaft, zumal an deutschen Universitäten, hat sich kaum um ihn gekümmert. Aber es gab eine aktive Erinnerung auf Grund von Publikationen, die ihn als Schriftsteller im besten Sinne greifbar machten - seine „Notizen über Mexico« (1898), die Memoiren „Gesichter und Zeiten« (1935) und vor allem das Rathenau-Buch (1928). Besucher des „Rosenkavaliers« stießen auf die seltsame Widmung im Textbuch, wonach Hofmannsthals Komödie für Musik der „Mitarbeit« Kesslers „so viel verdankt«. Und nicht zuletzt gab es die Produktion der Weimarer Cranachpresse aus zwanzig Arbeitsjahren: Homers „Odyssee«, Vergils „Eclogen«, Shakespeares „Hamlet« und viele kostbare kleine Drucke. Wer die Spezies internationaler Sammler kennt, der weiß, daß sie das intensivste Gedächtnis haben. Je rarer ein Gegenstand, desto genauer beachten sie ihn, geben sorgsam weiter und lassen nichts untergehen. Schon gar nicht in Magazinen oder Depots.
Dennoch blieb der Umriß Kesslers seltsam verschwommen. Das lag auch daran, daß ein quasi berufsloser Mensch - nicht nur Schriftsteller und nie so recht Diplomat, nicht bloßer Dandy, aber auch politisch von unklarer Linie - sich in die Erinnerungsmuster der Nachkriegszeit kaum fügen wollte. In der Konsolidierungsphase der Bundesrepublik waren solche Profile als „Helden nach rückwärts« nicht zu gebrauchen. Denn während Thomas Manns Tagebücher nach innen weisen, den Schlüssel für das entstehende Romanwerk und die Selbstpeinigung ihres Verfassers liefern, verbergen Kesslers Tagebücher einen personalen Hohlraum. Man erfährt vieles, vielleicht zu vieles, und das in einem kaleidoskopischen Durcheinander. Aber wer schreibt da eigentlich?
Erstmals hat ihn Albert Vigoleis Thelen in seinem Romanbericht „Die Insel des zweiten Gesichts« (1953) lebensvoll porträtiert. Die Epochenkenner und die Bibliophilen, die Hofmannsthal-Spezialisten und die Rathenau-Forscher haben dann nicht mehr abgelassen von dieser Gestalt. Es ist der Initiative des Verlegers Rudolf Hirsch (1905-1994) zu danken - seinerzeit Leiter des Insel-Verlags, mit dessen Geschichte Kessler seit seiner Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker (1905) verbunden ist -, daß man nach dem Verbleib des Nachlasses fragte. Das führte zu langwierigen Verhandlungen mit der Familie, speziell mit Kesslers 1877 geborener Schwester Wilhelma („Wilma«) und ihrem Sohn Jacques, der in Paris als bankrottierender Besitzer der Éditions de Cluny lebte, einem (vom Onkel mitfinanzierten) Vorläufer der Éditions de la Pléiade bei Gallimard. Achtzigjährig ist Jacques de Michel-Duroc Marquis de Brion am 15. März 1988 verstorben, und wie ihn habe ich mir immer Fontanes Herrn von Stechlin vorgestellt, falls er in den Reichstag gewählt worden wäre: ein bei Begegnungen, in Briefen und Telefonaten bis in seine letzten Lebenstage höchst erinnerungslustiger und zugleich ganz gegenwartshungriger Mensch.
Fritz Arnold (1916-1999), später Lektor bei Hanser und ein inspirierter Vermittler zwischen deutscher und französischer Literatur (sein Vater war der Karikaturist Karl Arnold, der Schöpfer des „Steuermännleins«), hat gern erzählt, wie er Ende der fünfziger Jahre mit Wilma und Jacques de Brion unter den Arkaden des Palais Royal wegen der Tagebücher Kesslers verhandelte - oder vielmehr darum feilschte. Ein Gebirge von Austern, zu denen nur ein bestimmter Chablis möglich war, türmte sich, wurde abgetragen und wieder aufgetürmt. Der Eiweißschock Arnolds, der als gebürtiger Münchner Austern nicht besonders mochte, war ebenso groß wie die Rechnung, über deren Empfänger bei Mutter und Sohn kein Zweifel bestand. Der Verhandlungserfolg war kostspielig, aber von bleibendem Wert - auch wenn es nicht um mehr ging als um die Einwilligung von Rechteinhabern in eine künftige Publikation.
Denn was man erhielt, waren nicht etwa die Tagebücher Kesslers als publikable Manuskriptenmasse, sondern das, was die Schwester Wilma davon noch „auffinden« konnte. Bei jedem philologisch Arbeitenden ruft eine solche Auskunft Gänsehaut hervor. Wolfgang Pfeiffer-Belli (1900-1980), den Rudolf Hirsch mit der Herausgabe betraute, hat bei den nachgeborenen Kessler-Experten keinen guten Ruf. Willkürliche Textauswahl wirft man ihm vor, Eingriffe, Lesefehler und sogar Kürzungen - all das ist selbstverständlich ganz unerlaubt und ganz unzünftig. Aber was für Arbeitsbedingungen! Der Ärmste wurde im Nachgang zur spektakulären Austernmahlzeit mehrfach nach Ascona bestellt, wo er in einer Pension zu hausen hatte, und von dort ins Chalet der Baronin Dora von Bodenhausen zitiert, jeweils spätnachmittags zur Teezeit. Die Witwe von Kesslers 1918 verstorbenem Freund Eberhard von Bodenhausen war Wilma de Brions beste Freundin - bei aller postumen Diskretion, die uns auferlegt ist, muß erwähnt werden, daß sie schon Hofmannsthal auf die Nerven ging und sogar der hartschalige Rudolf Borchardt der „Faslerin« am liebsten auswich. Die Damen durchblätterten die Tagebücher im Hinblick auf ihre Publikation und wahrscheinlich auch in der steten Angst, auf Peinlichkeiten zu stoßen (dabei sind Intimitäten so lautstark überschwiegen, daß man sich wundert, warum das für Thomas Mann unmöglich gewesen sein soll). Dieses Duo infernale übermittelte dem Herausgeber einzelne Hefte, aber nicht etwa in chronologischer Reihenfolge, sondern so wie sie aus der Kommodenschublade kamen. Pfeiffer-Belli, den das Umfangslimit des Verlags ebenso bedrängte wie der Abgabetermin, exzerpierte und notierte, ohne jemals das Ganze in Ruhe zu überblicken, und hatte sich obendrein knapper Zeitvorgaben zu unterwerfen; denn schließlich störte dieser deutsche Gast. So kam es, daß in der einbändigen Edition von 1961, die später mehrere, auch verbesserte Auflagen erfuhr, ganze Kalenderjahre zwischen 1918 und 1937 mit großen Lücken oder überhaupt nicht vertreten sind; das Jahr 1924 fängt gar erst mit dem Monat November an. Trotzdem hat Pfeiffer-Bellis Ausgabe den Ruhm Harry Graf Kesslers als eines singulär aufmerksamen Zeitzeugen begründet. Das sollte uns zur Ehrenrettung dieses Herausgebers genügen.
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SINN UND FORM 2/2008, S. 278-280
Schütt, Peter
Schütte, Uwe
- 2/2010 | Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Anmerkungen zu W.G. Sebalds Essay über Jurek Beckers Romane, S. 235 Leseprobe
Schütte, Uwe
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Anmerkungen zu W. G. Sebalds Essay über Jurek Beckers Romane
Bereits der erste Satz war eine Kampfansage: »Es ist der Zweck der vorliegenden Arbeit, das von der germanistischen Forschung in Zirkulation gebrachte Sternheim-Bild zu revidieren.« So schrieb der fünfundzwanzigjährige Winfried Georg Sebald in seiner 1969 erschienenen Magisterarbeit und kündigte an, daß »es sich bei dieser Revision vorwiegend um eine Destruktion« handele. Den damals hoch im Kurs stehenden Dramatiker betrachtete Sebald, dem Untertitel gemäß, zugleich als »Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära«, und die zahlreichen Invektiven gegen Sternheims Fürsprecher unter den bedeutenden Germanisten der fünfziger und sechziger Jahre ließen keinen Zweifel daran, daß er eine Antipathie gegen sie hegte.
Das Echo auf die These, daß Sternheim bei seinem Versuch, sich der antisemitischen Gesellschaft des Wilhelminismus zu assimilieren, zu einer protofaschistischen Sprache griff, war nicht gering. Die Sternheim-Sachwalter waren erbost. Unter ihnen befand sich Hellmuth Karasek, der 1965 ein schmales Büchlein über den Dramatiker vorgelegt hatte und seit 1968 als Theaterkritiker der »Zeit« arbeitete. Er lud den sowjetischen Sternheim-Forscher Valerij Poljudow zu einer Gegendarstellung ein, die erwartungemäß polemisch ausfiel und in der Sebald u.a. verdächtigt wurde, ein Neonazi zu sein. Der Beschuldigte antwortete darauf, ebenfalls in der »Zeit«, mit Gegenvorwürfen.
Ein beachtlicher Publicityerfolg also für den unbekannten jungen Germanisten aus dem Allgäu, der weder Protegé eines etablierten Professors noch Stipendiat einer akademischen Exzellenzstiftung war. Sebald war in mancher Hinsicht auf sich allein gestellt: Seine Heimatuniversität Freiburg im Breisgau hatte er im Herbst 1965 verlassen, weil er mit dem konservativen Lehrplan unzufrieden war, vor allem aber, weil er an der braunen Vergangenheit einiger Dozenten Anstoß nahm. Er setzte sein Studium an der Université de Fribourg fort, wo er 1966 für die Sternheim-Arbeit die licence ès lettres (summa cum laude) erhielt. Von der Schweiz führte ihn sein Weg im Frühjahr 1966 als Lektor nach England, an die University of Manchester. Die bedrückenden Umstände seiner Übersiedelung und die Ankunft in der desolaten Stadt hielt er später, literarisch transformiert, in den »Ausgewanderten « fest. Im Frühjahr 1970 schließlich wechselte er an die University of East Anglia in Norwich.
Die ostenglische Provinz mit ihrem zumeist grau überwölkten Himmel wurde ihm zur Wahlheimat. Den Konfrontationskurs gegen die Germanistik setzte Sebald mit seiner Dissertation über Alfred Döblins Romane fort, die erst 1980 überarbeitet auf deutsch erschien: »Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins«. Auch diese Attacke auf einen kanonisierten Autor jüdischer Abstammung sorgte in Fachkreisen für Furore.
Parallel dazu entstanden zwanzig auf englisch verfaßte Rezensionen für das im Frühjahr 1971 an der University of East Anglia gegründete Journal of European Studies und ab 1975 für die Modern Language Review. Es sind durchweg Verrisse, etwa von Monographien bekannter Literaturwissenschaftler, darunter Walter Müller-Seidel, Leo Kreutzer, Heinz Politzer, Manfred Durzak, Robert Minder. Außenseiter des germanistischen Establishments hingegen, wie der DDR-Germanist Roland Links mit seiner Studie zu Döblin oder der ohne Universitätsanbindung forschende Autodidakt Hans-Albert Walter, der ein zweibändiges Werk über Exilliteratur vorgelegt hatte, lobte Sebald geradezu emphatisch, weil sie im Gegensatz zu »den etablierten Literaturwissenschaftlern « jene »fortschrittliche Haltung« einnahmen, der sich auch er verpflichtet fühlte.
Was der Magisterkandidat und Doktorand bis weit in die siebziger Jahre betrieb, war eine Art private Studentenrevolte: Er schrieb Texte, die er aus sicherer geographischer Distanz wie Brandsätze auf die westdeutschen Germanistikprofessoren schleuderte. Hinter den provozierend zugespitzten Urteilen steckte wohl ein gewisses Maß an querdenkerischer Häme und spitzbübischer Freude. Man könnte sie als den Versuch beschreiben, mit überzogenen Darstellungen auf übersehene oder verleugnete Sachverhalte hinzuweisen.
Das Ziel einer Revision des von der Germanistik in Umlauf gebrachten Bildes verfolgte Sebald offenkundig auch mit dem hier erstmals abgedruckten Essay aus dem Nachlaß. Gleichwohl macht er kein Hehl daraus, daß er vornehmlich seine persönliche Leseerfahrung mit Jurek Beckers Romanen auf den Punkt zu bringen versucht. Als literarisches Kernproblem identifiziert er »die Absenz des Autors« und dessen stete Sorge, »daß er nicht mit hineingerät in sein Werk«, das unter dem Vorzeichen eines »Erinnerungsembargos« stehe. Dies sei, wie Sebald am Ende konzediert, als Schutzmechanismus zu verstehen, um »das Aufsteigen der Erinnerung« an die Becker durch seine Ghetto- und KZ-Kindheit »aufgebürdete Last« zu verhindern, damit sie nicht »das sich erinnernde Subjekt mit ihrer zerstörerischen Gewalt einholt«. »Ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht« – der Titel unterstreicht Sebalds Diagnose, denn er zitiert den Schlußsatz von Beckers Essay über Fotos aus dem Ghetto Łódź, worin dieser eingesteht, auch mit Hilfe der Aufnahmen die verschüttete Erinnerung an die Kindheit nicht freilegen zu können.
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SINN UND FORM 2/2010, S. 235-242
Schütte, Wolfram
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Schwinghammer, Mae
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Schwob, Marcel
- 4/2017 | Manapouri. Eine Seereise nach Samoa 1901/02. Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer, S. 480 Leseprobe
Schwob, Marcel
Manapouri. Eine Seereise nach Samoa 1901/ 02
Vorbemerkung
Am 21. Oktober 1901 schiffte sich in Marseille der Schriftsteller Marcel Schwob zu einer Reise ein, von der er sich vor allem zwei Dinge erhoffte: Heilung von der Krankheit, die ihn seit Jahren niederdrückte, und neue Impulse für sein Schaffen. Der aus Chaville bei Paris gebürtige Autor hatte 1891 mit dem Erzählungsband »Das gespaltene Herz« debütiert und dann praktisch jedes Jahr einen solchen veröffentlicht – die bekanntesten sind »Das Buch von Monelle« und »Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe«. Außerdem schrieb er für verschiedene Zeitungen und galt in seinem literarischen Umfeld, zu dem André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette, Jules Renard und der »cher Maître« Stéphane Mallarmé gehörten, als ungewöhnlich sprachbegabt, belesen und brillant.
Die aussichtsreiche Laufbahn endete 1896 mit seiner Erkrankung, die ganz unterschiedlich diagnostiziert und behandelt wurde. Ein Arzt erklärte wenige Monate vor der Reise, seiner Meinung nach seien mit Ausnahme der Lunge und vielleicht des Herzens alle inneren Organe krank, und es werde schwierig, ihn zu retten. Nach mehreren erfolglosen Operationen war Schwob um 1900, Berichten zufolge, stark abgemagert, morphiumabhängig und nur mehr ein Schatten seiner selbst. Ein einziger literarischer Text entstand noch, die Erzählung »Der Sternenbrand«, ansonsten blieb es bei vereinzelten wissenschaftlichen Arbeiten, etwa zur Biographie François Villons. Auch als Übersetzer trat er gelegentlich hervor (Shakespeare, Stevenson, De Quincey).
Wegen seiner schwachen Gesundheit und Reizbarkeit suchte Schwob fortwährend Ruhe – Grund zahlreicher Umzüge in Paris sowie mehrerer Erholungsaufenthalte auf Jersey, in diversen Badeorten oder in Italien. Doch stets sah er sich in seinen Erwartungen getäuscht. Schließlich empfahl einer der konsultierten Ärzte einen längeren Aufenthalt auf See, und Schwob entschloß sich zu einer Art Grand Tour. Seinem amerikanischen Freund Vincent O’Sullivan schrieb er, eine vage Einladung zum Mitreisen aussprechend: »Um den ersten Oktober herum breche ich wieder auf. Wohin? Gott weiß es. Ich denke an Australien, Queensland, die Meerenge von Torres; vielleicht Samoa. Würde Sie das reizen? Ich glaube nicht. Mir selbst kommt das sehr wichtig vor, ich schreite zu meiner finalen Behandlung. Wenn ich nach sechs Monaten nicht geheilt bin, gebe ich alles auf.« (Undatiert, Spätsommer 1901)
Samoa – der Name, der scheinbar so beiläufig fällt, war für Schwob allerdings bedeutsam. Von dort hatte ihm sein verstorbener Brieffreund Robert Louis Stevenson geschrieben, ein veritabler Bruder im Geiste und Widmungsträger seines ersten Buches. Ohne Zweifel kannte Schwob, der jede Zeile von ihm las, Stevensons Reisebericht »In der Südsee« (1896), den dieser während der Arbeit daran erwähnt hatte (»Es soll und wird das große Buch über die Südsee werden«, 19. August 1890). Schon der Anfang von Stevensons Bericht muß für den Schwerkranken wie eine Verheißung geklungen haben: »Nahezu vier Jahre ging es mit meiner Gesundheit bergab, eine Zeitlang vor meiner Ausreise glaubte ich, der letzte Abschnitt meines Lebens sei gekommen, und nur Krankenschwester und Totengräber warteten noch auf mich. Man riet mir, ich solle es einmal mit der Südsee versuchen, und ich war nicht abgeneigt, wie ein Geist oder Gespenst in jenen Gegenden aufzutauchen, die mich einst in Jugend und Gesundheit entzückt hatten.«
So vermischten sich in Schwobs Reiseplänen Heilungs-, um nicht zu sagen, Erlösungssehnsucht, Abenteuerlust und Stevenson-Verehrung. Seine Mutter und vor allem sein älterer Bruder Maurice, Leiter des in Familienbesitz befindlichen Zeitungsverlags in Nantes, kümmerten sich um die Vorbereitung. Begleitet wurde er von seinem chinesischen Koch und Krankenpfleger Ting-Tse-Ying, den er im Vorjahr nach dessen Tätigkeit auf der Pariser Weltausstellung angestellt hatte. Der Arbeitsvertrag sah unter anderem vor, daß Ting seinen Dienstherrn zu rasieren habe und dieser im Falle von Tings Ableben für die Überführung der sterblichen Überreste nach China sorgen müsse.
Schwob wußte, daß er seiner Familie mit der Reise ein großes finanzielles Opfer auferlegte, und machte Anstalten, sich mit dem Titel eines Korrespondenten für »Le Temps« an den Kosten zu beteiligen. Tatsächlich ist kein einziger Artikel von ihm erschienen, auch in anderen Zeitungen nicht. Genausowenig verwirklicht wurden von Schwob erwähnte literarische Projekte mit erkennbarem Samoa-Bezug (»Océanide«, »Vaililoa« und »Captain Crabbe«). So blieben die Briefe an seine Frau der einzige Ertrag der Reise. Obgleich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sollten sie wohl als Grundlage eines möglichen Buches dienen. Die erste Ausgabe des »Voyage à Samoa« betitelten Korpus erschien 1930 unter Mitwirkung der Witwe, ist aber fehlerhaft und unvollständig. Auch die sonst sehr sorgfältig nach den Manuskripten ergänzte Ausgabe von 2002 enthält zumindest einen Brief nicht, der mit einem Teilnachlaß an die Brigham-Young-Universität in Utah gelangte.
Die Schauspielerin Marguerite Moréno, die Schwob 1900 ehelichte, galt als Muse der Symbolisten und wurde besonders von Dichtern für ihre Sprechkunst geschätzt. Sie überlebte ihn um Jahrzehnte, machte in den fünfziger Jahren noch eine bemerkenswerte Alterskarriere und verkörperte u. a. die »Irre von Chaillot« bei der Uraufführung des gleichnamigen Schauspiels von Jean Giraudoux.
Schwobs Briefe offenbaren das allmähliche Scheitern des mit so großen Hoffnungen begonnenen Reiseprojekts: Mit der »Ville de La Ciotat« geht es durch den Suez-Kanal nach Djibouti und weiter nach Colombo. Einen vierzehntägigen Aufenthalt in Ceylon nutzt er zur Erkundung der Insel und besonders der Ruinenstädte. Hier machen sich trotz der Euphorie erste Anzeichen von Erschöpfung bemerkbar. Den größten Verdruß bereitet ihm ungewollt sein Mitreisender Ting: Als sie nach Sydney weiterreisen wollen, weigert sich der Zahlmeister des »Polynésien« zunächst, ihn mit an Bord zu nehmen. In Australien gehen die Behörden (wie heute wieder) drakonisch gegen vermeintliche chinesische Einwanderer vor und verlangen horrende Kautionen, ehe sie den zwischenzeitlich selbst erkrankten Ting ein- bzw. ausreisen lassen.
Die Weiterfahrt nach Samoa beschert Schwob nach »Tagen schwärzester Melancholie« immerhin die Begegnung mit Kapitän Crawshaw, der Stevenson noch kannte und ihn an Bord der »Manapouri« mit vielerlei Geschichten unterhält. Auch die ersten Tage in Apia gestalten sich vielversprechend: Schwob besucht den alten König Mataafa, erhält diverse Einladungen, beginnt Samoanisch zu lernen und findet sich – wie früher Stevenson – in der Rolle eines tusitala bzw. tulafala (Geschichtenerzählers bzw. -schreibers) wieder. Dann aber wirft ihn eine Lungenentzündung nieder, die er nur mit knapper Not überlebt. Geldmangel und andere Hindernisse verzögern die ersehnte Heimfahrt. Durch Zufall erfährt er schließlich, daß die »Manapouri« wieder auf Reede liegt, und läßt Crawshaw von seiner Lage in Kenntnis setzen. Der nimmt den völlig Mittellosen mit zurück nach Sydney, von wo er weiterreisen kann. Am 20. März 1902 trifft Schwob, der sich inzwischen »wie ein vivisezierter Hund« fühlt, wieder in Marseille ein. Das mutmaßliche Ziel der Pilgerfahrt, Stevensons Wohnsitz in Vailima und sein Grab auf dem Mount Vaea, hat er wohl nicht gesehen. Er stirbt knapp drei Jahre später, mit Siebenunddreißig, in Paris. Fast scheint es, als habe der Name von Crawshaws Schiff der Reise das geheime Motto vorgegeben: Manapouri bedeutet in der Maori-Sprache »Kummervolles Herz«. Der erwähnte Schriftstellerkollege Vincent O’Sullivan nannte Schwobs Samoa-Fahrt Jahrzehnte später »eine der ungemütlichsten Reisen, die seit den Tagen des Odysseus von einem Sterblichen unternommen wurden«.
Gernot Krämer
Mittwoch, 23. Oktober [An Bord der »Ville de La Ciotat«]
Der gestrige Tag war furchtbar. Ein ununterbrochenes Stampfen bei drückender Luft. Das Deck ähnelte dem Floß der Medusa: nichts als blasse und entkräftete Gestalten. Jede Viertelstunde schleppt sich eine arme Nonne (von denen es vier gibt) aufs Deck, um sich über die Reling zu erbrechen. Obwohl ich mich zeitweise auch unwohl fühlte, zwang ich mich zu essen und habe schließlich trotz des hohen Seegangs gut gespeist. Natürlich sind bei Tisch weiterhin die »Saiten« aufgespannt, und nicht viele kommen zum Diner, das kannst Du mir glauben. Es ist eine schreckliche Überfahrt. Endlich gegen sieben Uhr brach das Unwetter los. Im Westen ein blutroter Sonnenuntergang mit fächerförmig gestreiften Wolken, der den Himmel zu einem ausstaffierten Baldachin machte und sich verschwommen in der Dünung spiegelte. Das Meer schäumend, dunkles Saphir. Im Südosten erhellten gewaltige, überlange, gezackte Blitze den ganzen Horizont; erloschen sie, wirkte das Wasser wie eine dunkle Wüste, in die das Schiff eintauchte; sogleich durchzitterte eine Art elektrisches Leben Wasser und Himmel und Schaum und die große Ebene aus geschmolzenem Saphir.
Als ich um halb zehn schlafen ging, war Ting seekrank. Ich schlief recht gut, heute morgen ist der Himmel bedeckt und das Meer ist stürmisch und farblos, Rollen und Stampfen wirken zusammen. Wir machen anscheinend fünfzehn Knoten pro Stunde und sollen laut Plan morgen abend, Donnerstag den vierundzwanzigsten, gegen sechs in Port Said eintreffen. Ich muß mir Kleider in Weiß oder Khaki kaufen: Das Rote Meer, so heißt es, ist nur in dieser Uniform zu ertragen. Gott weiß, daß ich mich nicht aus eigenem Geschmack so kleiden werde.
Am selben Tag. Zwei Uhr.
Das Wetter hat sich geändert; es ist schön, und ich widerstehe nicht länger der Herrlichkeit des Ionischen Meeres. Hier reicht die Wirklichkeit an die Vorstellung heran. Der blaßblaue Himmel ist mit kleinen weißen Schäfchen übersät, das unnütz plätschernde Meer von einem unbeschreiblich tiefen Blau; das Wasser ist aus geschmolzenem Saphir und indischem Saphir, wie Dein Ring. Eben schaukelte fünfhundert Meter entfernt an Backbord ein ganz weißes Schiff über dieses saphirfarbene Geplätscher, die hohen Segel fischnetzartig aufgespannt. Es glich einer Seemöwe, die ihr Gefieder spreizt. Und rechts von der weißen Möwe, hinter einem See aus flüssigem Saphir, die Berge Kretas, karg wie Pyrenäengipfel, grüngefleckt und dunstverhangen – langgestreckte Berge, die nach Osten ansteigen, ein einziges strahlendweißes Haus an einem gelblichen Paß; dann noch höhere Gipfel, deren glitzernde Felswände sich in leichten Wolken verlieren.
Unsere Position deutet darauf hin, daß wir am morgigen Donnerstag erst gegen Mitternacht in Port Said sind, zu spät, um etwas einzukaufen, denn wir bleiben nur drei, vier Stunden. Der nächste Hafen ist Djibouti, dort kann ich wieder Post aufgeben. Hoffentlich kann ich in Port Said wenigstens ein Telegramm abschikken, damit Du Nachricht hast, bevor Dich dieser Brief erreicht.
Auch die Dummheit der Passagiere reicht, wie die Herrlichkeit des Ionischen Meeres, an die Vorstellung heran. Hier ein Gespräch zwischen drei Herren der besten Gesellschaft, die jeden Abend im Smoking erscheinen; ich habe es gestern von meinem Sessel aus verfolgt.
A: Mein Lieber, haben Sie »Quo Vadis« gelesen? Das ist schön, was? Da gibt es Beschreibungen …
B: Ja, ja, und ich habe »Mit Feuer und Schwert« gelesen. Bewundernswert, diese Polen. Und so munter bei den Gemetzeln, was? Und die vier Helden … Mein Lieber, wissen Sie, woran die mich erinnern, diese vier? Die haben mich erstaunlicherweise an die »Drei Musketiere« erinnert. Aber das da stellt alles in den Schatten.
C: Ich hab’ das alles auch gelesen. Aber es ist nicht leicht mit den vielen Leuten.
Also … Poppäa war doch Cäsars Frau, nicht wahr?
A: Ach, es gibt so viele von den Cäsarn … Aber macht nichts, Sicossié (Sienkiewicz) ist schon ein Pfundskerl. Ach, noch was, Salenbeau (Salammbô) – also, der Aufmarsch der Armeen mit der Beschreibung all der unterschiedlichen Völker – also, das ist herrlich. Ach, Salenbeau ist richtig gut! Aber Sicossié ist unvergleichlich. Da gibt es Gemetzel, mein Lieber …
B: Ja, ja. Ich hab’s mir im Theater angesehen, »Quo Vadis«, mir hat es nicht gefallen.
A: Weil sie es nicht richtig gemacht haben. Das habe ich doch gleich gesagt … Die herrliche Szene in der Arena spielen sie hinter der Kulisse. Wenn sie uns das gezeigt hätten, bei der Sportbegeisterung heutzutage: die Arena, die antiken Spiele, mein Lieber …
B: Ja, aber die Bühne im Porte Saint-Martin … Man hätte schon das Hippodrom gebraucht.
C: Ja, ja, das Hippodrom!
A: Pah! Pah!
C (einen Notizblock hervorziehend): Übrigens wurde mir was zu lesen empfohlen. Es soll ganz lustig sein. Es heißt »Das Gastmahl des Trimalchio«. Von Petron.
A (verächtlich): Dann ist es eine Übersetzung. Außerdem ist es nicht von Sicossié, wissen Sie. Mein Lieber, Sie müssen »Mit Feuer und Schwert« lesen. Stimmt’s?
B: Ja, ja. »Die drei Musketiere«, sage ich Ihnen!
A (mit der Zunge schnalzend): Ah, dieser Sicossié!
Länger habe ich nicht zugehört.
(…)
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 4/2017, S. 480-495, hier S. 480-484
Sciascia, Leonardo
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Sebald, W.G.
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- 2/2010 | Ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht. Zu den Romanen Jurek Beckers
Sebastian, Mihail
- 3/1998 | Tagebuch 1941
Sédar Senghor, Léopold
Seeger, Bernhard
- 1/1974 | Menschenwege
Seel, Daniela
- 1/2020 | Der Garten, in dem man verschwindet. Zum Gartenmotiv in Inger Christensens »Alphabet«
Seeliger, Rolf
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Seferis, Giorgos
- 4/2006 | Der König von Asine
- 1/2017 | »An dieser Kultur gibt es nichts zu retten«. Tagebuchaufzeichnungen 1942. Mit einer Vorbemerkung von Andrea Schellinger
Segal, Ron
- 3/2015 | Die Frau im Pappband
Seghers, Anna
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- 6/1949 | Das Argonautenschiff. Sagen von Jason
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- 3/1952 | Rede bei der Verleihung des Stalin-Friedenspreises in Moskau
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste an ihren Präsidenten [Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf]
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 3-4/1953 | Ein lechtendes Beispiel
- 5/1953 | Tolstoi
- 2/1955 | Brief an Freunde im Westen. Über eine Reise in die Sowjetunion
- 1-2-3/1957 | Brecht
- 2/1959 | Wiedersehen mit sich selbst. Aus dem Roman »Die Entscheidung«
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- 1/1963 | Woher sie kommen, wohin sie gehen
- 2-3/1963 | Walter Ulbricht zum 70. Geburtstag
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- 6/1964 | Für Willi Bredel
- 3-4/1965 | Das Duell
- 2/1966 | Für Alex Wedding
- 5/1967 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
- 1/1968 | Kuba zum Gedenken
- 4/1968 | Franz Woida
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
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- 1/1972 | Sagen von Unirdischen
- 4/1973 | Gespräch mit einem kleinen Jungen über die Entdeckung Amerikas des Christoph Columbus
- 4/1975 | Steinzeit
- 2/1979 | Für Christa Wolf
- 5/1980 | Die jüdische Gesellschaft um Rembrandt
- 2/1984 | Der letzte Mann der »Höhle«
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- 5/1987 | Oktober und nachher
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Seghers, Pierre
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Seibt, Gustav
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- 4/1998 | Einklänge. Zu Heiner Mülles Gedicht »Traumwald«
- 2/1999 | Das Prinzip Abstand, S. 331 Leseprobe
Seibt, Gustav
Das Prinzip Abstand
Daß wir uns zum fünfzigsten Geburtstag von Sinn und Form versammeln können, hat etwas von einem Wunder. Vor zehn Jahren geriet die Zeitschrift, die mit beträchtlicher Würde vierzig Jahre DDR durchlebt hatte, in ernste Gefahr: Sie bekam ein Lob von Erich Honecker. Der Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende sandte dem Chefredakteur Max Walter Schulz ein Glückwunschschreiben, in dem er Sinn und Form »zu den weltweit beachteten Gütezeichen der sozialistischen Nationalkultur der Deutschen Demokratischen Republik« zählte. Als Honeckers Sätze im Juli/August-Heft des Jahrgangs 1989 gedruckt wurden, hatte die Fluchtbewegung, die den Arbeiter-und-Bauern-Staat zwei Monate später zum Einsturz bringen sollte, bereits eingesetzt. Honeckers Gruß hätte sich in dieser Lage leicht als Todeskuß erweisen können.
Doch dasselbe Heft enthielt auch Christoph Heins Drama »Die Ritter der Tafelrunde«, die hochelegante und todtraurige, todmüde Politbüroparodie auf ein versinkendes Artusreich, das seinen Daseinszweck, die Suche nach dem heiligen Gral des richtigen Lebens, aus den Augen verloren hat und am Gefühl der eigenen Sinnlosigkeit eingeht. Oder Rainer Kirschs beißend freche Rezension von Peter Hacks‹ Traktat »Schöne Wirtschaft«: Sie endete mit der Vermutung, daß es in der DDR ein Finanzministerium gar nicht gebe »und das hierorts für Geld geltende Papier kein Geld, sondern unter die Kunstwerke zu rechnen sei; schließlich bekommt man, ganz nach des Autors Bestimmung, manchmal viel dafür und viel öfter nichts«. Schließlich bot Heft 4 dem aufmerksamen Leser eine kurze Abhandlung des damaligen stellvertretenden Chefredakteurs von Sinn und Form, Sebastian Kleinschmidt, über »Kulturzeitschrift als Idee«. Sie lenkte den Blick zum Horizont der westlichen Gegenwart, die, was noch nicht abzusehen war, alsbald zum neuen Kontext der Zeitschrift werden sollte: »Die postmoderne Favorisierung des Partikularen und Heterogenen, das Heimatnehmen in der Differenz, dieses spielerische Glitzern eines Scheins neuer Freiheit im Lichte der Pluralität ist geistige Kapitulation vorm Realeklektizismus der Marktkultur. (...) Was sich am Ende ereignet, ist Ankunft in der Beliebigkeit.«
Das Ensemble der Texte ist so hintergründig, wie man es sich nur wünschen kann: Neben dem Glückwunsch des Parteichefs steht der Abgesang aufs Politbüro, neben der Kritik an der trügerischen Fassade der gelenkten heimischen Volkswirtschaft der Zweifel an den segensreichen Auswirkungen der Marktwirtschaft auf die Kultur. Drei Zeiten überlagern sich: die stehengebliebene Zeit der geplanten Geschichte des Regimes; die bewegte Zeit der sich mobilisierenden Gesellschaft in der DDR; und die fragmentierte, entfesselte Zeit des global werdenden Kapitalismus im Umfeld des eingezäunten Landes. So kontrapunktisch und beziehungsreich müssen Zeit-Schriften funktionieren, so vielschichtig und diagnostisch so treffend. In der Schlußkrise der DDR präsentierte Sinn und Form sich erheblich munterer als der sterbende Staat. Mit Honeckers blechernem Brief ging die Zeitschrift wie spielend um: Sie baute ihn ein als Sinnelement in die Struktur ihrer Form.
Man hat bemerkt, daß der fünfzigerjahrehaft lastende Name Sinn und Form nur eine leichte Abwandlung des allgemeinen Begriffs von Zeitschrift ist, der sich aus den Elementen Zeit und Schrift zusammensetzt. Der Sinn ist das Wandelbare und Flüchtige, das Zeitliche; die Form ist das Bleibende, die dauernde, wenn auch vieldeutige, immer neu zu lesende und zu interpretierende Schrift. Äußerlich sichtbar ist dieses Zusammenspiel von Wandel und Dauer am Deckblatt der Zeitschrift Sinn und Form: Seit fünfzig Jahren und 300 Heften zeigt es unter derselben graziösen Druckgestalt des Titels das aktuelle Inhaltsverzeichnis auf einem von Heft zu Heft wechselnden farbigen Streifband in Stichnotes ansonsten kaum verändertem klassizistischem Entwurf.
Zeitschriften stehen in der Reihe der Publikationsformen genau in der Mitte zwischen dem dauernden Werk und der vergänglichen Presse. Ein Werk ist der Zeit entkommen und kann auf seine Leser warten; Zeitungen sind am nächsten Tag Altpapier und Archivmaterial. Zeitschriften sind ein Ort, an dem die soeben vorfallende Geschichte schon eine überlieferbare Gestalt annimmt, denn sie setzen eine erste Übersicht über das Geschehene voraus. Sie bringen kleine Werke, Essays und Gedichte, Auszüge aus kommenden Werken, schließlich Dokumente in eine Konstellation, in der sie einander wechselseitig beleuchten. Ihre Lichtquelle ist der gemeinsame Zeitpunkt des Erscheinens, die Aktualität von Monat und Vierteljahr. Zeitschriften landen nicht im Müll, sondern im Bücherregal; dort werden sie zu einem über die Jahre fortgesponnenen Werk, das im Lauf ihres Lebens immer vielstimmiger, beziehungsreicher und gewiß auch widersprüchlicher wird. Auch Sinn und Form muß als jahrzehntelanger durchlaufender Text, als von Redakteurshand dirigiertes Kollektivwerk aus vielen Stimmen gelesen werden. Da stehen nun nicht nur Bertolt Brecht und Arnold Zweig, Johannes R. Becher und Stephan Hermlin, Ernst Bloch und Hans Mayer, Franz Fühmann und Volker Braun, Christa Wolf und Sarah Kirsch, Heiner Müller und Peter Hacks, sondern auch Kurt Hager und Leonid Breshnew, Willi Bredel und Alfred Kurella, Stalinlieder und Akademieappelle, Würdigungen zur Oktoberrevolution, zu den Geburtstagen der DDR, zu Walter Ulbricht. Seit 1990 findet man auch Ernst Jünger, Jürgen Habermas und Julien Green, Gelehrte und Essayisten wie Hans-Georg Gadamer, Joachim Fest, George Steiner, Leszek Kolakowski und wie fast zu allen Zeiten Walter Jens. Mit Durs Grünbein hatte Sinn und Form bereits unmittelbar vor der Wende den ersten Lyriker der neuen Zeit vorgestellt. Wirken und überdauern können Zeitschriften aber nur, wenn sie im Wechsel der Jahre etwas Bleibendes ausbilden, einen eigenen Geist und Stil, eine Grundmelodie unter der verwirrend reichen Vielzahl der Stimmen. Was ist in der Vielzahl der Stimmen und Widersprüche der Geist von Sinn und Form?
Geist und Stil von Sinn und Form sind ein Werk von Peter Huchel. Ihm verdankt die Zeitschrift ihren bis heute wirksamen Charakter. Es dürfte in der Literaturgeschichte kaum ein zweites Beispiel einer solchen unmittelbaren Nachwirkung einer einzelnen Person über ihren Tod hinaus geben. Wenn Sinn und Form vom Geist Huchels abwich, und das kam immer wieder vor, dann wurde die Zeitschrift sich selbst untreu, und zwar für den aufmerksamen Leser erkennbar untreu. Angelegt als gesamtdeutsches Forum, sollte Sinn und Form dem werbenden Gedanken einer fortschrittlichen Kulturnation dienen. Wie segenbringende Manen umstanden Klassiker der Emigration die Anfänge der Zeitschrift: Bertolt Brecht, Arnold Zweig, Heinrich Mann und Anna Seghers. Der Gründungsherausgeber Becher ließ unter der Voraussetzung, daß seine eigene Produktion gebührend zur Geltung käme, die Zügel zunächst locker. Die Umbrüche im sowjetischen Block bedrohten allerdings mehrfach die Existenz Huchels und seiner Schöpfung: erst die gespannte Lage vor dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni, dann der Ungarnaufstand, schließlich der Berliner Mauerbau. 1962 verlor er sein Amt und war fortan der Willkür des Staates vollends ausgeliefert. Einen Mann vom Range Brechts, der wie in den fünfziger Jahren seine schützende Hand über ihn hätte halten können, gab es nicht mehr.
Huchel hat am Ende in einem unvergeßlichen Gedicht seine Arbeit mit der Anpflanzung eines Gartens verglichen. Es zeigte sich, daß dieser Garten überwuchert und verändert werden konnte, daß aber seine Anlage nie mehr unkenntlich wurde. Damit war ein unübersehbares Maß gesetzt. Zu seiner politischen Umwelt verhielt sich der märkische Bauernenkel Huchel aber nicht wie ein verspielter Ziergärtner, sondern wie ein dickköpfiger Landmann, der sich in seine Wirtschaft nicht dreinreden lassen will. Sein Garten wuchs und trug die schönsten, überall begehrten Früchte; was hatte das Kollektiv ihm da zu sagen? In Huchels Garten gediehen die langsam wachsenden, sehr zähen und jahrzehntelang fruchtbringenden Bäume der Tradition.
Man hat sich vielleicht noch nicht genügend klargemacht, wie sehr Huchel mit Beständen der näheren und ferneren Vergangenheit gewirtschaftet hat. Zunächst galt es an die abgebrochene Arbeit der Vertriebenen, der Emigration anzuknüpfen. Die Schubladen Lebender und Toter wurden geöffnet: Brecht fand in Sinn und Form einen frühen und wichtigen deutschen Publikationsort nach dem Krieg. Texte des westlichen Emigrationsmarxismus wurden vorgestellt, die oft erst Jahrzehnte später ihre volle Wirkung entfalteten, Essays von Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Ein Zeitalter mußte besichtigt werden, das Zeitalter der deutschen Kulturblüte, die 1933 gewaltsam vernichtet worden war. Aber Huchel griff noch weiter zurück, ins neunzehnte Jahrhundert. Die großen Essay-Serien von Hans Mayer, Ernst Bloch, Werner Krauss, Ernst Fischer und Georg Lukács nahmen eine Inventur und umfassende Revision des bürgerlichen Zeitalters vor: Die deutsche Klassik, Büchner und der Vormärz, der realistische Roman, Wagners Gesamtkunstwerk, überhaupt die Oper wurden auf ihr humanistisches, fortschrittliches, utopisches Potential befragt. All dies stellte Huchel in den Kontext der von den Deutschen versäumten internationalen Moderne, vor allem romanischer Lyrik und französischer Philosophie. Die Überlieferung wurde so zum Gegenstand einer abenteuerlichen Entdeckungskampagne, alles Vergangene schien in Sinn und Form mitten ins Herz der Gegenwart zu treffen. Die Tradition wurde dadurch befreit und auch entgiftet von ihrem Mißbrauch während der Hitlerzeit. Wäre der Begriff nicht besetzt, man könnte von schöpferischer Restauration sprechen; paradoxer sogar von einer progressiven Restauration, fast einer Reformation.
Was das bedeutete, lehrt nicht zuletzt ein Blick nach Westdeutschland, dessen fünfziger Jahre vor der Folie von Sinn und Form oft verhangen und unentschieden, zuweilen sogar unaufrichtig wirken. Hier fand eine andere Restauration statt, die politisch auf die Wiedereingliederung der Belasteten hinauslief, in der Kultur oft auf die allzu schonende Heilung des Bruchs, der eine produktive Wiederherstellung der Tradition eigentlich verlangt hätte. Eine solche Neuaneignung, die der Arbeit Huchels vergleichbar gewesen wäre, hat es aber in der frühen Bundesrepublik zunächst nicht gegeben. Die Vergangenheit wurde in Andeutungen umschrieben, die Katastrophe vielfach ins Numinose gefälscht. Daß mit solcher Schonung die Umsteuerung einer ganzen Gesellschaft - und nicht nur ihres politischen und intellektuellen Überbaus - nach Westen und zur Demokratie nachhaltiger gefördert wurde als durch eine erzieherische Revolution von oben, stellte sich erst im Lauf der folgenden Jahre heraus. Es war die Zeit der Generation Sieburg; sie sah sich bald heftigen Angriffen durch die ungeduldigen Jungen Wilden in der Gruppe 47 ausgesetzt. Die Literatur Westdeutschlands setzte viel früher und selbständiger ein als die Literatur in der DDR, auch weil es in der Bundesrepublik keine Kulturpolitik gab, die erst einmal tabula rasa machen und eine literarische Doktrin durchsetzen wollte. Der Kontinuitätsbruch war in der frühen DDR viel tiefer, und das erschwerte den Neuanfang einer eigenständigen Literatur. So beherrschten die aus der Emigration zurückgekehrten (und sogleich offiziell eingebundenen) Überväter die Szenerie, während die jungen Autoren im Westen sich von den Älteren wie Thomas Mann, Ernst Jünger und Gottfried Benn programmatisch absetzten. Huchel gewährte westlichen Namen wie Enzensberger und Celan kürzere Gastauftritte; am nachhaltigsten aber setzte er sich für einen älteren Autor ein, den exzentrischen Hanns Henny Jahnn. Im Osten war von den Jungen nur der erstaunlich früh vollendete Stephan Hermlin schon da, als Huchel begann. Seine wichtigste eigene Entdeckung war der ihm nur in gewisser Weise wesensverwandte, geheimnisvoll hölzern schwerblütige Johannes Bobrowski.
Will man begreifen, wie es Huchel gelang, während einer Epoche relativer kultureller Armut in nur vierzehn Jahren eine Jahrzehnte weiterwirkende Tradition zu schaffen, dann muß man sich vergegenwärtigen, wie sehr er mit dem Pfund der Vergangenheit wucherte. Er verlängerte seine Tradition bis weit ins bürgerliche Zeitalter. Dies sollte sich bald auch als politisch weise herausstellen. Die klassischen Bestände ließen sich, als das Klima unfreundlich und unwirtlich wurde, nicht einfach abtun oder in den Tagesdienst nehmen. Auch war die Zeitschrift nicht so leicht unter den Verdacht ostzonaler Voreingenommenheit zu stellen. Huchels vergegenwärtigte Vergangenheit und sein Sinn für das Aktuelle machten Sinn und Form während der fünfziger Jahre zum »geheimen Journal der Nation« (Walter Jens).
Peter Huchel gab seiner Zeitschrift eine Tradition mit, die er mit dem Gewicht einer bedeutenden Vergangenheit beschwert und dadurch einigermaßen sturmfest gemacht hatte. Das zweite, was er ihr hinterließ, war seine redaktionelle Methode. Es war eine Methode des Komponierens, der verweigerten Erläuterung, des Redens in fremden Stimmen. Damit hatte Huchel Sinn und Form Eigenschaften mitgegeben, die der Zeitschrift nach seiner Ausschaltung das Weiterleben erlaubten. Als Lyriker war Huchel darauf geeicht, viel mit wenigen Worten oder nur mit Andeutungen und Chiffren zu sagen. Auch sein redaktionelles Verfahren - eine raffinierte Übersteigerung des vielstimmigen Prinzips von Zeitschrift - war letztlich lyrisch, also vielfach indirekt; es vertraute auf knappste, oft nur angedeutete Aussagen oder ließ Konstellationen wirken. So konnte Huchel auf Programmatik verzichten und sich unnötige Kollisionen mit der ideologischen Obrigkeit ersparen. Zu Hilfe kam ihm dabei sein untrüglicher Geschmack, ein kritisches Sensorium, das seine eigene Produktion zuweilen beengte, ihn aber zu einem glänzenden Chefredakteur machte. Sein Schlußheft, die berühmte Doppelnummer von 1962, war ein dann doch offen provokatives Meisterstück solcher indirekten Rede, das seine Wirkung nicht verfehlte.
Huchel, darin besteht seine geniale Leistung, schuf ein Instrument, das unter den Bedingungen rationierter Freiheit durch Tradition und redaktionellen Stil mehr als nur überlebensfähig war. Das Ansehen, das er mit der Zeitschrift errungen hatte, ließ es dem Regime von vornherein nicht angezeigt scheinen, sie bei seiner Ausschaltung einzustellen. Wilhelm Girnus, der nach einem kurzen Zwischenspiel - Bodo Uhse verstarb nach nur halbjähriger Amtszeit - die Leitung übernahm, war ein gebildeter Mann, ein Kenner und Verehrer Goethes, der durch die Lager des Dritten Reichs gegangen war, politisch höchst ehrgeizig, ein geistiger Parteisoldat, der sich mit Freuden in jegliches ideologische Kampfgetümmel warf. Sein Geschmack war naturgemäß ganz anders als der Huchels, doch er war nicht gewillt, aus Sinn und Form etwas Mittelmäßiges zu machen. Er begriff die Zeitschrift ebenso wie sein Vorgänger auch als Instrument der Außendarstellung und erlag im übrigen dem Zauber der Huchelschen Gartenanlage, für die er sofort Besitzergefühle entwickelte. So wurde, gestützt von der Huchel-Tradition und durch die Anwendung des bewährten Mittels der indirekten Rede, schon bald wieder überraschend viel möglich in Sinn und Form.
Allerdings vollzog sich eine Veränderung in der Wirkungsweise, da durch den Bau der Mauer aus dem bisher politisch noch nicht vollständig abgeschotteten Staatsgebilde ein hermetisch geschlossener Raum geworden war. Damit verwandelte sich auch das Verhältnis von Zeitschrift und Regime. Es bedarf heute der Anstrengung historischer Phantasie, um sich die Situation klarzumachen, in der schon Huchel wirken mußte. Zwar hatte er seine redaktionelle Entscheidungsfreiheit stets erbittert und weitgehend erfolgreich verteidigt, dennoch ist auch er um Zugeständnisse, Rücksichtnahmen und Kompromisse nicht herumgekommen. Bestimmte grundsätzliche äußere Schranken waren ohnehin nicht zu überwinden. Huchel hätte gewiß keinen erklärten Antikommunisten oder auch nur Antimarxisten drucken können, wie hoch er immer seinen literarischen Rang eingeschätzt hätte. Heimito von Doderer etwa, um nur einen der bedeutendsten Autoren der fünfziger Jahre zu nennen, dessen ganze Romantheorie ein Angriff auf das totalitäre Denken des Jahrhunderts, nicht zuletzt aber den Kommunismus bedeutete, wäre in Sinn und Form völlig undenkbar gewesen. Selbst eine Freud-Abhandlung von Arnold Zweig lehnte Huchel zu dessen Verärgerung ab. Auch konnten die Konzessionen zuweilen beträchtlichen äußeren Umfang annehmen und wie 1951 ein dreihundertseitiges Sonderheft mit Becher-Gedichten über die Wirtschaft der Sowjetunion umfassen. Es gab Stalin-Panegyrik und ein Sonderheft zu Jugendfestspielen. Doch trotz dieser Rücksichtnahmen und Konzessionen hat man immer den Eindruck, daß der parteilose und persönlich oft reserviert wirkende Huchel Herr des Verfahrens blieb. Nach seinem Ausscheiden verwandelte sich die Logik der Konzession in eine Logik der Abweichung. Während die Zeitschrift zuvor ein vom Regime widerwillig respektierter Außenseiter war, wurde sie nun eingemeindet, von der Macht adoptiert. Dennoch erlaubte sie sich immer wieder den einen oder anderen, zuweilen sogar lebensgefährlichen Vorstoß. Während der Zeit der geschlossenen DDR lebte Sinn und Form nach einer Maxime Goethes: »Es wird einem nichts erlaubt, man muß es sich nur selber erlauben; dann lassen sich's die anderen gefallen oder nicht.«
Dabei ist die Zunahme an Unfreiheit nicht zu übersehen. In der Zeit von Girnus fand auch ein Generationenwechsel bei den Autoren statt, nun erst kamen die nachgewachsenen zeitgenössischen DDR-Schriftsteller zu Wort. Damit entstand eine neuartige Konfliktzone zwischen Literatur und Regime, in der sich die Affären der folgenden Jahrzehnte abspielten, Auseinandersetzungen wie die um Müllers »Umsiedlerin«, um Günter Kunert und Volker Braun bis hin zur Ausbürgerung von Wolf Biermann. In diesem Spannungsfeld zog sich die Zeitschrift - wie die Autoren des eingezäunten Landes überhaupt - immer wieder auf eine Kultur des Andeutens und Anspielens, des Flüsterns und Raunens, der gut gespielten Vornehmheit zurück, nun wucherte die Kunst der Allegorie und der Analogie. Es entwickelte sich zwischen großen Kühnheiten auch etwas Unfrisches, das, was ein westlicher Kritiker einmal »die lahme holzpapierene Würde« von Sinn und Form genannt hat. Man darf aber auch nicht ungerecht sein und die Wirkung der Abweichungen unterschätzen. In einem System rationierter Freiheit wirkt jedes Stück des knappen Gutes doppelt und dreifach, und Sinn und Form, von dem die einzelnen Hefte nicht vorher genehmigt, sondern erst hinterher bewertet wurden, besaß den höchsten im DDR-System überhaupt erreichbaren Grad von Freiheit. Manche der von Girnus riskierten Abweichungen haben noch heute etwas Atemberaubendes: die heftige Debatte, die 1971 durch Adolf Endlers Aufsatz über die junge Lyrik der DDR und ihre Behandlung in der Germanistik des Landes ausgelöst wurde; Ulrich Plenzdorfs »Neue Leiden des jungen W.« von 1972, die wir im Westen schon vier Jahre später in der Schule lasen, ohne im geringsten an die DDR zu denken; und natürlich Volker Brauns »Unvollendete Geschichte« von 1975, das freieste und verzweifeltste Wort über die DDR, das innerhalb ihrer Grenzen vor 1989 gesprochen worden ist und ein überwältigender Text deutscher Prosa. Nach der Biermann-Ausbürgerung wurden solche Radikalitäten zunächst wieder unmöglich. Der Angriff von Annemarie Auer auf Christa Wolf, der 1977 in Sinn und Form zu lesen war, ist kein Ruhmesblatt der Zeitschrift, immerhin führte er zu Diskussionen, in denen Wahrheiten gesagt wurden, die vorher nicht zu hören waren. Die besten Schriftsteller wie Heiner Müller, Peter Hacks und Günter de Bruyn blieben Stammautoren der Zeitschrift, Stephan Hermlin vertrat weiter eine Weltläufigkeit, die sich vom allgemeinen Charakter des Regimes provozierend abhob. Friedrich Dieckmann wagte es, in einem Essay über Thomas Mann an die verheerende Rolle der Kommunisten beim Untergang der Weimarer Republik zu erinnern. Unter Max Walter Schulz, einem der Partei verbundenen Romanautor und Literaturfunktionär, der 1983 Girnus nachgefolgt war, wiederum nach einem kurzen Zwischenspiel - auch Paul Wiens starb schon nach wenigen Monaten -, wurde die Redaktion immer dreister: 1985 bis 1988 brachte sie Nietzsche in die Diskussion, über dem immer noch das Verdikt von Lukács hing und der in der DDR niemals gedruckt wurde; 1988 wurde zum Entsetzen von Kurt Hager ein selbstquälerischer Text Bechers aus dem Jahre 1956 publiziert, der den Terror der Stalinzeit benennt, allerdings der Selbstzensur des Autors zum Opfer gefallen war. Was Sinn und Form sich im Sommer 1989 herausnahm, haben wir gesehen.
Die Abweichungen der achtziger Jahre trugen einen stärker ideologischen Charakter; mit einer Neubewertung Nietzsches und einer Diskussion der Stalinzeit berührte man dogmatische Grundlagen des Systems. Die Abweichungen der Girnus-Zeit waren überaus wirksam, aber eher reformatorisch gewesen: Sie beruhten auf der Konfrontation der offiziellen Lehre mit Empirie. Endler verwies auf die Wirklichkeit einer neuen Dichtergeneration; Plenzdorf griff die Sprache und Gefühle der Jugend auf; Braun wagte es, von Staatssicherheit und Ausreise zu sprechen; in Heiner Müllers Stücken war vom Terror der Geschichte die Rede, von Blut und Opfern; Dieckmann beharrte auf einem historischen Faktum.
Die Logik ideologischer Abweichung hat ihre Entsprechung auf dem Gebiet des Ästhetischen. Es gibt eine semiotische Analogie zwischen Staatssozialismus und Klassizismus. Der Staatssozialismus schuf einen Raum gedämpfter, verstetigter Wirklichkeit, ein Universum reduzierter Reize und verknappter Freiheiten, ein System von Einschränkungen und Grenzen. Kleine Übertretungen machten hier einen gewaltigen Effekt; etwa so, als würde man in einer Kirche plötzlich laut über Alltagsgegenstände losreden. Ganz ähnlich funktionieren traditionsverhaftete, auf vorgängige Klassiker orientierte Formensysteme. Musterhafte Werke können immer nur variiert werden, ohne daß sich aber das Grundmuster verleugnen ließe. Je strenger die Regeln, desto effektvoller die Abweichungen. Auch eine in diesem Sinn normative, klassizistische Ästhetik schafft eine Sphäre reduzierter Reize, kleiner Amplituden; geringe Proben Empirie vermögen hier enorme Wirkungen zu erzielen. Die DDR war ein nach der Theorie gebautes Gebilde, ein künstliches Regime, eine Tyrannis wie Burckhardts grausamer Staat als Kunstwerk; das machte sie so empfindlich für die Opposition der Künstler.
Schon Huchels Revision und Neubelebung der Traditionen trug dazu bei, einen Kosmos ästhetischer Musterhaftigkeit in der DDR zu schaffen. Wer als Nach- und Neuleser die westdeutsche und die DDR-Literatur mit naiv kulturtypologischem Blick vergleicht, dem fällt die nationale Traditionsverhaftetheit der östlichen Literatur auf, ihr Bezug auf vergangene Vorbilder. Die Modelle der westdeutschen Literatur lagen bis in die siebziger Jahre teils in Amerika, teils bei Kafka und Musil. Beide Quellen waren den jungen Autoren in der DDR weitgehend versperrt; von der klassischen Moderne vor 1933 waren ihnen die formal konservativeren Schriftsteller, Brecht und Thomas Mann zugänglich, »dekadente« Autoren wie Kafka, Musil, Joyce und Proust dagegen erst spät und unter Schwierigkeiten. Im musterhaften sozialistischen Staat sahen sich die Dichter handwerklich vielfach auf ältere Vorbilder verwiesen.
Die großen Autoren der DDR, die auch die wichtigen Beiträger von Sinn und Form waren, wirken so zuweilen wie Wiedergänger oder Schatten aus der Literaturgeschichte. Ist Heiner Müller, der Stoiker, der Staats- und Geschichtsdramatiker, der Allegoriker, der in Terror und Blut schwelgt, der Vergänglichkeitslyriker, nicht ein moderner Barockdichter, ein Caspar Lohenstein unserer Tage, dessen Antike nicht griechisch oder römisch-republikanisch, sondern römisch-kaiserzeitlich ist, die blutige Barockantike von Lukan und Seneca? So mag Volker Braun mit dem erhitzten Scharfsinn seiner Sprache, seiner französischen Dialektik und seiner deutschen Erlösungssehnsucht wie ein Wiedergänger Büchners wirken; Christa Wolf wie eine Schwester der romantischen Frauen und ihrer bedingungslosen Seelenhaftigkeit; Günter de Bruyn vertritt den bürgerlichen Realismus Fontanes und Raabes Humor, so wie Erwin Strittmatter den titanischen Volksrealismus eines Fritz Reuter auf untitanische Lausitzer Art weiterführt. Peter Hacks kommt wie Müller von Brecht, verwandelt sich aber zum Goetheaner und bleibt Regelpoet; bei ihm wirkt die Klassik parodistisch, politisch geradezu bonapartistisch, sie wird zu einem brillanten, giftigen Biedermeier, dem wie bei Tieck die Tonfälle vieler Epochen zur Verfügung stehen. Bei Franz Fühmann lebt die Novelle weiter, nicht ohne Züge des Volkstümlich-Reißerischen und Gefühligen, einen Untergrund von Cooper und Karl May, der seine Stifterlandschaften mit starken Reizen anreichert. Und Stephan Hermlin, dessen Lyrik ein Ausläufer des von Stefan George neukonstituierten nachgoetheschen Klassizismus ist, schrieb seine Biographie als Heiligenlegende, als kommunistisches Leben in Bildern.
Die Sinn-und-Form-Kultur der Abweichung und der indirekten Mitteilung, der Variation und Kontrafaktur von Traditionen, ist nur ein sublimer Ausdruck der allgemeinen literarischen Situation in der DDR, wo die Kunst genauso wenig autonom war wie einst im absolutistischen Staat. Diese vormoderne Lage, die der Literatur die Wahrnehmung vieler außerliterarischer Aufgaben zuwies, ließ auch vormoderne Ausdrucksformen gedeihen. Nach dem Mauerfall sprach Stephan Hermlin melancholisch von einer Ideal-DDR, die nie wirklich geworden sei, einer »DDR hinter der DDR«; wenn es je einen Vorschein dieser platonischen Idee von DDR gegeben hat, dann in Sinn und Form. Die Zeitschrift war so viel besser als der sie umgebende Staat, wie ein Garten besser ist als eine Monokultur, aber sie lebte auch als Deutsche Demokratische Geistesrepublik in und von der gleichen Unfreiheit wie der Rest des Landes. Honeckers Worte zum vierzigsten Geburtstag waren nicht nur hohles Lob: sie hatten einen Beigeschmack von Wahrheit, und das machte die Zustimmung von oben so bedrohlich.
Das Überleben der Zeitschrift und ihre hocherfreuliche Vitalität zehn Jahre später sind unter solchen Auspizien alles andere als selbstverständlich. Erleichtert wurde beides durch die Offenheit, mit der sie in allen Phasen ihres Bestehens die internationale Literatur berücksichtigt hatte, einen Kosmopolitismus, der wenig zu tun hatte mit dem deklamatorischen Internationalismus der östlichen Funktionärswelten. Trotzdem war die Situation für Sinn und Form nach der Wende durchaus prekär. Die Zeitschrift hatte ihre Wirkung in einem Raum gedämpfter Reize erzielt; nun betrat sie einen Raum tausendfach vervielfältigter Reize, das mediale Universum der westlichen Öffentlichkeit. Marktwirtschaft ist ein ins Gesellschaftliche übersetzter Naturzustand, an dem die Öffentlichkeit der Massendemokratie mit ihren agonalen Zügen Anteil hat. Die westliche Welt muß, vom klösterlichen Mangelklassizismus der östlichen Lebensform aus gesehen, pantagruelisch, überbordend, unersättlich gewirkt haben. Dieser Welt mit abweichender Empirie oder variierter Tradition zu kommen, ist erst einmal zwecklos. 1989 hatten die Codes der indirekten Rede zu großen Teilen ausgedient.
Es hätte in dieser Lage nahegelegen, sich dem Allerneuesten anzuschließen, das zufällig auch das moralisch Bequemste gewesen wäre, dem postmodernen Relativismus nämlich, und beim Rennen nach der jüngsten Mode mitzumachen. Das Vornehme von Sinn und Form hätte zu etwas Schickem und Schrillem werden können, in dem sich aber auch ein beleidigtes Ressentiment gut hätte konservieren lassen. Die Redaktion hat sich in mehrfacher Hinsicht anders entschieden. Die Geschichte von Sinn und Form und darüber hinaus die Geschichte der Literatur und ihrer Gängelung in vierzig Jahren DDR sind seit 1989 ein dauerndes Thema der Zeitschrift. Kein Jahr, in dem nicht ein dickes Paket Dokumente, Briefe, Protokolle, unterdrückter Texte in Sinn und Form zugänglich gemacht würde. Hatte Huchel eine progressive Restauration betrieben, sehen wir hier eine kritische Kontinuitätspflege. Die verstorbenen Protagonisten kommen mit Nachgelassenem zu Wort, die lebenden in Gesprächen und Rückblicken. Der epochale Wechsel ließ sich so mit einer erstaunlichen Kontinuität vieler Autoren überbrücken, ohne dabei den Bruch und die mit ihm verbundenen Schuldfragen zu überspielen. Die Geschichte der Huchel- und neuerdings auch der Girnus-Zeit läßt sich den jüngsten Heften von Sinn und Form entnehmen. Das ist keineswegs selbstverständlich, es war aber notwendig, um der Zeitschrift ihre Integrität und moralische Autorität zu sichern. Die Geheime DDR, die Sinn und Form eben auch war, hat ihre Archive aufgemacht und Öffentlichkeit hergestellt.
Es ist kein Zufall, daß die führende Kulturzeitschrift der alten Bundesrepublik, der Merkur, eine Zeitschrift für europäisches Denken sein wollte, während Sinn und Form aus Beiträgen zur Literatur bestand. Die DDR war ein Staatswesen auf denkerischer Grundlage, wie verzerrt und willkürlich diese Grundlage auch immer umgesetzt worden sein mag. Ein vergleichsweise geschlossenes Gedankensystem wie die Staatsideologie der DDR ließ sich von jener Empirie, aus der Literatur sich immer nährt, leicht angreifen und bezweifeln. Das Verhältnis von Sinn und Form zum umgebenden System war das von Nominalismus zum begrifflichen Realismus; sie wendete den poetischen Realismus der sozialistischen Ästhetik, ihr mimetisches Potential, listig gegen den ideologischen Begriffspanzer der sozialistischen Staatsdoktrin. Eine Erziehungsdiktatur mußte auf die naturgetreue Schilderung der Ausdrucksweise und des Aufbegehrens beim jungen W. von Plenzdorf alarmiert reagieren.
Der vollkommen immanenten, diesseitig-üppigen Lebensweise des Westens kann man mit solcher Mimesis von Wirklichkeit nur schwer beikommen. Empirismus ist im Kapitalismus ganz ungefährlich; er wird einfach verschluckt. Wenn Sinn und Form das Prinzip Abstand aufrechterhalten wollte, in dem die eigentliche Wirkungsweise der Zeitschrift bestand, mußte sie ihre begriffliche Grundanlage umstellen. Sinn und Form wurde philosophischer und theologischer. Zum ersten Mal wurde über Schuld und Tod reflektiert, wurden die Katastrophen des Jahrhunderts nicht nur unter historischen, sondern auch unter existentiellen und anthropologischen Kategorien verhandelt. Die pessimistische Erbschaft der Zeit wurde aufgenommen, und man erfährt staunend, wie reichhaltig, geistvoll und gewichtig dieser die geschichtsphilosophische Epoche begleitende Pessimismus war. Auch das ist europäisches Denken. Die allenthalben zu verzeichnende Wiederkehr der Kulturkritik wurde auch in Sinn und Form eingeleitet.
Dieser Szenenwechsel hat wiederum eine ästhetische Seite, die der Zeitschrift eine paradoxe Kontinuität mit ihrer Vergangenheit nahelegt. Die vergleichsweise traditionsverhaftete Literatur der DDR, die auf Mimesis bewußt nicht verzichtete - Nachahmung klassischer Muster und Darstellung sozialer Wirklichkeit - und sich vom Formalismus der europäischen Avantgarden seit 1910 absetzte, läßt sich heute unter einem neuen Gesichtspunkt betrachten. Längst nämlich hat sich der formale Avantgardismus des zwanzigsten Jahrhunderts totgelaufen, anders freilich, als die Kulturbeauftragten der Zentralkomitees es erwarteten; er ist an logische Endpunkte gelangt, angekommen bei der reinen Farbe, dem Geräusch, der Lautmalerei, der auf die Bühne oder ins Museum versetzten ungeformten Lebenswelt. Eine der Folgerungen, die sich daraus ergeben, bestimmt gegenwärtig die literarische Lage: das postmoderne Zitat. Die Postmoderne zitiert die überkommene Werkhaftigkeit und produziert ironische Rekombinationen klassischer Muster. Die Tradition der DDR-Literatur wirkt von heute aus betrachtet wie eine Postmoderne ohne Ironie. Die ästhetische Möglichkeit von Sinn und Form mag daher aus einer Verbindung von Pessimismus und Alexandrinertum bestehen; der Pessimismus bleibt ungerührt von der bunten Heiterkeit der Warenwelt, das Alexandrinertum begeistert sich an der bunten Fülle des historisch Möglichen. In dieser Zeitschrift behält der tausendfach vervielfältigte Sinn einen Grenzgott: die Form. Der fortschrittliche Klassizismus wird spätzeitlich; man wünscht ihn sich vielleicht gesalbt mit einem Tropfen vom Öl des demokratischen Humors. Auch die Ironie ist ein Mittel des Abstands, nicht zuletzt des Abstands von sich selbst, und Kulturkritik ohne Humor wird bald altbacken.
Der Auftrag, den Sinn und Form von Peter Huchel ererbt hat, ist die Verteidigung der geistigen Freiheit. Geistige Freiheit aber ist nur als Freiheit des einzelnen möglich. In allen Äußerungen der Feinde Huchels spiegelt sich der nicht selten bis zum Haß gesteigerte Widerwille gegen die Selbstbestimmung, selbst gegen die Absonderung des Individuums. Kurt Hager mokierte sich über Huchels vornehme Zurückhaltung nach Art der englischen Lords und die angebliche philosophische Skurrilität des dichtenden Chefredakteurs, und auch der Nachbar, der ihn jahrelang für die Staatssicherheit beobachtete, fand ihn hochmütig und reserviert. Mit dem Abstand zu Kollektiv und Volksgemeinschaft, den Huchel peinlich genau einhielt, provozierte er die Spitzel- und Blockwartinstinkte, die im trüben Bodensatz der deutschen Gesellschaft so gut gedeihen. Man glaube nicht, daß dieser geistfeindliche Kollektivismus heute ausgestorben ist. In neuen Verkleidungen lebt er weiter, als modische Entspanntheit, die sich nicht kulturkritisch die Laune verderben lassen will, als politische Korrektheit, die den abweichenden Gedanken nicht einmal zu
diskutieren bereit ist, vor allem aber in den Jagdinstinkten der Medien, die ihre Opfer im Namen einer reflexhaften Moral malträtieren. Die geistige Freiheit ist heute zwar nicht mehr legalistisch rationiert, dafür aber durch soziale Vorverständnisse und moralische Mechanik gefährdet. Auch heute tönt wieder eine Kritik, die das lesbare Buch zu allgemein interessierenden Stoffen fordert und das vermeintlich Abseitige dem Gelächter preisgibt.
Es gab noch nie ein Jahrhundert, das wie das zwanzigste durchgehend -durch alle Systeme und Epochen - das Ressentiment der Mehrheiten und des gesunden Menschenverstandes so gegen die Kunst mobilisiert hat. Ob entartete Kunst oder Formalismus und Dekadenz: Die Formeln dienten dem Totschlag und der Verhinderung von Freiheit. Die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Demokratie bleibt bestehen, Sinn und Form hat sie jüngst formuliert als Frage an das einundzwanzigste Jahrhundert. Sie ist eine aktuelle Version des zweihundert Jahre alten Zwiespalts von Freiheit und Gleichheit. Viele Bereiche der modernen Kultur, zum Beispiel Rechtswesen oder Bildung, müssen den Antagonismus bei sich selbst zum Ausgleich bringen. Für Kunst und Philosophie gilt, daß ihr Ort wesensgemäß auf der Seite der Freiheit liegt, selbst wenn sie egalitären Intentionen folgen. Denken und Gestalten unterliegen nicht dem Mehrheitsprinzip. Eine Antwort auf das Problem von Kunst und Demokratie, das uns immer noch beschäftigt, hat Bertolt Brecht gegeben, und sie wurde von Peter Huchel auf den Seiten von Sinn und Form gedruckt; sie steht im Doppelheft 5/6 von 1961: »Es gibt viele Künstler - und es sind das nicht die schlechtesten -, die entschlossen sind, auf keinen Fall nur für diesen kleinen Kreis von &Mac221;Eingeweihten&Mac220; Kunst zu machen, die für das ganze Volk schaffen wollen. Das klingt demokratisch, aber meiner Meinung nach ist es nicht ganz demokratisch. Demokratisch ist es, den &Mac221;kleinen Kreis der Kenner&Mac220; zu einem großen Kreis der Kenner zu machen.« Brecht begründete diese Position nicht mit einer elitären Genieästhetik, sondern mit dem technisch-handwerklichen Charakter von Kunst, ihrem Entstehungsprozeß, der bei ihrer Betrachtung mitbedacht sein will. Niemand käme heute auf die Idee, die ungelösten Fragen der Teilchenphysik oder das Fermatsche Problem zum Gegenstand von Plebisziten zu machen. Ebensowenig haben sie auf dem Gebiet der Kunst zu suchen. Huchel hat einen Garten angelegt, an dem jeder mitbauen kann, der die entsprechenden Voraussetzungen mitbringt. Die Zeitschrift Sinn und Form hat nichts Ausschließendes, aber sie nimmt ihre Leser so ernst, daß sie ihnen seit fünfzig Jahren nicht nur viel bietet, sondern auch viel abverlangt. Vielleicht ist das wirklich nur in Kulturzeitschriften möglich, die wie der Merkur von einer Stiftung getragen oder wie Sinn und Form von einer Akademie mäzenatisch unterstützt werden. Dadurch, daß die Akademie der Künste nach 1989 bereit war, die Zeitschrift weiterzuführen, hat sie einen bedeutenden Beitrag zur geistigen Freiheit in Deutschland geleistet. Redaktion und Leser müssen ihn nutzen.
Wer dreihundert Hefte aus fünfzig Jahren durchgesehen hat, um sich ein Bild von ihrem kaum überschaubaren Ganzen zu machen, fühlt sich arm vor dem Reichtum, der hier bewahrt ist. Er wartet voller Neugier auf jede Fortsetzung dieses sehr langen Textes.SINN UND FORM 2/1999, S. 205-218
- 4/2002 | Niemand ist auf der sicheren Seite. Rede zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an Götz Aly
- 3/2005 | Der Roman von Gott. Mythos und Monotheismus in Thomas Manns »Josephs«.Trilogie
- 1/2007 | Entdecker, Herold, Analytiker. Rede auf Eduard Beaucamp
- 4/2007 | Vom Bürgerkönigtum. Laudatio auf Karl Heinz Bohrer
- 1/2012 | Im Dunkeln sehen lernen. Laudatio auf Arnold Esch
- 4/2018 | Herman Grimms »Goethe«
Seidel, Gerhard
- 5-6/1962 | Kurt Tucholsky als Literaturkritiker
- 3/1968 | Links vom Möglichen. Zur Lyrik Erich Kästners
- 1/1979 | An den Quellen der Brecht-Forschung
- 5/1980 | Vom Kaderwelsch und vom Schmalz der Söhne McCarthys
- 6/1982 | Aus dem Bertolt-Brecht-Archiv. Im Lehrplan fehlen die abschreckenden Beispiele
- 1/1984 | Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss´ »Die Ästhetik des Widerstands«
- 6/1986 | Brecht im Gehäuse
- 1/1988 | Saiäns-Fiktschen bei Brecht
Seidemann, Maria
Seifert, Ilja
- 2/1985 | Einander ernstnehmen
Seifert, Jaroslav
Seiler, Lutz
- 2/2001 | Gedichte
- 2/2002 | Gelobtes Land
- 2/2003 | Im Kieferngewölbe
- 3/2005 | Das Mysterium des Faustschlags
- 3/2008 | Spaziergänge ins Niemandsland
- 4/2010 | Gedichte
- 4/2010 | Im Wald der Welt. Zu Oskar Loerke
- 1/2011 | Der Geruch der Gedichte. Dankrede zum Fontane-Preis
- 4/2013 | Die Insel
- 6/2014 | Der Ort wo die Toten sind. Dankrede zum Uwe-Johnson-Preis
- 2/2017 | Meine Wohnung
- 1/2019 | Der einzige Weg
- 5/2020 | Prometheus als Kind. Gedichte
- 3/2021 | Heimwärts, im Regen. Gedichte
- 2/2023 | Die Moosbrand-Geschichte, S. 371 Leseprobe
Seiler, Lutz
Die Moosbrand-Geschichte
Grüne Schläfen
Woran ich mich erinnere: daß Schnee gefallen war am Abend der ersten »moosbrand«-Lesung im Spätherbst 1993. Die Adresse hieß An der Trift 5 in Wilhelmshorst. Elf Autorinnen und Autoren lasen ihre unveröffentlichten Texte und sprachen darüber, die meisten kannten sich schon aus den achtziger Jahren und waren befreundet, darunter Elke Erb, Thomas Böhme, Cornelia Saxe, Thomas Kunst, Nadja Gogolin, Jörg Schieke, Katrin Dorn, Klaus Michael. Einige kamen aus Berlin, einige waren aus Leipzig angereist – man würde übernachten, man nahm sich die Zeit.
Schon am Nachmittag, während unserer Wanderung über die Felder von Wilhelmshorst nach Langerwisch und Wildenbruch, hatte es zu schneien begonnen. Wir gingen die Chaussee nach Langerwisch hinunter; ich erinnere mich, daß ich zu Thomas Böhme, der in den ersten Jahren des Schreibens ein Freund und Mentor gewesen war, eine abfällige Bemerkung machte über das Wort Langerwisch auf dem Ortsschild: »Langerwisch, schon vom Klang her unbrauchbar«, so oder so ähnlich redete ich, halb zu Böhme, halb vor mich hin, ich hing damals einem Ästhetizismus an, der die sogenannte Wirklichkeit für minderwertig hielt, mit der äußeren Welt war literarisch nicht viel anzufangen, und ich erinnere mich auch an Böhmes Antwort, die mich zurechtwies. Tatsächlich kannte ich das Gedicht noch nicht: »Kindheit in Alt-Langerwisch« aus Peter Huchels erstem Gedichtband, erschienen 1948: »Kindheit, oh blühende Zauch …« In einem Brief an seinen Übersetzer Ludvík Kundera schreibt Huchel: »Die Zauch, meist ›Alte Zauche‹ ist der Landschaftsname meiner Heimat.« Inzwischen kann bedauert werden, daß niemand fotografiert hat, während wir so durch die Zauche zogen. Vielleicht, weil es mit der Situation und dem Gefühl ihrer Besonderheit gebrochen und, so verstehe ich es heute, als Verstoß gegolten hätte gegen das Selbstverständnis dieser Tage.
Ich erinnere mich an die große Runde, in der wir dann saßen, um uns vorzulesen, und an die Hochstimmung in Erwartung der neuen Gedichte. Alles war festlich, der große Raum, die offenen Flügeltüren; die Lesung dann sehr lang und die Gespräche kontrovers. Unveröffentlichte, vielleicht sogar unfertige Texte zu lesen, setzte ein gewisses Maß an Vertrauen und Stabilität voraus, nicht nur, um den Ad-hoc-Rezensionen Elke Erbs gewachsen zu sein. Nur wenige im Kreis hatten schon eigene Bücher, einige befanden sich genau auf dieser Schwelle vor dem ersten Buch, in dieser besonderen, unter Umständen verletzlichen Phase der Arbeit.
Ich erinnere mich auch, daß Thomas Kunst, der sich damals »der Highlander« nannte (das war der Titel einer Serie, die gerade im Fernsehen lief), plötzlich nicht darauf verzichten konnte, seine Kritik mit der Fanfare »da krieg ich grüne Schläfen« einzuleiten, ein Wort, das sich mir bis heute, warum auch immer, tief eingeprägt hat: Der Highlander mit grünen Schläfen, im Grunde war das schon ein Bild für »moosbrand«, etwas zwischen »Waldgang« und »unheimlichem Hulk«, der Klang eines kräftigen Schreitens ins Hochland der Literatur, aber noch nicht das Initial für den späteren Namen.
Dabei ist Thomas Kunsts Kritik kein besonders treffendes Beispiel, denn es ging nicht um die eitle Attacke. Entscheidend in diesem Kreis war der unvermittelte Austausch, Ausdruck einer Selbstermächtigung und etwas, das Gert Neumann einmal »den außerordentlich seltenen Spannungsraum der Begegnung« genannt hat, ein Raum für Literatur jenseits der Institutionen, gründend auf bestimmten Überzeugungen, etwa auf jener von der Unbedingtheit des Gedichts: Gerade seine fehlende kommerzielle Verwertbarkeit begründete die Ausnahmestellung des Genres und zugleich sein utopisches Potential, es begründete das Kostbare (nicht zu Fotografierende) dieser Begegnung, aus der die Zeitschrift »moosbrand« hervorgehen sollte. Ein autonomer Ausgangspunkt, der es erlaubte, auf »eindeutig doppeldeutige Stellen« (Jörg Schieke) zu verzichten: Anschlußfähigkeit, an welchen Diskurs auch immer, mußte in dieser Runde nicht bewiesen werden.
Sicher, wer zu dieser Zeit, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, »Erfolg« hatte und womit, wurde nicht weniger heftig diskutiert – dafür gab es die Pausen und Getränke, Getränke genug für den Verriß von allem und jedem, doch ohne Bitternis, falls möglich, denn letztlich war das unwichtig: Man stand in der Küche, aß Soljanka mit Brot (ein riesiger Topf auf dem Herd) und redete weiter, endlos, man redete sich um Kopf und Kragen, wie man so sagt oder früher gesagt hat, und immer wieder fielen dabei auch die wichtigen Namen dieser Zeit, Inger Christensen, Wolfgang Hilbig, Unica Zürn, Jan Skácel, Maurice Blanchot, Friederike Mayröcker, Michel Foucault, Ulrich Zieger, Gerhard Falkner, Peter Waterhouse, Andreas Koziol, Richard Brautigan, Ryszard Krynicki, Les Murray, Ilse Aichinger, Jürgen Becker, Donald Barthelme, Hans Henny Jahnn – und so weiter und so fort, kein Kanon, kein »Olymp«, nur eine ganz spontane Auswahl in diesem Moment meiner Erinnerung. Es mußte viel gelesen werden, vor allem von dem, was nur wenige Jahre zuvor noch unerreichbar gewesen war. Auffällig aus heutiger Sicht: ein offener, rückhaltloser Umgang. Sich gegenseitig auf Quellen, Texte und Techniken aufmerksam zu machen und die eigenen Entdeckungen weiterzugeben, schien vollkommen normal, trotz Konkurrenz, die natürlich vorhanden war und auch nicht geleugnet werden mußte, aber hier keine Rolle spielte. Wenn ich heute versuche, an diesen Raum zurückzudenken (diesen Vorraum von »moosbrand«), sehe ich vor allem ein phantastisches Moment, einen ganz irrationalen, unausgesprochenen Glauben, getragen von einer Art gegenseitigem Vertrauen. Als ob in diesem Austausch, an diesen Abenden beim Lesen oder in der Küche am Tisch das einmalige unumstößliche Gedicht hätte begründet werden können –, als wäre es nicht um Autorschaft gegangen, sondern allein um diese Sphäre, also darum, die utopische Zelle zu bilden, die den zukünftigen Text, den für alle Zeiten unantastbaren Vers hervorbringen würde.
Wilhelmshorst
Im Sommer 1993 zogen wir von Berlin nach Wilhelmshorst, eine Siedlung im Süden von Potsdam, die um die Jahrhundertwende in den mittelmärkischen Kiefernwald gebaut worden war. Der Sandboden auf den Wegen und die Kiefern rundum bedeuteten »Norden«. Wenn wir früher in den Ferien auf der F 2 (der heutigen B 2) von Thüringen an die Ostsee fuhren, begann für uns in dieser Gegend die Küste, dahinter lag das Meer.
Meine letzte Adresse war Rykestraße 27 in Berlin gewesen, ein Zimmer mit Küche in einer in den achtziger Jahren vollständig heruntergekommenen Mietskaserne, die jetzt saniert werden sollte. Berlin zu verlassen tat gut. In der mir fremden märkischen Landschaft hatte ich Schreibzustände, die ich vom Leben in der Stadt nicht kannte, und das Haus An der Trift Nr. 5 war vergleichsweise ein Wunder, eine einzige Verheißung: Die beiden großen Wohnzimmer, die nur eine Schiebetür trennte, schienen für Lesungen oder Ausstellungen wie gemacht. Man müßte die Bilder nicht einmal hängen, dachte ich (plötzlich auch Galerist), es reichte, sie hier auf den Boden zu stellen und so daran vorüberzuschlendern und so weiter … Leere Wände, helle Zimmer, der Garten und die Kiefern vor dem Fenster und unter dem Dach eine Kammer (die mein Schreibplatz werden sollte) mit Blick über den Bahndamm und die Felder Richtung Langerwisch. In den großen Kellerräumen konnte eine Handpresse für graphische Drucke aufgebaut oder sogar eine kleine Druckerei eingerichtet werden – solche Gedanken und Pläne beschäftigten mich. Ich war dreißig Jahre alt und das Leben ein »Existenzprojekt«, wie Foucault es nannte. Zu meinen Nachwende-Phantasien gehörte, daß es möglich sein müßte – neben dem Schrei ben –, auch die handwerklich-technische Seite der Literatur kurzerhand selbst zu übernehmen, obwohl ich von Druck und Papier nicht die leiseste Ahnung hatte.
Erst kurz vor unserem Umzug hatte ich erfahren, daß Wilhelmshorst der Ort Peter Huchels und Redaktionssitz der Zeitschrift Sinn und Form gewesen war. Vom Haus An der Trift bis zu Huchel im Hubertusweg brauchte ich etwa zwanzig Minuten. Eine Strecke, die ich in den Monaten nach der Geburt meines Sohnes unzählige Male zurückgelegt habe, mit dem Kind im Kinderwagen, das vom Gerüttel meiner Fahrt über die Wege aus Wurzeln und Sand augenblicklich in den Schlaf fiel, erst die Trift hinunter bis zur Potsdamer Straße (heute Peter-Huchel-Chaussee), An der Aue links ab, dann rechts in den Hubertusweg, wo die von Bernhard Hoeft (einem Berliner Ranke-Forscher) erbaute Villa lag, die Huchel 1954 erworben hatte.
Zwar kam ich als Pilgrim, doch mein wiederholter, beinah täglicher Vormarsch glich am Ende wohl eher einer Art Patrouille oder Wachdienst: Ich stand am Jägerzaun und beobachtete das Haus, aus dem der Dichter gut zwei Jahrzehnte zuvor vertrieben worden war, und versuchte, einen möglichst strengen, vorwurfsvollen Eindruck zu machen, soweit das möglich ist für einen Mann mit Kinderwagen. Ich starrte auf die vom biederen Kratzputz des Ostens verschandelte Fassade und murmelte Verse vor mich hin: »Willkommen sind Gäste, / die Unkraut lieben, / die nicht scheuen den Steinpfad, vom Gras überwachsen. / Es kommen keine.« Nur ich kam, und zwar so lange, bis die beiden Familien, die inzwischen Huchels Haus bewohnten, plötzlich verschwunden waren. Leiser Triumph, obwohl dieser Abzug doch nichts mit meiner Wache und ihrer zweifelhaften Drohgebärde zu tun gehabt haben konnte. Immerhin war es jetzt möglich, Pläne für Huchels »Heimkehr« zu schmieden, was ein paar Jahre später auch gelang. Mit dem Segen Monica Huchels, der Witwe des Dichters, die in Staufen bei Freiburg lebte, und dank der Vermittlung des Berliner Literaturwissenschaftlers und Publizisten Hans Dieter Zimmermann, des Vertrauten Monica Huchels, konnte nur wenige Jahre später das Peter-Huchel-Haus eröffnet werden.
Der Sand, die Wurzeln und die Wege dieser Zeit: Huchels Gedichte hatte ich während meiner Armeezeit gelesen, zuerst den Band »Gedichte« von 1948, sein Debüt. Das Buch steckte unter dem Dämmfilz der Motorhaube meines W 50 Ballon, eines Fünftonners, der mit Teilen einer Scheinbrücke beladen war, die ich als Kraftfahrer der Nationalen Volksarmee je nach »Gefechtslage« durchs Gelände manövrierte. Scheinpanzer, Scheinstellungen, Scheinbrücken – Attrappen waren unsere Spezialität, eine Taktik für den Ernstfall, bei der es darum gehen würde, den NATO-Piloten im Cockpit ihrer Tornados massenweise Technik, Schlagkraft und Truppenstärke vorzutäuschen.
Nach und nach erfuhr ich mehr über Huchel – seine Lebensumstände in Wilhelmshorst, das Jahrzehnt der Isolation und Überwachung, nachdem ihm 1962 Sinn und Form aus der Hand genommen worden war. Huchel für »moosbrand« herbeizurufen lag nah, im wahrsten Sinne des Wortes. »Der du die Fackeln roten Laubes der Alleen / zu welker Asche und November brennst …« Am ersten »moosbrand«-Abend las jeder von uns ein Huchel-Gedicht, Huchel wurde, wenn man so will, zum Schutzgeist dieser Runde erkoren. »Der Totenherbst« heißt sein Gedicht, das mit Asche, Laubbrand und November das erste Heft von »moosbrand« beschließt. Damals war das mein Lieblingsgedicht.
»Vorhaben wittern«
1993: Seit zehn Jahren schrieb ich Gedichte, ein eigenes Buch war nicht in Sicht, als das erste Heft von »moosbrand« erschien, herausgegeben im Selbstverlag, gemeinsam mit Klaus Michael. Klaus Michael hatte ich auf Wohnungslesungen in Berlin kennengelernt, nach dem Mauerfall. Die Tradition der Wohnungslesungen, die aus den siebziger und achtziger Jahren stammte, bestand hier und da fort, und schließlich knüpfte auch »moosbrand« dort an. In den achtziger Jahren war Klaus Michael einer der kritischen Köpfe des literarischen Undergrounds in Ostberlin gewesen, wo er unter dem Pseudonym Michael Thulin publiziert und bis 1990 die Zeitschrift »Liane« mitherausgegeben hatte. Als wir uns wieder trafen, arbeitete er gerade an seinem Buch über die Stasiverwicklungen der Ostberliner »Szene« (»MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit«, mit Peter Böthig).
Heute ist nicht mehr zu entscheiden, wer von uns zuerst auf den Gedanken kam, mit den Wilhelmshorster Texten eine Zeitschrift zu machen, aber ich erinnere mich gut daran, daß wir schon im Frühjahr 1992 darüber gesprochen hatten, daß es jetzt wieder wichtig und im Grunde unabdingbar wäre, »etwas Eigenes« in die Welt zu setzen. Seltsamerweise hatte dieses Gespräch auf der Abschiedsparty der Zeitschrift »Theater der Zeit« stattgefunden, an einer Bar des »Café Moskwa« in der Karl-Marx-Allee, das jetzt leer stand, doch ab und zu noch vermietet wurde. Die Restaurants im »Moskwa« (ich glaube, sie hießen »Spezialitätenstuben«, eine »Mokkastube« gab es auch) waren nach Völkern der Sowjetunion benannt. Es gab den russischen Salon und den ukrainischen Salon, den Salon Kaukasus und einen Nebensalon namens Leningrad. Als architektonische Besonderheit galten die Treppen im »Moskwa« – eine breite, schön geschwungene Treppe nach oben und eine dunkle lange Treppe nach unten, so jedenfalls erinnere ich mich. Wir gingen diese Treppe nach unten ins Untergeschoß und saßen dort lange an der Bar.
»Theater der Zeit« erschien im Henschelverlag, der 1992 unter Kontrolle der Treuhand geriet und 1993 Konkurs anmelden mußte. Dafür, daß eine Zeitschrift verabschiedet wurde, die jahrzehntelang die Theaterpraxis kommentiert und neue Stücke abgedruckt hatte, war die Stimmung ausgesprochen gut, beinah ausgelassen. Niemand ging nach Hause, irgendwann wurde getanzt, es herrschte jene Euphorie der Melancholie, wie sie vielleicht typisch war für diese Jahre und offensichtlich auch uns erfaßt hatte. Anders ist kaum zu erklären, daß uns gerade dort, bei diesem Totenschmaus, denn um nichts anderes handelte es sich, jener Moment von Begeisterung umfangen konnte, mit dem wir uns wenig später ganz bereit fanden für ein Unternehmen wie »moosbrand«. Abschied und Anfang waren das »Theater dieser Zeit«, könnte man sagen, klänge das nicht zu melodramatisch. »Vorhaben wittern« heißt ein Gedicht Elke Erbs in »moosbrand« Heft 1. Und tatsächlich wurde auch »Theater der Zeit« bald neu begründet (Heldentat einiger Mitglieder der Redaktion) und existiert bis heute – einer der äußerst seltenen Fälle für das Überleben einer ostdeutschen Zeitschrift in diesen Jahren, in denen Sender, Zeitungen und Zeitschriften, die zu jener »Substanz der Kultur« gehörten, die es laut Einigungsvertrag zu erhalten gegolten hätte, reihenweise von der Bildfläche verschwanden.
Das Haus An der Trift 5, Peter Huchel als Schutzgeist oder auch das »Moskwa« – beschreibbare Umstände, nicht ohne Bedeutung, doch elementarste Voraussetzung für »moosbrand« war die Einzigartigkeit der in Wilhelmshorst gelesenen Texte, darunter die surrealistischen Gebilde Thomas Kunsts, die sprachmagischen Verdichtungen Jörg Schiekes und Thomas Böhmes, die hyperreale Poesie Elke Erbs oder die lustvolle Prosa Cornelia Saxes über ihre Reise durch die lesbischen Clubs von Amsterdam, all diese Stimmen, die direkt aus der Schreibwerkstatt tönten, waren faszinierend genug. Von einer gemeinsamen Programmatik zu sprechen wäre sicher verfehlt, denn es ging, wie gesagt, um eine Öffnung der Werkstatt und letztlich um eine gemeinsame Form des Gesprächs. Wäre es trotzdem notwendig, etwas auszudrücken von dem, was uns gemeinsam war, kämen mir Inger Christensens Rede über den »Geheimniszustand« oder Wolfgang Hilbigs Essay »Über den Tonfall« in den Sinn. Hilbigs Kritik der Gegenwartslyrik fordert die Durchdringung der sogenannten Realität (für ihn das Scheinhafte, die Oberfläche) hin zu einem Wesentlichen, Substantiellen, Historischen: »Richtig, diese Lyrik wird von der sichtbaren Realität erweckt und sie stirbt in dieselbe zurück. Damit ist die Lyrik eine zweitrangige, wenn nicht gar drittrangige Sache (…) Die Spürhunde der Realität haben die Sprache ausgerauft, der Tonfall der Realität ist der ätzende Agens, in dem die Stimmen der Lyrik ersticken.« Inger Christensen hat mit ihrer Bezugnahme auf Novalis (»Das Äußre ist ein in Geheimnißzustand erhobnes Innre«) auf die geheimnisvolle Verbindung von Wirklichkeit und Sprache hingewiesen, deren Durchdringung sie als die eigentliche Erkenntnisweise der Poesie beschreibt: »Diese Verbundenheit, sie ist ein Mysterium. Sie ist es, worein die Poesie eintreten muß.«
(…)
SINN UND FORM 2/2023, S. 149-162, hier S. 149-154
Seithe, Angelica
Selinski, Korneli
- 5/1967 | Literarisches Neuland
Sembène, Ousmane
- 2/1967 | Ihre drei Tage
- 2/1967 | Heimweh
- 2/1969 | Meines Volkes schöne Heimat
- 4/1972 | Véhi-Ciosane. Neubeginn
- 6/1979 | Bewusstsein
- 3/1980 | Niwam
Semiatizki, Chaim
- 1/1962 | Gedichte aus dem Ghetto
Semjonow, Peter P.
- 1/1950 | Begegnung mit Dostojewskij
Semprun, Jorge
- 2/1995 | Der weiße Streifen
Semrau, Jens
- 5/1987 | Eine Erinnerung an Heinrich Burkhardt
Semrau, Richard
- 6/1969 | Kalevala - individuelles Werk oder Volksepos? Zur Kalevala-Bearbeitung von Wolfgang Steinitz
Sen Gupta, Sunil
- 4/1969 | Wege der bengalischen Literatur
Sen, Geeti
- 6/1991 | Gespräch mit S.H. Vatsyayan (Ajneya)
Senda, Koreya
Sepamla, Sipho
- 6/1986 | King Taylor
Sepamla, Sydney
- 3/1981 | [Dichtung unter der Apartheid] An alle, die es betrifft
Serafin, Vera
- 4/2002 | Gedichte
Serauky, Christa
- 2/1986 | Gespräch mit Uanhega Xitu
Sereny, Gitta
- 3/2004 | Gespräch mit Achim Engelberg und Thomas Grimm
Serres, Michel
- 5/2016 | Haß. Über Léon Bloy
Servos, Norbert
- 1/1996 | Physik - Metaphysik. Über einige geistige Aspekte einer leiblichen Kunst
Setz, Clemens J.
- 1/2013 | Dem Chaos abgerungene Zusammenhänge. Über Art Spiegelman
Seyppel, Joachim
- 1/1966 | Gespräch mit Kurt Batt
- 4/1967 | Versuch einer Reise durch Marokko und Algerien
- 1/1969 | Conny der Grosse
- 4/1971 | Viertausend Schritte
- 6/1972 | Heines letzte Reise in den Harz
- 6/1973 | Der Übertreter
- 5/1974 | Heinrich und Nelly
- 3/2006 | Schöneberg, Mansfeld, Sellin - auf den Spuren Gottfried Benns
Sfurim, Mendele Mocher
- 4/1961 | Fischke der Krumme
Shakespeare, William
- 5/2007 | Sonette. Übertragen von Jan Weinert
Sharp, Ronald A.
- 3/1996 | Gespräch mit George Steiner
Shelly, Percy Bysshe
- 3/1975 | Gedichte
Shimzu, T.
- 5/1998 | Gespräch mit Michel Foucault und M. Watanabe
Shirmunsky, W.
- 3/1949 | Puschkin und die Literatur des Westens
Shotew, Dobri
- 3/1972 | Kraft
Showghi, Farhad
- 4/2002 | Ende des Stadtplans
Shukowa, W.
- 2/1981 | Die erste Frau unter den »Unsterblichen«
Siblewski, Klaus
- 1/2003 | Vom Erzählen nach der Katastrophe. Über W.G. Sebald
Sidki, Mohammed
- 5/1971 | Amina
Sidorow, Jewgeni
- 1/1989 | Die Befreiung
Siebenschein, Hugo
Siebert, Ilse
Siegel, Detlev
- 4/1973 | Zu Ulrich Plenzdorfs »Neuen Leiden des jungen W.«
Siemons, Mark
- 2/1998 | Morgen-Grauen, Happy-End. Walker Percys Experimente mit dem abstrakten Leben
Silva, Miguel Otero
- 2/1951 | Lateinamerikanische Lyrik
Simic, Charles
- 2/1994 | Gedichte
Simon, Claude
- 1/2014 | Novelli oder Das Problem der Sprache. Mit einer Vorbemerkung von Irene Albers, S. 82 Leseprobe
Simon, Claude
Novelli oder Das Problem der Sprache
Vorbemerkung von Irene Albers
Was Claude Simon von anderen Autoren des Nouveau Roman unterscheidet, wird in kaum einem Text so deutlich wie in dem lange weitgehend unbeachteten Essay über Gastone Novelli (1962), der nun erstmals auf deutsch erscheint. Auch in Frankreich mußte er erst wiederentdeckt werden. Anlaß dafür war Simons später Roman »Jardin des Plantes« von 1997. Dieses explizit autobiographische »Porträt eines Gedächtnisses« enthält Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche, bei denen es immer wieder um das Verhältnis von Leben und Kunst geht. Die Literatur dient hier nicht der Darstellung von Erfahrungen, sondern der Suche nach einer Sprache für das »formlose Magma« der Erinnerungen. Simon schreibt in »Jardin des Plantes« über Brodsky, Picasso und Leiris, kommt aber auch immer wieder auf Novelli zurück, montiert die italienischen Titel von dessen Werken – »Ora zero«, »Vuole dire caos«, »Archivo per la memoria« – in seinen Text, beschreibt einzelne dieser Bilder, erinnert sich an gemeinsame Begegnungen und erzählt in einer für ihn ungewöhnlich zusammenhängenden Weise eine zentrale Episode dieses Lebens: die Flucht vor der Barbarei einer Zivilisation, die »sowohl Philosophen als auch Schlächter hervorzubringen vermochte wie jene, die ihn in Dachau gefoltert hatten«, nach Brasilien, zu den Amazonasindianern, und die Entdeckung ihrer aus unendlichen Varianten des Vokals »A« bestehenden Sprache. Man könne, sagt die Literaturwissenschaftlerin Brigitte Ferrato-Combe, »Novelli (nicht die reale Person, sondern das Bild, das Simon von ihm entwirft) als ein tragisches Double des Autors verstehen, der die gleichen Erfahrungen (Krieg, Gefangenschaft, Schmerz, Gewißheit des bevorstehenden Todes) in einer gesteigerten Form mit ihm teilte«. Ferrato-Combe ist es zu verdanken, daß Simons Novelli-Essay, von dem es nur eine englische und eine italienische Fassung gab, 2005 auf französisch in »Les Temps modernes« erschien. Die Übersetzung der italienischen Version hat Simon noch selbst durchgesehen.
Gastone Novelli (1925–1968) wurde in Wien geboren und wuchs in Italien auf. Mit achtzehn schloß er sich der Resistenza an, im Oktober 1943 wurde er von der SS verhaftet, zum Tode verurteilt und gefoltert. Dank der Intervention der Mutter wurde die Todes- in eine Gefängnisstrafe verwandelt; im Juli 1944 wurde er befreit. Nach dem Krieg studierte Novelli Sozialwissenschaften in Zürich, traf dort Max Bill und begann zu malen. 1948 reiste er zum ersten Mal nach Brasilien und befaßte sich mit der Sprache und Kultur der Amazonasindianer; 1950 bis 1954 lehrte er als Dozent in São Paulo und plante dort auch ein Wörterbuch des Guarani. Prägend für ihn waren die Auffassung von Kunst als einer eigenen Sprache und die Beschäftigung mit Paul Klee. Ab 1955 lebte er wieder in Rom, setzte sich mit Jackson Pollock, Robert Rauschenberg und Cy Twombly auseinander und reiste immer wieder nach Paris, wo er sich mit Malern wie André Masson, Hans Arp, Man Ray und Schriftstellern wie Tristan Tzara, Georges Bataille, Pierre Klossowski, Samuel Beckett, René de Solier und auch Claude Simon anfreundete. Er illustrierte Texte von Bataille ("Geschichte des Auges«), Beckett ("Wie es ist«) und Klossowski ("Das Bad der Diana«). Bei einer Ausstellung 1961 in der Pariser Galerie du Fleuve, die ihn in Frankreich bekannt machte, begegnete er Simon zum ersten Mal. Im Mai 1962 besuchte dieser ihn in seinem Atelier in Rom. In »Jardin des Plantes« gibt es die Erinnerung an eine Szene am Strand von Ostia, in welcher sich der Ich-Erzähler von Novelli einen Katalogtext erklären läßt: »Nach dem Vorwort hat er angefangen mir auch die Titel seiner Gemälde zu übersetzen. Ich habe ihm gesagt, das hätte ich verstanden, aber er hat trotzdem weitergelesen und plötzlich, als er gerade Vuole dire caos und Paura clandestina gesagt hatte, hörte er auf. Er hatte noch immer den aufgeschlagenen Katalog in Händen und schien die Titel für sich selbst zu lesen als er auf einmal sagte in Dachau habe man ihn an den Handgelenken aufgehängt bis er in Ohnmacht fiel. Vielleicht hätte er weitergesprochen aber in diesem Augenblick sind die beiden jungen Frauen, die Griechin und die Spanierin, aus den Wellen gestiegen und sich die Haare auswringend zu uns zurück gekommen. (…) Danach hat er mir gegenüber nie wieder seine Verhaftung, das Gefängnis erwähnt und was er im Lager durchgemacht hatte.«
Indem Simon Novellis Verstummen zum Thema macht, wird deutlich, daß seine biographischen Texte über den Maler als fiktionale Ergänzungen des Verschwiegenen zu lesen sind, daher vielleicht die unzutreffende Referenz auf Dachau oder (im Essay) auf Mauthausen sowie die mythische Stilisierung der Amazonasepisode als Begegnung mit einer elementaren »Ursprache«. Die Prägnanz, die Novellis Biographie und Ästhetik in Simons Bearbeitung gewinnen, zeigt sich besonders bei seinem Leser W. G. Sebald. Diesen haben die Passagen aus »Jardin des Plantes«, das er zu seinen Lieblingsbüchern zählte, so fasziniert, daß er sie in seinem Roman »Austerlitz« (2001) als Lektüreerinnerung des Erzählers beim Besuch der Festung von Berendonk zitierte (wo die Deutschen während des Kriegs Jean Améry folterten). Auf diesem Wege dürften sie mehr Leser gefunden haben als im Original, wobei die bei Simon vielfach gebrochene und gespiegelte Lebensgeschichte Novellis auf die Foltererfahrung in Dachau und den Aufenthalt am Amazonas reduziert wird; sein vielgestaltiges Werk wird auf die Bilder mit den »AAAA"-Reihen verkürzt, mit denen Novelli seinem Schmerz in einem lang anhaltenden Schrei Ausdruck verliehen habe.
Als der spätere Nobelpreisträger seinen Essay für den Katalog zur ersten Novelli-Einzelausstellung in Amerika – in der Alan Gallery in New York – schrieb, hatte er schon vier Romane veröffentlicht: »Der Wind«, »Das Gras«, »Die Straße in Flandern« und »Der Palast«. War er für die französischen Kritiker vor allem der Vertreter eines auf die Selbstreflexion der narrativen Form ausgerichteten Nouveau Roman, so erkannte man in Deutschland bereits, wie sehr »die Zeit, in der er steht und stand«, in seinem Werk »gegenwärtig« ist (so Jean Améry 1971). Der für »Die Straße in Flandern« vorgesehene Titel »Fragmentarische Beschreibung einer Katastrophe« könnte über fast allen Romanen Simons stehen. Immer wieder lassen sie den Leser teilhaben an der Suche nicht nach einem Sinn, sondern nach einer Sprache und einer Form für die körperliche und emotionale Erfahrung des Kavalleristen, der am 17.Mai1940 in einen Hinterhalt gerät und dem sicheren Tod entgegenreitet, sowie der des Kriegsgefangenen im Stalag IVB in Mühlberg an der Elbe oder einer verlustreichen Familiengeschichte. Das Material seiner Romane ist autobiographisch, aber er hat gesagt, daß weniger er dieses Material bearbeite, als daß es ihn bearbeite. Simons Experimente mit der Form des Romans und der Materialität der Sprache dienten nicht dazu, den »traditionellen« Roman zu überbieten: Ihm ging es viel grundsätzlicher um die Literatur nach der Katastrophe.
»Die Straße in Flandern« enthält eine vielzitierte Szene, in der die Hauptfigur Georges auf einen Brief des Vaters antwortet, der pathetisch die Zerstörung der Leipziger Bibliothek beklagt: »worauf ich sogleich geantwortet habe daß wenn der Inhalt der Tausende von Schmökern dieser unersetzlichen Bibliothek außerstande gewesen sei zu verhindern daß Dinge wie die Bombardierung die sie zerstört hatte geschehen, ich nicht einsähe inwiefern die Vernichtung durch Phosphorbomben dieser Tausenden von Schmökern und Papieren die offenkundig nicht den geringsten Nutzen gehabt hätten einen Verlust für die Menschheit bedeute. Folgt die detaillierte Liste der sicheren Werte, der absolut notwendigen Dinge die wir hier viel dringender brauchen als den gesamten Inhalt der berühmten Bibliothek von Leipzig, nämlich: Socken, Unterhosen, Wollsachen, Seife, Zigaretten, Wurst, Schokolade, Zucker, Konserven Fla…« (übersetzt von Eva Moldenhauer).
Novelli erscheint in dem nur wenig später entstandenen Essay als emblematische Figur einer solchen durch die Erfahrung des Krieges und des Lagers notwendig gewordenen »Rückkehr zum Konkreten«. Simon stellt seine Malerei in den für ihn zentralen Zusammenhang mit dem »Bankrott der westlichen Kultur«. 1977 kommt er in einem Gespräch mit Claud DuVerlie darauf zurück. Und er erinnert sich an ein Treffen deutscher und französischer Autoren 1976 im Literarischen Colloquium Berlin. Dort hätten die Deutschen von der sie prägenden Erfahrung der »Stunde Null« gesprochen, worauf er erwiderte, daß es diese Erfahrung nicht nur in Deutschland gab, »jeder in der westlichen Welt war mit der gleichen Situation konfrontiert, dem totalen Bankrott von zweitausend Jahren ›humanistischen‹ Denkens in den nationalsozialistischen Lagern auf der einen und in den Gulags auf der anderen Seite«.
Die Bedeutung von Simons Essay über Novelli besteht darin, daß er an diesem Nullpunkt »das Problem der Sprache« in den Mittelpunkt seiner Reflexionen stellt und dazu einlädt, seine Romane so zu lesen, wie er die Bilder des Malers liest. Das wird besonders deutlich, wo er die Phasen von Novellis Schaffen rekonstruiert. Nachdem dieser zuerst »große Flächen« gemalt habe, »auf die er einfache farbige, annähernd rechteckige oder quadratische Flecken verteilt(e)«, glichen seine späteren Bilder »Mauern, von denen der Kalk abbröckelt, auf denen Graffiti, einfache Hieroglyphen, Inschriften, Kritzeleien in anarchischer Unordnung ineinander übergehen, sich überlagern, sich verflüchtigen«, so daß piktorale Objekte entstehen, konkret und fleischlich. Simon stellt eine Verbindung zur Literatur her, indem er Novellis Erkundungen der Sprache mit Beckett, Barthes und Joyce in Verbindung bringt. Das Bild »Seconda sala del museo« von 1960 ("Zweiter Museumssaal«) stellt aus Simons Sicht eine Synthese dieser Verfahren dar. Es ist zweigeteilt: Auf der rechten Seite ist in der Spachtelmasse kaum etwas zu erkennen, während sich auf der linken Seite ein (an Klee erinnerndes) farbiges Schachbrettmuster befindet. Dessen Felder enthalten ein »Alphabet« aus abstrakten Körperformen, Buchstaben und Zeichen, ein »Inventar der sinnlichen Welt«. Novelli habe versucht, die Welt »anhand dieser Sammlung von Zeichen, diesem Alphabet ›geliebter Dinge‹ einzufangen«, die sich im anderen Teil des Bildes noch in einem formlosen Zustand befinden. Wer Simons Romane kennt, weiß, wie sehr der Gegensatz von Ordnung und Chaos, von Form und Formlosigkeit seine Texte prägt, und ist zugleich überrascht von dem, was er hier am Beispiel des Wortes »SEINS« ("Brüste«) entgegen den strukturalistischen Dogmen über Magie und Eigenleben der Sprache, über Einheit von Zeichen und Bezeichnetem auf der Ebene der konkreten lautlichen und graphischen Gestalt sagt. Simons Neuer Roman steht der konkreten Poesie des »langen Romans«, als den Novelli seine Bilder bezeichnete, vielleicht näher als gedacht.
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SINN UND FORM 1/2014, S. 82-90
Simon, Dietrich
- 2/1976 | Gespräch mit Franz Fühmann über Barbara Frischmuth
Simonow, Konstantin
- 5/1965 | Deine Frau ist gekommen
- 5/1967 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
- 1/1972 | Gespräch mit Nyota Thun
- 1/1972 | An der Beresina
- 1/1973 | Vietnam, Winter siebzig ...
- 4/1973 | Gespräch mit der Redaktion von »Sinn und Form«
- 6/1980 | Zwei Briefe
Simonowitsch-Jefimowa, Nina Jakowlewna
- 2/1996 | Gespräche mit Pawel Florenski. Aus den Aufzeichnungen von Nina Jakowlewna Simonowitsch-Jefimowa
Sinervo, Elvi
- 1/1951 | Finnische Lyrik. Der Morgen der Welt
Singh, Gurmeet
- 4/2021 | Bruchstücke der Geschichte. Zehn Tage im Archiv des Literaturhauses Berlin, S. 564 Leseprobe
Singh, Gurmeet
Bruchstücke der Geschichte. Zehn Tage im Archiv des Literaturhauses Berlin
Im März 2021 ging ich ins Literaturhaus Berlin, um dessen Archiv in Augenschein zu nehmen. Das Anliegen des Hauses: Man wollte Schriftsteller abseits des Mainstreams einladen, die Fülle von Material und Dokumenten aus vierzig Jahren zu erkunden und einen »frischen Blick« auf die Geschichte des Hauses zu werfen. »Bleiben Sie eine Woche, vielleicht finden Sie ja etwas Interessantes«, hieß es von seiten der Leitung.
Schon das war interessant. Ich lebte seit acht Jahren in Berlin, und so etwas war mir noch nicht passiert. Institutionen fordern einen sonst nicht einfach dazu auf, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen. Aber auch der Hintergedanke war ein besonderer. Mein Blick sollte »frisch« sein. Was wohl hieß, daß noch nicht allzu viele People of Color (POC), also nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehörende Menschen, an Veranstaltungen mitgewirkt hatten. Ich bin 1987 geboren, Brite, POC, aus der Arbeiterklasse: Reicht das, um etwas Stichhaltiges über das Archiv zu sagen?Doch vielleicht konnte ich es wie ein Instrument bedienen, hier oder dort eine Taste drücken und hören, wie es klingt. Oder es wie den Chor im Theater etwas fragen und schauen, was es antwortet. Ich bin in der Nähe von Fabriken in Handsworth, Birmingham aufgewachsen. Deutsch ist meine dritte Sprache. Und ausgerechnet ich sollte das Archiv einer literarischen Institution Berlins durchstöbern? Lächerlich!
»Na klar«, sagte ich, »mache ich!«
»Das Literaturhaus ist eröffnet, und was sich da öffnet, soll ein Haus für die Literatur sein, ein Haus, in dem Literatur geachtet und geliebt wird, ein Haus auch, in dem für diese Liebe geworben wird.« Das sagte Herbert Wiesner, der erste Leiter, zur Eröffnung am 29. Juni 1986. Seine Rede ist eines der ersten Dokumente, die ich fand.
Das Archiv ist ein kleines dunkles Zimmer ganz oben in dem Haus in der Fasanenstraße. Zwei Wände mit Regalen voller alter Ordner. In der Mitte ein Tisch: Computer, Kabel, Telefon, Wasserflaschen. Ringsum Schachteln, Papier, Bücher, Kassetten, Bilder. Die kahlen Zweige des großen Baumes vor dem Haus schlucken jedes noch so trübe Licht.
Auf den Ordnern steht »Ausstellung«, »Briefe«, »Aktivitäten«, »Presse«, »Vorstand«. Es sind rund hundert Stück, geordnet zwar, aber nicht einheitlich. Manche sind voll, andere enthalten bloß an die zwanzig Blätter. Ich frage mich: Was kommt ins Archiv? Und überlege, was ich mit all den Bruchstücken, den Papierfetzen anfangen soll. Läßt sich damit wirklich eine Geschichte erzählen? Wie kann man daraus etwas zusammensetzen?
»Spiel einfach damit. Benutze es wie ein Instrument, erinnerst du dich? Schau, was für Töne dabei herauskommen. Leg einfach ein Bruchstück neben das andere. Vielleicht entsteht daraus eine Geschichte.« Eine brauchbare Strategie. Keine wissenschaftliche zwar, doch am Ende des ersten Tages werden einige Themen angeschlagen, die mich während der restlichen Zeit im Archiv beschäftigen: das Haus als Institution, Deutschland, wie Autoren gefördert und erinnert werden.
Also, noch einmal von vorn: die Eröffnung des Hauses. Die Rede wurde getippt und handschriftlich korrigiert. Wiesner spricht überraschenderweise von »Widerständen« gegen das Haus. Welche mögen das gewesen sein? Es hat etwas mit Auseinandersetzungen in der literarischen Öffentlichkeit der Vergangenheit zu tun.
Anscheinend ging es um folgendes: Zum Zeitpunkt der Gründung gab es in Westberlin mehrere Schriftstellerorganisationen. Eine davon, der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), war Teil der Gewerkschaft IG Druck und Kunst, und deren Erweiterung zu einer IG Medien gestaltete sich schwierig. Einige VS-Mitglieder verwickelten sich in ideologische Grabenkämpfe (»Gewerkschaftsfeinde«, »Gewerkschaftsbürokraten« etc.).
Man empfand die Notwendigkeit, sich zu organisieren und die Sache der Literatur zu vertreten, ohne sich den Diktaten der Gewerkschaftspolitik zu unterwerfen. Günter Grass forderte ein neues »Romanisches Café«, einen Ort, wo Schriftsteller sich treffen und frei von ideologischen Auseinandersetzungen diskutieren konnten. Friedrich Christian Delius forderte eine neue »Schriftstellerlobby«. In den Briefen, Leitartikeln, Reden dieser Zeit ging es stets darum, alte »dogmatische« Auffassungen beiseite zu lassen und die Literatur als solche zu würdigen. Grass wandte sich zudem gegen die aus seiner Sicht zu lasche Haltung des VS gegenüber den Diktaturen Osteuropas. Der rumäniendeutsche Schriftsteller Rolf Bossert hatte in Westdeutschland Asyl erhalten. Zwei Monate später wurde er an seinem neuen Wohnort Frankfurt tot aufgefunden. Ob Mord, Selbstmord oder Unfall, blieb unklar. Es gab den Wunsch, in Diktaturen lebende Autoren zu schützen, was die eher linken westlichen Organisationen nach Grass’ Ansicht nicht ausreichend taten.
Das war die Atmosphäre, in der das Literaturhaus Berlin entstand: normale Probleme der politischen Organisation und Streitpunkte zwischen Ost und West. Auch die Mißbilligung seiner Gründung könnte politisch motiviert gewesen sein: Das Haus könnte wie eine Art Gewerkschaft ohne politisches Programm gewirkt haben. Vielleicht mißfiel der Presse aber auch, daß dem Trägerverein eine schöne Gründerzeitvilla mitten in Westberlin zugesprochen wurde. Durch die Angriffe entstand eine chaotische Situation. Aber Herbert Wiesner verteidigte das Haus eisern. Dessen Daseinsberechtigung lag schließlich auf der Hand: Die Schriftsteller brauchten Unterstützung. Im Westen brauchten sie Schutz vor der freien Marktwirtschaft (»Es müßte jemand verdammt schnell schreiben, wenn er damit auf den Stundenlohn einer Schreibkraft kommen wollte«), im Osten vor repressiven Regimes.
Die Eröffnung wurde auf denselben Tag wie das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gelegt. Man konnte zwar nicht voraussehen, daß Westdeutschland im Finale stehen würde, aber wann es stattfinden würde, war immerhin bekannt. Warum eröffnet man an einem solchen Tag sein Haus und plant um 17:30 Uhr eine Lyriklesung und um 22:30 Uhr eine Diskussion über Fußball, Kultur und Literatur? 22:30! Im Programm steht, diese Runde finde nach »dem letzten Spiel der Fußballweltmeisterschaft statt«. Ich gewinne den Eindruck, daß Chaos und die Notwendigkeit zur Selbstrechtfertigung für die ersten Jahre des Hauses prägend waren.
Das Literaturhaus rechtfertigte seinen Zweck (und die empfangenen Fördergelder) mit seinen Vorhaben, mit Ausstellungen und Veranstaltungen. Das zeigt sich deutlich am Umgang mit der DDR. Das Haus »konfrontierte« sich mit dem Osten. Im November 1987 fand eine Veranstaltung statt, die »Begegnungen« mit Kinderbüchern aus der DDR versprach. Das zeigt, wie das Haus sich selbst und sein Publikum wahrnahm. Schließlich gibt es Konfrontation nur dann, wenn etwas anders ist. Dann fiel die Mauer, das wiedervereinigte Deutschland war geboren und tiefergehende Fragen über die frühere DDR wurden gestellt. Was war das für ein Land? Was hatte es seinen Schriftstellern angetan? Und wie konnte der Westen überhaupt mit diesem Regime kooperiere Als Außenseiter berührten mich die materiellen Aspekte des Archivs, die »Made-in-Germany«-Plastikhüllen, die Umschläge mit dem DDR-Poststempel. Die Tatsache, daß man Briefe schrieb und Faxe sendete. Mich erstaunten auch die kleinen Briefumschläge, A5 oder A6. A4-Briefe wurden zweifach gefalzt und hatten so genau wie das alte Berlin vier Sektoren.
Obwohl das Literaturhaus nun eines für das wiedervereinigte Deutschland war, betrachtete es den Osten immer noch als etwas anderes. Es war nach wie vor eine Westberliner Institution. Die Falzungen waren immer noch sichtbar, obwohl das Papier nun aufgefaltet dalag.
Nach dem Fall der Mauer konnte man die Archive der ehemaligen Staatsapparate einsehen, auch die der literarischen Zensurbehörde. In den frühen neunziger Jahren gab es im Literaturhaus eine Ausstellung über »Zensur in der DDR«. Damit tat das Haus zweierlei. Es machte die Autoren bekannt, die im Osten bedroht waren, und fragte zugleich danach, was dieses neue, wiedervereinigte Deutschland eigentlich sei. Für die Ausstellung wurde gründlich recherchiert, unter den aus den DDR-Behörden beschafften Unterlagen finden sich auch Einschätzungen von Romanen. Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.« bereitete den Zensoren besondere Kopfschmerzen. Es erhalte viel Aufmerksamkeit in »kapitalistischen Ländern«, heißt es in einem Schreiben an den Kulturminister Gysi. Es stammte aus der HV, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, faktisch die Zensurbehörde im Osten. Erfüllte ein Buch nicht die ideologischen Standards, wurde es nicht veröffentlicht.
Der bedeutendste Einwand der Zensoren bei Christa Wolf war, daß ihre Protagonistin sich schwertat, in der Gesellschaft ihren Platz zu finden. Der Zensor hob ein Zitat besonders hervor: »Dann wieder muß ich allein sein können.« In seiner Rede zur Ausstellung spricht Wiesner vom Zensor im Kopf der Schriftsteller und bezieht sich damit auf einen Brief Helga Schuberts an das Literaturhaus. Sie habe das Regime überlebt, weil sie es durchschaut, nicht, weil sie Widerstand geleistet habe. Widerstand, heißt das implizit, wäre selbstmörderisch gewesen. Der Osten zwang die Leute dazu, ihre Kreativität zurückzuhalten.
Draußen rief ein Zilpzalp unaufhörlich wie der morgendliche Wecker. Als ich endlich zum Fenster ging, war er weg.
Ich setzte mich wieder, um mich mit der schriftlichen Produktion des Hauses von 1987 bis 1995 zu beschäftigen (beworben als »Texte aus dem Literaturhaus«). Fünf von elf Bänden handelten explizit von der deutschen Vergangenheit: von den idealisierten Zwanzigern über die Nazizeit bis zu den Exklaven deutscher Literatur. Diese Bücher waren Begleitpublikationen zu Ausstellungen, das Publikum mußte also ein besonderes Interesse an diesen Themen haben.
Warum geht es immer um Deutschland? fragte ich mich. Warum handeln diese Ausstellungen immer wieder davon, was Deutschland eigentlich ist?
Es leuchtete mir ein, daß das Haus sich in der Zeit des Mauerfalls für die DDR interessierte. Aber warum ging es auch in den 2000er Jahren noch so sehr um Deutschland, um die Frage, was es war und was es sein könnte?
Dann ging es mir ganz plötzlich auf, das Offensichtliche: Das Land hatte jahrelang schwer an seiner Nazivergangenheit zu tragen gehabt. Ich weiß, daß Deutsche den Holocaust sehr ernst nehmen. Aber zuletzt hatte ich den Eindruck gewonnen, daß man allmählich damit zu leben gelernt hat. Im Archiv dagegen sah ich eine Nation, die beständig mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft rang. Durch das Archiv begriff ich, daß Deutschland sich nicht nur irgendwie mit seiner Vergangenheit beschäftigte. Diese Vergangenheit machte es vielmehr notwendig, aber auch äußerst schwierig, dauernd über das eigene Land und seine Rolle in der Welt zu reden. Ich fing an zu verstehen, warum das Literaturhaus sein Programm auf eben diese Weise zusammenstellte: weil Deutschland Millionen Menschen umgebracht und Bücher verbrannt hatte.
Um mir über das Haus und sein sakrales Verständnis von Büchern klarzuwerden, mußte ich mich damit auseinandersetzen. Durch die permanente Aufarbeitung der Geschichte, die andauernde Selbstreflexion wurde das Literaturhaus für mich zur Verkörperung der nationalen Frage: Was ist Deutschland? Erinnern wir uns an Grass’ Ruf nach einem neuen Romanischen Café. Oder an Wiesners Klage in der Eröffnungsrede, daß es kein bibliophiles Bürgertum und keine akademische Öffentlichkeit mehr gebe. Es schien, als würde man frühere Epochen der deutschen Gesellschaft idealisieren. Grass und Wiesner wollten in das Deutschland vor der Nazizeit zurückspringen, als Politik und Literatur angeblich noch Teil einer gebildeten und vernünftigen Gesellschaft waren.
Mit der Wiedervereinigung veränderte sich die Perspektive. Und auch neue Ausstellungen wurden möglich. In den späten Neunzigern wurde die Frage danach, was Deutschland sei, auch auf die Prager deutsche Literatur und deutschsprachige Autoren aus anderen Ländern erweitert, wie Paul Celan und Max Frisch. 2001 nahm das Literaturhaus in dem Versuch, im Chaos der Moderne einen Sinn zu entdecken, 1929 in den Blick, ein Jahr, das in Deutschland trotz des Aufstiegs der Nationalsozialisten radikal andere Optionen geboten habe.
2006 schien Deutschland noch einmal über sich und seine Rolle in der Welt nachzudenken. Vermutlich aufgrund der hier stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft, die eine etwas entspanntere Einstellung zum Nationalgefühl mit sich brachte. Kurz darauf präsentierte das Literaturhaus die Doppelleben-Ausstellung »Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland« und schuf damit einen Raum, in dem man über Autoren und Werke aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts nachdenken konnte – und nicht nur über die Greueltaten jener Zeit.
Nichts von all dem ist neu für deutsche Leser. Aber für jemanden wie mich, einen Außenseiter, ist genau das interessant. Als ich durch das Archiv ging, die Regalmeter des Materials sah, aus dem die Ausstellungen entstanden waren, die unentwegten nationalen Bezüge, die entscheidenden Autoren – begann ich zu verstehen, warum Deutschland ein Land der Krise war. Und es noch immer ist: Eine neuere Publikation des Literaturhauses antwortet den Parolen von AfD und Pegida mit »Wir sind ein Volk?«
Ob sich das Literaturhaus dessen nun bewußt war oder nicht, es gestaltete, wie andere kulturelle Institutionen auch, durch das, was es förderte und ausstellte, die offizielle Geschichte mit. Und in seinen Ausstellungen widmete es sich vornehmlich den berühmten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. Mit anderen Worten, das Literaturhaus präsentierte eine ziemlich geläufige Version der deutschen Geschichte. Größere Ausstellungen oder Veranstaltungen, die sich schwarzen oder queeren deutschen Schriftstellern gewidmet hätten, sucht man jedenfalls vergebens.
Aber gab es auch Unterstützung für unbekanntere Autoren? Ernest Wichner, eine der wichtigsten Figuren in der Geschichte des Literaturhauses, kam beispielsweise aus Rumänien. Mitte der achtziger Jahre saß er in der DAAD-Jury, die Stipendien vergab. Neben Norman Maneas Name steht ein dickes »Ja«, die Herkunftsbezeichnung »rumänisch« ist unterstrichen. Rumänien war eine Herzensregion des Literaturhauses. Man wollte Schriftsteller von dort vor einem Schicksal wie dem von Rolf Bossert bewahren.
Mein letzter Abend. Ich wollte gerade aufbrechen. Da kamen mir plötzlich diese Worte einer Berliner Gedenktafel in den Sinn: »Joseph Roth, Radetzkymarsch«. Ich hatte versucht, das Archiv wie ein Instrument zu bedienen. Statt dessen war eine Geschichte voller Fragmente entstanden.
Ich ging zum Fenster. Eine Feder hatte sich in den Zweigen des Baums verfangen. Es war wie ein Bild für das, was ich im Archiv erlebt hatte. Der Versuch, aus ein paar Federn einen Vogel zusammenzusetzen, obwohl man noch nie einen gesehen hat.
Aus dem Englischen von Gernot Krämer, Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt
SINN UND FORM 4/2021, S. 564-568
Siqueiros, David Alfaro
- 4/1970 | Mexikanische Wandmalerei
Sjomin, Witali
- 5/1978 | Kennzeichen Ost
Skácel, Jan
- 1/1966 | Gedichte
Skupin, Vera
- 4/1952 | Neue Lyrik. McGee
Slevogt, Max
- 2/1978 | Zu Besuch bei Künstlern. Zeugnisse vom Faschismus Ermordeter
Slíva, Vít
- 5/2017 | Das Wogen der Wolken. Gedichte
Sloterdijk, Peter
- 5/1999 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 1/2001 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 1/2004 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 4/2012 | Homo collector, homo lector, homo corrector. Für eine kurze Geschichte des Lektorats, S. 701 Leseprobe
Sloterdijk, Peter
homo collector, homo lector, homo corrector. Für eine kurze Geschichte des Lektorats
Meine Damen und Herren, ohne Zweifel haben Sie es bemerkt: ich reihe mich mit der Wahl des Untertitels für diese Rede anläßlich des heutigen feierlichen Ereignisses in die Schar derer ein, die ihre Eifersucht auf Stephen W. Hawking nicht verbergen können. Bekanntlich hatte dieser mit seinem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« (A Brief History of Time, 1988) einen Weltbestseller lanciert, den alle sofort lesen wollten, weil der Titel die lang erwartete Kurzfassung der Theorie von allem zu liefern versprach – so daß man sich, wenn man ein aufmerksamer Leser war, nie wieder dafür würde schämen müssen, nicht zu wissen, wie alles kam. Hawking war ein phänomenaler Coup gelungen, obwohl niemand nach der Lektüre besser wußte, wie es zu allem kommen konnte und zu uns inmitten des Ganzen. In publizistischer Hinsicht ging der Schock tief. Seither wollen viele Autoren mit einer durchschlagenden kurzen Geschichte Aufsehen erregen – so auch ich heute, obschon nicht in eigener Sache, sondern um dem Anlaß gerecht zu werden, in dem es gilt, einige angemessene Worte zu Ehren des Graduandus zu sagen. Da es sich um eine akademische Ehrung handelt, die ich durch und durch bejahe, möchte ich, bevor ich die kurze Geschichte in Angriff nehme, einige Gratulationen aussprechen:
– an erster Stelle eine, die sich an die Philosophische Fakultät dieser Universität richtet, für ihre weise Entscheidung, einen der belesensten und kenntnisreichsten Menschen deutscher Sprache mit dem Grad eines Doktors h.c. der Philosophie auszustatten;
– sodann an den Empfänger der Ehrenpromotion selbst – Raimund Fellinger, meinen Lektor bei Suhrkamp seit so vielen Jahren, daß man fast Hawking bräuchte, um eine kurze Geschichte dieser Autor-Lektor-Beziehung zu verfassen;
– und schließlich an mich selbst, da ich die Ehre zu schätzen weiß, hier zugunsten des Ehrendoktoranden einige Bemerkungen vorbringen zu dürfen.
Mir ist dabei zumute, als ob eine okkulte Regie darauf gerechnet hätte, daß es eine alte Schwäche von mir ist, in Momenten festlicher Nachdenklichkeit das Wort zu ergreifen und die zeremoniellen Augenblicke, seien sie akademisch oder nichtakademisch, mit einigen zarten Übertreibungen zu verschönern. Raimund Fellinger hat übrigens vor vielen Jahren – ich glaube, es war in München – anläßlich einer literarischen Preisverleihung seinerseits eine Lobrede zu meinem Vorteil gehalten, in der er mich als einen Hyperboliker schilderte, einen Verfasser von Übertreibungen, der gleichsam das philosophische Gegenstück zu dem gewaltigen Polterer Thomas Bernhard darstelle – indessen er mir, soweit ich mich erinnere, nur dessen cholerisches Temperament absprach. Im Grunde bleibt mir heute nichts anderes übrig, als meinem Lektor coram publico recht zu geben, und ich tue dies widerwillig – da eine Gelegenheit wie diese nicht leicht wiederkehrt, mich öffentlich dafür zu rächen, daß er auch sonst immer recht hat. Doch die Würde der Situation verbietet die private Abrechnung, und so betrete ich, weil Fellinger wieder einmal recht hatte, meine Übertreibungswerkstatt und nehme eine schöne, fast fertige Übertreibung von der Staffelei, die sich möglicherweise nach einigen Retouchen als Festgabe für diesen Anlaß eignet.
Ich liefere also eine kurze Geschichte des Lektorats – mit Schwerpunkt auf der Frühgeschichte, wie sich versteht. Dabei schöpfe ich, außer bei Hawking, wichtige Anregungen beim Museum of Natural History in Cape Cod, Massachusetts – Sie wissen, meine Damen und Herren, das ist der Ort, an dem die ersten Schiffe der frommen englischen Pilgerväter an Land gingen, aus denen später aufgrund undurchschauter Gesetze des Gestaltwandels die Amerikaner wurden. An dieser denkwürdigen Stätte errichtete man mit klarem Sinn für Symbolik ein Museum, in dem jedem Besucher die wahre Finalität der Evolution klargemacht wird. Man sieht dort die kurze Geschichte von allem für Amerikaner und Jugendliche in bildlicher Anschaulichkeit ablaufen. Wer das Gebäude verläßt, weiß ein für allemal, wie zielstrebig die Evolution vorwärtsstrebte – in einer pfeilgeraden Linie vom Urknall über die Farne und die Mammiferen bis zur Unabhängigkeitserklärung. Etwas Ähnliches bräuchten wir auch in unserer Sache. Freilich wird damit der Vorgang aus psychologischen Gründen etwas kompliziert. Raimund Fellinger ist ein diskreter und bescheidener Mensch, der niemals eine Universalgeschichte würde lesen oder hören wollen, die auf ihn selber zuläuft, obschon er von Berufs wegen mit Menschen zu tun hat, die solche Hemmungen nicht kennen. Darum ist es heute doppelt traurig, daß Siegfried Unseld nicht mehr unter uns ist, zum einen weil er sich von Herzen über die Auszeichnung seines unersetzlichen Lektors und langjährigen Schachgegners gefreut hätte, zum anderen weil er in Sachen »kurze Geschichte« zu viel unkomplizierteren Empfindungen neigte. Er hätte sich ohne weiteres eine Darstellung der Evolution vom Urknall bis Unseld vorstellen können – schon die Alliteration hätte ihm eine tiefe Genugtuung bereitet, ja, er hätte sie als eine Art Vorzeichen, um nicht zu sagen: eine Verpflichtung empfunden, so wie er auch seinen Vornamen schon früh als einen Wink aus den kabbalistischen Tiefen der Sprache aufgefaßt hatte. Überdies wußte er aus der Zeit, als er selber noch Lektor war, den Charme der dunklen Vokale und der Anfangsreime in Buchtiteln zu schätzen.
Kurzum, verehrte Festgemeinde, die Frage, ohne Umschweife gestellt, konkret und hyperbolisch zugleich, lautet: Wie kommt der Lektor in die Welt?
Die Antwort, deren Aktualität niemand leugnet, kann nur in zwei Teilen gegeben werden, einem prinzipiellen und einem historischen.
Im prinzipiellen Teil ist festzustellen, daß die Entstehung von Lektoren evolutionär betrachtet zum Unwahrscheinlichsten gehört, was die Geschichte des Universums zu bieten hat, egal, ob man sie in der langen oder kurzen Fassung erzählt – sie übertrifft an Unwahrscheinlichkeit sogar die Entstehungsgeschichte des Giraffenhalses und des Pfauenaugenflügels, obgleich auch diese Gebilde hart an der Grenze zum Unmöglichen angesiedelt sind. Dennoch sprechen unter Zugrundelegung des anthropischen Prinzips viele Argumente für die Behauptung, daß »unwahrscheinlich« nicht »unmöglich« bedeutet, und da der reale Lektor nun einmal da ist, und zwar als Eidos und als Individuum im Saal, muß es im Gang der Dinge etwas gegeben haben, das auf den verwirklichten Lektor hinauslief.
Die bizarre Dynamik der Abarbeitung der Unwahrscheinlichkeit bis zum Verwirklichungspunkt kann mit dem britischen Biologen Richard Dawkins als Klettern auf den Berg des Unwahrscheinlichen um schrieben werden – wie er es im Titel eines seiner unnachahmlich populären Bücher ausgedrückt hat: Evolution ist nach ihm eine alpine Disziplin, und ihr wahrer Name lautet: Climbing Mount Improbable. Den Berg der Unwahrscheinlichkeit besteigen. Daraus folgt nun: Da es den Lektor wirklich gibt, hat in den Nordwänden des Seins notwendigerweise irgendwo ein wie auch immer fast unmöglich und wahrscheinlich nur unter größter Lebensgefahr zu durchquerender Aufstiegskamin existiert, durch den einige Pioniere der späteren Lesefähigkeit den Weg zum Gipfel gefunden haben. Damit können wir von der Ebene des Prinzipiellen zu jener der historischen Entwicklungslinien übergehen. Da wir früh anfangen wollten, müssen wir nach der Naturgeschichte des sammelnden Verhaltens fragen, denn was man eines Tages das Lesen nennen wird, ist in historischer und anthropologischer Sicht ein Sproß am Stamm der zusammentragenden Tätigkeiten, die weit in die animalische Sphäre zurückreichen. Ich verzichte darauf, die Ansätze hierzu im Tierreich aufzuspüren, so reizvoll es auch wäre, den humanen Lektor bei den Elstern und anderen Lebewesen mit sammelnden Talenten vorgebildet zu sehen.
Wir halten uns also an die menschlichen Anfänge des sammelnden Verhaltens. Dieser Blick in frühe Stadien der Kultur katapultiert uns in einen vorsokratischen Raum. Bekanntlich war Martin Heidegger, der Neu-Vorsokratiker aus dem südlichen Schwarzwald, so weit gegangen zu behaupten, das philosophische Urwort »Logos« könne unmöglich verstanden werden, wenn man es nicht in die Verbform »legein« zurückübersetzt, so daß aus dem steifen Allgemeinbegriff ein bewegliches Tätigkeitswort wird, aus der aufragenden Abstraktion ein Gewimmel von Mikroereignissen. Wenn »Logos« eigentlich »legein« ist, die Summe der lesenden, auflesenden, zusammenlesenden Gesten, dann meint es das Zusammentragen all der Dinge in der Rede, die die Welt bedeuten. Französische Heideggerianer haben geradewegs vom Sein-zumText gesprochen. »Legein« heißt im klassischen Griechisch zwar soviel wie erzählen, aufzählen, reden, sprechen, aufschreiben – aber Heidegger wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er nicht unter der klassischen oder olympischen Schicht eine ältere, gleichsam elementare oder titanische freigelegt hätte, eine semantische Schicht, in der das Erzählen, Reden und Aufschreiben etwas Grundsätzlicheres bedeuteten: Das alte »legein« ist für ihn nämlich das Ernten, das Zusammenlesen, das Zusammenbringen, das Heimholen des Lebenswichtigen und Wissenswichtigen in eine existentielle Zentrale, mochte man diese als Speicher oder als Tempel oder als Schatz begreifen – zuletzt auch als Buch. Kornhäuser, Tempel, Schätze, Erinnerungen, Papyri, Codices, Folianten, Enzyklopädien, sie alle wären Belege dafür, wie die höhere Kultur aus dem Instinkt der Anhäufung oder der Kollekte hervorgeht. In dem Buchtitel »Sein und Zeit« versteckt sich die Formel »Sein und Sammlung«. Denn wo solche Verdichtungen sich bilden, beginnt die menschliche, die existentielle Zeit zu laufen. Der Mensch wird erst angesichts der Sammlung zu dem Wesen, das vom Vorrat lebt – nicht von der Hand in den Mund, sondern von der Kollekte: rückwärts in die Geschichte und vorwärts ins Projekt.
Die deutsche Sprache stützt solche Erwägungen sehr stark, da sie die Lese und das Lesen aus derselben Silbenquelle fließen läßt. Kurzum, wer den Lektor von weit herkommen sehen will, muß sich mit der Natur- und Frühgeschichte der Kollekte befassen und im sprechenden Menschen selbst, dem »zoon logon echon«, das Geschöpf bemerken, das dank des »Logos« an einem ontologischen Sammeltrieb teilhat.
Da kommt er also erstmals, sehr konfus und funktional ungeschieden, um die evolutionäre Kurve – der spätere Lektor. Wo viel zusammengetragen wird, in der Zeit der ersten Vorratsbildungen, der ersten Mittelpunktaufstellungen, der ersten Urbi-etorbi-Regungen, da gibt es viel zu hüten, zu sichten, zu prüfen, zu evaluieren, zu emendieren, zu restaurieren. Das erste Leseamt, ganz präliterarisch, ist in der Schatzwächterfunktion embryonal enthalten – weswegen eine Familienähnlichkeit zwischen Lektoren, Drachen und Schweizergardisten besteht, die man im Licht der evolutionären Analyse mit einemmal viel besser versteht. Im übrigen ist in dem Feld der ersten Kollekten auch schon die Autorenfunktion keimhaft angelegt, und was später als ausdifferenzierter Autor deprimiert über die Frankfurter Messe läuft, war im archaischen Stadium ein großsprecherischer Schatzbildner, ein stolzer Plünderer, ein ruhmlüsterner Herr der Sammlung – ein Mann, den die archaische Gewißheit erfüllte, Schatzaufhäufung und Urheberschaft seien ein und dasselbe. Im übrigen hatte Heidegger bei seiner hyperbolischen Herleitung der Lese aus der landwirtschaftlichen Erntefunktion einen Vorgänger, dem erstmals die Analogie zwischen Schrift und Ackerbau aufgefallen war – ich meine Cicero. Wir verdanken dem großen Orator ja nicht allein die Musterstücke gut gebauter Reden, mit denen man noch nach 1945 die gymnasiale Jugend in der Kunst unterrichtete, gegen Catilina zu polemisieren. Auch ist er nicht nur für die Einführung der griechischen Lebensform Philosophie ins postrepublikanische Rom verantwortlich – denn Philosophie beginnt bekanntlich dort, wo die »polis« und die »res publica« aufhören; er war auch der Mann, auf den das schicksalhafte Grundwort des europäischen Bildungsvokabulars zurückgeht, nämlich der Ausdruck »Kultur« in seiner allgemeinsten wie konkretesten Bedeutung. Obendrein war Cicero der erste, der über die Verben des Lesens nachgedacht hatte, wobei ihm wie nebenbei eine kleine Phänomenologie des kultivierten Daseins gelang.
Das lateinische Wort »cultura« bezeichnete vor Cicero unmißverständlich den Ackerbau. Ebendiese für Römer irreversibel festgeschriebene Prägung des Begriffs erkannte Cicero als seine Chance. Da die Römer es sich auch in der Zeit ihrer höchsten Urbanität nicht nehmen ließen, sich als Leute mit Bezug zum altväterlichen Landbau zu verstehen, konnte man ihnen die neue Lesekultur, die Philosophie und die literarische »humanitas«, mit keinem besseren Argument nahebringen als mit der Behauptung, der lesende Mensch betreibe so etwas wie eine »cultura animi«, sprich Ackerbau und Bodenbestellung der Seele. Von da aus war es nicht mehr weit zur Analogie zwischen der Furche und der Zeile und zwischen dem Acker und der Seite. Man kann geradewegs die These aufstellen, das, was wir heute Europa nennen, dieser Kontinent des Individualismus und der Sorge um sich selbst, stelle eine Nebenwirkung dieser fabelhaften ciceronischen Übertreibung dar. Mit ihr schuf der römische Intellektuelle dem Imperativ des Lesens das wirkungsvollste Werkzeug. Denn wie der wohlhabende Römer gewohnheitsmäßig im Sommer auf die Landgüter fuhr, um noch einmal den Bauern zu spielen, der aus purer Agrarromantik da und dort selber Hand anlegte, so konnte der gebildete lesende Mensch künftig die Villeggiatura der Seele aufsuchen – sogar mitten in der Stadt, unabhängig von der Jahreszeit. Auf einmal war es möglich, mit dem Pflug der Lektüre den Innenweltboden zu bestellen und auf dem Acker der Seele Früchte zu ernten, Lesefrüchte, Askesefrüchte, vielleicht auch Worthülsenfrüchte, die keinem Rustikalen je in die Hände gefallen waren.
Meine Damen und Herren, die nebulöse Figur des »homo lector« nimmt an der Schwelle zu der Zeit, die wir im Rückblick die der silbernen Latinität nennen, etwas deutlichere Konturen an, auch wenn sie dem heutigen Lektor immer noch sehr wenig gleicht. Nebenbei erinnere ich nochmals daran, daß es Cicero war, der den Verben des Lesens einen folgenreichen Moment des Nachdenkens widmete, als er in einer Erörterung über den Ursprung des Worts »religio« in seinem Traktat »De natura deorum« die These aufstellte, es gehöre in die Familie der »verba legendi« – die von Ferne mit den »verba dicendi« verwandt sind. Die sogenannte Religion wäre demnach ein Modus von »legere«. Denn so wie man die Menschen, die sich aufs »eligere« verstehen, das Auslesen und Bevorzugen, die Eleganten nennt, so wie man die Menschen, die dem »diligere« zuneigen, dem sorgfältigen Unterscheiden der Nuancen, die Diligenten, die Sorgfältigen, die wissend Liebenden, die Dilettierenden nennt, so wie man die Menschen, die das »intelligere« praktizieren, die Intelligenten, die zwischen den Zeilen zu lesen Fähigen nennt, so nenne man die Menschen, die sich das »religere«, das Aufmerken und das behutsame Vergleichen von Vorschrift und Ausführung zu eigen machen, die Religiösen. Auf diese Weise entsteht bei Cicero auf weniger als einer halben Seite eine veritable Zivilisationstheorie in nuce – ein Traktat von der Geburt der zivilisierten Seele aus den Konjugationen der lesenden Psyche.
Doch wie immer anregend diese Reminiszenzen sein mögen, wir sind damit noch immer nicht bei unserem zeitgenössischen Lektor angekommen. Zu ihm gelangen wir erst in der letzten Minute der kurzen Geschichte, denn nach allem, was wir von ihm wissen, ist er zu Beginn des 20. Jahrhunderts so in Erscheinung getreten, daß wir von ihm zu sagen vermöchten, wir erkennen ihn wieder, ohne auf anthropologische und philosophische Umwege ausweichen zu müssen. Max Weber, dem wir die beiden großen Essays »Wissenschaft als Beruf«, 1917, und »Politik als Beruf«, 1919, verdanken, ist uns den dritten Teil seiner Reflexionen über schicksalhafte Professionalisierungen mit Last- und Pflichtcharakter schuldig geblieben. Dieser hätte vom »Lesen als Beruf« handeln müssen. Weber hätte die einschlägigen Phänomene in seiner Lebenszeit wahrnehmen können, denn Lektoren im modernen Sinn des Wortes existieren erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Verleger auf breiter Front begannen, ihre Beziehungen zu den Autoren über Dritte laufen zu lassen – wie anders in einer Lage, als bei den Literaturverlagen um 1930 schon bis zu 1000 unangeforderte Romanmanuskripte einlangten. Ute Schneider, der wir die umfangreichste Aufarbeitung der deutschen Lektorengeschichte seit 1900 verdanken, nannte ihre Studie »Der unsichtbare Zweite« – und dies nicht zu Unrecht. Denn indem sie alle Materialien bereitstellt, um die neuerdings voll entfaltete triadische Struktur des editorischen Feldes aus Verleger, Lektor und Autor zu begreifen, weist sie völlig triftig darauf hin, daß den Autoren selbst in der Figur des Lektors ein Alter ego heranwuchs, ohne die das Spiel der neueren Literatur seit geraumer Zeit nicht mehr vorstellbar ist. Wenn man weiß, wie viele Lektoren in der Frühzeit des professionalisierten Lektorats in Deutschland namhafte Autoren waren oder wurden – ich nenne nur Oskar Loerke, Franz Werfel, Christian Morgenstern, Hermann Kasack –, so erkennt man das Potential der Lektoratsfunktion, das da und dort weit über die Rolle des unsichtbaren Zweiten hinauswies.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Natürlich hatte ich Ihnen zuviel versprochen, als ich eine kurze Geschichte des Lektorats ankündigte. In einem Punkt jedoch werde ich Wort halten, was die Kürze betrifft. Kurz ist ja auch die Geschichte des Lektors im buchstäblichen Sinn. Seine Herleitung aus dem Alten und Allerältesten war, wie von Anfang an erklärt, eine hyperbolische Übung, die dem festlichen Anlaß dieses Tages geschuldet ist.
Die beste Definition des aktuellen Berufsbilds finde ich in einem Passus der Erinnerungen, die der Ullstein-Lektor Max Krell 1961 unter dem Titel »Das alles gab es einmal« herausbrachte: »Der Lektor muß in sich die Eigenschaften eines Spezialarztes, eines Beichtvaters, eines Detektivs vereinigen. Er muß Mut zusprechen, unter Umständen den Hoffnungsstrahl einer finanziellen Hilfe aufleuchten lassen. Wer schon in engerem Kontakt zum Verlag steht, soll zu neuen Taten angestiftet werden; wer noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erfahren hat, soll aufgespürt werden, man muß ihn zum Verrat seiner Geheimnisse reizen.«
Lieber Raimund, ich vermute, du kannst mit den Charakterisierungen des älteren Kollegen sehr viel anfangen – und die technischen Hinweise auf Geheimnisverrat und Hoffnungsstrahlerzeugung dürften für dich tägliche Evidenzen sein. Wer wie du mit so vielen heiligen Monstren der Literatur so enge Berührungen erlebte – mit Wolfgang Koeppen, mit Uwe Johnson, mit Thomas Bernhard, mit Peter Handke, mit Siegfried Unseld, um nur sie zu nennen –, wie sollte der nicht auch Detektiv und Beichtvater sein? Krells drittes Berufsmerkmal, den Spezialarzt, können wir getrost durch den Ausdruck Psychiater ersetzen. Glücklicherweise unterliegst du nicht der ärztlichen Schweigepflicht. Bei einigen der Genannten hast du in den letzten Jahren die Krankenakten geöffnet, und große Literatur erschien vor den Augen einer staunenden Öffentlichkeit. Nur eine Nuance wäre an dem von Krell gezeichneten Bild zu ergänzen. Der große Lektor verfügt über eine Fähigkeit, die nur erwirbt, wer viele Jahre über die Gipfel des Mount Improbable geklettert ist – ich meine die seltene, allzu seltene Kunst, den Autoren zugleich ein selbstloser Komplice und ein intimer Gegner zu sein. In dieser Kunst, laß es mich sagen, bist du der unerreichte Meister.
Meine Damen und Herren, seit mindestens 25 Jahren beenden Raimund Fellinger und ich unsere Telefongespräche mit dem Satz: »Arbeiten wir weiter!«, gleichgültig, wovon davor die Rede war. Ich nehme an, das wird nach dieser Greifswalder Zeremonie nicht anders sein. Nur werden wir vielleicht dann und wann etwas deutlicher spüren, daß »weiterarbeiten« nichts anderes ist als ein Codewort für immer neue Aufstiege auf die Gipfel des Unwahrscheinlichen.
SINN UND FORM 4/2012, S. 559-564
- 6/2013 | Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten, S. 701 Leseprobe
Sloterdijk, Peter
Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der Rehabilitierung des Hörens. Haben wir nicht das Ohr als Erkenntnisorgan allzu lange unterschätzt?
PETER SLOTERDIJK: Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Ohr wirklich so untreu geworden sind, wie es Ihre Worte nahelegen, denn unsere Kultur beruht vom ersten Tag an auf der Allianz zwischen dem Auditiven und dem Visuellen. Das hat unter anderem damit zu tun, daß die Europäer die ersten waren, die den von den Phöniziern und anderen Vorgängerkulturen übernommenen Alphabeten Vokale hinzugefügt haben. Also wären die Griechen, wenn sie sonst nichts geleistet hätten, trotzdem das bedeutendste Volk der Geistesgeschichte Europas, eben weil sie die orientalischen Konsonantenschriften um Vokale ergänzt und dadurch etwas möglich gemacht haben, worauf unsere ganze audiovisuelle Kultur beruht: das autodidaktische, das selbständige Lesen, die vollständige Vokalisierung des lesbaren Textes und damit die Entstehung einer psychoakustisch prägnanten Halluzination im inneren Ohr des lesenden Menschen, der glaubt, er höre den Autor sprechen. Wir haben eine Kultur des inneren Hörens, des betreuten Halluzinierens geschaffen, in der sich die Stimme des Autors gleichsam wie eine Hand auf die Schulter des Lesers legt und ihm erlaubt, sich ein Bild von dem zu machen, was er gesagt hätte, wenn ihn nicht jahrhundertelanges Totsein am unmittelbaren Verkehr mit seinem Fernschüler hindern würde. Die Griechen haben, wenn Sie so wollen, durch ihre Schrift die Teleakademie erfunden. So würde man das heute nennen. Und Teleakademien haben das besondere Merkmal, daß in ihnen Fernstimmenübertragungen stattfinden. Ich würde sagen, das ist die Basis unserer Kultur.
Die Griechen haben zudem eine Merkwürdigkeit an den Tag gelegt, über die wir heute noch staunen können, sie haben nämlich die Buchstaben zugleich für Zahlen und Musiknoten benutzt. Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, weil wir ja Zahlen und Notationen und Buchstaben haben. Der verstorbene Friedrich Kittler hat über diese Entdeckung in seinen reiferen Tagen fast den Verstand verloren, weil er zu verstehen versucht hat, was es bedeutet, wenn man gleichzeitig Mathematik, Musik und geschriebenes Denken praktiziert. Doch alles, was ich gesagt habe, ist nur eine Annäherung an den großen Satz von Thomas Mann, der in meinen Augen am Anfang jeder Besinnung über Fragen der Musik stehen könnte: »Die Musik ist dämonisches Gebiet.«
OSTEN: Die Rangerhöhung der Musik fand in der Spätromantik statt, etwa in Nietzsches berühmter »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Da wurde plötzlich das Ohr an die Herzkammer des Weltwillens gelegt. Der Gedanke, daß der Weltgrund musikalisch, daß Musik im Grunde eine metaphysische Tätigkeit ist, ist doch ungeheuer. Wie kommt man zu solchen Überlegungen?
SLOTERDIJK: Durch die Entdeckung der Mehrschichtigkeit der Audiovisualität als solcher. Ursprünglich hat die europäische Kultur die beiden Fernsinne Auge und Ohr gegenüber dem, was man die Nähesinne nennt, unendlich privilegiert, also gegenüber dem Geruchssinn, dem Tastsinn, dem atmosphärischen Spüren. Im Grunde genommen ist das Spüren der große Verlierer der Kulturgeschichte. Es wird jetzt unter verschiedenen Namen, unter anderem dem der Haptonomie, mühsam wieder in unser Weltbild integriert. Die Nähesinne mußten unter den Sinnen des Menschen zweitausend Jahre lang den Idioten der Familie spielen. Wir haben das Tasten, das Riechen, das Schmecken und das gesamte atmosphärische Empfinden, also den Umgang mit dem, was bei den Phänomenologen tertiäre Qualität heißt, am Eingang zur Akademie abgewiesen. Über diesem Eingang stand ja auch, die mathematisch Ungebildeten, diejenigen, die nicht bereit sind, die für die europäische Wissenschaftskultur konstitutiven Abstraktionen mitzumachen, mögen außen vor bleiben. Und wir haben bis zum Beginn der Renaissance, bis zum 14./15. Jahrhundert warten müssen, ehe die Künstler wieder von der Mathematik zur Sinnlichkeit zurückkehrten. Das ist das eigentliche Geheimnis der Renaissance, die Reinklusion der ausgeschlossenen Sinne – aber auch die müssen sich an das Idiom der Mathematik und an das Denken in Proportionen, die Lage im Raum und die Größenbestimmung halten. Das sind die sogenannten Primärqualitäten, auf sie allein stützt sich wahres Wissen. Musik hat im innersten Kreis der Wissenschaften zwar eine Rolle gespielt, aber nicht als hörbare, sondern als gedachte Musik. Es ist interessant, daß von Pythagoras bis ins hohe Mittelalter immer auch eine Musikologie betrieben worden ist, die so etwas wie die Wissenschaft von den mathematischen Proportionen beinhaltete, auf welchen Musik beruht, auch wenn man sie nicht hört. Die Wiederkehr des Hörens meint eigentlich die niedere Musik, die so etwas Schmutziges wie eine Klangfarbe hat – schon das Wort Farbe löst bei einem echten Platoniker ja Krämpfe des Unwohlseins aus, weil damit die Verschmutzung durch Empirie beginnt.
OSTEN: Ist es nicht so, daß die Metaphern, die wir aus der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte übernommen haben, zum Beispiel »sich ein Bild machen«, »Licht ins Dunkel bringen« oder »Aufklärung«, meist aus dem Bereich des Sehens kommen? Man könnte sich die Aufklärung ja auch als Aufklingung denken. Aber von Aufklingung haben wir keinen Begriff. Es scheint doch irgendwann zu einer Dominanz des Visuellen, zumindest bei Metaphern und Begriffsbildungen, gekommen zu sein.
SLOTERDIJK: Das liegt an Plato. Aber er ist nicht an allem schuld, er kann auf einen anonymen Urheber des Verhängnisses verweisen, denn er lebt in einer Kultur, in der die Alphabetisierung bereits stattgefunden hat. Sie liefert Plato seine Grundideen, denn die Idee der Idee ist der Buchstabe. Man hat aus den Vokalgallerten, die aus Menschenmündern hervorquellen und die man Sprachen nennt, durch geniale Sequenzierung die Elemente herauspräpariert, die eine phonetische und vokale Rekonstruktion des Lautes im Schriftbild begründen. Das ist ein grundstürzender Vorgang, und den hat die Philosophie als eine von ihr selber nicht verstehbare Prämisse bereits im Rücken. Als Plato mit seinem Eidos, seinem Urbild kommt, kann er sich auf zwei Urbilderfahrungen berufen, die zur Grundausstattung der griechischen Lebenswelt gehören. Die erste war die für jeden Griechen, ob alphabetisiert oder nicht, sichtbare Tatsache, daß an jeder Ecke Statuen nackter Männer standen. Ohne diese Grundgeste, ohne die in den Statuen zum Ausdruck kommende Genialität kann man die Griechen nicht verstehen. In der Statue wird das Göttliche aufgerichtet, und das Göttliche ist immer ein bißchen größer als der Mensch, aber nicht zu groß. Zehn Prozent mehr, und schon hat man einen Helden, einen Halbgott oder eine Epiphanie. So muß man sich auch die Statuen in Olympia und an anderen Orten des griechischen Siegerkults vorstellen. Zum olympischen Sieg gehört das Recht, Statuen aufzustellen. Wenn fremde Heere einfielen, verübten sie unter den Statuen einen regelrechten Völkermord. Aber wenn sie abzogen, konnten die Geschichtsschreiber sagen: Griechenland ist immer noch voller Statuen. Dieser Umstand hat Plato in gewisser Weise recht gegeben, weil er darauf verweisen konnte, daß es so etwas wie real existierende Ideen gibt. Zunächst als vergöttlichte Männerkörper in der gebundenen archaischen Gestalt des Kuros mit den am Oberschenkel angelegten Händen und später in der gelösteren Gestalt, die einen Schritt nach vorne tut. Und dann die sich vom Körper lösenden Arme – am Ende fast tänzerisch verklärte Körpererscheinungen, die im römischen Manierismus zu einer unglaublichen Höhe weitergebildet werden. Die zweite Voraussetzung des Platonismus ist noch viel unscheinbarer. Statuen springen ins Auge, werden aber in der Regel vom Betrachter nicht reflektiert, weil er sie nur als herumstehende Objekte wahrnimmt. Wir können die Statuen aufstellende Gebärde, also den Denkakt, der dazu führt, daß man einen menschlichen Körper auf solche Weise erhöht und sichtbar macht, heute nicht mehr recht nachvollziehen. Zumindest konnten wir es bis 1900 nicht, als die neue Kultur der Models aufkam und wir auch die Freude an der Körperpräsentation wieder entdeckten.
Der andere Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, daß die Griechen bereits diese mysteriösen 24 oder 25 Schriftzeichen hatten, die die gesamte Sprache mit lautbildlicher Präzision wiedergeben konnten. Wenn Plato nach dem Urbild eines Urbilds gesucht hätte, was er aufgrund seines Eingetauchtseins in die Schriftkultur nicht tat, wäre er unweigerlich beim Buchstaben gelandet, der auf griechisch Element heißt. Die eigentliche Elementarisierung, die Sequenzierung des Seienden in kleinste Teile, ist eine Nebenfolge des Umstands, daß die Griechen das in ihrer Schrift bereits getan hatten. Bis vor kurzem war es auch die einzige erfolgreiche Form der Sequenzierung des Seienden. Erst im späten 18. Jahrhundert tauchten Tafeln der chemischen Elemente auf, die wir bis auf den heutigen Tag weiterschreiben. Authentische Sequenzierungen des Seienden kann man daran erkennen, daß man mit den freigelegten Elementen Rekombinationen vornehmen und Existierendes exakt abbilden kann. Mit dem, was darüber hinaus geht, kann man wieder neue Kombinationen erzeugen. Aus dieser Kombinatorik entsteht die erste Form von Kreativität. Das heißt, wir erzeugen durch Kombinationen von Elementen etwas Neues. Insofern war die Kabbala gar keine so dumme Sache.
Die Kabbalisten nahmen die Kunst, aus Buchstaben Wirklichkeiten zu machen, so ernst, daß sie glaubten, sie könnten durch Buchstaben-Manipulationen die Schöpfung rekapitulieren und gewissermaßen daran mitarbeiten. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir schreiben den Dienstag der zweiten Schöpfungswoche, und in dieser geht man – was das Kombinieren und das Rekombinieren von Schöpfungsmaterie angeht – weit über die rudimentären Verfahren der ersten Woche hinaus.
[...]
SINN UND FORM 6/2013, S. 864-877
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Sparr, Thomas
Lob des Verzettelns. Gespräch mit Klaus Reichert und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende Veränderung des Blicks. Nachdem der Himmel so lange für Gefahren stand, für fliegende Angriffsmaschinen, sieht man nun, was da noch alles ist. Ist Ihnen diese Situation noch gegenwärtig?
KLAUS REICHERT: Sie ist mir noch sehr präsent, in diesem Alter nimmt man so etwas ja schon ziemlich deutlich wahr. Man sah auch die abgeschossenen Flugzeuge, eines stürzte in unseren Garten, darin lag ein toter Engländer. Der Vollalarm kam abends, wenn es dunkel wurde, gegen sieben. Gießen hatte einen großen Fliegerhorst und viel Schwerindustrie und war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Insofern war das ein idealer Ort zum Bombardieren. Die totale Auslöschung der Stadt geschah am Nikolaustag 1944. Die Wochen davor habe ich immer im Keller statt im Bett verbracht. Ich hatte ein kleines Köfferchen mit ein paar Büchern dabei, wie »Grimms Märchen« mit Illustrationen von Otto Ubbelohde. Der Himmel bestand für mich in dieser Zeit aus unglaublichem Radau, aus ständigem Rasseln. Es gab ja damals diese Sammelbüchsen, fürs Winterhilfswerk und anderes. Mir kam es so vor, als wäre da oben eine gigantische Sammelbüchse, so hat das gescheppert. Und als dann alles abgebrannt war, wohnten wir in einem Dorf, waren bei Bauern einquartiert, bis ich sieben war, im Mai 45. Vor dem Dorf gab es eine ruhige Blumenwiese, ohne Geräusche. Ich habe mich ins Gras gelegt und diese stille Wolke gesehen, die sich kaum bewegt hat, eine wunderbare, perfekte Cumuluswolke, wie ich sie nur aus Märchen- oder Kinderbüchern kannte. Das war ein großes Erlebnis für mich. Und dann habe ich mich am Abend hingesetzt und mit meiner steilen Kinderschrift aufgeschrieben, was ich gesehen hatte. Dann habe ich es noch einmal durchgelesen und gemerkt, das war nicht meine Wolke, das hatte gar nichts mit ihr zu tun.
WEICHELT: Die Wolke war für Sie damit ja auch ein Bild für den Frieden. REICHERT: Ja, vor allem durch diese Stille und dieses Weiß. Und dann dieses Angstlose, das auf einmal da war. Dann kamen die schwarzen Soldaten, die fand ich natürlich toll, die waren kinderlieb und schenkten einem Kaugummi und brachten einem den amerikanischen Ausdruck dafür bei, den ich mir als »Schwing-Gum« übersetzt habe. Chewing Gum, das habe ich nicht verstanden, aber Schwing und Gum, darunter konnte ich mir was vorstellen. Als ich ein bißchen älter war, habe ich auch gehandelt, mit Rheinwein für Zigaretten und Schokolade, Nescafé, Orangen. Das war ziemlich abenteuerlich.
WEICHELT: Haben Sie damals auch die Nervosität der Erwachsenen wahrgenommen, als das Ende des Krieges näherkam?
REICHERT: Ich erinnere mich genau an die Nacht der Ausbombung. Wir wohnten mit den Großeltern im zweiten Stock, dann kam ein großer Hof, dann Lagerräume und dahinter das große Verlagsgebäude meines Großvaters, der den Großherzoglich- Darmstädtischen Schulbuch-Verlag in vierter, fünfter Generation führte. Hier wurden für alle Schulklassen die Schulbücher hergestellt, auch das Lager war im Haus. Das brannte alles lichterloh. Mein Vater war im Krieg Nachrichtenmann, Entschlüsseler, seine Einheit kam aus Paris und war in der Nähe von Gießen stationiert, auf dem Vetzberg neben dem Gleiberg. Von dort aus sah er den Brand. Er fuhr sofort mit dem Fahrrad runter und hat mitgeholfen, Sachen aus dem Haus zu retten. Man konnte nicht mehr viel machen, es waren Sprengbomben gewesen. Und die geretteten Sachen auf dem Hof gingen durch Funkenflug in Flammen auf, da mußte man wieder löschen. Hinter dem Haus hatte mein Großvater einen riesigen Garten, einen Park im Grunde, und dahinter begannen Gänsewiesen, über die sind wir dann mit einem ganzen Treck von Leuten gezogen, darunter eine Tante von mir mit ihrem vier Monate alten Kind. Alle sind geflüchtet aus dieser Stadt, die zu neunzig Prozent zerstört war. Über die Wiesen ging es für uns ins nächste Dorf, wo unser Packer wohnte, den ich sehr geliebt habe, weil er mir Spielzeug gebastelt hat. Ich habe das alles eher mit verwunderten Kinderaugen gesehen. Und gar nicht richtig wahrgenommen, daß es alle meine Spielsachen nicht mehr gab. Ich war ein großer Soldatenspieler, hatte diese kleinen Plastilin-Soldaten, ganze Armeen, Marine, Luftwaffe, auch einen Hitler und einen Göring. Es war keine Trauer, nur Verwunderung darüber, daß die so vertraute Stadt auf einmal nur noch aus Schornsteinen bestand, feuerfest gemauerten Schornsteinen, die in die Luft ragten, und drumherum rauchende Trümmerhaufen. Dann ist meine Mutter mit mir in ein anderes Dorf gekommen, in diesem strengen Winter 44 / 45. Wir sind jeden Morgen die sieben Kilometer nach Gießen gelaufen, wo die Großeltern im Keller hausten und noch ein bißchen was zu essen hatten. Das war ein komisches Gefühl, weil es damals noch Tiefflieger gab und meine Mutter und ich mit unseren schwarzen Mänteln natürlich wunderbare Ziele abgaben … Das habe ich noch im Ohr, dieses Zischen der Kugeln, die um unsere Ohren pfiffen. Wir konnten uns nicht richtig verstecken, weil alles weiß war. Am Abend sind wir die sieben Kilometer wieder zurück. Wir lebten bei einer Bauernfamilie, die genug zu essen hatte, mußten mit am Tisch sitzen und hatten natürlich selbst nichts. Die Bauern hatten drei Buben, einer so alt wie ich, die anderen beiden älter, die haben riesige Koteletts bekommen. Der Kleine konnte seines nicht aufessen, und da sagte die Bäuerin zu meiner Mutter: »Wolle Se’s huuh, sonst gewwe mer’s der Katz«. Und meine Mutter hat gesagt, nein, vielen Dank. Das bißchen, was man gerettet hatte, haben einem die Bauern damals abgenommen gegen ein paar Kartoffeln …
WEICHELT: Hat in dieser Zeit auch schon Ihr Interesse an der Literatur begonnen?
REICHERT: Ja, das hat sehr früh angefangen. Meine Eltern, meine Großmutter und meine Tante haben mir von früh an vorgelesen, die »Grimmschen Märchen« immer wieder, mit den wunderbaren Zeichnungen von Ubbelohde, der ja aus der Marburger Gegend kam. Seine Märchengestalten waren mir alle vertraut vom Gießener Wochenmarkt mit den Bauersfrauen in hessischen Trachten, die dort Obst und Gemüse verkauften.
WEICHELT: Das Personal dieser Märchen war für Sie also keine bloß imaginäre, sondern eine reale und lebendige Welt.
REICHERT: Ja, sehr lebendig. Das Rotkäppchen sah aus wie meine Klassenkameradinnen, mit einem roten oder andersfarbigen Häubchen, wie auf den Zeichnungen von Ubbelohde. Die Marktfrauen hatten einen Knerz wie die Hexen. Ich habe auch ganz früh Kinderausgaben des »Robinson Crusoe« gehabt und bin überhaupt in einer Buchwelt aufgewachsen. Die ganze Familie hat gelesen, es gab ja noch kein Fernsehen. Auch mein erstes Kinoerlebnis war ganz wunderbar. Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam, 1946, gab er amerikanischen Offiziersfrauen Deutschunterricht. Und die backten mir zum Geburtstag eine Torte und schenkten mir Comic-Hefte. Oder sie unterstützten meinen Vater, der mit eigenen Händen ein Haus auf dem Grundstück seiner Eltern baute. Einmal sagte eine dieser Amerikanerinnen zu ihm, er sehe so traurig aus, ob sie ihm irgendwie helfen könne? Und er meinte, er bräuchte sieben Pfund Kaffee, um den Dachstuhl und die Ziegel zu bekommen. Und zwei Stangen Zigaretten für die Klosettschüssel. Das haben sie ihm dann gegeben. Eine ganz unglaubliche Großzügigkeit. Einige hatten Kinder, mit denen durfte ich spielen und die luden mich auch zu sich ein. Ich werde nie vergessen, wie einer dieser Buben, etwa mein Alter, Geburtstag hatte und zwanzig Ami-Kinder eingeladen wurden und ich auch. Ich verstand natürlich kein Wort außer Schwing-Gum, aber ich durfte mitgehen in das einzige Kino in Gießen, das nur für die Alliierten da war und für diesen Kindergeburtstag geöffnet wurde. Wir haben »Goldrausch« von Chaplin gesehen, mein allererster Film. Heute noch geht mir das Herz auf, wenn ich an diesen Film denke und an die Umstände, unter denen ich ihn sah.
THOMAS SPARR: Das ist eine schöne Doppelgeschichte. Das Kriegsende lehrte Sie, die Wolken zu sehen, und brachte Sie mit dem Englischen zusammen. Sie sind auch deshalb Anglist?
REICHERT: Nein, ich bin eher Anglist geworden aus Protest gegen ein autoritäres Gymnasium, wo man nur Latein und Griechisch gepaukt, aber nicht gelernt hat, wie man diese wunderbare Literatur hätte verstehen können. Der Unterricht bestand nur aus grammatischen Beispielen, es ging um attische Formen, um dorische und so weiter. Es ging nie um Literatur, immer nur um Grammatik. Dagegen war für mich die deutsche, aber auch die englische Literatur etwas Lebendiges, das konnte ich verstehen. Die englischen Sachen konnte ich natürlich nicht im Original lesen, aber es gab in dieser kurzen Spanne vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik unglaublich viele Literaturzeitschriften. Und mein Vater hatte fast alle abonniert. Die »Story«, herausgegeben von Heinrich Ledig in Stuttgart, mit einer monatlichen Auflage von fünfzigtausend Exemplaren, zum Preis von einer Reichsmark. Dann gab es »Die Erzählung« aus Konstanz und »Das Karussell«, das Arnold Bode in Kassel machte, der später die Documenta gründete. Da standen in ein- und demselben Heft Manfred Hausmann, der ja ein Nazi-Autor war, und ein völlig unbekannter junger Schriftsteller namens Heinrich Böll. Dann gab es Willi Weismann in München mit der Zeitschrift »Die Fähre«. Da habe ich zum Beispiel einen Text auf deutsch gelesen, bei dem ich überhaupt nichts verstand und dachte, das muß was Besonderes sein, wenn du das nicht verstehst. Das war ein Auszug der »Anna-Livia"-Übersetzung aus »Finnegans Wake«, die Goyert 1933 auf Wunsch von Joyce gemacht hatte und dann aber nicht mehr erscheinen durfte. Damit begann meine Faszination für Joyce. Und dann gab es auch noch »Das goldene Tor«, das Döblin in Mainz herausgab. Das war die einzige Zeitschrift, die nicht nur schöne Literatur machte, sondern auch politisch erziehen wollte. Dort las ich zum Beispiel einen großen Aufsatz von Ludwig Marcuse über die Geschichte der nicht gebauten Heinrich-Heine-Denkmäler in Deutschland. Diese Zeitschriften waren ein Segen.
SINN UND FORM 2/2020, S.230-243, hier S. 230-233
Spender, Stephen
- 3/1993 | Deutsches Tagebuch 1945
Spender, Waldemar
- 4/1973 | Auf einen Soldaten der Revolution
Spies, Leo
Spinnen, Burkhard
- 6/1995 | Stimmlagen
- 3/2017 | Bücher machen, ohne sie selbst zu schreiben. Laudatio zur Verleihung der Kurt Wolff Preise
Spyra, Michael
- 6/2021 | Dahrenstedter Dramen. Gedichte
- 6/2023 | Erinnerung an eine sehr viel ältere Version. Gedichte
Stalin, J. W.
- 4/1951 | Über den Frieden
Stancu, Zaharia
Standfuß, Werner
Stanzel, Franz K.
- 3/2003 | Das Literarische Quartett und seine Folgen. Replik auf Heinz Schlaffer
Stappert, Bernd H.
- 2/2002 | Kairos - über die Gunst des Augenblicks und das weise Maß. Ein Gespräch mit Hans-Georg Gadamer
Starke, Manfred
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Stárková, Magdaléna
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Stasiuk, Andrzej
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Stavans, Ilan
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- 3/1998 | Gespräch mit Norman Manea
- 6/1998 | Übersetzung und Identität
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Stead, Evanghélia
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Steenbeck, Max
Stefanik, Wassil
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Stein, Ernst
- 5/1963 | »Reiner Ausdruck des Notwendigen...« Zur Entstehung von Johannes R. Bechers Gedicht: »Der an den Schlaf der Welt rührt - Lenin«
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Stein, Peter
- 5/1994 | Gespräch mit Peter Kammerer und Ekkehard Krippendorff. Über die Inszenierung von Shakespeares Römerdramen auf den Salzburger-Festspielen
Steinbeck, John
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Steinberg, Werner
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Steiner, George
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- 6/2012 | Fragmente (leicht verkohlt), S. 545 Leseprobe
Steiner, George
FRAGMENTE (LEICHT VERKOHLT)
Diese aphoristischen Fragmente kamen auf einer der verkohlten Schriftrollen zum Vorschein, die unlängst in einer vermutlich als Privatbibliothek genutzten Villa in Herculaneum entdeckt wurden.
Sprachliche Indizien und der Tenor der Darlegung verweisen auf das ausgehende zweite Jahrhundert nach Christus. Einige Gelehrte haben den Namen Epicharnus von Agra zur Diskussion gestellt. Doch über diesen Moralphilosophen und Rhetoriker (falls er das war) ist faktisch nichts bekannt. Zudem macht der Zustand des Papyrus die Entzifferung an einigen Stellen konjektural.
1. Wenn der Blitz spricht, sagt er Dunkelheit.
Zahlreiche Mythologien und Kosmologien schreiben dem Blitz semantische Werte zu. Blitze signalisieren. Sie verkünden und melden aufziehende Stürme. Ihre gezackten, aber grafischen Formen fordern Interpretation. Sie sind eine stumme Kalligraphie, die mitunter an islamische Buchstaben erinnert. Sie sind eine Kurzschrift, die blendend klar und zugleich rätselhaft schweigsam ist (selbst grellstes Gleißen ist geräuschlos). Am bedrohlichsten wirken sie, wenn ihnen kein Donner folgt. Wetterleuchten über einem an sich bereits zu ruhigen Meer. Der Blitz wurde als Jäger empfunden: Der Kugelblitz peitscht durchs Haus oder nagelt den Heidewanderer, den unter einem Baum Schutz suchenden Unbedachten, fest. Sind diese weißen oder blaugrünen Pfeile das mörderische Privileg von Zeus? Des vulkanischen Patriarchen auf Sinai? Hochspannungsblitzbögen lassen sich im Labor erzeugen. Der Dichter (Hölderlin) weiß, daß er, unter Lebensgefahr, versuchen kann, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen.
Doch hierin steckt mehr. Man beachte die Unterscheidung zwischen »sprechen« und »sagen«. Äußerung garantiert nicht Signifikanz. Alle Formen und Codes, organische oder konstruierte, können Information vermitteln, können Emotion auslösen. Unsere bloße Existenz ist ein kontinuierliches Lesen der Welt, eine Entzifferungs-, eine Interpretationsübung in einer Echokammer, deren Volumen an Botschaften, an semiotischem Input unvergleichlich ist. Doch dies ist nicht unbedingt mit Verständlichkeit verbunden. Es gewährleistet mit seinem Potential und Ertrag an Paraphrase und Deutung nicht unbedingt Sinn. In diesem Aphorismus – hatte Epicharnus Heraklit gelesen, kannte er die zoroastrische Phänomenologie des signifikanten Feuers? – formuliert der Blitz. Er »macht Sinn« – eine ziemliche Glanzleistung. Wie hören wir sein Schweigen? Die unerklärte Metapher vom »inneren Ohr«, von mitteilsamer Stummheit mag zutreffend sein. Unausgesprochene Behauptungen sind nichts Geheimnisvolles. Siehe die Pausen in der Musik, die Leerräume, die für einige ganz maßgebliche moderne Gedichte oder Gemälde so wichtig sind. Dichter und Philosophen wie Keats oder Wittgenstein beteuern, das Wesentliche ihrer Intention liege im Unausgesprochenen, in »nicht gehörten Melodien« oder zwischen den Zeilen. Man denke an die Wendung »betäubendes Schweigen«. Oder an Kafkas Sirenen, deren Drohung darin besteht, daß sie nicht singen. Wie also sollen wir dieses Fragment lesen?
Die griechische Mythologie ringt von Beginn an mit dem fruchtbaren Paradox der Verneinung. Zu behaupten, daß ein Ding existiert, heißt auch zu postulieren, daß es vielleicht nicht existiert. Jede Substanz ist gepaart mit Nichtsein, mit der dunklen Seite des Mondes. Aber läßt sich Nichtsein denken oder sagen? Parmenides lanciert die westliche Metaphysik auf diese zugleich logische und ontologische, grammatische und substantielle Untersuchung. (Gibt es Dasein außerhalb der Grammatik?) Gibt es ein schwarzes Loch im Innersten des Seins? Was man nicht in einen Begriff fassen kann, kann man nicht aussprechen; was man nicht aussprechen kann, kann nicht sein. Worauf die Sophisten erwidern, daß die bloße Legitimität und Verständlichkeit der Frage den Status von »Nichts« validiert, daß Null beim Rechnen hilft (obwohl »Null« selbst ein späteres Hilfsmittel ist). Hegels Dialektik kehrt zu den Anfängen der Rationalität zurück. Das Prädikat hat Bedeutung, eben weil es uns sagt, was das Objekt nicht ist. Magritte gibt diesem Postulat ironischen Ausdruck – »Dies ist keine Pfeife«. Für Heidegger ist Nichtsein, »das Nicht«, der für die Unrast des Menschen ausschlaggebende wesentliche Abgrund und das Unheimliche an der Quelle des Denkens.
Der Blitzstrahl, sein aufgeladener Glanz zeigt sowohl ihn als auch das Dunkel drum herum. Er macht die Nacht sichtbar, obgleich das Geräusch Schweigen schildert. In totalem Sonnenschein, in mediterraner Mittagsglut, blitzt es nicht. Der Blitz ist nicht wahrnehmbar zu machen. Sein Nährboden ist die Schwärze der Sturmwolken oder der Nacht. So enthüllt er, »spricht« er Dunkelheit. Er entzündet gewissermaßen Widerstreit.
An seinen Orakel- und Symbolfunktionen haftet Ambiguität. Der Blitz kann signalisieren, kann Glück, Sieg in der bevorstehenden Schlacht verheißen. Er ist der Bote, den Zeus dem Kommandeur im Felde, dem Kapitän auf hoher See schickt. Aber er kann auch Verhängnis und den Zorn der Olympier ankündigen. Für die Mitglieder der Verschwörung gegen Cäsar ist er ein »Feuerregen«, ein erschreckendes Zeichen, daß »im Himmel innrer Krieg« ist. »Dunkelheit sagen« kann Ausdruck eines mysteriösen Omens, einer unbestimmten oder spöttischen Prophezeiung sein. Er kann ein Mißgeschick, eine Verfinsterung unserer Verhältnisse deklarieren. Was immer der Code ist, seine Dualität ist unentrinnbar. Mit Heraklit und den Dichtern weiß Epicharnus: kein Licht ohne Dunkelheit, ohne Dunkelheit kein Licht. Hätten wir Metaphysik ohne den abrupten Sonnenuntergang über Ionien und den Ansturm der Sterne?
Die Kosmogonie, Mutmaßungen über die Genese des Menschen, liefert eine weitere Dimension. Der Blitz beseelt die Urmaterie, den Töpferlehm. Er weckt die untätigen oder schlafenden Elemente zu organischer Vitalität. Siehe Frankenstein. Aber auch die Schöpfungsmodelle oder Erzählungen der modernen Biochemie. Elektrische Stürme von phantastischer Spannung und Dauer könnten den Beginn molekularer Interaktionen und Kombinationen hervorgerufen haben. Der Blitz könnte das Leben auf der Erde erzeugt haben. Es gab Laborversuche, fast erfolgreiche, diesen Prozeß zu simulieren, Magma- und Lehmklumpen, Wassertröpfchen mit ihrem entscheidenden Hydrogenium in organische Strukturen einzustrahlen.
Wozu jedoch die Enunziation des Dunkels in unserem Fragment? Weil das Dasein ein gemischter Segen ist, weil es einen tragischen Bruch mit dem Frieden der Untätigen verursacht, weil die Geschichte der Menschheit eine Geschichte unvergleichlichen Verschwendens und Leidens ist. »Das Dunkel wartet uns.« Oder ist dies eine allzu wörtliche Auslegung eines archaischen, vielleicht Stoischen Textes, einer postpaulinischen Unheilverkündigung? Die Mitternacht ist Samt von Salamis oder Kap Sounion. Blitzbögen von Landspitze bis Horizont. Jetzt erstrahlt das Dunkel, und vorm Nachwort des Donnerschlags werden die Sternbilder einzigartig beleuchtet.
2. Freundschaft Töter der Liebe.
Wir kennen die überragende Wertschätzung und Rolle der Freundschaft, philia, in der klassischen Empfindung. Freundschaft ist der Bonus des menschlichen Daseins, seine unverdiente Belohnung. Selbst dort, wo offenkundig, ist die homoerotische Veranlagung, kulturell sanktioniert, nur nebensächlich. Das Wunder liegt viel tiefer. Nichts übertrifft, »eines Freundes Freund zu sein« (Schillers jauchzende Wendung). Der Tod ist fast ein Privileg, wenn er einen Freund rettet. Umgekehrt ist der Verlust eines Freundes irreparabel (man kann wieder heiraten, ein Kind adoptieren). Drei Klagen über den gefallenen Freund prägen das Idiom der Verlassenheit in der westlichen Literatur und Empfindung: Gilgamesch betrauert Enkidu, Achilles Patroklos, David Jonathan.
Die Quelle der Freundschaft ist unergründlich. Sie kann einer vorübergehenden Gefahr entspringen und erfaßt unser Bewußtsein wie ein Sturmwind oder eine Melodie. »Weil er er war, weil ich ich war.« (Montaigne) Die tatsächlichen Umstände, die Daseinsmerkmale sind faktisch belanglos und unübertragbar: seien sie Wohlgestalt, Sozialverträglichkeit, Zweckgemeinschaft, geteilte Passionen oder Haßgefühle. Bekanntlich fordert E.M.Forster, eher das Vaterland als den Freund zu verraten. Wo Freundschaft zusammenschweißt, läßt Inkongruenz sich kompensieren. Ein Mensch, der gegen Freundschaft immun, der zufällig oder mit Absicht freundlos ist, ist ein Verbannter, ein Nachtwandler. Er kann keinen gesicherten Willkomm haben. Freundschaft gibt uns das Recht zu sagen: »Ich bin, weil du bist.« Umgekehrt dauert keine Kränkung länger und vernarbt keine Wunde schwerer als verratene Freundschaft. Einen Freund verraten zu haben oder von ihm verraten worden zu sein. Der Grund kann ein unbedachtes Wort, eine gewöhnliche Geste sein. Diejenigen, die gefoltert wurden, damit sie Namen preisgaben, reden von den stummen Stimmen der Freundschaft, die lauter sind als Agonie. Diejenigen, die zusammenbrachen und einen Freund in den Tod schickten, leben fortan auf Teilzeit. Das bezeugt der Dichter und Widerstandskämpfer René Char in seinen »Aufzeichnungen aus dem Maquis«.
Verzehrende, inbrünstige Freundschaft kann in Kindern reifen. Unerschütterliche Treue kennzeichnet die Adoleszenz. Parolen werden ausgetauscht, Geheimsprachen konstruiert, Rituale vollführt. Vertrautheiten contra mundum werden wichtiger als Familienbräuche. Die Pubertät ist Mai und Juni der Freundschaft. Herz und Verstand sind, wie das überholte Modewort sagt, »hin« vor wechselseitigem Bedürfnis, vor erwiderter Loyalität, vor symbiotischen Intimitäten, die so intensiv sind, daß sie zum Selbstmord führen können. Das Kaleidoskop der Erwachsenenfreundschaft ist mannigfaltig. Sie reicht über Ideologien, ethnische Hindernisse, lange Trennungen hinweg. Philia ist, wie Homer und Vergil wußten, unerläßlich für die aufopferungsvolle Unvernunft des Kampfes, für die Solidarität der Krieger angesichts des Todes. La Rochefoucaulds boshafte Bemerkung, wir trösteten uns leicht über das Mißgeschick von Freunden, enthält ein herbes Körnchen Wahrheit. Doch eben nur ein Körnchen. Wahre Freundschaft jubelt über den Ruhm des Freundes. Die Freundschaften der Alten haben ihre Zeit. Sie passen zu den Belohnungen der Erinnerung, den Spötteleien, die Krankheiten erträglich machen. Alte Freunde begegnen sich auf Parkbänken; sie schnüffeln in der Luft nach dem Geruch des Todes und teilen die schaurigen Bedrückungen der Leere. Derjenige, der am längsten lebt, redet mit sich selbst, so daß der Dialog weitergehen kann. Geriatrische Stationen, die Nokturnen der Altersheime, sind voll von solchem Gemurmel so wie Becketts »Letztes Band«. Sogar am Ende ist Freundschaft das Rätsel der dem (sündigen) Menschen gewährten Gnade.
Warum also ist Freundschaft »ein Töter der Liebe« (eros)?
Theologien, die Philosophien, die sich von ihnen herleiten, die Lieder, die wir summen, nach denen wir seit Welterschaffung tanzen – sie proklamieren, Liebe sei der Gipfel, die Krone, die höchste Gabe des Menschenstandes. Sie ist, vgl. Dante, der Antrieb des Kosmos. Das summa summarum, das Körper und Seele stimmt und vereint. Die Religionen schreiben uns vor, Gott zu lieben – nach seiner Liebe zu streben und ihr zu vertrauen. Dagegen ist die Vorstellung, Gott zum Freund zu haben, peinlich. Fleischliche Liebe, die alles bezwingende Aphrodite, zeugt das gesamte organische Leben. Spirituelle Liebe gewährt uns die Blicke, die vom Unsterblichen zu erhaschen uns vergönnt ist. Keine Vernunftgebote, keine Furcht, keine vorsorgliche Enthaltsamkeit, kein materielles oder soziales Hindernis – der tobende nächtliche Hellespont, der Kerker, in den Fidelio hinuntersteigen muß – ist stärker als die Liebe. Keine Logik, keine wohlbegründeten Symmetrien entzünden Liebe. Die einbeinige Bettlerin hat einen schönen jungen Geliebten. Abartige Liebe kann sich auf Leichen, auf Tiere richten. Die Inzesthemmungen sind schwach wie die Tabus, die Kinder unantastbar machen sollten. Liebe kann der Erfüllung entsagen; es gibt platonische Varianten und glühende Keuschheit, so erotisch wie jeder Verkehr. Das Geschlecht ist geradezu trivial belanglos: Liebe vereint Frau und Frau, Mann und Mann. Das Alter kann unwichtig sein: Alte Männer sind von jungen Frauen leidenschaftlich angeschwärmt worden. Umgekehrt ergattern ältere Frauen junge Geliebte. Eros erzeugt Eifersucht, die bis zum Wahnsinn geht. Wo Liebe verebbt, ist die Kälte ohnegleichen, Sumpfgas, das ins Sein einsickert. Gleichzeitiger Orgasmus (vermutlich selten) ist die Erfahrung, die der Aufhebung des Selbst, dem Eintauchen in den anderen am nächsten kommt. Sie ist Simultanübersetzung im höchsten Sinne. Zudem gibt es für die Instrumente des Erotischen keine Begrenzung: Schlimmste Qualen, freiwillige oder auferlegte, können zur Liebe ebenso dazugehören wie Kot. Da in Reichweite des Unstillbaren, hat Liebe ihre Vertrautheiten mit dem Tod. In poetischen Chiffren kann »sterben« sexuelle Erfüllung bedeuten. Eros und Thanatos sind unteilbar, sagt der Psychoanalytiker und echot Jahrtausende der Dichtung und Musik. Der Liebestod ist alt wie Sappho. Nur wenn wir lieben, schauen wir wirklich in den Spiegel und finden ein Bild, das nicht wir ist, das mehr ist als wir.
Wir fragen wieder: Wie kann Freundschaft ihr Töter sein? An dieser Stelle ist die Schriftrolle unversehrt.
Freundschaft kann als Kritik der Liebe gedeutet werden. Sie braucht nicht die anarchischen Imperative der Sinnlichkeit, die Forderungen und Qualen der Sexualität. Ihr Ursprung mag unklar sein, doch ihre Triebkräfte und Belohnungen sind die der Vernunft. Freundschaft ist eingebettet in Freiheit: Freiheit von dämonischer Besessenheit, von Hysterie und Fieber. Aber Freiheit auch in einem positiven, reichen philosophischen Sinn. Wo es Freundschaft gibt, gibt es gewählte, wohlbedachte Liberalität. Wir geben ohne notwendigen Nutzen oder die Gratifikationen, die im Erotischen inbegriffen sind. Man kann es als freiwilligen, aber zutiefst bedeutsamen Akt derer »in Freiheit« definieren. Sogar in höchster Leidenschaft enthält der Geschlechtsverkehr noch ein hartes Quentchen Mißtrauen (Ekstase läßt sich vortäuschen oder kaufen). Freundschaft kann zudem ungeheuer produktiv sein: für gesellschaftliches und politisches Handeln, wissenschaftliche Forschung, philosophische Beweisführung. Politischer Fortschritt, geistige Debatten, ästhetische Innovation sind größtenteils Gemeinschaftsarbeit. Sie stammt und zieht ihre Energien aus den Sternhaufen der individuellen Begabung, die in der Freundschaft kollidieren, kooperieren, konkurrieren. Liebesbriefe sind oft eintönig, ja kindisch. Die in Freundschaft gewechselten können die wahre Quelle und Werkstatt des Genies sein (Spinoza an Boxel, Goethe an Schiller, Coleridge an Wordsworth). Sexualität strebt nicht nach Gleichheit. Symmetrie der Wertschätzung, der Partnerschaft im Mut, des Schöpferruhms, des politischen Aufstiegs des Freundes ist für das Verhältnis wesentlich. Kurz – und das überzeugend zu formulieren ist schwierig –, Freundschaft ist in der Vernunft, im uneigennützigen Verständnis das, was leidenschaftlich ist. Was Denken zu Edelmut und das Herz intelligent macht.
In der Ehe, in jeder längeren erotischen Erfahrung, kann Freundschaft tödlich sein. Liebende sind keine Freunde. Drei unsterbliche Wörter sagen alles: odi et amo. Der Liebeskalender wird von Ekelschüben unterbrochen, von giftigem Gezänk, von jäher, manchmal unerklärlicher Langeweile und Gleichgültigkeit (Prousts intermittences). Die meisten Ehen, die meisten Affären halten kraft eines Kranzes von Versöhnungen, die nicht immer echt sind. Es ist nicht nur Traurigkeit, tristia, die auf coitum folgt. Es ist Verstörung, sogar Abneigung. Erloschene Libido hinterläßt einen bitteren Geschmack. Doch es gibt auch einen feineren, ambiguen Mechanismus. In der Ehe, in einem aus echter Liebe erwachsenen Zusammenleben kann die Zeit für die vollkommenen, selbstlosen Wunder der Freundschaft reif machen. Mit ihrem Humor, ihrer Geduld, ihrem wechselseitigen Engagement in Kreativität und Perzeption. Die manchmal durch Begierde verstrickten Eheleute reifen zur tatkräftigen Gelassenheit der Freundschaft. Wobei frühherbstliche fleischliche Bedürfnisse, physisches Verlangen, die Scharaden und Melodramen der Sexualität unwirklich, infantil (wie die Babysprache der Verzückten) werden. Leidenschaftslos wahrgenommen, wirken die Sexakrobatik, ihre Gerüche, das von ihr ausgelöste brünstige Stöhnen lachhaft, wenn nicht gar widerlich. Diese Stellungen, diese Erfüllungs-Mimikry (man frage die Frauen!). … Freundschaft braucht weder Bestechung noch »Sexspielzeug«, ein bezeichnendes Etikett, noch Vaseline. Freud hielt Sex nach fünfundvierzig für irgendwie erniedrigend.
Diese Auslöschung des Eros durch die Freundschaft, diese Metamorphose in der Ehe, verlangt Erwachsensein und Glück. Dies ist womöglich der Grund, daß Freundschaft zwischen Männern und Frauen ein privilegierter, vielleicht seltener Umstand ist, besonders in jungen Jahren. Ich kann mich irren, aber diese Modulation von eros zu philia und der gleichzeitige Rückgang von amor ist ein wichtiges Thema, das von der klassischen und der modernen Prosa ignoriert wurde. Wir haben keinen großen Roman, der zeigt, wie Liebende zu Freunden werden (obwohl George Eliot das Können dazu besaß). So gesehen kann Freundschaft tatsächlich der »Töter« der Liebe sein. Wirbelnde Flüsse sterben in der Ruhe des Meeres.
[...]
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 6/2012, S. 725-752
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Stepanowa, Maria
Kein Zimmer für sich allein
Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann mir daher die Freiheit nehmen, mich als Schriftstellerin, ja als Dichterin zu betrachten. Letzteres ist eigentlich kein Beruf, sondern eher eine Art zu denken: nämlich eine, die den Reimen der äußeren Welt eine innere Bedeutung gibt. Ich schreibe auf Russisch, also in einer Sprache, in der die Tradition der gereimten Dichtung noch sehr lebendig ist. Wahrscheinlich deshalb sind Koinzidenzen und Korrespondenzen für mich ein wesentlicher Teil des kognitiven Prozesses – sie führen weiter als wir mit reiner Logik je kämen. Es mag zu diesen Koinzidenzen zählen, daß meine Vorlesung gerade auf den 9. Mai fällt, ein Datum, das in der russischen Wahrnehmung der letzten siebzig Jahre große Bedeutung hatte. Allerdings auch nur in der russischen Wahrnehmung, denn der Rest der Welt feiert den Sieg über den Nationalsozialismus einen Tag früher, wodurch Rußlands Tag des Sieges ein wenig einsam wirkt, als stünde er irgendwie abseits. Symbolisch gibt das denen recht, die behaupten, unsere Geschichte sei im doppelten Wortsinn einmalig, anders, besonders, sie müsse als Sonderfall betrachtet werden, der nur mit ganz eigenen Deutungsansätzen zu verstehen und zu vermitteln sei.
Tatsächlich bedeutet der Tag des Sieges vermutlich für die Mehrzahl der Menschen in Rußland etwas ganz Besonderes: Im Lauf der sowjetischen Jahre und Jahrzehnte hatte sich in bezug auf diesen Tag ein einzigartiger Konsens herausgebildet, der alle sozialen Schichten verband, alle Unterschiede aufhob. Die offiziellen Staatsfeiertage, den 1. Mai und den 7. November, mochte man mitfeiern oder über sich ergehen lassen, die religiösen Feste wie Weihnachten oder Pessach mochte man begehen oder, wie die meisten meiner Landsleute, ignorieren, aber der 9. Mai war authentisch, er war aufgeladen mit Sinn, ein Tag des Erinnerns, Trauerns und, ja, auch des Feierns. Ein in den siebziger Jahren populäres Lied beschrieb die Stimmung als »Freude mit Tränen in den Augen«, eine Freude, die sich von der Trauer über die Verluste nicht trennen ließ – Trauer um Abermillionen Menschen, die für den hart erkämpften Sieg mit ihrem Leben bezahlt hatten. Kein Wunder also, daß dieser Tag als vielleicht einzig echter, trotz aller historischen Verschiebungen unverfälschter Feiertag empfunden wurde.
Doch auch das sollte nicht immer so bleiben: Über die letzten zwanzig Jahre hat der 9. Mai sich dank der unermüdlichen Anstrengungen des russischen Staates allmählich in einen Tag der Machtdemonstration verwandelt – von Trauer keine Spur mehr, es bleiben nur die Freude am Sieg und ein Aufmarsch der Simulakren, der die Zuschauer davon überzeugen soll, daß zwischen Vergangenheit und Gegenwart kein Unterschied besteht. Der dem Gedenken gewidmete Tag hat nichts mehr mit der Geschichte zu tun, er wirbt statt dessen für eine historische Fiktion: ein Bild von Rußlands Geschichte, in dem sämtliche Tragödien und Katastrophen eingeebnet sind und die Ereignisse der letzten hundert Jahre als ein Feuerwerk der Erfolge dargestellt werden; in dem das Zarenreich sanft, beinahe organisch in Stalins Imperium und dieses in Putins Rußland übergeht. Historische Fakten, die dieses Bild stören, werden konsequent geleugnet, unterschlagen, in Frage gestellt, an den Rand gedrängt; die Opfer sind nur noch der unvermeidliche Preis für eine notwendige Entwicklung, Trauer wird nicht mehr geduldet.
Interessanterweise machen diese neuen Formen des Gedenkens im Grunde keinen Unterschied mehr zwischen der Roten Armee der vierziger Jahre und den heutigen russischen Streitkräften: Beide werden als Träger einer ununterbrochenen Tradition betrachtet, als eine Einheit mit denselben Vorzügen und Fähigkeiten. Das macht die Dinge einfacher: Man hat das Recht, sich als Sieger zu fühlen, ohne selbst gesiegt zu haben. Um die Illusion der Kontinuität zu nähren, werden die großen Städte des Landes in regelrechte Revivalfestivals verwandelt – Männer, Frauen, sogar Kinder schlüpfen in Militäruniformen und führen das Schauspiel eines Krieges auf, der niemals endet. Die Sprüche dazu – »Unterwegs nach Berlin« steht zum Beispiel auf einer Autotür, oder »Immer wieder gerne!« – hauen in dieselbe Kerbe. Man kann die Kunst, Unterschiede zu verwischen, bis an einen Punkt treiben, wo Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen und keine von beiden mehr Ähnlichkeit mit der Realität hat. Fakten sind unerheblich, nur die Haltung zählt. Es gibt keine Kluft mehr zwischen Literatur und Leben; Politik bezieht sich auf eine fiktive Vergangenheit, und die Wirklichkeit gibt sich alle Mühe, diese zu imitieren. Die Folge ist eine immer tiefere Verunsicherung: Wieder und wieder wird die Vergangenheit revidiert und redigiert, um sie zumindest äußerlich zu stabilisieren – eine vergebliche Anstrengung.
Doch ist das etwas spezifisch Russisches? Die Vergangenheitsobsession und die wachsende Unzufriedenheit mit den Grenzen historischen Wissens sind ein globales Phänomen. Es beschränkt sich keineswegs auf die Protagonisten des sogenannten Rechtsrucks, die sich gern auf einen imaginären einstigen Ruhm beziehen. Die Geschichte wird pausenlos neu geschrieben, in Universitätslehrplänen wie in sozialen Netzwerken, und sie spielt im Alltag heute eine so zentrale Rolle wie lange nicht mehr. Welche enorme Bedeutung ihr im Lauf der letzten zehn, fünfzehn Jahre allmählich zugewachsen ist, zeigt sich in einer Reihe neuerer Gesetze, die unsere Wahrnehmung der Vergangenheit kontrollieren sollen. Bestimmte Interpretationen werden verboten und kriminalisiert – manchmal in sehr vager Form, wie in dem russischen Gesetz, das Freiheitsstrafen für die »Verfälschung der Geschichte« vorsieht, manchmal mit Bezug auf konkrete Ereignisse, wie etwa die Frage nach einer möglichen polnischen Beteiligung am Holocaust. Die Folgen sind bisweilen fast schon komisch – so wurde dieses Jahr ein junger Mann in Kasan verhaftet, dem vorgeworfen wird, er habe sich abfällig über die Taktik der russischen Streitkräfte während der Belagerung von Kasan durch Iwan den Schrecklichen geäußert – eine Belagerung, die, nebenbei bemerkt, im Jahr 1552 stattfand.
Was steckt hinter dieser retrospektiven Empfindlichkeit in Belangen, die längst vergessen sein sollten? Im Fall Rußlands gibt es vielleicht eine einfache Erklärung: In Ermangelung eines politischen Lebens muß die gesellschaftliche Debatte umgelenkt werden, und die Figuren und Themen der Vergangenheit sind ein willkommener Ersatz für aktuelle Fragen. Wenn es aber um Amerika unter Trump geht oder um das Geschichtsbild der AfD, sind die Gründe vermutlich andere.
Eine mögliche Antwort scheint mir in dem von Marianne Hirsch entwickelten Konzept des Nachgedächtnisses oder »Postmemory« zu liegen, das eine bestimmte Wahrnehmungsweise von Holocaust-Überlebenden der zweiten oder sogar dritten Generation bezeichnet – derer, die von den Ereignissen nicht unmittelbar betroffen, aber als Kinder oder Enkel der überlebenden Opfer in Mitleidenschaft gezogen waren. Was Hirsch beschreibt, läßt sich aber – so meine Vermutung – auch auf ein viel weiteres Feld anwenden. Tatsächlich habe ich den Verdacht, daß vielleicht wir alle diese Wahrnehmung teilen, in mehr oder weniger ausgeprägter Form.
Wenn Sie die Straßenschilder und Läden Moskaus oder Breslaus oder eines bestimmten Schtetls der dreißiger Jahre besser kennen als die Bäckereien Ihrer Kindheit, dann ist das ein Symptom von Postmemory. Dieses Gefühl, daß das eigene Leben mit seinen banalen Vorkommnissen und Problemen irgendwie weniger wichtig, weniger lebendig, weniger denkwürdig ist als das der vorangegangenen Generationen, daß die Vergangenheit überlebensgroß ist und das eigene Leben eher klein, daß es nicht verdient, erzählt oder gesehen zu werden: auch das ist Postmemory. Nach der Menge von Forschungsvorhaben zur Alltagsgeschichte, zur Aufzeichnung und Rekonstruktion von Familienüberlieferungen, zur Geschichte eines bestimmten Orts oder Gewerbes zu urteilen, ist dieses Gefühl heute extrem verbreitet: Es ist ein Trend geworden, aus dem etwas völlig Neues entsteht. Was für den privaten Raum der Familie bestimmt war, interessiert auf einmal ein breites Publikum, und immer mehr Menschen sind in diesen Vorgang involviert.
Über die Ursprünge dieser Entwicklung kann man spekulieren – woher kommt eigentlich dieses Gedächtnis, das nicht nur einen eigenen Platz neben der offiziellen Geschichte beansprucht, sondern ihr manchmal geradezu widerspricht? Einen Hinweis gibt vielleicht unser veränderter Blick auf die Zukunft. Anders als frühere Epochen verbinden wir mit ihr keine Verheißung, sondern Angst, Scheu, Unsicherheit. Wir glauben nicht an eine Veränderung zum Besseren, von den kollektiven Projekten, die diese herbeiführen wollen, ganz zu schweigen – und wenn man an die monströsen Weltverbesserungsversuche des 20. Jahrhunderts zurückdenkt, scheint dieses Mißtrauen auch gut begründet. Spätestens seit den siebziger Jahren hat die »Zukunft als Projekt« düsteren Erwartungen Platz gemacht.
Die heute verbreiteten Zukunftsvisionen basieren hauptsächlich auf Präzedenzfällen, sie rechnen nicht mit dem Unerwarteten. Die Idee des Fortschritts – oder überhaupt irgendeines Wandels – verschwindet hinter einem Berg von Beispielen aus der Vergangenheit, bis die Zukunft unverkennbar dystopisch aussieht.
Da die Zukunft uns also ängstigt und die Gegenwart uns einerseits unvollkommen, andererseits als kostbares, zerbrechliches Gut erscheint, verlagert unser Interesse sich in die Vergangenheit. Vorauszudenken wirkt irgendwie unangemessen, und schließlich wird die Zukunft zum blinden Fleck, notdürftig kaschiert mit zuversichtlichen Phrasen und Versprechungen, die uns vage bekannt vorkommen, denn inzwischen spricht jeder die Sprache der Vergangenheit, vom Politiker bis zum Fernsehmoderator. Die Führer der Rechten klammern sich an ihre Mantren von wiedergewonnener Größe und Volksfeinden. Ihre Gegner bedienen sich aus demselben Repertoire, vergleichen sie mit Stalin oder Hitler, entdecken Parallelen in der jüngeren oder älteren Geschichte. Die Vergangenheit wirkt auf allen Ebenen, sie prägt und verändert das Vokabular von Internetseiten und Fernsehsendern. Auf einer beliebten russischen Website gibt es ein Quiz, bei dem man erraten muß, wann ein bestimmter Satz geschrieben und veröffentlicht wurde – in der Prawda der dreißiger Jahre oder in einer Zeitung von heute. Ich arbeite seit zwanzig Jahren im Journalismus, aber an dieser Aufgabe bin ich gescheitert.
Was das Lebensgefühl des Postmemory vor allem kennzeichnet, ist eine starke emotionale Verschiebung, eine Art Empathie-Ungleichgewicht, eine disproportionale Affektverteilung: Da die Vergangenheit per definitionem wichtiger ist als die Gegenwart, verschwendet man auf sich selbst weder Zeit noch Raum. Vergleichen Sie nur einmal die aktuelle Erinnerungsliteratur mit ihren früheren Formen: Die herkömmliche Struktur der Familienchronik setzt die Präsenz eines Erzählers voraus – derjenige, der die Geschichte erzählt, mag zwar im Hintergrund bleiben, aber seine Existenz ist ein zentrales Element, in dem diese Geschichte implizit oder explizit kulminiert. Das Leben der Eltern und Großeltern dient als Erklärung für meine Position in der Gegenwart. Erst im Kontakt mit dieser wird die Vergangenheit lebendig.
Die Postmemory-Kultur dagegen lenkt unsere Aufmerksamkeit zurück. Die Kulmination verschiebt sich in die Vergangenheit, Vorgeschichte und Höhepunkt fallen zusammen und verweisen auf die Grenze zwischen Jetzt und Damals, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Eben darin besteht ihre formale Bedeutung: Sie legitimiert die Aufteilung der historischen Zeit in zwei Phasen – eine so kostbare wie unwiederbringlich verlorene frühere Zeit und eine andauernde Jetztzeit, die immer aus den Fugen ist, denn die Verbindung zwischen Erzähler und Vergangenheit ist abgebrochen oder beschädigt. Die Vergangenheit ist erstens unerreichbar, sie war vorher (vor der Revolution, vor dem Krieg, vor meiner Geburt), zweitens ist sie verloren infolge einer privaten oder gesellschaftlichen Katastrophe, und drittens ist das Wissen über sie zwangsläufig unvollständig. Das primäre Ziel einer Postmemory-Person liegt im Sammeln von Informationen, an zweiter Stelle folgt das Bergen, Wiederherstellen, Bewahren dessen, was übrig ist. Das ist harte Arbeit, und in den Augen der heutigen Gesellschaft auch eine notwendige Arbeit, die dem Gemeinwohl dient; kein privates Hobby, wie Fußball oder Schmetterlinge sammeln, sondern eine nützliche Tätigkeit. Jenseits des individuellen zeichnen sich die Konturen eines größeren Projekts ab, und mit einem Mal fühlt man sich aufgehoben in einem Gemeinschaftswerk.
(…)Aus dem Englischen von Olga Radetzkaja
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Sternheim, Mopsa
- 1/2017 | Tagebuchaufzeichnungen über Ravensbrück
Stetschkin, Prow
- 5/2010 | Gespräch mit Lew Tolstoi (1906). »Ich wundere mich über nichts mehr«
Stevenson, Robert Louis
- 4/2014 | Henry David Thoreau.
Sein Charakter und seine Überzeugungen, S. 480 Leseprobe
Stevenson, Robert Louis
HENRY DAVID THOREAU Sein Charakter und seine Überzeugungen
I
Thoreaus schmales eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und charakterlichen Grenzen hin. Sein schier beißend scharfer Verstand, seine schier animalische Geschicklichkeit gingen nicht mit der großen, unbewußten Herzlichkeit der Welthelden einher. Er war nicht ungezwungen, nicht großzügig, nicht weltgewandt, nicht einmal freundlich; seine Freude lächelte kaum, oder das Lächeln war nicht breit genug, um zu überzeugen; in seinem Wesen gab es weder Brachen noch prähistorische Küchenabfälle, aber alles war bis zu einem gewissen Grade verfeinert und geschärft. »Er war für keinen Beruf ausgebildet«, sagte Emerson; »er heiratete nie; lebte allein, ging nicht zur Kirche, wählte nicht, weigerte sich, dem Staat Steuern zu zahlen; er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, rauchte nie Tabak; und wiewohl Naturkenner, benutzte er weder Falle noch Gewehr. Bei Tisch gefragt, welche Speise er wünsche, erwiderte er, ›was am nächsten steht‹.« So viele negative Vorzüge geraten leicht in den Ruch von Dünkel. Aus seinen Spätwerken tilgte er die lustigen Stellen, in der Meinung, sie seien unter der Würde seiner moralischen Denkungsart; und da sehen wir den Dünkling stehen, öffentlich und offenbart. Es war, bemerkt Emerson scharfsinnig, »viel leichter« für Thoreau, nein statt ja zu sagen; und dieser Charakterzug beschreibt den Mann. Es ist nützlich, nein sagen zu können, doch das Wesen der Liebenswürdigkeit besteht sicherlich darin, ja zu sagen, wann immer es möglich ist. Einem Menschen, der sich nicht selbst verabscheut, wenn er genötigt ist, nein zu sagen, fehlt etwas. Und diesem geborenen Dissidenten fehlte viel. Er hatte geradezu erschreckend wenige Fehler; er hatte nicht genügend viele, um dem Menschlichen völlig entgegengesetzt zu sein; ob man ihn Halbgott oder Halbmensch nennt, er war gewiß keiner von uns, denn er hatte nicht das geringste Gefühl für unsere Schwächen. Die Helden der Welt haben im geräumigen Theater ihrer Naturanlagen Platz für alle positiven Eigenschaften, sogar für solche, die ehrenrührig sind. Sie können viele Leben leben; während ein Thoreau bloß eins leben kann, und auch dieses nur mit ständigem Vorbedacht.
Er war kein Asket, eher ein Epikureer der vornehmeren Art; und er hatte dieses eine große Verdienst, daß er insofern Erfolg hatte, als er glücklich war. »Ich liebe mein Schicksal zuinnerst und zuäußerst«, schrieb er einmal; und sogar, als er im Sterben lag, hier das, was er diktierte (denn offenbar war er schon zu schwach, um die Feder zu führen): »Sie fragen besonders nach meinem Befinden. Ich vermute, daß ich nicht mehr viele Monate zu leben habe, aber natürlich weiß ich darüber nichts. Ich darf sagen, daß ich das Dasein wie eh und je genieße und nichts bedauere.« Nicht jedem ist es vergönnt, die Süße seines Schicksals so klar zu bezeugen, und auch keinem ohne Mut und Klugheit; denn diese Welt ist nur ein jammervoller, unwohnlicher Ort, und dauerhaftes Glück, zumindest für den Selbstbewußten, kommt nur von innen. Nun war Thoreaus Zufriedenheit und Lebensbegeisterung sozusagen eine von ihm mit weiblicher Fürsorglichkeit gegossene und gepflegte Pflanze; denn ein Leben, das ohne Schwung und Freiheit verläuft und vor der kraftspendenden Berührung mit der Welt zurückscheut, hat leicht etwas Unmännliches, fast Memmisches. Mit einem Wort: Thoreau kniff. Er wollte nicht, daß ihm unter seinen Mitmenschen die Tugend abhanden kam, und verdrückte sich in eine Ecke, um sie für sich zu horten. Um ein paar tugendhafter Schwelgereien willen gab er alles auf. Er hatte wahrlich noble Neigungen; seine herrschende Leidenschaft war, von der Welt unentdeckt zu bleiben; und daß all seine Hochgenüsse von derselben gesunden Ordnung waren wie kalte Bäder und frühes Aufstehen. Doch der Mensch kann beim Streben nach Güte auch kalt-grausam und beim Streben nach Gesundheit sogar krankhaft sein. Ich finde jetzt nicht die Stelle, wo er seine Kaffee- und Teeabstinenz erläutert, aber ich glaube, den Inhalt hinzubekommen. Dies ist er: Er hielt es für unökonomisch und eines wahren Empiristen für unwürdig, das natürliche morgendliche Entzücken durch derart schmutzige Genüsse zu verderben; man lasse ihn nur den Sonnenaufgang sehen, und schon sei er auf die Mühen des Tages hinlänglich eingestimmt. Das mag ein guter Grund sein, sich des Tees zu enthalten; aber wenn wir feststellen, daß derselbe Mensch, aus denselben oder ähnlichen Gründen, sich beinahe all der Dinge enthält, die seine Nachbarn unschuldig und vergnügt benutzen, und dazu auch der Schwierigkeiten und Prüfungen der menschlichen Gesellschaft, erkennen wir jene hypochondrische Gesundheit, die heikler als Krankheit ist. Ein Zustand künstlicher Ertüchtigung verdient nicht unsere Achtung. Shakespeare, dürfen wir uns vorstellen, konnte seinen Tag mit einem Krug Bier beginnen und doch den Sonnenaufgang wie Thoreau genießen und diesen Genuß in weitaus besseren Versen feiern. Wer sich, um glücklich zu sein, von den Gepflogenheiten seiner Nachbarn trennen muß, ist in vielem derselbe Fall wie einer, der dazu Opium braucht. Wir aber wollen einen sehen, der kühn in die Welt hinauszieht, ein Mannestagewerk verrichtet und sich dennoch seine ursprüngliche, reine Daseinsfreude bewahrt.
Thoreaus Fähigkeiten paßten zu seiner moralischen Schüchternheit; denn es waren samt und sonders Feinfühligkeiten. Er fand sich in finsterster Nacht vermöge seines Fußtastsinns im Wald zurecht, er konnte Strecken durch Abschreiten exakt abmessen und Rauminhalte mit dem Auge schätzen. Sein Geruchssinn war so fein, daß er die Ausdünstungen der Wohnhäuser wahrnahm, die er nachts passierte; sein Gaumen war so unverbildet, daß er, gleich einem Kinde, den Geschmack von Wein als widerlich empfand – oder, da in Amerika zu Hause, vielleicht nie etwas Gutes gekostet hatte; und sein Naturwissen war so vollkommen und seltsam, daß er anhand der Pflanzen das Datum des Jahres fast auf den Tag genau bestimmen konnte. Im Umgang mit Tieren war er das Urbild von Hawthornes Donatello. Das Waldmurmeltier zog er am Schwanz aus seinem Bau; der Fuchs suchte Schutz bei ihm; in seine Weste schmiegten sich wilde Eichhörnchen, wie man gesehen haben wollte; er steckte den Arm in einen Teich und holte einen glänzenden, nach Luft schnappenden Fisch heraus, der unerschrocken auf seiner flachen Hand lag. Es gab nicht viel, was er nicht konnte. Er baute ein Haus, ein Boot, machte Bleistifte und Bücher. Er war Vermesser, Gelehrter, Naturgeschichtler. Er konnte laufen, wandern, klettern, Schlittschuh laufen, schwimmen, Boote lenken. Der geringste Anlaß genügte ihm, seine Körpertüchtigkeit hervorzukehren; und ein Fabrikant, der bloß sein geschicktes Hantieren an einem Waggonfenster sah, offerierte ihm sofort eine Stellung. »Der einzige Gewinn vielen Lebens«, bemerkt er, »ist die Fähigkeit, Unwichtiges besser zu machen.« Doch seine Sinne waren derart genau, er war in allen seinen Fasern derart lebendig, daß diese Maxime für ihn anscheinend geändert werden mußte, denn er machte das meiste mit seltener Vollendung. Und vielleicht betrachtete er sich selbst mit Wohlgefallen, als er schrieb: »Obwohl die Jungen letztlich gleichgültig werden, sind die Gesetze des Universums nicht gleichgültig, sondern stets auf der Seite des Empfindsamsten.« […]
SINN UND FORM 4/2014 S. 480-500, hier S. 480-482
- 3/2015 | Charles d’Orléans
- 2/2017 | Über das Genießen unangenehmer Orte, S. 480 Leseprobe
Stevenson, Robert Louis
Über das Genießen unangenehmer Orte
Aus einem beliebigen Ort das Beste zu machen ist schwierig, und vieles liegt in unserer Macht. Was man geduldig Seite für Seite betrachtet, zeigt am Ende gewöhnlich auch eine, die schön ist. Vor ein paar Monaten wurde im »Portfolio« etwas über »enthaltsame Lebensführung in einer Scenerie« gesagt und solche Selbstzucht sodann als »heilsam und den Geschmack kräftigend« empfohlen. Das ist gleichsam der Text des vorliegenden Essays. Diese Selbstzucht in einer Scenerie, muß man wissen, ist mehr als ein bloßer Spaziergang vorm Frühstück, um den Appetit anzuregen. Denn wenn man in einer unansehnlichen Gegend abgesetzt wird und besonders, wenn man mehr oder weniger von dem abhängig geworden ist, was man sieht, muß man sich vornehmen, schöne Dinge aufzuspüren, mit all der Leidenschaft und Geduld eines Botanikers, der hinter einem Roggengewächs her ist. Tagtäglich vervollkommnen wir uns in der Kunst, die Natur vorteilhafter zu sehen. Wir lernen, mit ihr zu leben, so wie Menschen mit mißlaunigen oder gewalttätigen Ehegatten zu leben lernen; liebevoll auf dem zu verweilen, was gut ist, und die Augen vor allem zu verschließen, was öde oder unharmonisch ist. Zudem lernen wir, jeden Ort im richtigen Geist zu besuchen. Der Reisende, so sagt Brantôme uns originell, »fait des discours en soi pour soutenir en chemin«; und in diese Reden webt er etwas von allem, was er unterwegs erlebt und erleidet; sie erhalten ihren Ton hauptsächlich von der wechselnden Eigenart der Szene; ein steiler Anstieg bringt andere Gedanken als eine ebene Straße; und die Einbildungen des Menschen werden leichter, wenn er aus dem Wald auf eine Lichtung kommt. Und die Scenerie beeinflußt die Gedanken ebensowenig wie die Gedanken die Scenerie. Wir sehen Orte durch unsere Stimmungen wie durch unterschiedlich gefärbte Augengläser. Wir sind selbst ein Term in der Gleichung, eine Note des Akkords, und erzeugen fast nach Belieben Dissonanz oder Harmonie. Über das Ergebnis besteht keine Besorgnis, sofern wir uns der Landschaft, die uns umgibt und folgt, nur hinreichend auszuliefern vermögen, so daß wir beim Gehen stets passende Gedanken denken oder uns eine passende Geschichte erzählen. Auf diese Weise werden wir gewissermaßen zu einem Mittelpunkt von Schönheit; wir erwecken Schönheit, gleichwie eine freundliche, offene Art bei anderen Offenheit und Freundlichkeit erweckt. Und sogar dort, wo Harmonie selbst von den flinksten und fügsamsten Geistern nicht hervorzubringen ist, können wir einen Ort noch mit romantischem Reiz ausschmücken.
Wir können lernen, für Assoziationen weit vom Weg abzugehen, und sie mühelos benutzen, wenn wir sie gefunden haben. Zuweilen kommt uns ein alter Druck zur Hilfe; so manchen Ort sah ich vor malerischen Imaginationen jäh erstrahlen, durch eine Erinnerung an Callot, Sadeler oder Paul Brill. Dick Turpin war meine Gliederpuppe für manchen englischen Heckenweg. Und das Trossachs wäre für die meisten Touristen wohl kaum das Trossachs, hätte nicht ein Mann mit bewundernswertem romantischem Instinkt das Tal für sie mit harmonischen Gestalten bevölkert und sie mit auf den Eindruck richtig vorbereiteten Gesinnungen dorthin geführt. Solche Vorbereitung ist an sich bereits ein großer Gewinn. Zum Beispiel: Die wilden und unwirtlichen Orte unserer Highlands vermochte ich selten im geeigneten Geist zu besuchen. Ich bin glücklicher, wo es zahm und fruchtbar ist, und ohne Bäume nicht leicht zu erfreuen. Ich verstehe, daß es Phasen von Gemütsleiden gibt, die mit solchen Gegenden gut harmonieren, und daß manche Menschen durch die befreiende Macht der Einbildungskraft imstande sind, im Geist Jahrhunderte zurückzugehen und sich in das gehetzte, unbehauste, ungesellige Leben einzufühlen, das auf diesen wilden Höhen damals statthatte. Also wenn ich schwermütig bin, möchte ich, daß die Natur mich aus meiner Schwermut zaubert, wie David vor Saul; und der Gedanke an jene vergangenen Jahrhunderte erregt in mir nur unangenehmes Mitleid; so daß ich nie in die richtige Stimmung für diese Art von Landschaft komme und folglich viel Freude verliere. Dennoch, selbst hier, wenn man mich nur in Ruhe ließe und mir genügend Zeit gäbe, hätte ich alle möglichen Freuden und würde beim Fortgehen viele klare und schöne Bilder mit mir nehmen. Wenn wir uns nicht in die großen Charakterzüge einer Gegend einfühlen können, lernen wir, sie zu ignorieren, und stecken den Kopf ins Gras nach Blumen, oder grübeln lange Zeiten über den wechselvollen Lauf eines Stroms. Wir kommen herab zur Predigt in Steinen, wenn wir in der ausgebreiteten Landschaft von jedem Gedicht ausgeschlossen sind. Wir beginnen zu lugen und zu botanisieren, wir interessieren uns für Vögel und Insekten, wir finden viele Dinge in Miniatur schön. Der Leser erinnert sich sicherlich an die kleine Sommerszene in »Sturmhöhe« – vielleicht die einzige warme Szene in dem ganzen packenden, trübseligen Roman – und an den großen Charakterzug, den darin Gräser, Blumen und ein bißchen Sonnenschein erschaffen: Das ist die Stimmung, von der ich hier rede. Und letztlich können wir ja nach drinnen gehen; Interieurs sind manchmal ebenso schön, oft malerischer als die Darbietungen der Freiluft, und sie haben dieses Schützende, zu dem ich gleich mehr sagen muß.
All dessen eingedenk war ich oft versucht, das Paradox auszusprechen, daß man in allen Orten einigermaßen leben, aber nur in wenigen, und zwar höchst beliebten, ein paar Stunden angenehm verbringen kann. Denn wenn man in einer Gegend nur lange genug bleibt, wird man dort heimisch. Erinnerungen an uninteressante Ecken sprießen auf wie Blumen. Man vergißt, bis zu einem gewissen Grade, die überlegene Schönheit anderer Orte und verfällt in eine nachsichtige und wohlwollende Stimmung, die ihre eigene Belohnung und Rechtfertigung ist. Als ich neulich auf einige meiner eigenen Erinnerungen zurückblickte, staunte ich, wie vieles ich einem solchen Aufenthalt verdankte; sechs Wochen in einer unangenehmen ländlichen Gegend hatten meine Empfindsamkeit offenbar mehr geschärft und ausgebildet als viele Jahre an Orten, die meiner Neigung näher lagen.
Die Gegend, die ich meine, war ein ebenes, baumloses Plateau, über das die Winde wie Peitschen schlugen. Meilenweit dasselbe. Zwar mündete nahe der Stadt, in der ich wohnte, ein Fluß ins Meer; doch sein Tal war seicht und kahl, so weit ich ihm zu folgen wagte. Wohl gab es Straßen, aber Straßen, die weder schön noch interessant waren; denn da es keine Bewaldung und nur geringe Bodenunebenheiten gab, sah man von Anfang an die ganze Wanderstrecke vor sich liegen; nichts war mehr der Phantasie überlassen, nichts zu erwarten, nichts am Wegesrand zu sehen, außer hier und da ein unwohnlich wirkendes Gehöft und hier und da ein bebrillter Steinklopfer; und begleitet wurde man, während man beharrlich ausschritt, nur von den hageren Telegraphenmasten und dem Summen der widerhallenden Drähte im schneidenden Seewind. Wer ihr Lied in warmen angenehmen Orten am Mittelmeer gehört hatte, mochte meinen, es verspotte das Land und mache es durch den suggerierten Gegensatz noch öder. Sogar die Wüstungen am Wegesrand waren nicht, wie Hawthorne zu sagen pflegte, durch eine ordentliche grüne Bedeckung »der Natur zurückgegeben«. Das Land schien brachzuliegen, wo immer nur möglich. Es gibt eine lohfarbene Nacktheit des Südens, kahle, sonnenverbrannte Ebenen, löwengelb, und Hügel, nur in die blaue glasklare Luft gehüllt; aber die hier war anders – dies war die Nacktheit des Nordens; die Erde schien zu wissen, daß sie nackt war, und sie schämte sich und fror.
An jener Küste wehte es anscheinend immer. Tatsächlich war dies in die Sprache der Bewohner eingegangen, und wenn sie sich begegneten, begrüßten sie einander mit »windig, windig« statt mit dem weiter südlich üblichen »schöner Tag«. Die andauernden Winde waren nicht wie die Erntebrise, die man beim Gehen nur wie einen gleichmäßigen Druck im Gesicht spürt und die all die Bäume hoch droben zum Sprechen bringt oder den Geruch von regennasser Erde mit sich führt. Sie waren von der grimmigen, scharfen, zähen Sorte, die Sicht und Atmung behindert und die Augen reizt. Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit haben selbst solche Winde ihren Wert. Es ist schön anzusehen, wenn sie Unmassen von Schatten schwenken. Und wie sie die Farbe der Welt bestimmen! Wie sie die dichten Wälder auf ihrem Weg zerzausen und sie wie eine einzelne Weide schlottern und erbleichen lassen! Nichts ist so schwindelerregend wie ein solcher Wind im Wald, mit all seinen Anblicken und Geräuschen; und die Wirkung kommt zwischen einige Maler und ihren nüchternen Blick, so daß, auch wenn ihr übriges Bild ruhig ist, die Blätter gefärbt sind wie Blätter im Sturm. Doch so etwas gewahrte man nicht in einem Landstrich, wo es keine Bäume gab und kaum Schatten, außer den passiven Schatten der Wolken oder jenen von starren Häusern und Mauern. Aber der Wind war dennoch ein Anlaß zur Freude; denn nirgendwo sonst konnte man eine plötzliche Flaute oder eine rechtzeitig erreichte Zuflucht so tief auskosten. Der Leser weiß, was ich meine; er wird sich erinnern, mit welcher Wonne er, auf einem Hügel hinter einem Erdwall sitzend, den Wind an seinem Rücken durch die Ritzen fauchen hörte; wie sein ganzer Körper vor Wärme prickelte und wie er, mit gleichsam allmählicher Überraschung, inne wurde, daß diese Gegend schön, die Heide purpurn und das ferne Bergland ganz mit Sonne und Schatten übersprenkelt war.
In einer wunderbaren Passage des »Präludiums« verwendet Wordsworth dies als ein Bild für das Gefühl, das die stillen Nebenstraßen Londons nach dem Lärm der großen Verkehrsadern in uns wecken; und der Vergleich läßt sich mit demselben guten Effekt umkehren:»Und weiter geht das Toben, bis wir schließlich,
Gleichsam dem Feind entkommen, unversehns
In einen abgelegnen Winkel biegen,
Der still ist wie ein Unterschlupf im Sturm.«Ich erinnere mich, daß ich in der Eisenbahn einen Mann traf, der mir das wohl perfekteste Exempel für diese Freude des Entkommens erzählte. An einem sonnigen windigen Morgen war er irgendwo im Ausland einen Dom hochgestiegen; ich glaube, es war der Kölner Dom, dieses große unvollendete Wunder am Rhein; und nach einer langen Zeit auf dunklen Treppen trat er schließlich in den Sonnenschein hinaus, auf eine Plattform hoch über der Stadt. Dort oben war es ganz still und warm; Sturm war nur in den unteren Luftschichten, aber im ruhigen Kirchinneren und während seines langen Aufstiegs hatte er ihn vergessen; und so kann man sich seine Überraschung denken, als er, die Arme auf die besonnte Balustrade gestützt und auf den Ort weit unter sich schauend, sah, wie die guten Leute ihre Hüte festhielten und sich beim Gehen mit dem ganzen Körper gegen den Wind stemmten. In diesem kleinen Erlebnis meines Reisegefährten liegt für mich etwas höchst Vollkommenes. Die Gewohnheiten der Menschen erscheinen einem völlig banal, wenn man allein oben auf einer Kirche ist, mit dem blauen Himmel und ein paar hohen Ziertürmen, und weit unter sich die steilen Dächer und die kurzen Strebepfeiler sieht sowie die stumme Geschäftigkeit der Straßen; doch als was alles müssen sie ihm nicht erschienen sein, als er dort stand, nicht nur über dem Treiben anderer Menschen, sondern auch über dem Klima anderer Menschen, in einer goldenen Zone wie der Apolls!
Von der Art war die Freude, die ich in dem Landstrich fand, über den ich schreibe. Es war die Freude, aus dem Wind weg zu sein und ständig an ihn zu denken und sich zu der Zuflucht zu gratulieren. Und solche geschützten Orte fanden sich nur am Meer. Zwischen den schwarzen wurmstichigen Landspitzen gibt es gegen Seegang und Wind gut abgeschirmte kleine Buchten und Häfen, wo Sand und Kraut aus einer Tiefe von stillem Wasser zum Betrachter aufschauen und nur die Seevögel, die auf den zerfallenen Klippen schreien und flattern, die Stille und den Sonnenschein stören. Namentlich ein Ort hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt. Auf einem Felsen direkt am Meer hatten sich alte nordische Recken eine Doppelfeste gebaut; die beiden Burgen standen Wand an Wand wie Haushälften; und dennoch war die Fehde zwischen den Besitzern so heftig geworden, daß der eine aus dem Fenster den anderen in seinem Tor erschoß. Das Nebeneinander der beiden Feinde ist von tief tragischer Ironie. Es ist schrecklich zu denken, daß bärtige Männer und bittere Frauen nachts über ihrem Hallenfeuer haßvoll beratschlagen, während das Meer gegen die Grundmauern brauste und der wilde Winterwind über den Zinnen los war. Und in der Studierstube können wir uns eine blasse Nachbildung vom Leben damals machen. Nicht, wenn wir am Ort sind; wenn wir dort sind, kommen uns solche Gedanken nur, um einen gegensätzlichen Eindruck zu verstärken, und die Assoziation wird gegen sich selbst gerichtet. Ich erinnere mich, daß ich drei Nachmittage hintereinander dorthin wanderte, die Augen erschöpft vom ständigen Gegenwind, und wie ich, plötzlich über den Gipfel der Düne fallend, mich in einer neuen Welt von Wärme und Schutz befand. Der Wind, dem ich wie einem »Feind entkommen« war, schien rein lokal zu sein. Er brachte keine Wolken und kam aus solcher Richtung, daß er die sichtbare See nicht aufwühlte. Die beiden Burgen, schwarz und zerfallen wie die Felsen über ihnen, waren von diesen durch etwas in ihrer Silhouette, das noch unsicherer und phantastischer aussah, zu unterscheiden, etwas, das nach dem letzten Sturm überhing und das der nächste ganz abreißen würde. Das mich an diesen drei Nachmittagen beherrschende Gefühl von Ruhe und Frieden in Worte zu fassen wäre schwierig. Es wurde, wie ich schon sagte, durch den Gegensatz gestützt. Die Küste war durch frühere Unwetter schlimm zugerichtet; im tiefsten Innern bewahrte ich die Erinnerung an den irrsinnigen Streit der Kobolde, die diese beiden Burgen errichtet und sie in Mißtrauen und Feindschaft gegeneinander bewohnt hatten, und ich wußte, ich brauchte nur den Kopf aus dieser kleinen Schutzschale zu stecken, um in den Augen den scharfen Wind zu spüren; und doch waren da die zwei großen Bahnen aus regloser blauer Luft und friedlicher See, welche, gleichgültig und getrennt, auf das Getümmel der Gegenwart und die Denkmäler der prekären Vergangenheit schauten. Der Eindruck von starkem Wind unter wolkenlosem Himmel hat immer etwas Flüchtiges und Ärgerliches; er hat offenbar keine Wurzel in der Konstitution der Dinge; wie eine abgeschnittene Blume muß er rasch verblassen und welken. Und an solchen Tagen kamen sich der Gedanke an den Wind und der an das menschliche Leben sehr nahe in meinem Geist. Unsere lauten Jahre erschienen wahrhaftig wie Momente inmitten des ewigen Schweigens; und der Wind war, angesichts dieses großen Feldes von stillstehendem Blau, wie der Hauch eines Schmetterlingsflügels. Die Ruhe der See war etwas, an das man sich ebenso erinnern mußte. Shelley spricht von der See, die »nun gestillt sein will« (hungering for calm), und hier an diesem Ort begann man die Bedeutung der Wendung zu verstehen. Als ich von der zerbrochenen Felskante in diese grünen Wasser hinabsah oder im Sonnenschein gemächlich schwamm, schien es mir, als ob sie ihre Stille genössen; und wenn sie ab und an gestört wurden durch ein Kräuseln auf der Oberfläche oder durch das dunkle Huschen eines Fisches in der Tiefe, setzten sie sich wieder (mochte man meinen) erleichtert. Auch an der Küste, im Schlupfwinkel, war alles dermaßen gedämpft und still, daß schon die kleinste Besonderheit wohltuende Überraschung in mir auslöste. Das sporadische Platzen von Ginsterhülsen in der Nachmittagssonne usurpierte das Gehör. Der tagsüber von Sonne durchdrungene heiße, süße Atem des Ufers war wie der Atem eines Mitgeschöpfs. Ich weiß noch, daß zwei Zeilen eines französischen Gedichts mir nicht aus dem Kopf gingen; auf irgendwie dumme Weise paßten sie anscheinend zu meiner Umgebung und zu dem Behagen, das in mir war, und ich sagte andauernd vor mich hin: »Mon cœur est un luth suspendu / Sitôt qu’on le touche, il résonne.«
Warum mir diese Zeilen damals einfielen, vermag ich nicht zu sagen; und deshalb wiederhole ich sie hier. Soviel ich weiß, können sie den Eindruck im Geist des Lesers vervollständigen, da sie für mich gewiß dazugehörten.
Und das passierte mir ausgerechnet an diesem Ort, wo ich am wenigsten zu bleiben wünschte. Wenn ich daran denke, schäme ich mich meiner Undankbarkeit. »Und Süßigkeit (ging aus) vom Starken.« Dort, im öden, böigen Norden, empfing ich vielleicht meinen stärksten Eindruck von Frieden. Ich sah, daß die See groß und ruhig war; und die Erde in diesem Winkel war ganz lebendig und freundlich zu mir. Also wo immer ein Mensch auch ist, er findet etwas, das ihn erfreut und besänftigt: in der Stadt begegnet er angenehmen Gesichtern von Männern und Frauen, und in einem Fenster sieht er schöne Blumen oder er hört an der dunkelsten Straßenecke einen Käfigvogel singen; und was die Gegend betrifft, so gibt es keine Gegend ohne irgendeinen Vorzug – er suche sie nur im rechten Geiste, und er wird sie gewiß finden.Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 2/2017, S. 181-186
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Stoessel, Marleen
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- 4/2015 | Der siebte Sinn oder die Zwölf ist ein Löwe. Erfahrungen mit Synästhesie, S. 418 Leseprobe
Stoessel, Marleen
DER SIEBTE SINN ODER DIE ZWÖLF IST EIN LÖWE Erfahrungen mit Synästhesie
Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort – selbst das Ä, meinen Ohren empfindlich, fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit Syn oder Sym haben diese gelbrot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort Symbol. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in Symmetrie, wo dem Wort nichts Gewebeartiges mehr eigen ist – auch der Goldton des Y hat sich im Doppel-M seiner Mitte förmlich eingedickt zu einem Braun-Orange, bevor die Wortform im anlautenden grünstichigen Tr der dritten, jetzt hart-gelben Silbe sich scharf abgrenzt, konturiert und dann auflöst.
Silben, Wörter, Namen, Buchstaben sind seit je Farb- und Klangereignisse für mich, manchmal stofflich fühlbar in Form, Haut, Textur und Gestalt. Ebenso Wochentage, Monatsnamen, Jahreszeiten sowie Zahlen und ihre Einheiten, die Jahrhunderte oder Dekaden. Und immer Stimmen, Instrumente, manchmal auch Töne, einzelne Phrasen, Intervalle oder der Nachhall eines Musikstücks, bevor der Applaus das Klangbild zerbricht. Auch der Geschmackssinn ist betroffen: Nahrungsmittel, Getränke und Gerüche lösen stets mehr oder weniger starke Farb- und Formvorstellungen auf meiner inneren Leinwand aus, auch sie oft von stofflich-taktiler Qualität.
Wie wunderbar ein Rotwein, in dessen samtener Tiefe die Zunge den zarten rötlichen Reflexen nachzuspüren vermag. Sind diese Reflexe zu groß, zu hell und zu grell, hat der Wein die gewünschte Fülle und Reinheit nicht. Die Geschmacksknospen verschließen sich, die Blume des Weins verwelkt, ehe sie blühen konnte. Und wie das Kosten und Schmecken ist natürlich auch das Kochen ein synästhetisches Geschehen, ein Komponieren mit Farben und Aromen, wobei das klangschöne aschblaue Wort Aroma ja alles einschließt: Geschmack und Würze und Duft.
Schwingung – das ist das Zauberwort, das »Sesam, öffne dich!« zur synästhetischen Erfahrung, welches den phantastischen Schatz aufschließt, der aus dem »Mitempfinden«, dem Zusammenfall, Zusammenklang verschiedener Sinne, ihrem Miteinanderschwingen geboren wird. Ein Schatz voller Poesie, eine eigene Welt voller Reichtümer, die keiner Drogen bedarf. Diese ererbte Gabe ist ein Geschenk, das mir lange Zeit nicht bewußt, sondern selbstverständlicher Begleiter jeglicher Wahrnehmung war.
*
Nehmen wir die Zahlen. Natürlich sind das Wesen, Wesenheiten, kleinere oder größere »Persönlichkeiten« mit Farben und Charakter, mir mal mehr, mal minder sympathisch. Sie sind Realien, Realitäten, keine Abstraktionen – weshalb mir der alte philosophische Universalienstreit immer unverständlich blieb. Wie die Buchstaben, so sind auch die Zahlen ein Kosmos für sich, und manche teilen miteinander einzelne Farben und Tonwerte. Die 1 ist eine anthrazitfarbene, leicht aufgerauhte, aufrechte Gestalt, schmucklos und sehr ernst, als spüre sie die Verantwortung als Anführerin der ihr folgenden Zahlenherde. Die 2, von sanftem Ocker mit einem Schimmer Rosé darin, schwimmt versonnen dahin wie eine Ente. Die 3 ist lilienfarben, sehr rein, sehr heilig, sonntäglich. Obwohl der Duft von Lilien mir Atemnot bereitet, wirkt in der 3 nur ihr milde strahlendes Blütenweiß. Die 4 – eine wichtige Lebens- und lange meine Lieblingszahl – ist tief blau, veilchenblau. Zum Quadrat gefügt, präsentiert sie sich in akkurat rechtwinklig stählernem Schwarzblau. Im lebendigen Geschwisterquartett wiederum, lockerer gefügt als im strengen Quadrat (drei Brüder, als vierte ich), leuchtet sie in ihrem tiefen, dunklen Brüderblau.
Übergehen wir die freundliche strumpffarbene 5, die wie ein behaglicher Wollsocken ist, sowie die silbrige, immer auf Erfolg und Gewinn ausgerichtete 6 und kommen zu meiner absoluten Lieblingszahl, der 7. Wann sie die 4 ausgestochen hat oder ob sie schon immer, wie ich vermute, neben ihr herlief, weiß ich nicht. Die 7 ist grün. Wiesengrün. Paradiesisch grün. Metaphysisch grün. Sie läßt sich, trifft man nur den Zauberton, wunderbar mit dem dunklen Blau kombinieren. Auch wenn es mir eine Weile so schien, 4 und 7, Dunkelblau und Wiesengrün, konkurrieren nicht, so wenig wie die Veilchen mit der Wiese, in deren feuchten Gründen sie ihrer Entdeckung harren. Vom vierblättrigen Kleeblatt, dessen geheime Winkel Kinderwissen sind, zu schweigen.
Natürlich gibt es noch mehr Lieblingszahlen, die es auch nur sein können, weil einige andere es nicht sind. So habe ich ein schwieriges Verhältnis zur 8. Sie ist magentafarben – eine Farbe, die, zu grellem Pink gesteigert, mir ein wirkliches Ärgernis ist. Sie beleidigt die Sinne, tut mehr als nur den Augen weh. Die 8 als solche aber bewahrt ohne derartige Steigerung eine gewisse Zurückhaltung, ihr blauroter Mischton hält auf Abstand, nie weiß ich, ob sie mir wohlwill oder nicht. In ihrer Doppelung, sprich 88, oder in weiterer Vervielfachung intensiviert sich die Farbe, und je dunkler, desto angenehmer, ja vornehmer wird sie. Die 9 ist ebenso faszinierend wie unheimlich. Fast schwarz, ist sie die Todeszahl.
Tod und Vollendung. Schwarze Verhüllung. Transzendenz. Ein Rest von Blau wirkt noch darin. Daher die Faszination. In der 19 aber hat sie alles Transzendente verloren, hier erscheint sie nur noch negativ. Diesseitig, ohne jeden Farbenhof, unansehnlich in ihrem abgeschabten stumpfen Schwarz, erinnert mich die Zahl an die physische Seite des Todes. Auch als Primzahl, durch nichts als sich selber teilbar, vermag die 19 ihr Ansehen nicht zu verbessern. An jedem 19. August erlebe ich überdies atmosphärisch, an Licht und Geruch den Übergang zum Herbst, noch ehe ich mir des Datums bewußt geworden bin. Ein Abschied. Die 10 wiederum trägt einen mittelgrauen Anzug, kleines Karo, ein Bürotyp, korrekt, freundlich-beflissen, ein bißchen langweilig. Immerhin hat er, sprich sie, die Null im Gepäck, die nicht zu unterschätzen ist. In ihrer Tarnkleidung ist die 10, Begründerin des Dezimalsystems, wichtiger, als sie erscheint. Keine Dekade, kaum eine Maßeinheit ohne sie. Die 11 indessen ist sehr geheimnisvoll: ein hauchdünnes weißgraues Gespinst, an dem die Elfen und Feen, die Nebel, Gespenster und Geister weben. Märchenhaft. Ich mag sie gern. Mit dem Karneval hat sie in meinen Augen nichts zu tun – das wäre viel eher Sache der schrägen, spottlustigen 13.
Die 12 ist eine weitere Lieblingszahl, mit einer weiteren Lieblingsfarbe: dem Goldbraunbronzeton. Die ocker-roséfarbene 2 hat sich hier gewissermaßen vergoldet, vergrößert, gewölbt und gerundet – statt des schwimmenden Entleins lagert hier majestätisch: ein Löwe! Zugleich ist bei der 12, mehr als bei den anderen Zahlen, der Unterschied wichtig, ob sie sich als Ziffer oder als Wort präsentiert. Im Klang sind beide gleich, als Ziffer jedoch erscheint mir die 12 nur goldbraun, wie ein schön gebackenes Brötchen. Als ausgeschriebenes Wort aber ist die Zwölf der Löwe: dahingelagert mit seinem schweren Rumpf und dem mächtigen Kopf mit der Mähne, der sich um den Wortleib schmiegende Schweif mit der krausen Quaste läuft sinnfällig aus im grau-lila Buchstaben F. Zwölf: ein hoch sich wölbendes und zugleich in sich ruhendes Wort. Goldbraun, mähnen stolz, majestätisch – von löwenhafter Evidenz.
[...]
SINN UND FORM 4/2015, S.497-508, hier S.497-499
- 6/2016 | Mythos Georgien?, S. 418 Leseprobe
Stoessel, Marleen
Mythos Georgien?
Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem »panischen Schlaf« verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: »Mythos Georgien«, die Elogen und Superlative, die Projektionen und Klischees, die uns jeder Reiseführer, jede Reisewerbung bietet. Mythos ist immer Erzählung, Legende, ihre besungene, gefilterte Wahrheit und ebenso ihre verzerrte, historisch vielfach entstellte Wahrheit, die Lüge. Von beiden Arten hat dieses uralte Land, dessen westlicher Saum am Schwarzen Meer einst Kolchis hieß – Sehnsuchtsort der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies –, übergenug. Das Alter und die Sprache, die keiner der großen bekannten Sprachfamilien angehört, tragen dazu bei. Mehr konsonantisch als vokalisch, wirkt ihr Klang wie aus Holz und kaukasischem Mineral gemeißelt, dem Auge aber präsentiert sich ihre runde, ornamental geschwungene Schrift wie in Gold geprägt, oder wie das einstmals aus den Wassern »gevlieste« Gold.
Dort, in Batumi, direkt am Ufer des Schwarzen Meers, ragt heute ein neun Meter hohes Kunstwerk empor, eine kinetische Skulptur der Künstlerin Tamara Kvesitadze, »Man and Woman« genannt. Zwei aus vielen schmalen Aluminiumringen bestehende Figuren, männlich und weiblich, bewegen sich allabendlich aufeinander zu, verschmelzen miteinander und entfernen sich wieder. Allegorien all jener Differenzen, die unser Eigensein und Anderssein bezeichnen, ob geschlechtlich, ethnisch, kulturell. »Ali und Nino« werden sie im Volksmund genannt, nach dem berühmten Roman von Kurban Said, der die Geschichte einer Liebe zwischen der georgischen, europäisch-christlich erzogenen Nino und Ali, dem muslimischen Sohn aus vornehmem aserbaidschanischen Haus in Baku, erzählt. Eine Liebe, die alle kulturellen Kluften zu überbrücken scheint und doch an ihnen scheitert.
Ihr Verfasser stellt einen eigenen Mythos dar, dessen Webmuster aus seinen drei Namen gebildet ist: Zwei Pseudonyme, Kurban Said und Essad Bey, überblenden seinen eigentlichen Namen Lev Nussimbaum, als der er 1905 in Baku geboren wurde, als Sohn eines aus Tiflis stammenden jüdischen Ölbarons und einer russisch-jüdischen Revolutionärin und Stalin-Vertrauten, die Selbstmord beging, als Lev gerade sechs Jahre alt war. Revolution und russische Okkupation vertrieben Vater und Sohn aus dem Land, nach abenteuerlicher Flucht quer durch die benachbarten Länder landeten sie 1920 in Berlin. Dort konvertierte der Gymnasiast Lev zum Islam, nannte sich von da ab Essad Bey, später dann, als weitere Tarnung gegenüber den Nationalsozialisten, auch Kurban Said. Mehrere Dutzend Bücher hat der mit 36 Jahren schwerkrank und verarmt in Positano verstorbene Nussimbaum hinterlassen, darunter auch Biographien Mohammeds und Stalins. Eine Gedenktafel mit seinem Porträt erinnert gegenüber dem Berliner Literaturhaus an den heute weitgehend Vergessenen. Hundert Jahre später folgte der amerikanische Journalist Tom Reiss den Spuren, man könnte auch sagen: der einzigartigen Schelmengeschichte dieses Autors, der sich selbst zum Mythos stilisiert hatte, und es gelang Reiss in seinem höchst spannenden Buch »Der Orientalist«, Lev Nussimbaums Geheimnis weitgehend zu lüften.
Nicht zuletzt der Roman »Ali und Nino« war es, der vor über zwanzig Jahren meine Sehnsucht nach diesen Ländern jenseits des Schwarzen Meeres weckte, der mir Ansätze für mein Verstehen fremder, muslimischer Sitten und Ehrbegriffe vermittelte und mir desto schärfer die westliche Überheblichkeit gegenüber dem Osten, dem »Orient« vor Augen führte. In meinen Literaturlexika suche ich bis heute Roman und Namen des Autors vergebens, obgleich doch gerade in der Auseinandersetzung mit dem seinerzeit von Edward Said kritisch ins Feld geführten Begriff des »Orientalismus« Lev Nussimbaums ebenso ironische wie ernstgemeinte Maskerade erhellend ist. Dem Erstaunen über diese Leerstelle sekundiert die Tatsache, daß es erst Navid Kermani mit seiner Paulskirchenrede gelang, das mit westlich-aufklärerischer Arroganz verdrängte Bild der uralten islamischen und arabischen Kulturen wiederzuerwecken. Als gäbe es dort nur primitive, brutale Völker und Stämme und nicht Gelehrte wie Avicenna, Kultur- und Dichterheroen wie Hafis, Al Ghazali oder Rumi, letztere auch Angehörige der Sufis, die freilich bis heute, so wie früher alle unorthodoxen Strömungen in den monotheistischen Religionen, verfolgt werden.
Diese tief dem Mythos »Orient« eingelagerten Schätze, die es auch im Westen neu zu heben gilt – sie wären heute gleichsam das »Goldene Vlies«. Und förmlich wie ein Vlies am eurasischen Körper zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer erstreckt sich auch das kleine georgische Land, am nordwestlichen Ende beschnitten um das abtrünnige Abchasien und tief und wund eingerissen in der nördlichen Mitte durch das zwar autonome, aber de facto besetzte Südossetien, von den Russen scharf an seinen Grenzen bewacht.
*
Vliesähnlich – das Wurzelwerk der Metapher reicht weit – auch die im nächtlichen Anflug in warmen Lichtern blinkende, sich längs des Flusses Mtkwari dehnende Stadt, die bis heute als eine der schönsten des näheren Ostens gilt: Tiflis oder, in der Sprache ihrer Bewohner heute: Tbilisi. Von heißen Schwefelquellen, die in alten osmanischen, kuppelgedeckten Anlagen noch als Heil- und Wellnessquellen sprudeln, hat die Stadt ihren Namen.
Nun lag sie vor mir im Sonnendunst, in dem ich nach einer kurzen Ankunftsnacht erwachte. Geweckt wie jeden Morgen von der absteigenden Melodie eines Ausrufers, der, wenn ich ans Fenster stürzte, grad mit seinen Tüten um die Ecke bog. Erst kürzlich erschloß sich mir sein Ruf, den ich mir rein phonetisch notiert hatte: Mazoni malaco! "Mazoni« für Joghurt und »malaco« russisch für Milch, ebenso wie den letzten noch chiffrierten Rest »Zchneti«, der den Ruf rhythmisch skandierte: Joghurt und Milch, frisch aus den Bergen, wo auf holprigen Wegen Kühe und Schafe den Autos gelassen die Vorfahrt nehmen. Und aufwärts steigend, in gleißende Weite, dehnte sich vor mir das Panorama der Stadt: darin die zahlreichen Türme der orthodoxen Kirchen, manche funkelnd in der Sonne, und jenseits des Flusses der wulstige Bau der neu errichteten Sameba-Kathedrale und der dem Berliner Reichstag nachempfundene kuppelgekrönte Präsidentenpalast.
Tief unter meiner Terrasse aber die Altstadt. In ihr schlägt das Herz der Stadt, in ihr wachte ich auf, dort bin ich stundenlang durch die staubige Hitze zwischen den verfallenden, windschiefen, zerrütteten Häusern gelaufen, wo nur einzelne schmiedeeiserne Gitter und Balkone – jene typischen, mit ihren holzgeschnitzten, etwas venezianisch anmutenden Loggien – und die Reste von Ornamenten und Dekor an einstige Pracht erinnern. Ein schweres Erdbeben hat 2002 den Verfall weiter befördert, dessen »Poesie« angesichts der Verwüstung, die kaum eine schützende Maßnahme aufzuhalten scheint, nur noch stellenweise zu finden ist. Es ist wie bei den alten Fresken, die ich in den vielen uralten Kreuzbasiliken sah: Sind sie zu ramponiert, beschädigt, verblaßt, bleibt nur noch wenig von ihrer Aura – leichtere Beschädigungen freilich wecken im Betrachter jene Imagination einer Schönheit, die in solcher Vollkommenheit vielleicht nie bestand.
Ein Bild des Verfalls, verfallender Schönheit, das mein Traum-Erinnerungsbild auf eigentümliche Weise grundiert: Als stünde die Zeit wie in jener »panischen« Mittags-Hitzestunde still, als hielte sie den Atem an, erzeugte eine scheinhafte Leere, ein Vakuum, in dem die Zeichen jüngster und vergangener, ja auch uralter Geschichte ein Muster von Hoffnung und Bedrohung zugleich ergeben, ein Nachbild, in dem die Trümmer und Reste dieser Geschichte sich zu einer Konstellation der Möglichkeiten fügen, von denen – und wie sie ergriffen werden – mir das zukünftige Schicksal dieser Stadt, dieses Landes und seiner Menschen abzuhängen scheint.
[...]SINN UND FORM 6/2016, S. 779-789, hier S. 779-782
Stoffels, Hans
- 6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels, S. 725 Leseprobe
Stoffels, Hans
Aus dem Archiv der Akademie der Künste »Die vielen ungelebten Leben« Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von somatischer und psychologischer Medizin« hin. Der Vortragende war Wilhelm Kütemeyer (1904 – 1972), ein Schüler des Mitbegründers der psychosomatischen Medizin in Deutschland Viktor von Weizsäcker. Die kasuistisch gehaltenen Vorlesungen elektrisierten mich, und Kütemeyer selbst war ein Faszinosum. Seine Thesen waren radikal: Jede Krankheit, auch die schweren körperlichen Krankheiten, sind psychosomatisch; die Organkrankheit ist Stellvertreter eines ungelösten Konflikts; der therapeutische Umgang von Arzt und Patient muß eine gemeinsame Widerstandsbewegung sein. Ich erfuhr, daß Kütemeyer zunächst Übersetzer und Schriftsteller gewesen war und schon vor 1933 aktiv gegen die Nazis gekämpft hatte. Den Beginn seines Medizinstudiums 1939 bezeichnete er als eine Form innerer Emigration. Nach 1945 gehörte er zur »Gesellschaft Imshausen«, einer Gruppe von Publizisten, Professoren und Politikern, die aus dem Geist der Widerstandsbewegung eine Erneuerung Deutschlands anstrebten.
Anstatt das geregelte Studium Semester für Semester fortzusetzen, stürzte ich mich in das Studium der psychosomatischen Medizin, ihrer Geschichte, ihrer Theorien und Kontroversen. Gleichzeitig engagierte ich mich in Seminaren der von Studenten gegründeten »Kritischen Universität«, wo sich eine Fülle von Stoff bot für radikale Thesen und Theorien, für Empörung und Aufbegehren, für die Forderung nach einer neuen Medizin. In dieser Zeit konsultierte ich immer häufiger Kütemeyer in seiner Praxis, um das Gleichgewicht zwischen öffentlicher Aktion und innerseelischer Stabilität zu wahren.
Zunehmend kam bei mir die Sorge auf, ich könne in eine Außenseiterposition geraten und mich immer weiter von der anerkannten Wissenschaft entfernen. Seinerzeit kämpfte die universitäre Psychosomatik um ihre wissenschaftliche Anerkennung. Die Weizsäcker-Schule galt als spekulativ, manch einer hätte sie lieber bei den Geisteswissenschaften angesiedelt. War ich in Gefahr, einem Irrglauben anzuhängen oder gar in eine sektiererische Verengung zu geraten? In dieser Bedrängnis las ich Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«. Ich las das Buch mit ganz anderen Augen als die damaligen Rezensenten in Ost und West. Ich las den Roman als Darstellung einer psychosomatischen Krankengeschichte und erlebte die Lektüre gleichsam als Befreiung, denn mir schien, daß sich hier das neue psychosomatische Krankheitsverständnis Bahn brach.
»Nachdenken über Christa T.« erschien 1969 und begründete Christa Wolfs Weltruhm. Der Roman wurde in viele Sprachen übersetzt und führte lange die Bestsellerlisten an. Aber das bereits 1967 fertiggestellte Manuskript konnte in der DDR zunächst nicht erscheinen. Christa Wolf wurde der Vorwurf gemacht, mit ihrem Buch dem politischen Gegner in die Hände zu arbeiten. Sie übe Verrat an ihren eigenen Idealen und hämische West-Rezensenten lägen bereits auf der Lauer, um nachzuweisen, daß Christa T. nicht an einer Leukämie, sondern an der DDR-Gesellschaft gestorben sei. Das Buch war zu einem Politikum geworden, die Debatten gingen noch jahrelang weiter.
Im Rückblick auf die Zeit vor der Publikation sprach Christa Wolf von einem »Wirbel von Beschuldigungen, Selbstverteidigung, Abwehr, Beteuerung, Verschleierung, Gewissenserforschung, Selbstverleugnung, Lüge und Verschweigen«. Sie sei, schrieb sie an Brigitte Reimann, inzwischen bereit, von einem »Unglücksbuch« zu sprechen. Reimann hatte ihre Freundin in einem Brief vom 29. Januar 1969 mit den Worten gewarnt: »Halt Dein Herz fest; Du weißt ja, was Dich erwartet. Man hört schon allerlei von gewetzten Messern …«, worauf diese am 5. Februar antwortete: »Das Erlebnis ›Die Hände weggeschlagen‹ ist eines meiner Grunderlebnisse der letzten Jahre, sozusagen das Letzte, was ich je als Erfahrung erwartet hätte.«
Inzwischen gab es in der DDR erste Rezensionen (unter anderem in Sinn und Form 1 / 1969), aber das Buch war immer noch nicht erschienen. Zunächst wurde der Verleger genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen, Selbstkritik zu üben und der Autorin zu bescheinigen, daß sie in einer pessimistischen Grundstimmung verharre und keine Distanz zu ihrer Protagonistin finde. Schließlich wurde »Nachdenken über Christa T.« in einer Erstauflage von wenigen tausend Exemplaren ausgeliefert. Nach zwei Jahren wurden weitere Auflagen genehmigt, und bis 1989 wurde der Roman mit 250 000 verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Buch der DDR.
Als ich 1971 – damals vierundzwanzig Jahre alt, das medizinische Staatsexamen lag noch in weiter Ferne – Christa Wolf einen Leserbrief schrieb, spielte die politische Auseinandersetzung um diesen Roman keine Rolle. Ich wollte ihr berichten, daß ich das Buch als Krankengeschichte gelesen hatte, als Bestätigung des neuen psychosomatischen Krankheitsverständnisses. Zu meiner größten Überraschung erhielt ich eine Antwort. Kein Zweifel, Christa Wolf war an medizinisch-psychosomatischen Fragestellungen und Forschungen außerordentlich interessiert, auch an der Schule Viktor von Weizsäckers. Später erfuhr ich, daß sie sich auch mit anderen Wissenschaftsgebieten wie der Genetik beschäftigte und von der Literatur erwartete, sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Bücher sollen, schrieb sie später, den Mut zu radikalen Fragestellungen fördern und zu einer differenzierten Darstellung eigener Erfahrungen anregen. Ich schickte Christa Wolf Manuskripte, Textentwürfe und Publikationen aus dem Umkreis der psychosomatisch-anthropologischen Medizin, auch die Reflexionen eines Carcinomkranken, der sich bei Kütemeyer in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte.
Als Christa Wolf im Herbst 1974 mit ihrem Mann Gerhard zur Buchmesse nach Frankfurt kam, unternahm sie auch einen Abstecher nach Heidelberg, um den leserbriefschreibenden Medizinstudenten in Augenschein zu nehmen und ihn in seiner Studentenwohnung zu befragen. Es entwickelte sich eine lebenslange Beziehung. In den folgenden Jahrzehnten kam es wiederholt zu persönlichen Begegnungen, wenngleich der Briefwechsel allmählich spärlicher wurde.
Das Thema des verborgenen Zusammenhangs von Krankheit und Selbstverwirklichung hat Christa Wolf nicht mehr losgelassen. 1991 sprach sie auf der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft über »Krebs und Gesellschaft« und erinnerte sich ihrer Romanfigur Christa T. Elf Jahre später publizierte sie die Erzählung »Leibhaftig«. Darin geht es um die Erinnerungen einer Frau, die wegen einer schweren Sepsis tagelang auf einer Intensivstation behandelt werden muß. Die Kranke spricht von sich in der ersten und in der dritten Person und fragt: »Warum ist ihr Immunsystem zusammengebrochen? Vielleicht, Herr Professor, weil es ersatzweise den Zusammenbruch übernommen hat, den die Person sich nicht gestattete.«
Zuletzt begegnete ich Christa Wolf am 28. Oktober 2010 – ein Jahr vor ihrem Tod. Ich hatte sie anläßlich der 16. Jahrestagung der »Viktor von Weizsäcker Gesellschaft« zu einer Lesung nach Berlin-Charlottenburg eingeladen. Das Thema der Tagung lautete »Ereignis und Erlebnis«. Der Vortragsraum vermochte die Zuhörer kaum zu fassen, und Christa Wolf las aus ihrem gerade erschienenen Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. Alle lauschten gebannt, wanderten mit der Autorin durch die Stadt der Engel, begegneten Thomas Mann und Bertolt Brecht und betrachteten von allen Seiten den »Overcoat of Dr. Freud«.
Nach der Lesung schickte ich Christa Wolf einige Fotos zu, wofür sie sich sogleich bedankte: Die Fotos gefielen ihr, »weil sie lebendig sind«.
Hans Stoffels
SINN UND FORM 6/2020, S. 725-750, hier S. 725-727
Stoll, Heinrich Alexander
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Stolper, Armin
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- 3/1976 | Keinen Tag und keine Stunde
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- 4/1985 | Ungarische Stichworte
- 1/1986 | Zum Porträt einer Vierzigjährigen
- 2/1986 | Im Zehnten Jahr danach. Im Gespräch mit Alfred Matusche
- 2/1986 | Im Zehnten Jahr danach. Im Gespräch mit Alfred Matusche
Stölzel, Thomas
Stonecipher, Donna
- 6/2022 | Musterstadt. Gedichte
Stoop, Paul
- 5/2021 | Der Schmerz der anderen. Susan Sontag am 11. September 2001, S. 702 Leseprobe
Stoop, Paul
Der Schmerz der anderen, Susan Sontag am 11. September 2001
»Und wo warst du, als …?« Es gibt weltpolitische Ereignisse, die den mit Radio und Fernsehen aufgewachsenen Generationen dauerhaft in Erinnerung geblieben und auch Jahrzehnte später noch Gesprächsthema sind: »Ich war gerade in XY, als die Nachricht kam …« Der Tag des Mauerbaus, der Tag, an dem John F. Kennedy erschossen wurde, der Tag des Mauerfalls. Und zuletzt vor genau zwanzig Jahren die Terrorangriffe auf das World Trade Center und das Pentagon.
Am 11. September 2001 schaute die ganze Welt zu, wie in einer Metropole zwei Wolkenkratzer, in denen Tausende Menschen arbeiteten, nach dem Angriff mit zwei gekaperten Passagierflugzeugen in Brand gerieten und einstürzten. Wer konnte, floh aus dem Gebäude, Hilfskräfte gingen unter Lebensgefahr hinein, verzweifelte Menschen sprangen aus höheren Stockwerken in den Tod – vor den Augen der Öffentlichkeit.
Eine hellsichtige New Yorkerin, die Verwandte, Freunde und Bekannte in der Stadt wußte, erlebte die Anschläge aus großer Entfernung. Für Susan Sontag manifestierte sich das Geschehen nicht direkt durch Lärm, Gestank oder den Staub, der sich über große Teile Manhattans legte, sondern in Fernsehbildern. Bilder waren für sie schon immer von größter Bedeutung. Nichts in ihrem Leben, schrieb sie in ihrer Essay-Sammlung »Über Fotografie« (1977), habe einen so »einschneidenden, tiefen, unmittelbaren« Eindruck auf sie gemacht wie die dokumentarischen Fotos vom Mord an den europäischen Juden, die sie als Zwölfjährige in einer Buchhandlung betrachtete.
Jahrzehntelang widmete Sontag der spezifisch modernen Wahrnehmung von Tod und Leiden, die uns durch dieses Medium vermittelt wird, besondere Aufmerksamkeit. Anfang 2001 hielt sie in Oxford einen Vortrag über den Schmerz der anderen, den wir aus räumlicher und zeitlicher Distanz wahrnehmen, vor allem durch Fotos von Kriegsreportern. Diese Überlegungen bildeten die Grundlage für ihr letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch, »Das Leiden anderer betrachten« (2003), in dem sie ihre frühere Auffassung revidierte, die Fülle von Abbildungen ferner Kriegsgreuel führe zu Abstumpfung.
Eine eigene zeitliche Distanz zum 11. September 2001 konnte Susan Sontag nicht mehr herstellen. Sie starb Ende 2004. Ihre unmittelbare Einordnung der Ereignisse löste aber eine heftige Kontroverse aus. In einem kurzen Text brachte sie nicht ihr Entsetzen über den Massenmord zum Ausdruck, sondern attackierte die Rhetorik der amerikanischen Regierung und der vermeintlich angepaßten Medien. Besonders ihr Satz über die Attentäter, »Feiglinge waren sie nicht«, empörte viele Kommentatoren. Sontag bestätigte nicht nur die vielen, die sie schon immer kritisiert hatten, sondern schockierte auch manche treuen Wegbegleiter.
Über ihre persönliche Situation in jenen Tagen ist bisher wenig bekannt. In der preisgekrönten Biographie von Benjamin Moser bleiben sie merkwürdig unterbelichtet. Moser beschreibt die Bilder, die damals live um die Welt gingen: »Unter den Millionen Zuschauern war Susan Sontag, die in Berlins Mitte im Hotel Adlon wohnte.« Dann läßt er seine Protagonistin für die 48 Stunden allein, die für die Weltöffentlichkeit die eindrücklichsten seit dem Mauerfall gewesen sein dürften. »Zwei Tage nach den Angriffen, als Susan in ihrer Adlon-Suite noch am Bildschirm klebte, bat ihre alte Freundin Sharon DeLano vom ›New Yorker‹ sie, etwas Kurzes für das Magazin zu schreiben.«
Die knappen Sätze suggerieren eine Entrücktheit dieser stets nervös-alerten Beobachterin des Zeitgeschehens: Sontag sitzt einsam im Hotel und schaut tagelang TV, allein, ohne sozialen Kontext, im Dialog nur mit sich selbst, eine Amerikanerin fern von daheim, die wohl auch deshalb zu einem unerhörten Urteil gelangt.
Wo war Sontag am 11. September? Sie war nicht »in ihrer Suite im Adlon«, als die Welt gebannt auf den Fernsehschirm sah. Sie war nicht allein, war nicht von der Möglichkeit des Austauschs abgeschnitten. Sie hatte am Abend sogar einen öffentlichen Auftritt, von dem Moser wohl ebensowenig wußte wie Daniel Schreiber, der 2007 die Sontag-Biographie »Geist und Glamour« veröffentlichte.
Im September 2001 war Sontag zehn Tage als »Distinguished Visitor« zu Gast in der American Academy in Berlin. Was wie eine große Ehre für die eingeladene Person aussieht, war in Wirklichkeit eine Ehre für die einladende Institution. Herausragende Literaten, Komponisten, Politikberater und Wissenschaftler aus den USA ihren Gast nennen zu dürfen, erforderte viel Geduld, wohlformulierte Bittbriefe und die diskrete Nutzung persönlicher Verbindungen zu potentiellen Gästen oder ihren Agenten. Die Korrespondenz zog sich manchmal über Jahre hin. Es galt, den Wunschgästen einen unvergeßlichen Aufenthalt zu versprechen und dann auch zu bereiten. Immer wieder gelang das. Die Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Paul Krugman und Robert Shiller lebten für ein paar Tage in der Academy, der öffentlichkeitsscheue Filmemacher Terrence Malick und die Philosophin Judith Butler. Nun also Susan Sontag.
Die regulären Fellows der Academy, die seit 1998 in der Regel ein ganzes Semester in der Villa am Wannsee verbringen, werden schon umsorgt, betreut, bedient – sie sollen sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren und sich mit Fachkollegen oder Vertretern aus der Politik austauschen können. Erst recht gilt das für die Distinguished Visitors, die während ihres Aufenthalts die ungeteilte Aufmerksamkeit des Academy-Teams erfahren und Vorträge halten.
So auch Sontag, der man die Zusage für zwei Abendveranstaltungen abgerungen hatte. Am 11. September stand ein Dialog mit György Konrád, dem Präsidenten der Akademie der Künste, auf dem Programm, am 13. September sollte sie aus ihrem Roman »In America« lesen. Mehr war für die Academy nicht drin, denn der Gast wollte in Berlin vor allem eines: möglichst viele Abende für Philharmonie und Oper freihaben. Das war der Kern ihres persönlichen Programms, dafür wurde alles getan. Selbst wenn ein Konzertabend seit Monaten ausverkauft war, mußte ihr der Besuch ermöglicht werden.
Einige Tage vor dem 11. September kam Sontag mit einem Jetlag in Tegel an. Etwas mürrisch stieg sie ins Auto und ließ sich zur Academy fahren. Worüber redet man in so einem Moment? Willkommen! Wie war Ihre Reise? Wann waren Sie zum letzten Mal in Berlin? Ah, vor fünf Jahren, da werden Sie viel Neues sehen können, in der Stadt hat sich seitdem viel getan. Aber nein, das interessiere sie überhaupt nicht, erwiderte die große amerikanische Intellektuelle, die als »europäischste« ihrer Art bewundert wurde. Sie wolle nur zum Savignyplatz, dem Zentrum des alten Westberlin, das sie noch aus Mauerzeiten kenne. Das Neue, der Osten, das Zusammenwachsen der lange geteilten Stadt, all das interessiere sie nicht. Nicht also im Adlon, sondern am Wannsee wohnte Sontag für diese zehn Tage. Und sie war nicht isoliert, sondern Teil einer wissenschaftlich-kulturellen Wohngemeinschaft auf Zeit, wo man sich gewöhnlich schon beim Frühstück traf, um über Gott und die Welt zu diskutieren oder auch zu schweigen.
Bei einem Empfang am 9. September stellten sich die Gäste einem illustren Kreis von Vertretern des Berliner Kunst-, Wissenschafts- und Politikbetriebs vor. Richard Holbrooke, sieben Jahre zuvor Initiator der Academy-Gründung, und der ehrenamtliche Academy-Präsident Bob Mundheim hatten es sich nicht nehmen lassen, für den außergewöhnlichen Semesterauftakt einzufliegen. Susan Sontag war der Stargast. Auch ein erstes Konzert besuchte sie an diesem Wochenende, in Begleitung unter anderem von Jane Kramer, der legendären Europa-Reporterin des »New Yorker «, die für ein Semester an den Wannsee gekommen war.
Am 11. September befaßten sich die Mitarbeiter der Academy gerade mit der Vorbereitung des ersten Susan-Sontag-Abends (Erinnerungsanrufe, finale Gästeliste, Tischordnung für das Dinner), als die ersten Anrufe und Mails kamen: Schaltet das Fernsehen an! In dem Moment begann eine neue Zeitrechnung. Fellows versuchten verzweifelt, Nachbarn, Verwandte und Freunde in New York zu erreichen, suchten nach alternativen Kommunikationswegen, hofften und bangten. Jedes TV-Gerät in der Academy-Villa war angeschaltet, von einem Apartment zum anderen tauschten sich die Gäste aus, manche sahen in der Bibliothek gemeinsam fern.
Am Nachmittag breitete sich die Gewißheit aus, daß ein ungeheures Ereignis die Normalität des Academy-Lebens zum Stillstand gebracht hatte. Die Leitung des Hauses beschloß, die Abendveranstaltung abzusagen, man befand sich im Ausnahmezustand, an einen geregelten Ablauf war nicht zu denken. Sofort fingen Mitarbeiter an, die angemeldeten Gäste anzurufen. Als Susan Sontag mitgeteilt wurde, daß der Dialog mit György Konrád ausfallen sollte, war sie außer sich. Das sei inakzeptabel, es gebe keinen Grund, wegen der Ereignisse in New York vom Plan abzuweichen, sagte sie und verschwand wütend in ihrem Apartment. Nach diesem Veto wurde neu beraten. Die Einigkeit über die Absage war dahin, doch der Präsident ließ dem Direktor Gary Smith den Vortritt. Der solle als Hausherr entscheiden. Das tat er – und gab dem Druck der Diva nach. Nun sollte Sontag doch wie geplant mit Konrád über die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft diskutieren. Überschrieben war der Abend: »The Conscience of Words« (Das Gewissen der Worte).
Das übliche festliche Abendessen erforderte diesmal keine fein austarierte Sitzordnung. Die meisten der Angemeldeten kamen erst gar nicht an den Wannsee, entweder wegen der telefonischen Absage oder wegen ihrer natürlichen Intuition, daß es in diesem Moment nichts zu diskutieren gab. Viele Fellows saßen weiter vor den Fernsehgeräten, während die Academy Züge einer Festung annahm. Daß die Presseabteilung es ablehnte, den Fellows Stellungnahmen abzunötigen, wollte mancher Journalist nicht akzeptieren. Das Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders kletterte kurzerhand über den hohen Zaun. Mitarbeiter mußten die Eindringlinge hinausgeleiten.
Es wurde ein bizarrer Abend. Zwei Dutzend Zuschauer verteilten sich im Raum, der sonst bis zu hundert Menschen Platz bot. Der begrüßende Direktor erwähnte die »Katastrophe« von New York, was aber die beiden Protagonisten nicht veranlaßte, näher auf das Thema einzugehen. Konrád plädierte lediglich dafür, »nicht wortlos« zu bleiben, und Sontag stellte fest, man wisse noch zu wenig, und Ereignisse wie dieses gehörten wohl »zu einer Art Normalität«. Daher wollten sie und ihr Gesprächspartner nicht vom Programm abweichen.
Was folgte, war der Dialog eines müde wirkenden, nachdenklichen György Konrád mit einer hellwachen Susan Sontag, die sich mit dem Etikett einer »public intellectual « abzufinden vorgab (»aber nur, wenn Sie mich in erster Linie als Schriftstellerin bezeichnen«) und Konrád rasch die Rolle des Moderators abnahm. Inhaltlich war es eine Plauderei mit ein paar Höflichkeiten, Erinnerungen an frühere Treffen und Platitüden über die Rolle von Intellektuellen im allgemeinen.
Starke Worte kamen Sontag durchaus über die Lippen: »Das war die unanständigste, unverfrorenste, schrecklichste, obszönste, vulgärste und barbarischste Idee, die ich je gehört hatte.« Aber das bezog sich nicht auf die Katastrophe des Tages, sondern auf den Vorschlag, den ein sechzehnjähriger Freund der vierzehnjährigen Sontag gemacht hatte, nämlich gemeinsam Thomas Mann in Pacific Palisades zu besuchen und mit ihm über den »Zauberberg« zu reden. Natürlich habe sie dann trotzdem mitgehen müssen, nicht etwa, weil der »Zauberberg« ja doch ihr Lieblingsbuch war, sondern um den verehrten Thomas Mann »vor diesem Jungen zu schützen«. So vergingen die ersten Stunden nach dem Anschlag, der Sontag so wenig außergewöhnlich vorkam. Sie hatte die Ruhe, über ihr Leben als Intellektuelle zu plaudern.
Am 12. September sah sie wie geplant die vertraute Westberliner Gegend um den Savignyplatz wieder. In der Paris Bar, einem legendären Treffpunkt lokaler und internationaler Kulturmenschen, gab es einen Lunch mit Academy-Mitarbeitern. Am Abend des 13. September war der Academy- Saal gut gefüllt, und Sontag las ihre Suada gegen die Bush-Regierung und die Kommentare der Medien vor, die sie in den Stunden zuvor für den »New Yorker« verfaßt hatte. Auf dem Programm stand eigentlich eine Lesung aus ihrem neuen Roman, doch sie trug zunächst den aktuellen Text ohne weiteren Kommentar vor, bevor sie sich als die Literatin, als die sie wahrgenommen werden wollte, präsentierte. Die kühle Reaktion in der Academy war noch nichts verglichen mit der Abscheu, die ihr nach der Veröffentlichung im »New Yorker« entgegenschlug.
In Sontags Rückblick »Ein paar Wochen später«, den sie Anfang Oktober für die italienische Zeitschrift »Il Manifesto« schrieb (deutsch in der FAZ vom 15. Oktober 2001), ist ein gewisser Rechtfertigungsdruck zu spüren. Sie habe sich an jenem Nachmittag »in einem stillen Zimmer in einem Außenbezirk von Berlin« befunden. Aus dieser Stille hätten sie zwei Anrufe gerissen, sie sei zum Fernseher gestürzt und habe die nächsten 48 Stunden fast ausschließlich vor dem Bildschirm verbracht, bevor sie an den Laptop zurückkehrte und in aller Eile eine wütende Attacke gegen die hirnlose, irreführende Demagogie amerikanischer Regierungs- und Medienleute schrieb.
Trotzig hielt sie daran fest, das, was sie für den »New Yorker« geschrieben habe, sei ein »erster, aber leider nur allzu präziser Eindruck« gewesen. Und ihre Trauer über die Toten, die sie nach ihrer Rückkehr nach Manhattan beim Anblick der Verwüstung zu empfinden behauptete, erwies sich als selektiv. Sie galt Hausmeistern, Schreibkräften, Küchenhilfen in den Trümmern des World Trade Center sowie Feuerwehrleuten. Explizit ausgeschlossen blieben »die gutbezahlten, ehrgeizigen Angestellten der Finanzunternehmen, die dort ihre Räume hatten«.
Mit diesen nachgeschobenen Erklärungen konnte Sontag die Empörung über ihre Haltung nicht eindämmen. Es ist ihr aber gelungen, die Grundlage zu schaffen für die nun allgemein akzeptierte Darstellung der isolierten Beobachterin in einem Berliner Hotel, die vom Terror aus der Stille gerissen und vom ungewohnten TV-Konsum überwältigt wurde.
SINN UND FORM 5/2021, S. 702-706
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Strube, Rolf
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Strube, Rolf
VON DER MUSIK DER IDEEN Paul Valéry – Dichter, Philosoph, Europäer
Paul Valéry hat zeitlebens über die Sprache nachgedacht. »Den Dichter«, sagt er einmal, erkennt man »an der einfachen Tatsache, daß er den Leser in einen Inspirierten verwandelt.« Lesen und Verstehen wird hier zu einem kurzen, scharf umrissenen Vorgang, als ginge es um nichts anderes als den gelungenen Anstoß einer Billardkugel, die ihre kinetische Energie beim Aufprall an eine andere weitergibt. Jahrhunderte der Exegese und Hermeneutik werden spielerisch überbrückt, wie um zu demonstrieren: Es geht auch einfacher und vor allem – präziser. Valéry liebte Anleihen oder besser Analogien aus physikalischen und mathematischen Bereichen, er hat sie immer wieder als Mittel gebraucht, um die kunstbegeisterte, an der Geschichte der Grande Nation orientierte Gesellschaft seiner Zeit aus ihren Träumen zu wecken, ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß Richtung und Tempo künftiger Entwicklungen von den empirischen Wissenschaften, von Technik und Industrie bestimmt sein würden.
In diesem Sinne läßt sich auch »Der Abend mit Monsieur Teste« aus dem Jahr 1895 lesen – als provokatorischer Kommentar zum Fin de Siècle, dem Valéry selbst seine ästhetischen Vorlieben, seine philosophischen Interessen verdankte. Monsieur Teste – man kann den Namen mit »testa«, dem italienischen Wort für Kopf, oder dem lateinischen »testis«, dem »Zeugen«, in Verbindung bringen – ist ein seltsamer Zeitgenosse: einer, der vehement die Ansicht vertritt, man könne nur in einer nüchternen, unpersönlichen Umgebung, einer Büro- oder Hotelzimmeratmosphäre geistig arbeiten. Er lebt, wie es heißt, »von unbedeutenden Wochenspekulationen an der Börse«, hält sich aus beruflicher Konkurrenz heraus. Irgendwann scheint er sich entschlossen zu haben, seinen ausgeprägten Geltungsdrang zu den lästigen Begleiterscheinungen des Lebens zu zählen, er versteigt sich sogar zu der Behauptung, die stärksten und fähigsten Köpfe der Menschheit hätten einsam für sich gearbeitet und seien namenlos geblieben, es gebe eine Art Parallelgeschichte des unbekannten Entdeckers und Erfinders.
Monsieur Teste besitzt, könnte man sagen, durchaus eine entfernte Verwandtschaft mit all den verkannten Genies und verkrachten Existenzen, die damals die Pariser Künstlercafés bevölkerten. Ihn allerdings hätte man dort vergeblich gesucht: seine äußere Erscheinung – betont unauffällig, geradezu absichtsvoll nichtssagend – verrät Distanz zur Extravaganz der Bohème, auch sein Desinteresse an Musik und Theater hat etwas Ostentatives, Programmatisches. Teste hat es sich zur Aufgabe gemacht, den verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens und Zusammenlebens eine neue »cartesianische« Klarheit und Durchsichtigkeit zu erschließen.
Der Leser erfährt davon nur in Andeutungen, er bleibt angewiesen auf die Perspektive eines bewundernden Freundes. Dieser Ich-Erzähler, ein homme de lettres, vielleicht ein Lyriker, bedient sich einer auffallend bilderreichen Sprache. Es scheint, daß er Metaphern zu Hilfe nimmt, um seine Eindrücke und Vermutungen überhaupt zum Ausdruck bringen zu können – etwa wenn er mit Blick auf Testes Faible für experimentelle Anordnungen, mathematische Reihen und Wahrscheinlichkeiten wie über einen Botaniker redet und von ihm sagt: Er sorgte für die Wiederholung gewisser Ideen, »begoß sie mit dem Element Zahl«. Testes Gedankenwelt ist eingefaßt in dichterisches Empfinden, von einer Aura des Enigmatischen umgeben.
Es ging Valéry nicht darum, der Zukunft in der Art eines Jules Verne oder H.G. Wells ein Gesicht zu geben, wohl aber um die Erregung, an der Schwelle einer neuen Epoche zu stehen. Aus heutiger Sicht weisen Monsieur Testes nüchterne Visionen, sein kalter Blick auf die menschlichen Verhältnisse hellsichtig voraus auf das soziale Klima der modernen Massengesellschaften, auf Zeiten, in denen es für alle Bereiche – Stadtplanung, Marktforschung, Versicherungs- und Gesundheitswesen – Statistiken gibt. Und es deutet sich in Testes kühlem Verhältnis zu den schönen Künsten auch bereits die Geringschätzung an, mit der der Dichter Valéry die, wie er glaubt, traditionell überschätzte künstlerische Inspiration behandeln wird: Dichtung und abstraktes, methodisches Denken schließen einander – ganz im Sinne von Edgar Allan Poes »Philosophy of Composition« – keineswegs aus, Kunst und analytische Geometrie unterscheiden sich, wie Ezra Pound formuliert, allenfalls in der Wahl des Gegenstands. All das ist in Monsieur Teste angelegt, den Valéry im nachhinein, als er in den zwanziger Jahren an weiteren Episoden schrieb, als eine Kunstfigur charakterisierte – kaum lebensfähig und geboren aus einer fixen Idee, die damals all seine intellektuellen Aktivitäten beherrschte, einem unstillbaren Verlangen nach Präzision, einem »Wahn der Genauigkeit«, dessen tautologische Formel »Ich habe versucht, das zu denken, was ich dachte« als Motto des Sprach- und Wissenschaftsphilosophen Valéry dienen könnte.
Die Erstauflage des »Abend mit Monsieur Teste« sollte ursprünglich dem Künstler Edgar Degas gewidmet sein, mit dem Valéry in jungen Jahren gut bekannt war . Degas lehnte jedoch ab. Valéry kommt Jahrzehnte später darauf zu sprechen, in seinem Essay »Tanz, Zeichnung und Degas«, den er 1936 anläßlich einer großen Pariser Degas-Ausstellung verfaßte. Er schildert ausführlich, wie er dem Künstler 1893 im Hause des Malers und Kunsthändlers Henri Rouart begegnete und wie sich daraus eine – wenn auch wegen Degas’ schwierigem, impulsivem Charakter distanzierte – Freundschaft entwickelte. So sehr man Degas’ Urteil in ästhetischen Fragen schätzte, so sehr fühlte man sich durch die Spottiraden brüskiert, mit denen er über Künstlerkollegen und Gelehrte herzog. Auch Valéry bekam anfangs seine Geringschätzung der zeitgenössischen Literatur zu spüren, die »keinen Schuß Pulver wert« sei. Er gehörte, schreibt Valéry, zu jenen an Racine und der alten Musik geschulten Connaisseuren, die sich für jede Lebenslage mit Zitaten und geflügelten Worten gewappnet hatten und immer bereit waren, ihren »klassischen« Geschmack und den Kanon zu verteidigen – wenn es sein mußte, auch mit Wutausbrüchen.
Den jungen Valéry, der sich nach ersten Erfolgen als symbolistischer Dichter seines Weges durchaus nicht sicher war, faszinierte dieser Rigorismus: Degas war für ihn das Muster eines bildenden Künstlers, dem die Verfeinerung spezieller Techniken zur Lebensaufgabe geworden war, der eben darin seine Bestimmung gefunden hatte. Sein Artistentum hatte sich auf unspektakuläre, eigentlich »unbedeutende Gegenstände« konzentriert. Erst die Mühe, die er auf sie verwandte, umgab sie, wie Valéry es ausdrückt, mit einer »Art von Unendlichkeit« – was er sinngemäß auch über Stéphane Mallarmé sagte, den zweiten Virtuosen, in dessen Bann er in diesen Jahren geriet: So wie Degas’ Tänzerinnen und weibliche Akte, die ihn berühmt gemacht haben, für ein künstlerisches Universum stehen, bewegt sich Mallarmés Spiel mit den sich überlagernden Bedeutungsebenen in einem absolut gesetzten System von Worten, in dem sich die magischen Abgründe der Sprache öffnen.
In biographischer Hinsicht klingen bereits im »Abend mit Monsieur Teste« Möglichkeiten der Selbstbefreiung an, die Valéry wenig später praktisch umsetzt. Seine literarischen Ambitionen treten mehr und mehr in den Hintergrund, für viele Jahre wird die Beschäftigung mit Philosophie, Sprachanalyse und den empirischen Wissenschaften für ihn bestimmend.
Es scheint ihm in dieser Zeit geradezu lästig zu sein, auf seine frühen Erfolge als Lyriker angesprochen zu werden – etwa auf sein Gedicht »Narcisse parle«, »Narziß spricht«, das den antiken Mythos in einen magischen Moment in der Abenddämmerung einbettet. Andeutungen lassen den Schluß zu, daß er die Beziehung zu Mallarmé, der ein literarischer Mentor für ihn wurde, als belastend empfunden hat. Gerade zu Beginn, sagt Valéry, habe ihm die Literatur »fast nichts mehr« bedeutet. Lesen und Schreiben habe er mit einer Unlust betrieben, die ihn nie wieder ganz verließ. In seinen Erinnerungen findet sich auch der Hinweis, es sei entmutigend, »inmitten soeben entstandener Meisterwerke geboren zu werden«, einer vom Glück begünstigten Dichtergeneration folgen zu müssen – wobei er auf die Antipoden Mallarmé und Verlaine anspielt.
1892 erlebt Valéry während eines Aufenthalts in Genua eine nächtliche Krise, die weitreichende Folgen hat. Was in dieser Oktobernacht geschah, wissen wir nur aus einigen kurzen Notizen:
»Entsetzliche Nacht. Auf dem Bett sitzend verbracht. Überall Gewitter. Bei jedem Blitz blendende Helle in meinem Zimmer. Und mein ganzes Schicksal spielte sich in meinem Kopf ab. Ich bin zwischen mir und mir... Ich fühlte mich als ein anderer heute morgen. Aber – sich als ein anderer fühlen – kann nicht von Dauer sein – sei es, daß man sich zurückverwandelt und der frühere den Sieg davonträgt, oder daß der neue Mensch den früheren absorbiert und zunichte macht.«
Valéry hat die Geschehnisse dieser Nacht als eine Art Doppelgänger-Erlebnis eingestuft. Ein Gefühl der Fremdheit sich selbst gegenüber beherrschte ihn, begleitet von der anhaltenden Verwunderung darüber, gerade diesen Körper, dieses individuelle Leben zu besitzen. Die »Nacht von Genua« hinterläßt tiefe Spuren, die psychischen Vorgänge von damals wiederholen sich noch oft, sie bleiben beunruhigend, wenn sie ihn auch nicht mehr erschrecken.
Valéry zieht daraus eine Konsequenz: Ab 1894 macht er es sich zur Gewohnheit, so früh aufzustehen, daß er vor Tagesbeginn Zeit für Notizen und Reflexionen findet – wenn der eben erwachte Geist noch nicht von den Aufgaben des Tages absorbiert ist, die Einstimmung auf das tägliche Rollenspiel noch nicht erfolgt ist. »Das sind zwei oder drei Stunden innerer Manöver, die ich physiologisch brauche«, bemerkt Valéry dazu. »Wird dieses Bedürfnis durchkreuzt, ist mir mein ganzer Tag verdorben, ich fühle mich nicht mehr... Ans Aufschreiben dessen, was ich veröffentlichen muß, mache ich mich erst nach dieser Zeit, die ich mir gewähre oder besser, die ich dem Zufall der Eingebungen des Geistes überlasse...«
Tag für Tag begibt sich Valéry als erstes an die Grenzen dessen, was sich über den Menschen, sein Gehirn, seinen Körper, seine Orientierung in Raum und Zeit sagen läßt. Wie sein Vorbild, der Mathematiker Poincaré, sucht er seinen Weg abseits der damals vorherrschenden Überzeugung von der totalen Determiniertheit physikalischer Prozesse. Er betreibt eine breitgefächerte wissenschaftsphilosophische Grundlagenforschung und fragt nach Sinn und Wert der Naturgesetze ebenso wie nach dem Verhältnis von Sprache und Denken, Selbstsein und Welt. Alles, was Geist und Sprache lehren können, so seine Überzeugung, kommt durch den Bezug auf etwas anderes, außerhalb Liegendes zustande, das weder Geist noch Sprache ist – eine physikalische Realität, die nur durch präzises Beobachten erkannt werden kann. Valérys analytischer Zugriff, seine Fähigkeit, im scheinbar Disparaten das Gesetzmäßige zu erkennen und zu formulieren, war bekannt und wurde gelegentlich von jungen Wissenschaftlern genutzt – wie von dem Neurologen Ludo von Bogaert, der ihn in den zwanziger Jahren häufig frühmorgens aufsuchte, wenn Valéry die Arbeit an den »Cahiers« gerade beendet hatte.
[...]
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Alfons von Liguori (1696–1787), S. 593 Leseprobe
Szentkuthy, Miklós
Marginalien zu Casanova
Alfons von Liguori (1696–1787)
Der Heilige Alfons starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch das Schreiben hatte man ihm, nachdem er unzählige Bücher und Briefe verfaßt hatte, aus gesundheitlichen Gründen bereits als Dreiundachtzigjährigem verboten; zwar gab es nichts, das ihm leichter gefallen wäre als das Formulieren, nie mußte er auch nur das Geringste korrigieren, Gedanken und Gefühle prasselten nur so aus ihm heraus, mal im schlichten, mal im barocken Stil, wie unablässiger Regen, doch hinter seinem unvergleichlichen Stilempfinden tobten große Leidenschaften, Gefühle der Trauer und der Freude über Gottes Schicksal, die Seele und den unenträtselbaren Körper des Menschen, das Ziel der Geschichte oder deren inakzeptable Ziellosigkeit. Scholastik, Freudsche Entdeckungen, Marxsche Beobachtungen, existentialistische Verzweiflung zerrissen förmlich seinen Körper und seine Seele, wie das geflügelte Biest des Schicksals die Leber des Prometheus, er war voller Ungeduld und Angst, die seine Beine zittern ließen und seinen Verstand in Schwindel versetzten, Angst, es könnte bald zu spät sein, das Summa summarum seines Gottesporträts, seiner Geschichtsbeobachtung und seiner Untersuchung über Natur und Seele zu Papier zu bringen. Und gerade, als seine Lieblingsthemen im schwankenden Verhältnis der Fragen und Antworten zu einer endgültigen Reife gelangt waren, verbot man ihm das Schreiben.
Diese gutgemeinte hygienische Maßnahme wurde ihm von mehreren Seiten nahe gelegt: einmal fütterte er eine Taube aus einer Konservendose auf dem Fenstersims seiner Zelle, aber die Taube wollte gar nicht essen, sie setzte sich auf seine Schulter, und Alfons, in sündiger Unbescheidenheit, glaubte, der Heilige Geist in persona sei gekommen, um ihm als Muse Inspiration einzuhauchen – das mit dem Heiligen Geist wäre auch kein Problem gewesen, nur war er nicht gekommen, ihn zu inspirieren, sondern um mit seinem Schnabel nach Alfonsens Schreibfeder zu schnappen und zwischen den Laubkronen des Klostergartens hindurchfliegend diese wie einen Silberpfeil der Venus den tanzenden Jungfrauen des katholischen Parnaß’ als Geschenk darzubringen. Ein anderes Mal erschien ein halbes Kardinalskollegium in seinem eisgrauen Studio, lauter lila Oberbischöfe (eng aneinandergedrängt, wie verwelkte, aber immer noch geliebte Blumensträuße oder Tulpen im Eisschrank auf dem Flur), um ihm das Schreiben zu verbieten, aber das waren eher scharlachfarbene Tartuffes: nicht Alfonsens Gesundheit interessierte sie, sondern seine politisch gefährlichen Thesen – natürlich hatten sie auch verkleidete Doktoren mitgebracht, die den gesammelten Blödsinn langer Zeitalter aufzählten – sie schlugen ohnehin vor, Alfons zu exkommunizieren (nicht einmal therapeutischer Weitblick wirkte hier, wie man sehen kann), denn er beschäftigte sich mit den phantastischsten Eigenschaften des gesamten Körpers und der tiefsten Seele, und Körper wie Seele standen (ihrer Meinung nach) gänzlich außerhalb der philosophisch umgrenzten Kreise der Medicina.
Alfons hatte auch bemerkt, daß die besondere geistige Anspannung in seinem Organismus späte Versuchungen hervorrief, in seiner Phantasie erblühten wie in tausendundeiner Nacht Sünden aus vor langer Zeit abgelegten Beichten, die Erinnerungen der Jugend erschienen ihm wie die gesunden Pickel einer krankhaften Pubertät auf seiner Seele, so daß der (wie gemeine Lexikonschreiber es auszudrücken pflegen) »Beichtvater aller Beichtväter« selbst zur Beichte ging. Aber keiner traute sich diese sancta operatio durchzuführen, bis er schließlich – daß ihm das bis dahin nicht eingefallen war! – mit gesenktem Kopf, das Kinn an die Brust angewachsen, zu einem seiner größten Feinde ging, der sich voll luziferischer oder hades-kasernenhafter Wollust die Sünden des alten Alfons anhörte und ihm mit unbeschreiblicher Freude das Schreiben verbot. Da er sich »in diesem speziellen und typischen Fall« nicht durch das Beichtgeheimnis gebunden sah, zerrissen sich bald die Höflinge in den Spiegelpalästen des Königs von Neapel in geistlosen Klischee-Witzen das Maul über den alten exhibitionistischen Satyr.
Als er noch schreiben durfte, wurde sein Kopf so heiß und schmerzte so sehr, und es schwindelte ihn dermaßen (möge der Teufel diese gar nicht so seltene Verbindung aus glänzender raison und allen möglichen gemeinen Morbiditäten holen), daß er sich eine gekühlte Marmorplatte gegen die linke Schläfe drücken mußte, mit Hilfe einer Konstruktion, die eine Nonne ersonnen hatte. Die Platte hatte er aus der prunkvollen Antikensammlung Papst Benedikts XIV. erhalten, sie stammte aus einer antiken Villa und stellte jene Szene dar, in der Orpheus seine Frau in der Unterwelt zurücklassen muß – jeder Gedanke eines Denkers ist eine Frau, die er für immer in der Unterwelt zurücklassen muß –, es versteht sich von selbst, daß Alfons seinen Kopf nicht an die Seite mit dem Relief preßte. Im übrigen besaß er mehrere dieser schläfenkühlenden Marmorplatten, und als er sie (nachdem ihm das Schreiben verboten worden war) in einer Ecke übereinander stapelte, meditierte er über jede einzelne, auf gehörige symbolische Weise, wie es sich für einen Philosophen und Dichter geziemte und wie man es auch von Kachelofensetzern erwarten kann, und änderte das zu Ändernde: Als er dies getan hatte, trotzte er brummend der diebischen Taube, dem aus Kardinälen bestehenden politischen Wanderzirkus und dem zynischen Verleumder und sagte wie ein echter Römer: »Leben muß man nicht, schreiben muß man.« Er ließ eine sehr alte und sehr intellektuelle »Nonne« kommen (bis hierher ist die Charakterzeichnung recht erschreckend), aus der jedoch die himmlische und die irdische Liebe und »heilig-sexy« Züge quasi an engelhaften Linealen entlang strahlten und – Psst! Psst! Psst! – diktierte ihr in einer Waldkapelle in großer Heimlichkeit, und zwar keineswegs irgendeine wahre oder verlogen-schäbige Boccaccio-Novelle, davon konnte gar keine Rede sein, soll es auch nicht. Obwohl, etwas gab es da schon … aber nicht in dem eben angedeuteten Sinne. Und dieses »Etwas« war Folgendes (unsere Geschichte zielt nicht auf eine Pointe ab, wir können also getrost das Ende mehrerer Romane verraten): Diese Nonne war keine andere als jene Prinzessin, die Alfonsens Vater »vor hundert Jahren« für seinen Sohn als Frau auserwählt hatte. Aus der Heirat wurde allerdings nichts, wie wir gleich sehen werden, und die Prinzessin wurde zu seiner erbitterten Feindin (der Grund dafür war vermutlich am wenigsten Eifersucht), und nun war sie wieder da, eine falsche Nonne in falschen Kleidern, aber die verlorene Zeit, »le temps perdu«, war ihre beste Maskerade. Ihr also diktierte Alfons seine Erinnerungen, aus denen der hier vorliegende Abriß erstellt wurde.
Alfons und Casanova lebten, wenn mein greiser Kopf wie gewöhnlich nicht wieder schlechtmöglichst rechnet, zweiunddreißig Jahre parallel. Als Casanova geboren wurde, war Alfons bereits neunundzwanzig Jahre alt – nach Alfonsens Tod lebte Casanova noch elf Jahre. In Italien trafen sie unter den unterschiedlichsten Umständen aufeinander, die Erinnerungen des einen gingen oft im Kopf des anderen herum, und wenn dies auch nicht immer so geschah, wie das Brevier das verlangte, werden wir eben im Dienste der symbolischen Lehre die Jahre ein wenig vor und zurückschieben. Das hat weder etwas mit historischen Irrtümern zu tun, noch mit billigem Kommerz-Anachronismus, noch mit Lügen – wie auch der weitfliegende, verschwenderisch hin und her irrende Duft des Maiholunders und des Jasmins weder Lüge noch stumpfsinniges Parfümkaleidoskop sind, der Holunder selbst bleibt an seiner Stelle, als stichhaltiges Positivum (falls jemand ein Liebhaber von so etwas ist) und der umherstreifende Holunderduft ist auch in den weitest entrückten Gegenden immer noch – Holunder.
Casanova lebte im böhmischen Schloß des Grafen Waldstein, in Dux, zwischen 1785 und 1798 als »Hof«-Bibliothekar, das waren die letzten dreizehn Jahre seines Lebens, vom sechzigsten Lebensjahr bis zu seinem Tode. Er war zu Recht Bibliothekar, denn wie ihr aus der unten folgenden heiligen Lektüre ersehen könnt, war Casanova (natürlich mit einer gewissen Sankt-Orpheischen Übertreibung) ein Intellektueller des 18. Jahrhunderts: viel interessanter denn als sexuell und sonstwie ausgerichteter Chamäleon-Abenteurer. Daß der Graf wiederum nicht ausschließlich vom Geschichtenschreiber, Philosophen und Mathematiker Casanova angezogen war, kann man gleichfalls annehmen. Einsam war er durchaus, er arbeitete an seinen Memoiren, vieles schrieb er nie auf, auch vom Geschriebenen ging die Hälfte verloren – der akademische Historismus benutzt diese Passagen gerne als Säulenfüße für breitkrempige Thesen, was sich natürlich fundamental von unserer Methode unterscheidet. Nun geht er auf die siebzig zu. Die Bibliothek besteht teilweise aus riesigen barocken Kirchenschiffen, Theater- und Ballsälen mit sich schlängelnden Balkonen, bis zum Himmel reichenden Fenstern mit Blick zum Park, zentnerschweren Samtvorhängen, die sich wie aus Füllhörnern ergießen, und fliegenden Deckenfresken mit einer Mixtur aus theologischen und mythologischen Motiven – die Bücher sind fast unsichtbar, sie ähneln winzigen Orgeln oder Panflöten hinter Seifenblasen-Glastüren. Andererseits besteht die Bibliothek aus intimen kleinen Boudoirs, lustvollen Tête-à-tête-Zimmern des Geistes, statt Wänden sieht man nur das üppige Funkeln der Bücher. Letztere erinnerten Casanova an die Liebe, erstere an Thronsäle im Vatikan oder bei Kaiserinnen. Er arbeitet gerade in einem großen Saal, bei enormer Hitze, mit freiem Oberkörper, doch zwischen den perlenden Schweißtropfen trägt er den Orden vom Goldenen Sporn um den Hals. (Wurde dieser auch ursprünglich um den Hals getragen? Was interessierte ihn das, den alt gewordenen Eremiten in seinem Versailler Spiegelsaal?) Den goldenen Sporn hatte er vom Papst bekommen, und er ist für das Brevier deswegen wichtig, weil auf dem Orden neben dem Malteser Kreuz und dem Sadismus symbolisierenden Sporn auch das Bildnis des Heiligen Silvester I. zu sehen ist – seine Biographie wiederum wird zu Beginn des siebten Kapitels unseres Gebetsbuchs zu lesen sein. Casanova interessierte sich unter Voltaireschen Gesichtspunkten für den Heiligen Papst Silvester, denn dieser wurde (im 4. Jahrhundert) beinahe vom Schlag getroffen und wie ein Batzen Lehm gegen die bronzene Tür der Peterskirche geschleudert (sie war schön grün angemalt), als er sah, daß die Heilige Kaiserin Helena, die das Kreuz Christi zurückerobert hatte, während ihrer langen Reise durch den Orient beinahe zur bekennenden Jüdin geworden war und Europas Glauben auf diese Weise um ein Haar der jüdische geworden wäre und die Peterskirche zu einer Synagoge. Casanova wünschte in der Hitze nicht zu lange über die Alternativen Vorsehung oder Nonsens nachzusinnen, er betrachtete lieber jenes schöne, in die Wand eingelassene Marmorrelief, das er vom Kardinal Aquariva geschenkt bekommen hatte, zusammen mit einem prächtigen Amt, doch aus letzterem war er schon am nächsten Tag entlassen worden, und zwar wegen der Ungehörigkeit seiner routinemäßigen Vergnügungen, die er während der Einweihung des Reliefs begangen hatte.
Das Relief wird im Katalog des Grafen Waldstein (den Casanova aufs sorgfältigste überarbeitet und kommentiert hatte) unter dem Titel »Musikalische Unterhaltung « geführt, dabei verbergen sich darin neben hellenistischem Rokoko-Charme die ältesten Mythen über den Tod und die Orgien, von denen Alfons in seinem tiefenpsychologischen, für Beichtväter gedachten Werk »Theologia Moralis« geschrieben hatte, sie seien in Menschen, in Kindern, in geheimnisvollen Tieren und mysteriösen Blumen, bei Urvölkern, ja sogar in katholischen Riten und selbst den höfischen Etiketten heute noch spielend leicht aufzuspüren – von den sogenannten Neurotikern ganz zu schweigen –, sie leben fort und sind nur hinter spinnwebdünnen Leichentüchern oder verlogenen Eisenmasken verborgen.
Auf dem Relief ist ein intimes Bacchanal dargestellt – mit einem Bett, einem beieinanderliegenden Paar, einer Hetäre mit Mandoline, einem homosexuellen Leier-Gott in der unmißverständlichen Pose eines käuflichen Jünglings, ein neapolitanischer Zitronen-Zyniker, mit einer beinahe die Schönheit von Büstenhaltern erreichenden Brust. Casanova brach in Lachen aus, als er seinen kommentierten Katalog über die Interpretationen der antiken Welt schrieb, die totgeborene Wiederbelebung derselben in verschiedenen Epochen Europas, von der Zirkus-Renaissance über die Nervenkranken-Romantik, das puritanische Moralisieren bis zur biedermeierhaft-bourgeoisen Psychoanalyse. Die annehmbarste Form des Epigonentums fand er in einigen Wasserspeiern gotischer Kathedralen und in der manieristischen Rokoko-Kunst seines eigenen Jahrhunderts, obwohl ihn die ewige ungeschickte Gegenüberstellung von Kunst, Religions-Vergleich, Mythos und Rationalismus »en gros« langweilte (Wen nicht? Wann nicht? Wo nicht?).
[…]
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
SINN UND FORM 3/2015, S. 322-334, hier S. 322-326
Szentkuthy, Nikolaus
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Manns Joseph-Geschichten
Szerdahelyi, István
- 2/1976 | Brief aus Budapest
Szewc, Piotr
- 5/2019 | »Den Glauben habe ich früh verloren«. Gespräch mit Julian Stryjkowski
Szigeti, László
- 2/2019 | Taschentuchtricks. Ein Interview-Roman (1987/ 1990). Zusammen mit Bohumil Hrabal
Szlosarek, Artur
- 6/2007 | Gespräch mit Bernhard Hartmann
- 6/2007 | Gedichte
- 5/2020 | Kafka und die Puppe. Prosa und Gedichte
Sznurkowski, Przemyslaw
- 5/2015 | »Wo Juden sind, entsteht auch
Literatur«. Gespräch mit Chaim Noll, S. 657 Leseprobe
Sznurkowski, Przemysław
»Wo Juden sind, entsteht auch Literatur«. Gespräch mit Chaim Noll
PRZEMYSŁAW SZNURKOWSKI: Sie zeichnen in Ihren Büchern ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft. Besonders in Ihrem 2014 erschienenen Roman »Die Synagoge« lernt man Sie als aufmerksamen Beobachter der politischen Ereignisse und sozialen Zustände in Israel, vor allem aber auch als kritischen Bürger kennen.
CHAIM NOLL: Kritik gilt hier in Israel als etwas vollkommen Normales. In Deutschland neigt man dazu, Konsens auf allen Gebieten herzustellen, man ist bemüht, möglichst immer einer Meinung zu sein, bis zur bösen Einheitlichkeit, die alle anderen Meinungen unterdrückt und totschweigt. So etwas ist hier unvorstellbar. Wenn man nach Israel kommt, dauert es einige Tage, bis man sich daran gewöhnt hat, daß hier jeder alles möglichst laut und möglichst zugespitzt zum Ausdruck bringt. Sonst wird man nicht wahrgenommen. Aber dieses auf den ersten Blick Verwirrende und Chaotische hat für Intellektuelle große Vorteile. Es ist ja das, was uns am meisten interessiert: Wie gebe ich meinen Gedanken Ausdruck? In der israelischen Gesellschaft kann ich sagen, was ich denke, und es wird immer jemanden geben, der das für einen bedenkenswerten Aspekt hält.
SZNURKOWSKI: Einer der wichtigsten Protagonisten Ihres Romans ist Holly, ein junger Mann, der gegen die Gesellschaft revoltiert. Er blickt ganz anders auf die Welt als die Generation seiner Eltern, er hält die Sicherheit Israels für gefährdet und steht der Politik des Landes ablehnend gegenüber. Sie haben ihn als typischen Außenseiter geschildert, der antisemitische Haltungen vertritt und sogar eine Freveltat begeht, indem er eine Tora-Rolle verbrennt.
NOLL: Außenseiter sind in der jüdischen Gesellschaft nichts Besonderes. Im Grunde sind wir alle Außenseiter. Die Toleranz gegenüber charakterlichen Eigenheiten oder Absonderlichkeiten ist unter Juden traditionell groß. Deshalb läßt die Gemeinschaft des Wüstenortes, in dem Holly lebt, ihn weitgehend tun und lassen, was er will. Bis zu einem bestimmten Punkt. Es gibt immer wieder Juden, die dem Judentum ablehnend, sogar feindlich gegenüberstehen. Wir kennen solche Fälle seit der Antike. Der Stratege der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70, der Generalstabschef von Kaiser Titus, war Tiberius Julius Alexander, ein alexandrinischer Jude, der in Rom erzogen worden und vom Judentum abgekommen war. Sein Vater hatte noch zu den Förderern des Tempels gehört.
SZNURKOWSKI: Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, daß die Wüste, die den Hintergrund der Handlung bildet, Sie außerordentlich fasziniert. Sie wird eindrücklich geschildert, manche Ihrer Figuren sind Wüstenforscher. Hatten Sie damit eine Art Huldigung an die Leute beabsichtigt, die dort leben?
NOLL: Wenn Sie den Roman als Huldigung an die Bewohner des Wüstenortes empfinden, freut mich das. Es sind Menschen, die sich aus Idealismus einer extremen Situation aussetzen. Sie beschäftigen sich mit einem Wissenschaftszweig, den vor zwanzig Jahren noch niemand ernst genommen hat. Inzwischen wissen wir: Die Erde befindet sich schon seit Jahrzehnten im Zustand der Desertifikation, wir leben in einem Prozeß der Versteppung der Erdoberfläche, zurückgehender Wälder, Erosion, Abgrasung der Steppen, ein jährlicher weltweiter Verlust an landwirtschaftlicher Anbaufläche von der Größe Deutschlands. Es muß etwas geschehen. Die Wüstenforschung hat sich zu einer bedeutenden Wissenschaft entwickelt. Viele von Desertifikation bedrohte Länder haben ihre Beziehungen zu Israel verbessert, weil sie an den hier gewonnenen Erfahrungen teilhaben wollen. Sie schicken ihre Studenten in die Wüste Negev, damit sie lernen, wie man in einem solchen Gebiet zivilisatorische Strukturen aufbauen, wie man ein Wüste gewordenes Land revitalisieren und landwirtschaftlich erschließen kann. Das sind die Fragen, mit denen sich diese Leute seit Jahrzehnten beschäftigen, unter Entbehrungen, improvisiert, mit wenig Geld. Der Ort wurde lange Zeit stiefmütterlich behandelt, obwohl Ben Gurion die Bedeutung der Wüstenforschung erkannt und dort draußen mit amerikanischen Sponsoren Institute gegründet hat. Inzwischen sind das weltbekannte Einrichtungen mit üppigen Forschungsetats. Die Zahl der Studenten hat sich verfünffacht, der Ort ist ein anderer geworden. In gewisser Weise ist es ein historischer Roman: Das Milieu, das ich beschreibe, gibt es so nicht mehr. Die meisten Bewohner sind zwar nicht im traditionellen jüdischen Sinn religiös, aber doch so spirituell, daß sie ihr Leben einer höheren Bestimmung widmen als dem Gelderwerb und der Karriere. Trotz aller Kontroversen sind sie sich einig, daß das, was sie zusammen machen, eine gute Sache ist, daß man Opfer bringen muß. Das ist vielleicht das Geheimnis der israelischen Gesellschaft überhaupt.
SZNURKOWSKI: Haben Sie sich auch über den Roman hinaus mit der Wüste als literarisches Phänomen befaßt?
NOLL: Ich arbeite seit zwanzig Jahren an einem Buch über die Literatur der Wüste. Das ist eines der Projekte, mit denen ich noch nicht fertig bin. Es gibt unendlich viel Material über all die Aspekte, unter denen die Wüste wahrgenommen worden ist. Einiges habe ich inzwischen in Zeitschriften veröffentlicht, zum Beispiel den Essay »Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft« in »Sinn und Form« und eine englische Fassung in der Zeitschrift des Internationalen PEN. Oder einen Aufsatz über T. S. Eliots »The Waste Land«, das den Topos nicht real als Sandwüste, sondern als Zustand des menschlichen Lebens behandelt. Das hat auch viele andere Autoren fasziniert. Wüste als Metapher oder Realität ist ein ewiges Thema der Literatur. Mich beschäftigt die Frage, welche Rolle die Wüste in unserem Bewußtsein oder Unterbewußtsein spielt. Wie ist es zum Beispiel zu erklären, daß Autoren, die nie in einer Wüste waren, anschaulich darüber schreiben konnten? Etwa Wilhelm Hauff in seinem Erzählzyklus »Die Karawane«. Oder Balzac in seiner wunderbaren Novelle »Leidenschaft in der Wüste« – auch er hat nie im Leben eine Wüste gesehen. Trotzdem war er imstande, die Einsamkeit dort genau zu schildern.
SZNURKOWSKI: In Ihrem Roman schreiben Sie über das Verhältnis der Israelis zu den deutschen Einwanderern. Eine Figur beispielsweise »schmerzte es, täglich die verhaßte Sprache zu hören«, »ein hartes, böses Gezisch«, »wie militärische Kommandos klingende Ausrufe«. Wie werden die deutschen Juden heutzutage in Israel wahrgenommen? Hört man Deutsch häufig im Alltag?
NOLL: Die Einstellung zur deutschen Sprache hat sich stark verändert. Es hat damit zu tun, daß sich auch die Beziehung zu Deutschland verändert hat. Das liegt zu einem guten Teil an den Deutschen selbst, die nach der Shoah in sich gegangen sind und versucht haben, ihre Vergangenheit kritisch zu betrachten und aufzuarbeiten. Das war auch mit einer gewissen Hinwendung zur jüdischen Kultur und Literatur verbunden. Als wir vor zwanzig Jahren nach Israel kamen, war die deutsche Sprache hierzulande weitgehend verachtet. Als wäre sie schuld an dem, was in der Nazi-Zeit geschehen ist. Ich habe diesen Widerwillen nie verstanden. Es schien mir vollkommen unsinnig, die verständliche Aversion gegen das Land ausgerechnet an der Sprache abzureagieren. Deswegen habe ich auch das Deutschverbot in der frühen Kibbuz-Kultur nicht begriffen. Familien, die aus dem deutschen Sprachraum kamen, haben ihre Kinder daran gehindert, ihnen regelrecht verboten, die Sprache ihrer Eltern zu lernen. Als wir in den Süden kamen, gab es kaum deutschsprachige Lehrer an der Universität, man konnte nicht einmal die Gründerliteratur des Landes studieren. In Sde Boker befindet sich das Ben-Gurion-Nachlaß-Institut. Dort liegen zahlreiche auf deutsch geschriebene Dokumente, denn viele der frühen Zionisten waren deutschsprachig, nicht nur Theodor Herzl, sondern auch Leute wie der Botaniker Warburg, die sich mit technischen und landwirtschaftlichen Fragen beschäftigten. Wir haben an der Universität gegen große Widerstände ein deutschsprachiges Programm gegründet, einer unserer Studenten ist ans Ben-Gurion-Nachlaß-Institut gegangen, um die Korrespondenz zu sichten. Sie war seit Jahrzehnten unbearbeitet, weil von den Historikern des Instituts keiner Deutsch lesen konnte. Dabei waren es oft Kinder deutscher Einwanderer. Ich habe vom ersten Tag an gesagt: Was wir hier brauchen, sind möglichst viele Sprachen. 1997 bin ich von der Universität in Beer Sheva eingeladen worden, an einem Programm für deutschsprachige Studenten mitzuarbeiten. Wir haben dazu in der Wüste Negev ein Studienzentrum gegründet, was damals noch abwegig schien. Ich kann mich erinnern, daß Leute von der Straße in den Hörsaal kamen, um zu protestieren. Eine Frau lief nach vorn und rief: »Ich will hier im Land kein Deutsch hören!« So war die Stimmung damals. Doch davon ist nichts geblieben, höchstens bei sehr alten Leuten. Wenn ich heute auf der Straße Deutsch rede, mit Freunden oder weil ich mit meiner Frau oder Tochter telefoniere, sprechen mich oft junge Leute an und sagen mir, daß sie sich freuen, hier in Beer Sheva Deutsch zu hören. Daß sie diese Sprache lernen, weil ihre Großeltern Deutsch gesprochen haben oder weil sie eine Weile in Deutschland leben wollen. Es ist erstaunlich, wie sich das gewandelt hat.
SZNURKOWSKI: Auch bei Ihnen gab es eine Phase der Abwendung von der deutschen Sprache.
NOLL: Ich habe erst 2000 wieder auf deutsch geschrieben, und zwar den Roman »Der Kitharaspieler«. Eine historische Geschichte, die im 1. Jahrhundert im alten Rom spielt. Ich habe versucht, das Buch in einer antikisierenden Sprache zu schreiben, und das konnte ich nur auf deutsch. Als wir nach Israel kamen, hatte ich eine starke Aversion gegen das Land, aus dem wir weggegangen waren. Meine Frau war seit 1994 nicht mehr in Deutschland. Ich fliege inzwischen regelmäßig hin, aber zunächst war auch ich zehn Jahre nicht dort. Unsere Bemühungen an der Universität, die deutsche Sprache wieder ins israelische Leben einzuführen, die Begegnungen mit den Studenten, die veränderte Haltung der israelischen Jugend – all das hat mich zur deutschen Sprache zurückgebracht. Auch als Schreibsprache. Heute bin ich froh darüber. Ich stehe in jener Lücke der deutsch-jüdischen Literatur, die durch die Shoah entstanden ist. Jemand muß die Stellung halten. Und es wird wieder viele deutsch-jüdische Autoren geben, denn inzwischen gibt es wieder viele Juden in Deutschland, und wo Juden sind, entsteht auch Literatur. Ich habe als Kind die Bücher der großen deutschsprachigen jüdischen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelesen. Ein gewaltiges Erbe. Irgendwann habe ich begriffen, daß ich selbst in dieser Tradition stehe, und dann natürlich auch in der Sprache, in der ich aufgewachsen bin und in der diese Literatur lebte. Und hoffentlich fortbesteht.
SZNURKOWSKI: Ihr Roman »Die Synagoge« ist auch eine Auseinandersetzung mit nationaler und religiöser Identität. So sagt etwa die Figur Abi, daß er – im Gegensatz zu Heine – kein Problem damit habe, Jude zu sein. »Jude sein ist die wunderbarste Sache der Welt.«
NOLL: Für mich ist Judentum nicht nur eine Religion, sondern eine über mehrere Jahrtausende gewachsene Lebenshaltung, die weit über das Religiöse hin ausgeht. Sie hat zu einer besonderen Form des Menschseins geführt, zu besonderen Ausprägungen, besonderen Fähigkeiten, allerdings auch zu besonderen Schwächen. Wenn mein Protagonist sagt, für ihn sei es die wunderbarste Sache der Welt, Jude zu sein, dann heißt das nicht, daß auch alle anderen Menschen das so sehen, nicht mal alle Juden. Es gibt Juden, die nicht glücklich darüber sind, Jude zu sein, was ich persönlich nicht verstehen kann. Es gibt Menschen, die offen sagen, es bedeute ihnen nichts, es sei ihnen zu kompliziert. Ein Jude trägt immer mehrere Jahrtausende Geschichte mit sich herum. Daher das ständige Lernen und Studieren, auch in Form ritueller Handlungen, am Seder-Abend oder beim Laubhüttenfest. Jüdische Kinder wachsen im Bewußtsein einer uralten Vorgeschichte auf, einer starken Verbundenheit mit frühesten Menschheitskulturen. Sie erwerben Kenntnisse, die man anderswo an der Universität studieren muß. Biblische Geschichte ist Volks- und Landesgeschichte, dazu gehört auch Babylonien, das alte Ägypten, Griechenland, Rom. Um zu verstehen, was es heißt, Jude zu sein, muß ich tief in der Geschichte verwurzelt sein, daher unsere geradezu manische Erinnerungskultur. Wir leben zu einem großen Teil in der Erinnerung. Das macht uns allerdings nicht rückwärtsgewandt, sondern ist das Potential für die Fähigkeit, die Zukunft zu erkennen und mit der Gegenwart zurechtzukommen. Wenn man Jahrtausende im Bewußtsein hat, auch die Katastrophen, die Fehlentwicklungen, die Niedergänge, ist man natürlich im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Lebens viel erfahrener als andere Völker, die zum Vergessen und Verdrängen neigen. Das ist der zweite Gesichtspunkt, der die Juden auszeichnet: Sie haben eine ungeheure Erfahrung im Überwinden katastrophaler Situationen. Ich habe vor Jahren in einem Interview gesagt, Juden seien geborene Spezialisten für den Katastrophenschutz. Für das Überleben hoffnungslos scheinender Situationen. Das kann kein anderes Volk so gut wie wir.
SINN UND FORM 5/2015, S. 657-667, hier S. 657-661
Szymanski, Rolf
- 1/1992 | Gespräch mit Kathleen Krenzlin und Angela Lammert
Szymborska, Wisława
Szyrocki, Marian
- 6/1955 | Der junge Opitz