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p'Bitek, Okot
- 3/1981 | Afrikanische Tierfabeln
Padel, Ruth
Palaver, Wolfgang
- 6/2001 | Gespräch mit René Girard
- 4/2007 | Gespräch mit René Girard, S. 454 Leseprobe
Palaver, Wolfgang
GESPRÄCH MIT RENÉ GIRARD
WOLFGANG PALAVER: Das Verhältnis von Monotheismus und Gewalt interessiert viele Menschen. Aber bevor wir auf dieses Phänomen unserer Zeit näher eingehen, möchte ich Sie fragen, wie Sie in Ihrer mimetischen Theorie zwischen Heidentum und biblischem Monotheismus unterscheiden.
RENÉ GIRARD: Das ist gar nicht so einfach, weil es dabei wesentlich auf die Interpretation des Sündenbock-Phänomens ankommt, das für archaische Religionen genauso wichtig ist wie für das Christentum. In heidnischen oder archaischen Religionen, die im Grunde nahezu identisch sind, und natürlich im Polytheismus, wird es vom Standpunkt des Mobs interpretiert. Wird das Phänomen hingegen zutreffend als Gewalt, als nicht zu rechtfertigende Gewalt des Mobs gegen einen unschuldigen Sündenbock interpretiert, befinden wir uns in der Sphäre des Christentums, in der Sphäre der Bibel. Für mich gibt es nur einen Monotheismus, den jüdischen, der im Christentum und im Islam wiederkehrt. Ich denke nicht, daß man noch einen zweiten Monotheismus entdecken wird, und auch nicht, daß er eine »Entdeckung« ist. In gewisser Weise sind alle Sündenbock-Religionen verirrte Ahnungen von Monotheismus, das Unvermögen, den einen, einzigen Gott zu erreichen, das unweigerlich zu einer Vielzahl von Göttern der Gewalt führt. Doch obwohl diese Götter der Gewalt das extreme Gegenteil des Gottes des Friedens darstellen, stehen sie ihm auch positiv gegenüber, was doch recht seltsam ist.
PALAVER: Hatten Sie das im Sinn, als Sie in Ihrem Beitrag zur Festschrift für Raymund Schwager von der paradoxen Einheit aller Religionen sprachen?
GIRARD: Ja, es gibt eine paradoxe Einheit aller Religionen, das kann man sagen, auch wenn es nicht ungefährlich ist – und ich sage es auch nur im kleinen Kreis. Die mimetische Theorie will alle Formen der Religion erklären, eben weil sie alle vom wahren Monotheismus abhängen, der durch die endgültige Lösung des Sündenbock-Rätsels vollendet wurde: durch die Passion Christi.
PALAVER: Vielleicht finden wir in dieser Richtung einen Ansatz, der uns hilft, eine wichtige Einsicht aus der frühen Phase Ihrer Theorie zu präzisieren, wo Sie mit einer relativ strengen Unterscheidung zwischen Heidentum und biblischer Religion operieren. Beim Lesen Ihres Werkes, hatte ich den Eindruck, Sie meinten bereits damals, daß sich sogar jene Religionen nach Frieden sehnen, die dem Sündenbock-Mechanismus sehr nahestehen und auf Menschenopfer beruhen.
GIRARD: Ganz gewiß. Und dadurch ermöglichen sie die Menschheit. Ohne sie würde sich die Menschheit selbst auslöschen, sobald sie eine bestimmte Stufe des mimetischen Konflikts überschreitet. Der größte Fehler der Religionstheorie der Aufklärung, auf der unsere heutigen Wissenschaften beruhen, besteht darin, in der Religion zuallererst eine intellektuelle Erklärung der Welt zu sehen. So meinte Auguste Comte, daß es drei Stufen der Welterklärung gebe. Die erste sei die Religion, völliger Unsinn. Die zweite, die Philosophie, sei nicht ganz so unsinnig, und die dritte, im 19. Jahrhundert, sei die Wissenschaft, vollkommenes Wissen. Das ist eine völlig falsche Auffassung von Religion. Die archaischen Religionen haben mit Göttern wenig zu tun, aber sehr viel mit zwei Dingen: mit Opfern und mit Verboten. Beide sind unerläßlich für das Überleben der Menschheit, und dieser Überlebenswert sozusagen rechtfertigt zeitweilige Kompromisse mit der Gewalt. Wenn Sie sich die Geschichte der Religion anschauen, sehen Sie, daß es keine endgültigen Siege gibt, sondern daß alle Religionen in gewisser Weise Siege über die Gewalttätigkeit sind. Die Opferungen sind immer weniger grausam, und auch der Kulturtypus, den sie hervorbringen, ist nicht mehr so brutal wie früher, was sich mit dem Geschehen im Mittelalter vergleichen läßt, als das Christentum die Religion an sich verkörperte. Man sollte sie also keinesfalls als negativ einstufen, aber sie auch nicht gar zu eilig definieren wollen. Mit Hegel wird man hier nicht weit kommen, weil seine Dialektik die Gewalt in der Geschichte letztlich positiv interpretiert, womit ich nicht einverstanden bin. Vom christlichen Standpunkt betrachtet, gibt es die Sünde durch die ganze Geschichte hindurch, man denke nur an den Begriff der Erbsünde. Wenn Gewalt also eine Erklärung für die Erbsünde ist, dann ist sie Teil der Offenbarung.
PALAVER: Diese friedliche Seite der heidnischen Religionen möchte ich betonen, da es uns im Gegensatz zu David Hume schwerfällt, sie zuzugeben, ohne das Faktum verdrängen, daß sie dazu der Menschenopfer bedurften. Hume, einer der ersten modernen Kritiker des Monotheismus, hat deutlich gesagt, daß es im Heidentum trotz der grausamen Riten den Geist der Toleranz gibt. In Ihrem Beitrag zu dem Band »Violent Origins« schreiben Sie, Haß und Feindschaft in heidnischen Gesellschaften seien nicht so grausam wie die derzeitigen Formen absoluter Feindschaft. Nehmen wir etwa den Begriff der Feindschaft während der beiden Weltkriege, und vergleichen wir ihn mit den verschiedenen Arten von Feindschaft in Stammesgesellschaften.
GIRARD: Ich bin mir nicht sicher, ob über die absolute Intensität – psychisch, metaphysisch und so weiter – viel zu sagen ist. Über die Waffen sicher etliches, denn sie sind die Werkzeuge des menschlichen Zorns. Es ist nicht zu übersehen, daß sie im Laufe der Geschichte immer wirkungsvoller geworden sind. Und das meinte Clausewitz, als er sagte, das militärische Potential werde immer größer, so daß es den Anschein habe, als seien alle Kriege nur ein einziger Krieg. Aber er hat das nicht in einem apokalyptischen Kontext gesehen. Denn es bestand seinerzeit keine unmittelbare Gefahr für das Überleben des Planeten; und wegen der Atombombe machte er sich auch keine Sorgen. Von Raymond Aron gibt es ein zweibändiges Werk über Clausewitz, durch das ich auf ihn aufmerksam geworden bin. Der erste Band, »Das europäische Zeitalter«, ist historisch gesehen der echte Clausewitz. Der zweite, »Das planetarische Zeitalter«, handelt von Clausewitz im Atomzeitalter. Da Aron optimistisch ist, zeugt das ganze Buch von seinem seltsamen Bemühen, sich einzureden, die nukleare Abschreckung habe Erfolg und es gebe keinen Grund zur Sorge. Deshalb werde die »Steigerung bis zum äußersten«, die sich fortsetzt und verschlimmert, die Welt nicht zerstören, denn die Menschen seien vernünftig genug, um den Atomkrieg zu vermeiden. Eigentlich beantwortet Aron immerzu ein Argument, das er vor Angst gar nicht auszusprechen wagt. Also das Buch ist schon faszinierend. Ich würde gern ein Buch über Clausewitz und Aron schreiben, um Arons Rationalismus und Optimismus zu zeigen: daß er nämlich eine These attackiert, die bei ihm gar nicht richtig vorkommt. Aber die doch vorhanden ist, denn sonst wäre sein Buch belanglos. Und man möchte Aron fragen: Warum machen Sie sich denn Sorgen? Ja, irgendwie ist das ein ganz anrührendes Buch.
PALAVER: Sie sind nicht so optimistisch?
GIRARD: Apokalyptische Erwartungen muß es geben. Die kann man nicht einfach abtun, indem man sagt, die Vernunft siegt. Wieso sollten wir eigentlich in diesem Punkt auf die Vernunft vertrauen? Das ist doch seltsam. Es ist einfach der Wunsch, das jüdisch-christliche Denken endgültig zu vertreiben. Aber den gibt es in den verschiedensten Formen, bei Aron in einer ziemlich sanften Form, die, würde ich sagen, weniger anstößig ist als das derzeitige Verdammen des Monotheismus durch Leute, die nicht einmal an Gott glauben, außer um ihn für ihre eigene Gewalttätigkeit verantwortlich zu machen. Das ist eine Karikatur des Schlimmsten, was es in der Geschichte der Religion je gab. Unsere Zeit ist von einer noch nie dagewesenen hirnlosen Arroganz; wir machen das Göttliche zum Sündenbock, einzig und allein, um es zu verunglimpfen. PALAVER: Betrachten wir einmal die eindrucksvollen Psalmen, um die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der heidnischen Religionen mit dem Beginn des biblischen Erbes zu erklären. Die Psalmen sind in mancher Hinsicht ganz außerordentlich und wohl der erste Beleg für die Einzigartigkeit der biblischen Offenbarung.
GIRARD: Die Psalmen offenbaren das Geschehen. Wie wir von Raymund Schwager wissen, gibt es in 100 der 150 Psalmen einen von Feinden umringten Erzähler. Er wird zum Sündenbock gemacht und darf, zum erstenmal in der Geschichte, gegen sein Schicksal toben. Eine völlige Umkehrung des Mythos, so wie später in den Evangelien. Und das Opfer beklagt den drohenden Lynchmord. Wir erfahren nicht, warum gelyncht wird. Aber das ist auch nicht nötig, weil die Menschen ihre Opfer zu lynchen pflegen. Die Psalmen sind die ersten Texte, in dem das Opfer und nicht der Mob zu Wort kommt. Jetzt redet das Opfer über den Mob, während bislang der Mob sich weigerte, über das Opfer zu reden, und behauptete, da draußen sei ein Gott, den wir fänden oder der uns fände und den wir anbeten müssen.
PALAVER: Sie sagen, schon die ersten biblischen Texte seien, verglichen mit den Texten der Griechen, blutiger, grausamer und von ganz unverhüllter Gewalt. Deshalb ist das biblische Erbe für viele ein Erbe der Gewalt. Sie haben die Psalmen einmal mit einem umgedrehten Fell verglichen.
GIRARD: Mit einer Tierhaut. Gesäubert und bearbeitet ist sie wunderschön, glänzend, großartig. Aber wenn man sie gleich nach dem Abziehen wie einen Handschuh umdreht, ist überall Blut. Ja, die Mythen sind wie ein Fell, daher werden sie gehegt und gepflegt. Der heutige Leser findet die Psalmen abstoßend, weil er noch die blutige Haut des Opfers sieht. Erst kürzlich habe ich diesen Vergleich auch auf die Evangelien übertragen und es möglichst spektakulär zu formulieren versucht. Leider haben die Christen die grundlegende Übereinstimmung von Mythos und Evangelien, die die Anthropologen entdeckt haben, immer zurückgewiesen. Obwohl die Anthropologen zum Teil recht haben. Es ist dieselbe Geschichte, dieselbe Struktur: eine Gemeinschaft gerät in Aufruhr, die Menschen rotten sich zusammen und erschlagen den Missetäter, Ödipus. Danach geht es ihnen wieder gut. In den Evangelien ist es ähnlich, nur schlimmer, weil der Tod des Sündenbocks den Frieden nicht wiederherstellt. Jemanden umzubringen überzeugt nicht mehr wirklich. Die Evangelien, wie die biblischen Texte, zeigen uns die Unschuld des Opfers. Die Mythen hingegen sind schön, weil die Gewalt, die sich zumeist gegen das Opfer richtet, fast völlig verhüllt ist. Daher bringen sie nur den Standpunkt des Mobs zum Ausdruck, und wir akzeptieren ihn und glauben an das grandiose, klassische griechische Universum, denn um eben das handelt es sich; das rein mythologische Universum, das die Gewalt auf das Opfer projiziert und uns ein gutes Gefühl gibt.
[...]
SINN UND FORM 4/2007, S. 454-463, hier S. 454-457
Paley, Grace
- 2/1982 | Leben
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Pankow, Klaus
Pant, Sumitranandan
- 4/1969 | Gedichte
Papageorgiou, Niki-Rebecca
- 2/2019 | Der große Ameisenbär. Kurzprosa. Mit einer Vorbemerkung von Evanghélia Stead
Papenfuß-Gorek, Bert
Paperny, Sinowi
- 1/1967 | Sturm auf allen Meeren. Russische Lyrik der Revolution
Paraschivescu, Miron Radu
- 1/1974 | Meine Verse, meine Kinder
Paret, Christoph
- 1/2022 | Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’, S. 124 Leseprobe
Paret, Christoph
Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’
Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen wollen: »Stillschweigen. Wie Sie zu Ihrer eigenen Schreibblockade werden«, »Das leere Blatt – eine Utopie«, »Schreib-Enthemmung? 120 geniale Tips sich zurückzuhalten«. Jedenfalls muß es mittlerweile als Ereignis allerersten Ranges angesehen werden, wenn ein Text einmal nicht geschrieben wird. So erklärt sich die Aufmerksamkeit, die der in Sinn und Form veröffentlichte Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno jüngst erfahren hat. Adornos angekündigte Kritik des Godesberger Programms der SPD ist nie erschienen, da mochte Enzensberger als Herausgeber des Kursbuchs noch so sehr drängen, bitten und ermutigen. Der gegenwärtige Herausgeber Armin Nassehi teilte seiner Leserschaft gutgelaunt mit, er habe die Probleme seines Vorgängers nicht. Adorno habe sich auf eine Weise geziert, »die heutigen Autorinnen und Autoren wohl nicht mehr zur Verfügung« stehe. Man gönnt es ihm. Die Autoren von heute lassen sich nicht lange bitten. Kein Potential, das unausgeschöpft bliebe, keine Gelegenheit, die verpaßt würde. Ohne mich hier über die Gründe auslassen zu wollen: Nicht zu schreiben ist ein Luxus, den sich kaum noch jemand leisten kann. Die nachfolgenden Generationen werden es uns hoffentlich danken und über uns sagen, wir hätten alles gegeben, was wir konnten, und dann hätten wir weitergemacht. In Anbetracht des Umstands, daß an Geschriebenem kein Mangel besteht: Gibt es etwas Kostbareres als unterbliebene Schriften, also Momente, in denen einer davon Abstand nahm zu schreiben? Was ließ Adorno zögern?
Der erstaunlichste Hinderungsgrund bekundet sich im Eingeständnis: »Über einem solchen Text liegt der Riesenschatten der ›Kritik des Gothaer Programms‹ von Marx, und ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten, wenn ich hinter diesem Vorbild nicht zurückbleiben möchte.« Hier haben wir sie also, die Schreibhemmung allererster Güte namens Karl Marx!
Was Adorno innehalten ließ, war weniger Rücksichtnahme auf lebende Leser als auf die Schriften eines Toten. Diese Rücksicht scheint uns in der Tat abhanden gekommen zu sein. Wer wollte sich, so Nassehi, »noch als Licht im Schatten von Vorgängertexten stilisieren, die zu übertreffen auch eine negative Dialektik nicht in Frage stellen könne. Solche Sprecherpositionen gibt es aus guten Gründen nicht mehr.« Es gab einmal eine Zeit, in der man die alten Texte nicht nicht überbieten wollen konnte. Wobei die »guten Gründe«, warum es damit nun vorbei ist, von Nassehi nicht ausgeführt werden. Ich bin jedenfalls geneigt, Nassehis Verdikt ein wenig abzumildern: Einer, der sich wie Adorno in einen »Riesenschatten « gestellt sieht, muß sich nicht gleich für die Sonne selbst halten oder sich als »Licht stilisieren«. Besteht nämlich ein alternativer Weg, sich für ein großes Licht zu halten, nicht gerade darin, die Existenz von »Riesenschatten« zu leugnen? Was ist vermessener: das Ansinnen, es mit jemandem wie Marx aufzunehmen, oder aber der Entschluß, ihn zu ignorieren?
Adornos Verlegenheit ist eine doppelte. Gewiß, es ist ihm etwas peinlich, sich dem Vergleich mit einem Marx-Text auszusetzen (»ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten …«), doch diese Betretenheit setzt eine andere voraus: Hier sah sich jemand von einem Text aus der Vergangenheit derart in Verlegenheit gebracht, daß ein eigener Text nicht zustande kam. Was hat es mit dieser Besorgnis auf sich, Ansprüchen nicht gerecht zu werden, die aus der Geschichte in die Gegenwart hineinragen? Und gehören solche Ansprüche nunmehr selbst der Vergangenheit an? Ich kenne keinen Text, der darüber mehr Aufschluß gibt als Boris Groys’ »Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit Thomas Knoeffel« von 2002:
»Als Philosophen oder als Künstler stehen wir vor allem im Wettbewerb mit den Toten. Im Grunde wollen wir, daß Hegel oder Kant uns sagen: Auf diese Idee bin ich nicht gekommen, wie wunderbar hast du das gemacht. Unsere eigentlichen Leser sind die Toten. Auch wenn wir meinen, Platon oder Kant überwunden zu haben – wirklich beseitigen können wir sie nicht. Aber wir können auch nicht von ihnen anerkannt werden, wie wir es uns insgeheim wünschen.«
Damit geht Groys über das hinaus, was die Rezeptionsästhetik als Erklärung des geschichtlichen Lebens literarischer Werke in Anschlag gebracht hat. Kontextualisierende (Kunst-)Theorien stoßen rasch an ihre Grenzen, wenn es um die Frage geht: Warum gehen einen die Texte längst Verstorbener in jedem Sinn des Wortes an? Warum kann uns ein Werk betreffen, »das als bloßer Reflex einer längst überwundenen gesellschaftlichen Entwicklungsform nur noch das Interesse des Historikers verdienen würde«, wie Hans Robert Jauß in »Literaturgeschichte als Provokation« schrieb? Die Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen Werke jenseits ihres Entstehungskontexts rezipiert werden, fiel bei der Rezeptionstheorie seltsam zirkulär aus: Sie werden rezipiert, weil sie rezipiert werden. Jauß: »Das literarische Ereignis hat im Unterschied zum politischen nicht für sich weiterbestehende unausweichliche Folgen, denen sich keine nachfolgende Generation mehr entziehen könnte. Es vermag nur weiterzuwirken, wo es bei den Nachkommenden noch oder wieder rezipiert wird – wo sich Leser finden, die sich das vergangene Werk neu aneignen oder Autoren, die es nachahmen, überbieten oder widerlegen wollen.«
Doch warum sollte man ein Werk nachahmen, überbieten und widerlegen wollen, wenn man nicht zunächst im Bann des Eindrucks stünde, daß es von sich aus fortwirkt, ob nun als verpflichtende Instanz, Herausforderung oder verhängnisvoller Irrtum? Jauß’ Fehler ist die Annahme, daß die »Pflege« der Tradition den Lebenden obliege und daß diese augenblicklich verfallen würde, wenn sich nicht jede Generation dazu bereit erklärte, sie sich von neuem anzueignen. Die Vitalität einer Denktradition hängt jedoch weniger davon ab, ob man sie rettet, sondern eher davon, ob man sich vor ihr oder in ihr rettet. Wenn es nämlich Groys’ »Wettbewerb mit den Toten« gibt, dann bedürfen diese weniger des Beistands der Lebenden, als daß die Lebenden vor den Toten bestehen müssen. Ironischerweise hätte die Rezeptionstheorie also den Rezipienten nicht stark genug gewichtet. Sie hätte sich mit der Auskunft begnügt, daß die Meisterwerke gelesen und wiedergelesen würden. Sie hätte nicht zugestehen wollen, daß sie insofern groß sind, als sie uns lesen: Sie sind der eigentliche Rezipient und Adressat unserer Schriften. »Unsere eigentlichen Leser sind die Toten«, schreibt Groys. In Jauß’ Gedanken von der »Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser« bleibt die Möglichkeit der Aktualisierung aktueller Texte durch aufnehmende tote Leser ungedacht.
Demnach bestünde die angemessene Reaktion auf eine Standardfrage wie »Was hat uns Hegel heute noch zu sagen?« nicht darin, sie zu beantworten, sondern zurückzuspielen: »Was hätten Sie Hegel denn zu sagen?« Das Schicksal solcher Texte ist in dem Moment zu ihren Ungunsten entschieden, da sie vor der Gegenwart in der Rechtfertigungspflicht stehen, anstatt daß sich die Gegenwart in ihrem Licht erklären muß. Anders gesagt: Hegel, Kant oder Marx anzuerkennen, impliziert immer schon den Wunsch, von ihnen, oder wenigstens in ihrem Sinne, anerkannt zu werden. Alle »guten Gründe« sind in dem Falle schon die ihrigen, nämlich Gründe, die man ihren Texten entnehmen kann. Wer also fragt, warum er die Texte von Toten ernst nehmen sollte, hat sich bereits darauf festgelegt, daß er nicht gewillt sei, hinsichtlich ihrer ernst genommen zu werden. Das bedeutet nicht, daß die Frage falsch ist, wohl aber, daß sie nicht neutral ist. Und es bedeutet auch, daß es sich gar nicht um eine echte Frage handelt, weil sie die Antwort immer schon in sich trägt. Zudem wäre es viel zu harmlos, sich zu fragen, ob man beim Schrei ben den Schriften der großen Toten Rechnung tragen sollte. Gerade Adorno hat in dem Moment, der uns hier interessiert, gezeigt, daß ihnen Rechnung zu tragen bisweilen auch bedeuten kann, gar nicht zu schreiben.
Die »Relevanz« vergangener Texte für die Gegenwart entscheidet sich nicht an der Frage, inwieweit die Toten recht hatten oder falsch lagen. Wenn sie nämlich relevant sind, dann weil sie nicht aufhören, einem recht zu geben oder weil sie einen weiterhin aufs Glatteis führen. Noch immer muß man sich ihrer Irrtümer erwehren, noch immer ihre Bestätigung einholen. Gewiß ist es problematisch, derartiges zu sagen. Unleugbar tut sich hier eine verdächtige spiritistische Tendenz kund. Dabei ist aber weitaus mehr im Spiel als die Frage, ob jemand ernstlich an die Gespenster namens Kant, Hegel oder Marx glaubt. Es geht darum, ob diese Gespenster an einen selbst glauben.
Die besondere Ironie besteht darin, daß es Groys nicht bloß darum geht, eine »karrieristische « und falsche Form des Philosophierens von einer sachorientierten, wahren zu unterscheiden. Groys ist erklärter Pragmatist, wenn nicht gar Neoliberaler, der in den Begriffen des Wettbewerbs denkt. Würde er den Neoliberalismus für irgend etwas kritisieren, dann allenfalls für das Unlautere eines Wettbewerbs, zu dem allein Lebende Zugang haben, obgleich die Toten recht besehen die stärksten Konkurrenten sein müßten.
Es gibt ein weiteres anti-neoliberales Element: Die Toten, und nicht der »Markt«, sind die letzte Instanz: »Wenn ich von der Pragmatik des philosophischen Erfolgs spreche, dann meine ich damit weniger den Erfolg bei den Lebendigen als den Erfolg bei den Toten.« Wobei diese Pragmatik nicht sonderlich pragmatisch anmutet: Philosophieren soll hier nämlich heißen, die berühmten Toten noch einmal töten zu wollen und rückwirkend ihre Bestätigung einzuholen, und dies im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß der eine Wunsch dem anderen widerspricht und beide unerfüllbar sind. Man weiß deshalb nicht recht, ob der Kampf gegen die Toten überflüssig oder aussichtslos ist, »denn auf der einen Seite sind sie, Gott sei Dank, tot, aber auf der anderen Seite gehen sie uns immer weiter auf die Nerven«. Ein solcher Kampf trüge gleichermaßen lächerliche wie heroische Züge. Man fragt sich unwillkürlich: Was wäre das Ziel? Groys’ Antwort: in gewisser Weise selbst tot sein.
»Was ich unter Genuß verstehe, ist die Möglichkeit, nachdem man sein Grab gebaut hat, darin ruhig zu liegen und dieses Grab zu genießen, noch bevor man tot ist. Bei vielen Autoren, die ihre philosophischen Konstruktionen schon gebaut haben, spürt man das Gefühl: Meine Grabstätten sind bereits da, alles bleibt erhalten. Dann tritt eine gewisse Entspannung ein, die Bereitschaft zur ungezwungenen Plauderei – eben ein bißchen angenehmes Leben im Tode.« Das Verhältnis zum eigenen Tod würde ein chiastisches sein: Philosophieren hieße vom Wunsch geleitet sein, nach dem Tode fortzuleben, im Gegenzug jedoch zeit seines Lebens tot zu sein. Man muß das vor dem Hintergrund des grassierenden Biographismus lesen, der glaubt, uns daran erinnern zu müssen, daß die großen Toten ganz normale Menschen mit gewöhnlichen kleinen Leben gewesen seien. Peter Sloterdijk hat in diesem Zusammenhang von der »Liquidierung des alteuropäischen Theoriesubjekts « gesprochen, wodurch »nun auch die theoretischen Menschen wieder wie Leute von nebenan erscheinen, sollten sie auch Albert Einstein, Max Weber, Claude Lévi- Strauss oder Niklas Luhmann heißen«. Ironischerweise bestünde diese Liquidierung darin, den Theoretiker ins pralle Leben zurückzuholen, weshalb Sloterdijk mutmaßen konnte: »Nicht alle Subjekte von Reanimationen begrüßen ihre Rückkehr ins volle Leben, ja, ich hege den Verdacht, sie bedauerten ihre Zurückholung aus dem schönen Tod der Interessenlosigkeit in die Arena der kognitiven Realpolitik.« (»Scheintod im Denken«, 2010)
Mit Groys will ich zweierlei zu bedenken geben: Erstens hätte Philosophie weniger mit dem »schönen Tod der Interessenlosigkeit « zu tun, sondern bedeutet, sich für Tote zu interessieren, wenn nicht gar, sich für Tote interessant zu machen. Zweitens würde die Verwandlung des Theoretikers in einen Normalsterblichen ihn nicht notwendigerweise seines Status als Theoretiker berauben. Vielmehr verwandelt er sich erst dadurch, daß er etwas Definitives geschrieben hat, in einen normalen Menschen, mit dem sich ungezwungen plaudern ließe. Vor diesem Zeitpunkt wird er dagegen ein anstrengender Zeitgenosse sein, der sich seinen Platz erkämpfen muß. Normalität gäbe es nicht vor der Theorie und als deren Quelle; normal und entspannt wäre der Theoretiker erst nach seinem Tod, der ihm in Gestalt der eigenen Konstruktionen entgegentritt. Hier begegnet einem übrigens ein weiterer Grund nicht weiterzuschreiben: Man hält nicht deshalb inne, weil man glaubt, vor gewissen Toten nicht bestehen zu können, sondern weil man glaubt, als Toter selbst Bestand zu haben.
Groys gibt nirgendwo ausdrücklich zu, mit der Erhaltung seiner Grabstätte zu rechnen, hat aber für das Titelbild als Leiche posiert, die mit offenen Augen im Bett liegt, während auf dem Beistelltisch die, wie man es ihm gern wünschen würde, definitiven Papiere liegen. Dazu paßt nicht ganz, daß er am Ende des Gesprächs bestreitet, am Wettbewerb mit Toten teilzunehmen: »Wenn die Philosophie eine Lebensform und ein Wettbewerb ist, dann bedeutet die philosophische, kontemplative Haltung in bezug auf die Philosophie die Nicht-Teilnahme an diesem Wettbewerb. Ich befinde mich viel lieber auf der Zuschauerbühne.« Kontemplativ sein kann man demnach nicht erst, wenn die eigenen Konstruktionen gebaut sind, sondern auch indem man anderen dabei zusieht, wie sie die ihren errichten. Doch wer macht das eigentlich noch?
Wenn Nassehis Behauptung stimmt, daß man mittlerweile davon Abstand nimmt, Vorgängertexte als Bezugspunkte des eigenen Schreibens zu begreifen, würde einem solchen Zuschauer nicht viel geboten. Diese Erfahrung kann man tatsächlich machen: Sobald die Texte der Vergangenheit als mehr oder minder unbeträchtlich gelten, büßen paradoxerweise auch diejenigen der Gegenwart ihre Wirksamkeit ein. Zwar würde sich Nassehi, wie er schreibt, Enzensbergers Satz »verzeihen sie meine ungeduld: es ist aber nicht ein redakteur, der hier drängt, es ist die sache selbst« gern für die eigene Autorenkorrespondenz ausbedingen, zugleich muß er aber eingestehen, »daß sich im Kontakt mit Autorinnen und Autoren heutzutage viel seltener geschichtsphilosophische Wucht oder gar ein Fenster für eine Offenbarung auftut«. Die Sache selber drängt nicht mehr zum Text, sie drängt am Text vorbei. Als hätte man in dem Moment, da man sich der Bürde der Vergangenheit entledigte, nicht nur an Unbefangenheit gewonnen, sondern sich zugleich um alle Relevanz für die Gegenwart gebracht. Ein weiterer Grund, weshalb Adorno den Text über das Godesberger Programm schuldig blieb, bestand darin, daß er beim Verfassen seiner »Negativen Dialektik « ins Stocken geraten war. Ihre Fertigstellung erforderte höchste Konzentration. Die heutigen Autoren des Kursbuchs würden Nassehi zufolge auch deshalb kaum eine Anfrage ausschlagen, weil sie nun einmal nicht damit beschäftigt seien, eine »Negative Dialektik« zu schreiben. Schade eigentlich. Für Groys hatte sich die Situation deshalb schon 2015 ins Gegenteil verkehrt: »Wenn ich früher an meinen Tod dachte, war ein unangenehmer Gedanke immer der, daß, wenn ich sterbe, in der Kultur noch viel geschehen wird. Heute fühle ich mich glücklich, denn die Kultur ist früher gestorben als ich. Also kann ich glücklich sterben in der Überzeugung, daß nach meinem Tod nichts mehr passieren wird, was mich hätte interessieren können.« (Boris Groys, Frank M. Raddatz: »Geld schlägt Wort«, in: Lettre International 2015 / 111)
Im Abstand eines guten Jahrzehnts präsentiert er somit zwei Versionen vom Glück des Theoretikers, die auch zwei unterschiedliche Weisen sind, sich mit der eigenen Sterblichkeit abzufinden: Bei der einen besteht sein Glück darin, sich schon zu Lebzeiten in den Archiven der Kultur begraben fühlen zu können, bei der anderen darin, Zeuge zu werden, wie diese selbst begraben werden.
SINN UND FORM 1/2022, S. 124-128
Parker, Stephen
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Parkes, Francis Ernest Kobina
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Parks, Tim
- 5/2016 | Aufhören und Handeln. Cesare Paveses Tagebuch
Parra, Isabel
Parra, Nicanor
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Pascoli, Giovanni
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Pasolini, Pier Paolo
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Pasternak, Boris
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Pätzold, Kurt
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Paul, Jean
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Paulin, Tom
- 5/2003 | »Die Geschichte hat manch schlauen Gang«. Wie John Maynard Keynes T.S. Eliots Gedicht »Das Wüste Land« prägte
Pauly, Yvonne
- 1/2021 | Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Marion Poschmann über poetische Taxonomien, S. 73 Leseprobe
Pauly, Yvonne
Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Marion Poschmann über poetische Taxonomien
YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und erinnern hauptsächlich »Pflastersteine und Randsteine, (…) das Licht in Unterführungen und (…) den Schotterweg der Poppelsdorfer Allee und die Wirtschaftswege zwischen den Kopfsalatfeldern in Lessenich, (…) die Waldwege im Kottenforst und wie sich all das unter den Fahrradreifen ausnahm«. Der Abschnitt mit der prosaischen Zwischenüberschrift »Straßenbelag« mündet in die Schilderung Ihrer Erweckung zur Dichterin. An besagtem Abend war es bereits dunkel, im Licht der Straßenlaternen schimmerte der Asphalt wie eine Wasserspiegelung. Sie brachten mitten auf der Straße Ihr Rad zum Stehen – und Ihr erstes Gedicht zu Papier. Dieses Gedicht, so schreiben Sie, »glich nichts anderem, was ich je gelesen hatte«. Ich würde gerne mehr über dieses erste Gedicht erfahren: Was zeichnete es aus? Wurde es veröffentlicht?
MARION POSCHMANN: Dieses erste Gedicht hat viel Interesse geweckt, seit ich es in meiner Vorlesung erwähnt habe, aber ich habe es nicht veröffentlicht und möchte das auch weiterhin nicht tun. Es war für mich inmitten der Texte, die ich bis dahin geschrieben hatte, etwas Besonderes, weil von ihm eine eigenständige Kraft ausging. Es gibt beim Schrei ben ja oft so etwas wie eine Keimzelle, einen Kristallisationspunkt, dieser bleibt im fertigen Text aber nicht immer im Vordergrund, manchmal verschwindet er auch wieder oder verwandelt sich so, daß man ihn als Schreibansatz nicht mehr erkennen kann. In dieser untergründigen Position möchte ich jenes erste Gedicht belassen. Friederike Mayröcker hat die Angewohnheit, an manchen ihrer Materialkisten einen Zettel mit dem Wort Tabu zu befestigen, das heißt, Unbefugte haben keinen Zugang. Und vielleicht hat selbst die Dichterin nicht immer das Recht, darauf zuzugreifen. Ich bin seit langem von Freuds Aufsatz »Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen« fasziniert, in dem es um diese Kraft geht, die einem Objekt zugeschrieben wird: Sie kann überwältigend sein, deshalb ist sie gefährlich, aber man möchte auf jeden Fall an ihr partizipieren. Kurz und gut, dieses sogenannte erste Gedicht möchte ich auf gar keinen Fall preisgeben.
PAULY: In der Folge geht es in der Bonner Poetik-Vorlesung um die Geschichte naturkundlicher Wissensordnungen. In der Biologie versteht man unter Taxonomie die Lehre von der Einordnung der Lebewesen in ein Schema hierarchischer Klassifikation. Die wissenschaftliche Nomenklatur als Grundlage dieses Ordnungssystems geht auf Carl von Linné zurück. Er versah Mineralien, Pflanzen und Tiere mit binären lateinischen Bezeichnungen, in denen ein Substantiv die Gattung und ein Adjektiv die Art angibt. Die Linnésche Taxonomie wurde nach und nach auf andere Wissensbereiche angewandt, so von Luke Howard, einem Zeitgenossen Goethes, auf die Wolken.
POSCHMANN: Das besondere Verdienst von Howard bestand darin, daß es ihm gelang, sich vom illustrativen Erscheinungsbild der Wolken zu lösen und das Augenmerk auch auf die Bedingungen ihrer Entstehung zu richten. Er sah nicht länger Schafe, Elefantenwolken oder Schwertfischwolken am Himmel, sondern er begriff, daß es sich bei Wolken um ein fluides System handelt, das nicht in Analogie zu festen Körpern zu denken ist, sondern aus Übergängen besteht. In einem Geniestreich übertrug er das Linnésche Taxonomiesystem auf die Wolkennamen. Es gibt einen Hauptnamen für die Grundform, also Cumulus (Haufenwolke), Stratus (Schichtwolke), Cirrus (Federwolke), Nimbus (Regenwolke), sowie Zwischenformen wie Cumulonimbus, die Gewitterwolke. Neben der Gattung kann die Art differenziert werden, etwa castellanus, floccus, nebulosus. Dieses System macht Ähnlichkeiten kenntlich, bezieht aber auch die Möglichkeit von Veränderung und deren Richtung mit ein. Wolkennamen sind temporär, dieselbe Wolke kann nach ein paar Stunden anders heißen. Ihr neuer Name ist aus dem ersten nicht ableitbar, aber es gibt Regeln ihrer Verwandlung, weil es nicht beliebig viele Veränderungsmöglichkeiten von einer Wolkenart zur anderen gibt.
PAULY: Eben jenes Bemühen um die Klassifikation von Übergängen, die Bannung des Fluiden, die Bestimmung des Unbestimmten macht das Geschäft des Naturforschers anschlußfähig für die Dichtung. Auf Grundlage der biologischen entwerfen Sie im Schlußteil der Vorlesung das Konzept einer poetischen Unterscheidungskunst.
POSCHMANN: Es handelt sich dabei um das Paradox, daß eine poetische Taxonomie klassifiziert, was sich nicht klassifizieren läßt. Worte ähneln insofern den Wolken, als ihre Bedeutung schwanken kann, sich verwandeln, sich auflösen. Auch die Gegenstände der Dichtung sind wolkenhaft, es sind immaterielle Größen wie Wahrnehmungseffekte, Gedanken und Gefühle, so daß der Dichter letztlich vor der Aufgabe steht, Wolken mit den Mitteln der Wolken zu bestimmen. Und wenn wir über Dichtung sprechen, verhält es sich ähnlich, man redet über einen ungreifbaren Text, der etwas Ungreifbares zur Grundlage hat. Jeder Dichter verfolgt dabei ein anderes Verfahren, beschreibend, konstruierend, montierend, assoziierend, evozierend, und daraus entsteht jeweils eine private Taxonomie, eine eigene Ordnung aus persönlichem Wortgebrauch, subjektivem Blick auf die Welt.
PAULY: Es liegt nahe, an dieser Stelle nach der Ordnung Ihres lyrischen Werks zu fragen: Wo differenzieren Sie besonders fein, wo weniger? Welches Netz werfen Sie über die Wirklichkeit, welche Sicht der Dinge wird in Ihren Gedichten offenbar? Vielleicht ist es sinnvoll, mit dem Leitkonzept der Taxonomie insofern Ernst zu machen, als wir uns an das hierarchische Schema halten und bei der Betrachtung Ihres Werks vom Großen zum Kleinen gehen, also bei der Makrostruktur ansetzen. Harald Hartung hat in der Besprechung Ihres zweiten Gedichtbands »Grund zu Schafen« 2004 darauf hingewiesen, »daß wir es mit einer Autorin zu tun haben, die methodisch arbeitet und in Serien denkt«. Das ist ein Grundzug Ihres lyrischen Werks, der Sie von anderen zeitgenössischen Dichtern unterscheidet.
POSCHMANN: Bei meinen Gedichtzyklen bzw. Gedichtgruppen, denn Zyklus impliziert für mich etwas Abgeschlossenes, das sich gerundet hat, während eine Gruppe offener ist und gegebenenfalls noch ergänzt werden kann, bei diesen Zyklen oder Gruppen also gibt es zunächst meist eine formale Ähnlichkeit. Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Formen, klassischen Metren, Oden, Sonetten, freien Versen, in einer Gedichtgruppe konzentriere ich mich in der Regel auf eine formale Herangehensweise. Bei den Madonnen im Zyklus »Barocke Serie« aus meinem Debütband »Verschlossene Kammern« sind das freie Verse, die indirekte Rede wird als Stilmittel eingesetzt und die Titel der einzelnen Gedichte nehmen ikonographische Bezeichnungen für bestimmte Bildtypen auf, die im Zusammenhang mit der Madonnendarstellung kanonisiert sind. Also etwas die Madonna im Rosenhag, mit dem Einhorn, die Mater Dolorosa oder die Schutzmantelmadonna. Ich fand das damals unter taxonomischen Gesichtspunkten interessant. Man stellt die Madonna dar, aber immer mit bestimmten Attributen, und zeigt damit eine Gestalt unter verschiedenen Aspekten, mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften oder Zuschreibungen, was ja sofort die Frage aufwirft: Wo ist der gemeinsame Nenner? Ist das die Madonna in jeweils anderem Gewand, oder sind das doch verschiedene Figuren? Die Jungfrau, der Meerstern, die Gottesmutter. Was ist zum Beispiel eine Gottesmutter ohne Kind? In den Verkündigungsbildern ist gerade dieses Noch-Fehlen, die Leerstelle, die Offenheit entscheidend. Tatsächlich gibt es in der ikonographischen Tradition auffallend viele Bildtypen, die die Madonna ohne Kind zeigen. Etwa die »Madonna auf der Mondsichel«. Das wäre ein Titel zu einem Gedicht, das ich gern noch schreiben und das gut in diese Serie passen würde. Im nachhinein habe ich mich manchmal selbst gefragt, warum ich das nicht längst getan habe, aber wenn man eine Kategorie aufmacht, muß man sie mit etwas füllen, und mir kam es, wenn ich mich richtig erinnere, so vor, als sei mit dieser Überschrift alles gesagt. Dafür habe ich, und damit kommen wir zu den ersten Querverbindungen, in einem anderen Band das Gedicht »Königin der Nacht«. Aber für das Konzept der Serie sind die Titel entscheidend. Das habe ich auch in andern Fällen so gehandhabt, etwa im Band »Geliehene Landschaften«. Dort gibt es ein Kapitel mit der Überschrift »Bernsteinpark Kaliningrad«, und alle Gedichte tragen die Namen von Bernsteinvarietäten. Zum Beispiel »Knochen«, »Bunt«, »Flom«, »Antik«, »Schwarzfirnis«, »Kumst«, sehr evokative Titel, bei denen aber vermutlich die wenigsten wissen, welche Art Bernstein man sich darunter vorzustellen hat. Das gibt mir dann eine gewisse Füllungsfreiheit, während die Reihe der Titel schon fast ein eigenes Gedicht ergibt.
SINN UND FORM 1/2021, S. 73-85; hier S. 73-76
Das Gespräch wurde am 23. Juni 2020 im Rahmen einer Kooperation des Literaturhauses Berlin mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ursprünglich online, als "Audio-Korrespondenz", publiziert und ist in dieser Form nach wie vor über die Mediatheken beider Einrichtungen zugänglich. Integraler Bestandteil dieser Fassung waren 13 Abbildungen taxonomischer Arrangements, die Yvonne Pauly nach dem Modell naturkundlicher Sammlungen zum lyrischen Œuvre Marions Poschmanns entworfen hatte; fünf dieser Bilder zeigen wir hier:
Paustowski, Konstantin
Paustowskij, Konstantin
- 2/1951 | Regen in der Morgendämmerung
Pavel, Ota
- 6/1976 | Sie können dich auch töten
Pavese, Cesare
Pavlovic, Miodrag
Pavlovici, Florin Constantin
- 5/2017 | Die Folter. Das Grundlagenbuch, S. 690 Leseprobe
Pavlovici, Florin Constantin
Die Folter. Das Grundlagenbuch
Gesichter des Winters
Anfang Dezember wurde der Regen zu Schneeregen. Der Wind schlug in heftigen, sturmverheißenden Böen, Wassertropfen geißelten die taubgefrorenen Körper wie Eisnadeln. Wir waren dabei, die letzte Erde am Dorfrand bei Agaua aufzuschütten, um wie angeordnet mit der Baustelle in den Süden der Insel zu ziehen. Der Damm sollte mitten durchs Dorf gehen, es standen bloß ein paar Bauernhäuser und Gehöfte im Weg, deren Abriß auf den Frühling vertagt worden war. Selbst die Herren der Aue wagten es nicht, ganze Familien mitten im Winter an die Luft zu setzen, nicht ohne Sondergenehmigung. Zu Sankt Nikolaus waren wir für den Umzug bereit, just als der Schneesturm heraufzog. Wegen einer Durchsuchung verzögerte sich unser Aufbruch. Am Lagerausgang hießen uns die Unteroffiziere erst einmal die Häftlingsuniformen ausziehen. Eine gute Stunde ließen sie uns in Hemd und langer Unterhose an Ort und Stelle ausharren. Zweifellos brauchte es die Zeit, bis jeder einzelne gefilzt und sichergestellt worden war, daß keiner darunter Flanellhemden oder Zivilbekleidung trug, in der er hätte fliehen können. Der ganze Vorgang, insbesondere die Leibesvisitation, spielte sich unter der peniblen Leitung von Kapitän Mălăngeanu ab. Wir brachen erst auf, als sich der gute Kommandeur persönlich vergewissert hatte, daß wir alle vorschriftsgemäß gekleidet waren. Uns fror inzwischen so sehr, daß wir um die Wette über den Damm jagten. Wir rannten, die Wächtertrupps rannten, die Schäferhunde hinterher, als wolle uns am Ziel ein anderer, barmherziger Kapitän-Kommandeur mit Pelzen und Mänteln gastlich in Empfang nehmen. Am früheren Einsatzort angekommen, luden wir Spaten, Schaufeln und Spitzhacken in die Schubkarren und steuerten querfeldein auf die neue Baustelle zu. Wer nicht schob, bildete die Vorhut. Einen Weg gab es nicht, die Räder blieben im vereisten Acker stecken, und bald zerstreute sich die Kolonne über ein Gebiet von etwa einem Kilometer. Der Wind blies immer stürmischer, das Schneegestöber blendete uns, inzwischen hingen dichte Wolken in der Niederung, man sah kaum mehr, wo man hintrat. Irgendwo wurde ein Befehl erteilt. Die Vorhut hielt inne, bis die zurückgefallenen Arbeitsbrigaden nachrückten. Wir versammelten uns, warfen die Werkzeuge hin und machten uns mit dem nächsten Befehl auf den Weg zurück nach Salcia. Endlich erbarmte sich der Heilige Nikolaus und gewährte uns einen Ruhetag.
Auf dem Rückweg drängten wir uns wie Herdentiere aneinander. Die Kolonne glich jetzt einem straff verschnürten Paket, und der unvermeidliche Zuruf der Soldaten: »Zu fünft vorwärts! Bleibt zusammen!« war hinfällig. Der Schneesturm wütete, der Frost brannte eisig auf der Haut. Nichts war verheißungsvoller als die Wärme unserer eigenen, in die ungeheizten Baracken gepferchten Körper. Einige hundert Meter vor dem Lager kam uns der Kapitän entgegen. Er hieß die Kolonne halten und bestellte die Wachleute und den Leiter der Wachmannschaft zum Rapport. Ohne sich mit kleinlichen Erklärungen abzugeben, ging er gleich dazu über, sie vom hohen Roß herab aufs Ordinärste und Originellste anzupöbeln. Uns würdigte er keines Blickes. Sein Zorn galt diesmal nicht dem Fußvolk. Wie es sich für einen Feldherren ziemt, gewährte Kapitän Mălăngeanu niemandem eine Sonderbehandlung. Wir kehrten um, holten das Werkzeug und gelangten über einen Umweg zu einer Brache, wo die Räder munter dahinrollten. Immerhin drohten Spaten und Schaufeln nicht jeden Augenblick herauskatapultiert zu werden, und die Schubkarre glitt an Stellen, wo das Gras glasig gefroren war, wie ein Schlitten dahin. Der Frost biß sich wie Krätze in die Haut, der Wind peitschte immer aus der gleichen Richtung, von Dunărea Veche, auf uns ein, und die Angst zu erfrieren trieb uns wieder schnell voran. So, über die Schubkarren gebeugt, den Kopf zur Brust gesenkt, um die anvertraute Habe peinlich besorgt, verkörperten wir die Karikatur eines irregewordenen, versklavten Volkes. Doch selbst geknebelt und abgezehrt war dieses Volk nicht zu bezwingen.
Jede Gesellschaft kennt Waghalsige, die sich über die Regeln hinwegsetzen, neue Werte einführen und ungewöhnliche Verhaltensweisen prägen. Die Propheten geißeln die Sitten, die Kühnen stürzen sie um, ohne sich auch nur im mindesten um die Propheten, die Natur oder den Anstand zu scheren. Verborgene Triebkräfte lösen oft unvorhersehbare Reaktionen aus, und es sind nicht immer die Weisen, die Gutes in die Welt setzen. Auch in abgeschotteten Gesellschaften, deren Dynamik von Angst und Routine beherrscht wird, sind außergewöhnliche Taten möglich. Es bedarf nur eines Funkens, und schon tritt das Individuum aus der Anonymität heraus. Beim leisesten Anreiz bekommt das dumpfeste Pack, oder auch nur ein kleiner Teil davon, ein Gesicht, die Nummer weicht der Person, die Stummen finden zur Sprache. Der Impuls, der die lahme Häftlingsherde in eine resolute Truppe verwandelte, ging in diesem Fall von einem Gemüsegarten aus. Nun, recht eigentlich vom Phantom eines Gemüsegartens, heraufbeschworen von den verführerischen Resten eines abgeernteten Kohlbeets. Trotz der schlechten Sicht im dichten Schneegestöber stach uns der Spuk ins Auge und versetzte uns in ungläubiges Staunen. Von den stolzen Kohlköpfen des Herbstes hatte der knauserige Besitzer nur ein paar Blätter und ein Häufchen Strünke liegengelassen. Doch die kräftigen Stengel mit ihren starken Wurzeln machten die Abwesenheit der Frucht vollkommen wett. Jeder abgehackte Strunk befruchtete unsere Phantasie und ließ vor unserem inneren Auge den reifen Krautkopf mit seinen schamlos geöffneten Blättern erstehen. Anziehungs- und Wirkkraft standen der geernteten Frucht, die wahrscheinlich im Dorf Agaua eingelegt in einem Faß ruhte, in nichts nach. Dies um so weniger, als unsere Mägen auf die Sekunde genau zu Mittag Alarm schlugen und davon auszugehen war, daß das Essen ausfallen würde. »Kraut!« schrie jemand, und der Ruf setzte eine gehörige Menge Adrenalin frei. Die vorderen Schubkarren bremsten scharf, so daß die hinteren Reihen auffuhren. Ein paar Unerschrockene lösten sich aus dem Gewimmel und stürzten sich auf das Geschenk des Himmels. Ungeniert fielen sie darüber her, wurden eins mit der Erde, griffen nach den symbolischen Resten der Kohlköpfe, die sie sich gnadenlos und ohne die geringste Verschwendung unter die Nägel rissen. Nach dem Gerangel, bei dem sie einander die Beute zu entreißen versuchten, war der Boden wie plattgewalzt. Der jähe Ansturm ließ den Wachen keine Zeit einzugreifen. Wer hätte ihm schon standhalten können? Mit Mahnrufen und Waffengewalt wäre der Spuk des Herbstkohls niemandem auszutreiben gewesen. Das Wunder verachtet die Besonnenheit, es schafft sie ab und spottet ihrer. Und wieder setzte sich die Kolonne in Bewegung. Als wir ans Ziel kamen, kauten die siegreichen Plünderer noch am süßen, duftenden Inneren der Krautstrünke. Sie schälten die holzige Schale mit den Zähnen ab und sogen mit Hingabe den Saft aus, kein Quentchen Aroma durfte entweichen.
Der neue Einsatzort befand sich am äußersten Rand eines Grabens, auf einer von wenigen Weiden umsäumten und vom Inselinneren über einen schmalen Zugang erreichbaren Anhöhe. Ein paar modrige alte Weidenstümpfe verstellten uns den Weg, so daß wir praktisch im Gestrüpp gefangen saßen, das wir mit Stumpf und Stiel hätten ausreißen und aus dem Weg räumen müssen. Markierungen gab es nicht, ebensowenig wie irgendwelche Grenzzeichen der Bauingenieure und Topographen. Vielleicht hatte die technische Abteilung ihre Arbeit geleistet, und nun vereitelte und verwehte sie der Schneesturm. Wir, einige hundert Leute, versammelten uns auf der Anhöhe und begannen zu warten. Dank jahrelanger Übung, schließlich warteten einige von uns seit zehn, fünfzehn Jahren auf ihre Freilassung, waren wir Häftlinge zugegebenermaßen im Vorteil gegenüber den Jungs aus dem Wächtertrupp, die selbst im Schutz ihrer Pelzmäntel nicht zur Ruhe kamen. Der Sturm trieb sein Unwesen, ohne viel Schnee aufzuwirbeln. Der Frost war rauher und schwerer, beinahe stofflich geworden, während die Wächter hopsend und stampfend immer engere Kreise um uns zogen, als wollten sie einen Kriegstanz nachäffen. Sicher waren inzwischen auch die Abzüge ihrer Waffen vereist. Schließlich bewirkte der Frost einen Geistesblitz, und sie entfachten mit den üppig vorhandenen Hölzern und Ästen ein paar Lagerfeuer. Auch uns erlaubten sie, mitten auf der Lichtung ein einsames Feuer anzuzünden.
Seit geraumer Zeit hatten wir keine feuchte, locker fallende Kleidung mehr am Leib gehabt. Der Frost hatte sie zu einer Rüstung aus Eis gefrieren lassen. Jetzt, wo wir dem Nichtstun frönten, leuchtete uns das Verbot von Flanellhemden und warmer Kleidung durch die Lagerverwaltung ein. Mit Pöbeleien und Schlägen war das Arbeitspensum erfahrungsgemäß nicht zu schaffen, auf die Kälte als natürlichen Stimulus war dagegen Verlaß. Es war kein schlechtes Kalkül. Mit dem Spaten in der Hand oder an der Schubkarre, denke ich, wäre der Sturm zu Sankt-Nikolaus erträglicher gewesen. Das Feuer übte indes eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Ich näherte mich, indem ich mir mühsam einen Weg durch die vor Kälte reglosen Menschen bahnte. Mit dem Rücken im Schutz anderer Körper blieb ich am Feuer stehen. Der Wind wirbelte auch hier etwas Schnee auf, doch der Ort war angenehm. Der Flammenschein flackerte über die Gesichter jener, wie mir schien, Auserwählten, die es bis dicht ans Feuer geschafft hatten, und warf seltsame Schatten auf ihre versteinerten Mienen. Sie hielten die Hände wie bei einem Ritual über das Feuer, die Handflächen nach unten, und ihre leeren, in die glimmende Glut starrenden Blicke schienen in unergründliche Visionen versunken. Weil wir abgezehrt und dauernd erkältet waren, lief uns Häftlingen ständig die Nase. Diese Troddel, ob als perlender Tropfen oder silbrige Kugel, stand modisch so hoch im Kurs wie Nasenschmuck bei manchen Eingeborenen. Mit eisgepuderten Wangen, schien mir, funkelte die runde Verzierung über dem Mund nur noch grotesker. Mit einem Zweig fegte ich eine ordentliche Portion Glut zu mir und trat mit der Sohle darauf. Im engen Schuh war der Fuß taubgefroren, und ich fürchtete, er werde abfallen. Reglos verharrte ich in dieser Haltung, bis der Rand zu schmauchen begann. Noch zog ich meinen Fuß nicht zurück, im törichten Glauben, es könne nicht schaden, wenn er ein bißchen Feuer fange. Die Wärme hüllte mich von unten bis oben ein, erfaßte nach und nach mein Innerstes und weckte eine lang vermißte sachte und segensvolle Euphorie. Ein lästerlicher Gedanke schoß mir durch den Kopf: Mir war, als sei die Hölle nicht ewiges Feuer, sondern ewige Kälte, nicht Flammen, Pech und Schwefel, sondern Wind, Eis und Frost. Dem Frevel folgte eine nicht minder schändliche Assoziation: Der Dorftrottel meiner Kindheit, der barfuß durch den Schnee tappte und sich von der Mutter Gottes vor Eis und Frost geschützt wähnte, mußte ein Engel gewesen sein, wie sonst hätte er so über den Höllengrund laufen können. Eine Blasphemie zieht wie selbstverständlich andere nach sich. Die Apokalypse lag hinter uns, wir alle, Häftlinge und Wächter, waren Tote, die sich vor dem Jüngsten Gericht zum zweiten Tod eingefunden hatten. Von anderen nach Visionen Begierigen abgedrängt, verließ ich die aufwühlende Feuerquelle, froh, die toxische Postapokalypse hinter mir zu lassen und zu meinem armseligen Häftlingsdasein zurückzukehren, das sich immerhin im Diesseits abspielte. Ich ließ die Bibel gut sein, schied aus dem mystischen Zirkel und mischte mich unter meinesgleichen, jene, die der Wut des Winters stoisch trotzten.Aus dem Rumänischen von Carmina Peter
SINN UND FORM 5/2017, S. 690-700, hier S. 690-694
Pawlytschko, Dmitro
- 2/1977 | Zwei Gedichte
Paz, Octavio
- 3/1973 | Zwei Körper
Peet, John
- 1/1982 | Begegnung auf dem Karmelberg
Peiper, Tadeusz
- 5/1983 | Im Bauhaus
Pekkanen, Toivo
- 5/1955 | Gedichte
Pellmann, Fedor
- 5/2023 | Als die Wetter leuchteten. Gedichte
Penn, William
- 1/2021 | Ein Bericht von meiner Reise in Deutschland (1677). Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff
Pepperle, Heinz
- 5/1986 | Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes? Vom inneren Zusammenhang einer fragmentarischen Philosophie
- 1/1988 | Meinungen zu einem Streit - »Wer zuviel beweist, beweist nichts«
Pereira Gomes, Soeiro
- 2/1976 | Verlorene Zuflucht
Perquin, Ester Naomi
- 6/2017 | Mehrfach abwesend. Gedichte
Person, Jutta
- 1/2023 | Wortfeldmagie mit Wiedergängern. Kleine Dämonologie für Lothar Müller, S. 123 Leseprobe
Person, Jutta
Wortfeldmagie mit Wiedergängern. Kleine Dämonologie für Lothar Müller
Vor genau hundert Jahren schreibt Heinrich Mann eine Rezension für die Prager Zeitung »Bohemia«, die mit einem eher düsteren Bild der Gegenwart beginnt: »Diese Zeit hat alles, nur nicht Heiterkeit«, so der erste Satz, und der Kritiker des Jahres 1922 fährt fort: »Zuinnerst lebt die Gegenwart verdammt beladen mit schweren Fragen und hat das – niemals berechtigte – Gefühl, als seien sie unlösbar.« Dann aber folgt die 180-Grad-Wende: Ein Buch komme ihm gelegen, das vollkommen heiter und noch dazu auf der Höhe der Zeit sei, so Mann, nämlich die Geschichtensammlung »Dschinnistan« von Christoph Martin Wieland. Diese Geistermärchen, die gerade im »Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte« neu herausgegeben worden waren, lassen gute und böse Dschinns zum Zuge kommen und bringen unvollkommene Menschen in die Bredouille, nicht etwa moralisierend, sondern unterhaltend und aufklärend. Mit Wielands Märchenbuch erklärt Heinrich Mann den Optimismus des 18. Jahrhunderts im Handumdrehen zu einer gut getarnten Skepsis, die aber trotzdem menschenfreundlich bleibt – wie auch die Geisterwelt von Dschinnistan.
Damit sind gleich mehrere Spuren zu Lothar Müller gelegt: zu seiner Gabe, einen scheinbar entlegenen Text mit der Gegenwart ins Gespräch zu bringen, zu seiner Beschäftigung mit dem polymorphen, menschenfreundlich-skeptischen 18. Jahrhundert – und vor allem: zu seinem Interesse an Geistwesen und Dämonen aller Art. Genauer gesagt sind es gar nicht so sehr die Geister selbst, sondern eher ihre Geräusche und Gehäuse, die Schallwellen und zweiten Stimmen, die magischen Kanäle, die belebten Gegenstände und geheimen Codes, die Müller untersucht, in seinen Artikeln für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung ebenso wie in seinen kulturgeschichtlichen Sachbüchern zur »Epoche des Papiers«, zu »Freuds Dingen« oder zu Franz Kafka. Man könnte auch sagen: Das Vergangene tritt in seinen Texten als Wiedergänger zutage, die Dinge, Apparate und Maschinen entwickeln ein Eigenleben. Alte Medien nisten sich in neuen ein. Das Besondere dabei ist der Stil, mit dem Müller diese Phantome abfängt, beobachtet und, ja, registriert: denn auch die Ordnungssysteme selbst haben es ihm angetan, die Wörterbücher, Enzyklopädien und Wissensspeicher, die mitformen, was in ihnen gespeichert ist. Vielleicht ist es auch so, daß sein Vokabular eine diskrete Form der Mimikry betreibt mit der Welt, die es untersucht, während der Verfasser gleichzeitig ein analytischer Beobachter bleibt. Lothar Müller wahrt die notwendige Distanz, tritt aber trotzdem in Kontakt mit seinen Gegenständen.
Phantome, Stimmen, Ordnungssysteme: Dieser magisch-textuelle Komplex bleibt eigentlich unüberschaubar für eine Einzelperson. Trotzdem riskiert diese Laudatio den Versuch, eine Art Dämonenregister zu erstellen – an den wichtigsten Wortfeldern aus dem Müllerschen Kosmos entlang. Ich hoffe, der Preisträger nimmt es mir nicht übel, daß ich mir heute einige Stichwörter ausleihe, die eindeutig aus seinem Lexikon stammen 124 Umschau (darunter die Echoräume, Tonspuren, Geisterkunden und Spiegelkabinette, von denen gleich noch die Rede sein wird).
Wer ein Multiversum namens Lothar Müller würdigt, findet sich in Dimensionen wieder, die einfach nicht alle abbildbar sind im Raum-Zeit-Setting dieser Rede. Das liegt an der enormen Vielseitigkeit des Autors und Kritikers, des Literaturwissenschaftlers, Essayisten, Redakteurs, Hochschullehrers, Kommentators gesellschaftspolitischer Entwicklungen, Nachwortverfassers und: Laudators. Fünfzehn Lobreden von Lothar Müller findet man schon beim ersten Blick in die Archive (sicher gibt es noch einige mehr), und jede einzelne sichert aus der Werkbetrachtung des Lobesobjekts die Spuren für eine Charakteristik im ganz klassischen, fast sokratischen Sinne: Schreib, damit ich dich sehe. Hilf- und aufschlußreich an diesen Laudationes ist aber auch, daß ihnen manchmal eine Selbstcharakterisierung zwischen den Zeilen eingeschrieben ist. Dieser komplexe Blickwechsel zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem führt zu einem der wichtigsten Wortfelder der Müllerschen Dämonologie.
Wer die Rezensionen des Literaturkritikers Lothar Müller liest, weiß, daß meistens auch die Herkunftswelten der Autorinnen und Autoren zur Sprache kommen. Sie sind mehrdimensionale Gebilde, die sich aus realen und imaginären Orten, aus Milieus und Literaturtraditionen zusammensetzen – und keiner festgelegten Richtung folgen. Sicher ist deshalb auch, daß bei ihm niemand an die Kette der Herkunft gelegt wird. Daß man das Weggehen und das Wiederkehren als bewegliches Hin und Her verstehen muß, hat er einmal sehr einprägsam in einer Laudatio auf den belgischen Schriftsteller Stefan Hertmans geschildert, der als junger Mann die Provinz und den flämischen Katholizismus verlassen hat. Der Unterstellung der Moderne, daß solche Bewegungen immer »von der Provinz zur Metropole« verlaufen, hält Lothar Müller entgegen: »Die Lehre der vergangenen Jahrzehnte ist, daß es solche Einbahnstraßen nicht gibt.« Auch auf die Gefahr hin, eine Metapher mit einer anderen Metapher zu erklären: Das Gegenteil solcher Einbahnstraßen könnte der Echoraum sein, ein weiteres wichtiges Wortfeld im Müllerschen Kosmos. In ihm bewegt sich der Klang nicht schnurstracks von hier nach dort, sondern ein Echoraum setzt voraus, daß es ein Überkreuzen von Schallwellen und ein Reflektieren von Einflüssen gibt. Kurz, er hält die Herkunft für vieles offen, was über den Standardbegriff »Identität« hinausgeht.
Woher aber kommt Lothar Müller, der 1954 in Dortmund geboren wurde? Könnte er ein seit Jahrzehnten in Berlin lebender »Westwestfale« sein, so ähnlich, wie er einmal den westwestfälischen Maler Emil Schumacher zitiert hat? Sicher nicht, denn gegen das doppelte Westwest sprechen die vielen anderen Himmelsrichtungen, denen er verbunden zu sein scheint. Klären lassen sich solche Herkunftsweltfragen bei einem Gang durch den Tiergarten, denn Müller ist ein leidenschaftlicher Spaziergänger (noch im Januar hat er im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung diese nicht zielgerichtete Form der Fortbewegung gegen den sogenannten Corona-Spaziergang verteidigt). Wir starten am Komponisten-Denkmal, umrunden einige unausgeglichene Berliner Hundebesitzer und bewegen uns in Richtung Rousseau-Insel. Im Vorbeigehen bringt er die Geschichte der Insel zur Sprache, die den Park des Marquis de Girardin nachahmt, der wiederum Rousseaus »Nouvelle Heloïse« als Vorlage benutzt hatte: eine lange Naturnachahmungsserie, gekrönt von einem Verbotsschild, das die Wildblumenwiese vor menschlichem Zertrampeln schützen soll. Woraus Müller innerhalb von Sekunden eine druckreife Kolumne macht.
Nach der Rousseau-Insel geht es um das Studium der Germanistik und Geschichte Umschau 125 im Marburg der siebziger Jahre: Generationstypische Peter-Weiss-Lesezirkel, Benjamin-Lektüren und Gespräche mit seinem akademischen Lehrer Gert Mattenklott prägen Lothar Müller – und das 18. Jahrhundert, ein Echoraum, der ihn schon früh gepackt hat. Aber auch das Italien von Pavese bis Pasolini gehört dazu, genau wie, ab Mitte der achtziger Jahre, das Ungarn von Péter Esterházy, Péter Nádas oder Imre Kertész. Mitte der achtziger Jahre ist die Dissertation über Karl Philipp Moritz schon geschrieben, Müller pendelt zwischen Journalismus und Wissenschaft: Diese »Soziologie des Lebenslaufs« erscheint ihm wichtiger als das Persönlich-Biographische, und genau dieser Zug – nicht viel Aufhebens um die eigene Person zu machen – ist wiederum typisch für ihn. Seine Artikel für das Feuilleton folgen dem Grundgedanken »Selbstaufklärung über das Geschmacksurteil im kollektiven Gespräch«. Für seine Literaturkritik bedeutet das: Sich ranickihaft über langweilige Lektüre zu beschweren, taugt ebensowenig als Argument wie schwärmerische Schönfinderei.
Als Kritiker lauscht er der Literatur, über die er schreibt, die Poetik ab, nach der sie sich selbst gebildet hat, die Beschränkungen wie auch die Horizonte, die sich eröffnen. Um ein Beispiel zu nennen: Über Esterházys Roman »Harmonia Caelestis« schreibt der Literaturkritiker 2001: »Péter Esterházy hat wie ein Lumpensammler im Plunder, im ausrangierten Sperrmüll der modernen Literatur gewühlt und die ausgebleichten Überreste des Familienromans daraus hervorgekramt. (…) Er ist sich selbst auf der Spur, dem Klang seines Namens (…). Das erzählende Ich gleitet durch diesen Namen, wie ein Luftgeist durchstößt es die Grenzen zwischen den Generationen.« Und schließlich: »Aus den Dingen die Welt ablesen, in der sie zu Hause waren, das ist eine der Formeln für dieses Buch.« Aus den Dingen die Welt ablesen, das gilt für den Schriftsteller und den Literaturkritiker gleichermaßen – in der Esterházy-Verfahrensweise spiegelt sich auch die Müller-Charakteristik.
Dem Spät- und Selbstaufklärer Karl Philipp Moritz hat Lothar Müller nicht nur seine Dissertation gewidmet. 2006 erscheint ein zweites Buch mit dem Titel »Das Karl Philipp Moritz-ABC. Anregung zur Sprach-, Denk- und Menschenkunde«: Von A wie Akademie bis Z wie Zerstörung kommentiert Müller markante Textausschnitte aus dem Werk des Buchstabenfetischisten. Nach einer ärmlichen, aber lesefreudigen Kindheit hat Moritz, in der Tradition der Aufklärung, an der Verbesserung des Lesenlernens gearbeitet. Was Lothar Müller so erklärt: »Karl Philipp Moritz war ein Kind der Alphabetisierung in jeder Hinsicht, und er war einer ihrer Agenten.« Das »Bündnis mit dem Alphabet« hat aber auch seine Schattenseiten: Im Roman »Anton Reiser«, schreibt Müller, »geistern die toten Buchstaben wie Dämonen durch das Leben«.
Dieses Interesse am Unheimlichkeitspotential der Zeichen zieht sich als Konstante durch Lothar Müllers Publikationen. Auch sein im letzten Jahr veröffentlichtes Buch über Marcel Proust und dessen Vater Adrien, einen Arzt und Seuchenbekämpfer, stellt ein so prominentes wie berüchtigtes Zeichen vor: den Kommabazillus. Der Erreger der Cholera, der tatsächlich nach dem Satzzeichen benannt ist, verbindet die Sphären von Vater und Sohn, von Medizin und Literatur – das zeigt Müller in seiner virtuosen Recherche.
Daß einzelne Buchstaben und Satzzeichen ein dämonisches Doppelleben entwickeln, führt zur Diagnose des Medientheoretikers Marshall MacLuhan, der die Trennung von Bild und Laut als Keimzelle der modernen Zivilisation beschrieben hat. Von diesem epochalen Bruch ausgehend, schildert Lothar Müller aber auch, wie sich Medien und moderne Empfindsamkeit im 18. und 126 Umschau 19. Jahrhundert wieder anders arrangieren. Gefühle werden in neuer Form verinnerlicht – und dabei entstehen Bündnisse zwischen Schrift und Leser, Zeichen und Körper. Nirgends macht sich das so deutlich bemerkbar wie beim lauten Vorlesen – und damit bei der Stimme. Ein unerwarteter Befund, denn eigentlich, so schien es zumindest, mußte die Stimme ihre Macht an die Schrift und an die neuen Aufzeichnungsapparate abtreten.
»Die Geschichte des Verschwindens der Stimme in der Schrift ist eine einflußreiche Standarderzählung der jüngeren Literaturwissenschaft, aber sie erzählt allenfalls eine Teilgeschichte. Ihr zentrales Phantasma, das Schriftmonopol, verdankt sie ihrer Taubheit gegenüber dem Stimmenzauber, der aus der Buchkultur selbst hervorgeht.« Das schreibt Lothar Müller in seinem 2007 erschienenen Kafka-Buch »Die zweite Stimme«. Das Schriftmonopol war demnach nicht so allmächtig, wie es zunächst schien. Denn die Buchkultur der Moderne bringt einen Stimmenzauber hervor, der sich in einer hochlebendigen Vortragskunst äußert: in den Rezitationskünstlern und Schauspielerinnen, die Literatur auf der Bühne zu Gehör bringen.
Eingebettet in diese fast vergessene »Geschichte der deklamierenden und rezitierenden Stimmen« ergibt sich ein überraschender Blick auf Kafka, der nicht nur ins Kino geht, sondern auch die Redehallen und Vortragsbühnen der Stadt besucht. Noch dazu liest er gern laut vor, ja, »aus seinem ekstatischen Vorlesen geht so etwas wie ein ›Glück am Text‹ hervor«, schreibt Müller. Mit dem scheuen, introvertierten Nerd der Kafka-Mythologie, der sich sein Reich der Schrift gegen den Vater errichtet, hat dieser selbstbewußte Vorleser nicht viel zu tun. Mit Müller können wir uns Kafka (zumindest zeitweise) als glücklichen Menschen vorstellen. Er wird zur Übergangsfigur zwischen alten und neuen Medien, alten und neuen Gefühlsregistern, bei denen die Hierarchien nie so klar sind, wie sie scheinen.
Um ein ähnliches Pingpong zwischen alten und neuen Medien geht es, wenn Lothar Müller »Die Epoche des Papiers« untersucht. »Weiße Magie« erschien im Jahr 2012 als eine weit ausholende und dabei wunderbar lesbare Geschichte des Trägermaterials, das unsere mediale Herkunftswelt bestimmt und die Phantasie der Schreibenden beflügelt. Gegen die starre Opposition von »Buchzeitalter versus Internet« setzt Müller darauf, daß sich »die Zukunft nicht immer in den aktuellen Prognosen abzeichnet, sondern manchmal in Herkunftsgeschichten versteckt«. Das digitale Geraschel, das beim Verschieben eines Dokuments in den Computer-Papierkorb zu hören ist, markiert eine Übergangszeit: Müller nennt diesen Übergang einen Rückzug, den er wiederum gegen das schnurgerade Ablösedenken setzt. Aber »Weiße Magie« bedeutet eben auch, die Metaphern zu erforschen, die das mächtige Material den Schriftstellerinnen und Schriftstellern aufgibt.
Daß das Material mitspielt und die Dinge ein Eigenleben führen, hat Lothar Müller vielleicht am eindrücklichsten in seinem 2019 erschienenen Buch über »Freuds Dinge« gezeigt. »Rätselhafte Inschriften« und die »Silbenchemie« einzelner Wörter bringen die Traumarbeit in Gang: Das Unheimlichkeitspotential der Zeichen besteht nämlich auch darin, daß die Wörter und Buchstaben ein Knochengerüst haben, das die Sinnproduktion austricksen kann. »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken« ist eine der Grundideen dieses Buchs, aber sie erstreckt sich aufs gesamte Interieur, von Freuds Couch über die antiken Figuren bis zu den Bleistiften, die in den Träumen auftauchen.
Das Papier als Trägersubstanz führt natürlich wieder zur Zeitung: In »Weiße Magie« erklärt Lothar Müller die Entstehung der Umschau 127 Massenpresse unter anderem mit Heinrich Manns Roman »Der Untertan«, dessen Protagonist sinnigerweise als Papierfabrikant Karriere macht. In »Freuds Dinge« sind es die Zeitungsreklamen, die den Druckbleistift wie auch den Wunderblock bewerben und damit immer neue Metaphernmaschinen anwerfen. Nicht zuletzt war Freud ein aufmerksamer Zeitungsleser, der überall Wort- und Bildmaterial einsammelte, das er verwenden konnte. Einfälle haben Produktionsbedingungen.
Wie kein zweiter kann Lothar Müller die historischen Spuren solcher Einfälle entziffern – und damit die Gedankenwelt unserer Gegenwart durchleuchten. Möglich wird das durch ein geradezu enzyklopädisches Wissen, das mit Anschaulichkeit, stilistischer Brillanz und aufklärerischem Witz einhergeht. Als Spurenleser ist er unübertroffen, als Beobachter und Vertreter des Pressewesens unentbehrlich. Wer seine Bücher und Artikel liest, findet, soviel ist sicher, das »Glück am Text«.
SINN UND FORM 1/2023, S. 123-127
Perten, Hanns Anselm
- 1-2-3/1957 | Stimmen der deutschen Bühne zum Tode Brechts
Perthen, Christine
Peter, Carmina
- 5/2014 | »Eine lebendige Statue des Schmerzes«. Über M. Blecher, S. 658 Leseprobe
Peter, Carmina
»eine lebendige Statue des Schmerzes» Über M. Blecher
I
Als der Militärarzt und Dichter Saşa Pană im Frühjahr 1936 in die moldauische Provinz versetzt wird, nutzt er die Gelegenheit zu einem seit langem ersehnten Besuch und legt einen Zwischenaufenthalt in der Kleinstadt Roman ein. Der unermüdliche Verfechter der Bukarester Avantgarde ist nicht der einzige, den es an den unscheinbaren Ort im Nordosten Rumäniens zieht. Seit zu Jahresbeginn »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, das außergewöhnliche Prosabuch des jungen Autors M. Blecher, erschienen ist, pilgern Bukarester Schriftsteller in das Provinzstädtchen. Der in Roman aufgewachsene Blecher hatte die Stimmungen und die Abgelegenheit der Kleinstadt als Erfahrungsräume moderner Befindlichkeiten literarisch in Szene gesetzt. Seit 1934 lebt der Schwerkranke in einer einsamen Gegend am Stadtrand, wo er sich eine ungewöhnliche Lebens- und Arbeitsstätte geschaffen hat.
Blecher leidet an Knochentuberkulose und ist seit Jahren an ein fahrbares Rollbett gefesselt. Das malerische Haus mit Veranda und verwildertem Obstgarten, das er mit väterlicher Unterstützung erworben hat, vereint die Vorzüge eines Schweizer Sanatoriums mit der Vertrautheit der familiären Umgebung. Hier »am Rand der Welt«, wo allein Trompetenrufe der nahegelegenen Regimenter die Stille durchbrechen, schreibt er seine Prosa voll Empfindungsintensität und Wahrnehmungsunruhe. Auch der 1936 erscheinende Roman »Vernarbte Herzen« und das Sanatoriumstagebuch »Beleuchtete Höhle«, das Saşa Pană 1971 posthum herausgibt, entstehen hier. Gelegentlich empfängt Blecher Vertreter der Bukarester Literaturszene: Pană, Miron Grindea, Mihail Sebastian und den geliebten Geo Bogza, den er 1934 in der Gebirgsstadt Braşov kennenlernt und mit dem ihn fortan eine enge Freundschaft verbindet. Unter den zahlreichen literarischen Zeugnissen der Besucher sticht besonders Panăs Porträt hervor, das sich von der Betroffenheit des unmittelbaren Eindrucks löst - vielleicht auch weil es wiederholt bearbeitet und aus der Erinnerung überformt wurde. »Bleich« und »schön«, »wie eine lebendige Statue des Schmerzes« in ungewöhnlicher Körperhaltung auf dem Bett liegend, erscheint Blecher hier als das bewegende und zugleich kuriose Bild eines Schriftstellers bei der Arbeit: »Auf den kleinen Tischen rechts und links vom Bett türmten sich, soweit die elfenbeinernen Hände greifen konnten, eben erschienene gute Bücher und die allerneuesten Zeitschriften, die ihm Freunde aus dem Ausland zukommen ließen.« »Er lehnte ein Brett mit schräg angeschnittenen Stützbeinen gegen die Knie und hielt – in der gleichen Stellung, in der er schlief und seine Mahlzeiten einnahm – das Buch oder das Heft.« »Ein Leben in der immer gleichen Position: auf dem Rücken liegend, die Knie zu einem umgedrehten W versteinert.« ("Cu inima lângă M. Blecher«, Im Herzen bei M. Blecher, 1947) Wie ein unbeweglicher Schreibakrobat wirkt der kranke Autor in Panăs Darstellung, als wollte sich der Bukarester Surrealist Blechers unpathetischen Blick auf seine Krankheit zu eigen machen. Das Porträt erinnert an die traurige Faszination für jene Jahrmarktskünstler in »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, die artistisches Kapital aus ihren körperlichen Mängeln schlagen. Auf dem Jahrmarkt vereinigen sich für Blecher die Sehnsüchte der Welt: »Den ganzen Tag hindurch lief ich über den Jahrmarkt und vor allem über das angrenzende Feld, wo die Artisten und die Monster aus den Buden sich struppig und verdreckt um den Kessel mit dem Maisbrei versammelten, herabgestiegen von ihren schönen Dekors und ihrem nächtlichen Akrobatendasein als Damen ohne Unterleib und Sirenen in die allgemeine Sauce und das Elend ihrer unverrückbaren Menschlichkeit.« Blecher läßt seife- und steineschluckende hagere Alte auftreten, Mädchen, die ihre zarten Körper verrenken, einen Artisten mit künstlichem Kehlkopf, der unnachahmlich Zigarettenrauch durch den Hals ausatmet. Für Mitleid ist der Jahrmarkt nicht der rechte Ort. In das Staunen über Blechers Artisten mischen sich aber Erschrecken und Verblüffung, denn in ihren Darbietungen zeigt sich der Zwiespalt des Leibs in seiner Begrenzung und seinem Vermögen, in seiner Hinfälligkeit und seiner Schöpferkraft. Der Körper wird nicht auf seine Gebrechen reduziert, vielmehr werden diese zum Ausgangspunkt einer sonderbaren Artistik, die Grenzen und Mängel der Physis ästhetisch transzendiert. Diese Kunst der gegen sich selbst gerichteten Körper steht sinnbildlich für M. Blechers autobiographische Poetik.
II
1909 in Botoşani geboren, gehört Max Blecher, der bis 1934 Beiträge gelegentlich unter Pseudonym veröffentlicht, zu einer Generation rumänischer Intellektueller, die ihr Bewußtsein in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren theoretisch zu erkunden versuchen. Mircea Eliade betont in »Intinerariu spiritual« ("Geistiger Wegweiser«, 1927) den unbändigen Durst nach Erfahrung, und N. Steinhardt erinnert sich später fast wehmütig an eine Generation im »Aufruhr des Daseins«, »voller Rastlosigkeit, Hoffnung und erregter Eile« ("Geo Bogza: un poet al efectelor, exaltării, grandiosului, solemnităţii, exuberanţei şi patetismului«, »Geo Bogza, ein Dichter der Wirkungseffekte«, 1982). In der Enge der rumänischen Provinz stößt der schöpferische Drang jedoch schnell an Grenzen. Roman ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Beteiligt sich Blecher als Gymnasiast noch mit jugendlichem Elan am kulturellen Leben der Kreishauptstadt und verfaßt Filmrezensionen für die Lokalzeitschrift, so zeigt er sich später von der Kleingeistigkeit seiner Mitbürger regelrecht abgestoßen: »Wenn es das Schreiben nicht gäbe, hätte mein Leben keinen Sinn, denn was sich jenseits davon abspielt, erscheint mir uninteressant, reiz- und zusammenhanglos, die Menschen, denen ich hier begegne, sind stupide, banal, ohne Leidenschaft, es sind lebendige Tote, ganz besonders diese Kleinbürger, die ich so gut kenne und die mir unerträglich sind«, schreibt er am 7. Juli 1935 an Geo Bogza. Vom kulturellen Phlegma der Provinzstadt berichtet auch Miron Grindea, der spätere Herausgeber der Londoner Exilzeitschrift »Adam«. Bei einem Besuch in Roman 1937 wundert er sich darüber, daß der Ruf des Dichters Blecher noch immer hinter dem des angesehenen Vaters zurückgeblieben ist.
Wie Franz Kafka und Bruno Schulz stammt auch Blecher aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Vater hat eine kleine Terrakottafabrik geerbt und betreibt im Zentrum der Kleinstadt, wo die Familie seit Generationen ansässig ist, ein Geschäft mit Porzellan- und Glaswaren. Nach dem Gymnasialabschluß bereitet sich der junge Blecher auf das Medizinstudium vor. Mit dem Gesetz zur Einbürgerung der Juden 1923 werden die rumänischen Universitäten zunehmend zum Schauplatz antisemitischer Diskriminierungen und Gewaltakte. Mihail Sebastian schildert diese beklemmenden Umstände in seinem Tagebuch-Roman »Seit zweitausend Jahren« und löst damit 1934 den vielleicht größten Skandal der rumänischen Literaturgeschichte aus. Sie dürften auch eine Rolle gespielt haben, als sich Blecher für einen Studienort im Ausland entscheidet. Viele jüdisch-rumänische Schriftsteller leben und arbeiten zu diesem Zeitpunkt bereits in den westeuropäischen Metropolen. Insbesondere Tristan Tzaras und Benjamin Fondanes Paris wird zum Sehnsuchtsort für ihre Generationsgenossen. 1929 bricht Blecher mit einem Jugendfreund nach Paris auf. Letztlich schreibt er sich jedoch an der medizinischen Fakultät in Rouen ein. Nur wenige Monate später gibt ein Arztbesuch seinem Leben eine radikale Wendung. Als er seine immer wiederkehrenden Rückenschmerzen untersuchen läßt, erhält er die Diagnose Knochentuberkulose. Die Ärzte empfehlen einen Aufenthalt in Berck-sur-Mer, einer Sanatorienstadt an der französischen Ärmelkanal-Küste. Für den jungen Blecher beginnt eine Reise ins Ungewisse durch verschiedene europäische Kurorte: Berck, das schweizerische Leysin, Tekirghiol am Schwarzen Meer, das transsilvanische Braşov.
III
Als Blecher 1929 in Berck eintrifft, hat die späte Blütezeit der Sanatorien bereits begonnen. Fünf Jahre zuvor hatte Thomas Mann im »Zauberberg« die Lebenswelt der Tuberkulose-Kranken zum symbolischen Ort des Untergangs einer Kulturepoche gemacht. In der Topographie der Moderne wird das Sanatorium zur Flucht- und Verweilstätte einer geschäftigen Bevölkerung, der in den großstädtischen Agglomerationen die Luft zu knapp geworden ist. Das Fischerdorf Berck entwickelt sich, nachdem Kaiserin Eugénie 1868 hier das Maritime Krankenhaus zur Behandlung der auch »Pott’sche Krankheit« genannten Knochentuberkulose gegründet hat, zu einem florierenden Kurort, der Kranke wie Touristen beherbergt. Doch Berck ist kein Ableger des mondänen Davos, die Krankheit prägt das Erscheinungsbild der Stadt. Bei der Knochentuberkulose handelt es sich um eine bakterielle Entzündung insbesondere der Wirbelsäule, die in chronischen Phasen zu Eiterbildung und zur Zerstörung der Knochensubstanz führt. Zu Blechers Zeiten wird sie durch Eingipsung und komplette Ruhigstellung der betroffenen Körperteile behandelt. Man glaubt, die orthopädische Behandlung durch Sonnen- und Meeresluftkuren unterstützen zu können. In dieser malerischen Szenerie ist der Patient zu monatelanger Unbeweglichkeit verurteilt.
Ein Schnappschuß, aufgenommen an der Küste von Berck, zeigt den in einer Spezialkutsche liegenden, elegant gekleideten Blecher. Den linken Arm hat er unter dem Kopf angewinkelt, was lässig aussehen könnte, wäre da nicht die Anspannung der gesamten Körperhaltung. Vor dem Gespann steht aufrecht die Mutter, Bella Blecher. Sie wirkt befremdet, als wolle sie jeden Anschein von Müßiggang vermeiden. Diese Fotografie gibt einen Einblick in die verkehrte Welt der Krankenstadt, die Blecher später mit großer Wahrnehmungsschärfe und Sinn für das Groteske ausgestaltet. Das »Leben in der Horizontale« wird zum Hauptgegenstand seiner literarischen Reflexionen, zum Zeichen für die Kontingenz des Daseins, das alle Denk- und Verhaltensgewohnheiten in Frage stellt. Wie einem insolite quotidien, einer ausgefallenen Alltäglichkeit werden seine Figuren dieser unheimlichen Realität der Körper begegnen und ihr Menschsein in der kaum auszuhaltenden Spannung zwischen Gipspuppe und närrischem Pojaz, zwischen lebendiger Statue und Akrobat wiederfinden.
IV
Während der Bercker Jahre von 1929 bis 1933 gewinnen Blechers literarische Bemühungen zunehmend an Kontur. Von Beginn an gilt sein Interesse den Ästhetiken des Modernismus und der Avantgarden. Die ersten, 1929 in Berck-Plage verfaßten Krankenporträts »Herrant« und »Don Jazz« veröffentlicht er in Tudor Arghezis satirischer Zeitschrift »Bilete de papagal«. Das in Rumänien einzigartige Miniaturblatt steht für ästhetische Originalität, Nonkonformismus und Experimentierfreude und ist daher das geeignete Publikationsorgan für Prosaskizzen, die ein ausgeprägtes Bewußtsein für Spracheffekte verraten. Blecher bringt verblüffende Vergleiche, spart konkrete Details aus oder verfremdet sie. Der Kranke ist eine bizarre Figur, die nicht wegen ihres Leidens, sondern als unbegreifliche, paradoxe Erscheinung ästhetisch interessant ist. Damit beginnt seine Auseinandersetzung mit der Krankheit im Medium der Sprache. Später, im Porträt »Jenică« (1933) oder in der literarischen Reportage »Berck, Stadt der Verdammten« (1934), wird er auch zu empathisch-ironischen Betrachtungen finden.
Noch bevor seine ersten Prosaminiaturen erscheinen, findet Blecher in Berck Anschluß an den Surrealismus. 1931 begegnet er dem gleichaltrigen Dichter Pierre Minet, einer schillernden Figur aus dem Kreis um die Zeitschrift »Le Grand Jeu«. In einem Tagebucheintrag beschreibt Minet, wie eng für Blecher die Krankheit mit der ästhetischen Suche zusammenhängt. Worüber Blecher auch nachdenke – ob über die Poesie oder über die Philosophie Nietzsches –, im Grunde gehe es ihm stets um die Auswirkungen der Krankheit auf sein Bewußtsein und seine Gefühlswelt; er verstricke sich andauernd in Widersprüche, mache aus schwarz weiß und aus weiß schwarz. Es ist kein schmeichelhaftes, aber ein erkenntnisreiches Porträt. Vor allem eins vermutet Minet hinter Blechers verzweifelten Denkanstrengungen, nämlich den Willen, die zerstörerischen Folgen der Krankheit abzuwehren und sich selbst nicht aufzugeben: »Er diszipliniert sich, um sich nicht zu verlieren (eine lauernde, tödliche Gefahr)«. Diesen Eindruck bestätigt auch der rumänische Avantgardedichter Bogza, Blechers engster Freund und literarischer Weggefährte, der für ihn sogar in die Rolle des Literaturagenten schlüpft. Wie kein anderer nimmt er am Leben und Schaffen des ans Bett Gefesselten Anteil und schreibt ihm zahlreiche Briefe, aus denen dieser in seiner Isolation Kraft schöpft. Für Bogza ist bereits das erste Prosabuch des Freundes, »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, in dem die Krankheit nur eine untergeordnete Rolle spielt, von einer Art Revolte gegen die biologischen Gegebenheiten bestimmt. Blecher gibt an keiner Stelle seines Werks der Versuchung nach, dem physischen Leid eine Sinndimension abzugewinnen, im Gegenteil. In »Beleuchtete Höhle« ächtet er es als angebliche Quelle schöpferischer Inspiration. Er nimmt die surrealen Aspekte der Welt der Tuberkulosekranken in den Blick und hält die Erinnerung daran gleichsam auf Distanz. Schreiben ist bei ihm stets Einübung in eine unpersönliche Betrachtung der Krankheit. Davon zeugt schon sein antipathetischer Stil. Auch in Zeiten größter Verzweiflung, in denen die Resignation in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck kommt, lotet sein fiktionales Ich die Grenzen zwischen Traum, Wirklichkeit und Erinnerung aus und behält sich das Recht vor, das Pathos der Existenz auf der »inneren Bühne« mit imaginären Gummitierchen zu brechen , die Akrobatenkunststücke und komische Salti machen: »Es bleibt sich mithin gleich, ob wir nun träumen oder leben. (…) Wenn wir dann trotzdem versuchen würden zu glauben, die Tatsachen seien von uns unabhängig, reichte es, in einem tragischen Moment die Augen zu schließen, um eine so strikte und hermetische innere Unabhängigkeit vorzufinden, daß wir darin jede Erinnerung, jeden Gedanken und jedes Bild, alles, was uns beliebt, plazieren zu können.« Bis zuletzt bekunden seine literarischen Ich-Figuren eine ungebrochene Faszination für die »leicht verrückte« Wirklichkeitsbetrachtung »aus einer gewissen Distanz außerhalb der Realität« (Beleuchtete Höhle, 2008), die das persönliche Leidensschicksal hinter sich läßt.
SINN UND FORM 5/2014, S. 658-663
Petersdorff, Dirk von
- 1/2020 | An eine Dreizehnjährige. Gedicht
- 4/2022 | Neue Xenien. Gedichte [Gabriele Helen Killert, Kornelia Koepsell, Kerstin Hensel, Dirk von Petersdorff]
Petöfi, Sándor
- 1/1973 | Gedichte
Petreu, Marta
- 1/1996 | Gespräch mit Norman Manea
Petri, Walther
- 5/1990 | Hen Ryk
Petrov, Ivan
- 5/1994 | Das Fenster
Petrow, Wsewolod
- 1/2014 | Erinnerungen an Charms. Mit einer Vorbemerkung von Oleg Jurjew
- 1/2015 | Erinnerungen an Michail Kusmin und
Anna Achmatowa. Mit einer Nachbemerkung von Oleg Jurjew, S. 36 Leseprobe
Petrow, Wsewolod
Erinnerungen an Michail Kusmin und Anna Achmatowa
Cagliostro
Man mußte in den vierten Stock eines großen Petersburger Hauses in der ruhigen Spasskaja-Straße, die allerdings schon lange Ryleew-Straße hieß. Man mußte dreimal die Klingel der Gemeinschaftswohnung drücken. Dann öffnete sich die Tür, und dahinter entstand eine magische Atmosphäre. Hier wohnte ein Mensch, der Cagliostro ähnelte – Michail Alexejewitsch Kusmin.
Er war einer der Bewohner einer zugemüllten und engen Gemeinschaftswohnung der dreißiger Jahre. Außer Kusmin und seinen Angehörigen wohnte dort eine menschen- und kinderreiche jüdische Familie, deren Mitglieder zwei unterschiedliche Nachnamen trugen: Die einen waren Shpitalniks, die anderen Tschernomordiks. Manchmal kroch eine füllige ältere Jüdin, die wohl leicht schwerhörig war, zum Telefon im Flur heraus und schrie laut in den Hörer: »Hier ist die greise Tschernomordik!« Aus irgendeinem Grund stellte sie sich ihren Gesprächspartnern genau so vor, obwohl sie nicht älter als fünfzig oder fünfundfünfzig zu sein schien. Und einmal hörte Kusmin leisen Gesang hinter der Nachbarstür. Kinder sangen, vermutlich im Kreis aufgestellt und sich an den Händen haltend: »Wir sind Shpitalniks, wir sind Shpitalniks!« Kusmin fand, daß das für sie ein Akt der Selbstbehauptung angesichts der Wirklichkeit war. Außerdem wohnte dort ein stotternder dicker Mensch namens Pipkin. Er bat die Nachbarn aus irgendeinem Grund, ihn Jurij Michajlowitsch zu nennen, obwohl er in Wirklichkeit einen ganz anderen Vor- und Vatersnamen hatte. Wenn man seiner Bitte nachkam, fing er aus Dankbarkeit an, auch Jurij Iwanowitsch Jurkun mit Jurij Michajlowitsch anzureden. Wieso er diesen Vorund Vatersnamen so sehr mochte – ob aus Pietät gegenüber J. M. Jurjew oder aus anderen Gründen – ist ungeklärt geblieben.
Manchmal kamen aus der Nachbarwohnung junge Georgier namens Wirsaladse hierher, um zu telefonieren. Kusmin nannte sie beharrlich Weselidse.
Der Hausmeister aus der Riege der ehemaligen Fähnriche, eine Lieblingsfigur J. I. Jurkuns, der ihn oft gezeichnet hat, empfand Verehrung für den Beruf des Schriftstellers. Er pflegte zu sagen, daß an dem Haus irgendwann eine Marmortafel hängen würde mit der Aufschrift: »Hier wohnten Kusmin und Jurkun, und der Hausmeister schikanierte sie nicht.« Wie man sieht, rechnete er auch für sich mit einem Anteil am Nachruhm.
Schräg gegenüber, in der früheren Nadezhdinskaja, hatten einmal Freunde von Kusmin gewohnt, die Briks. Und auch das Schild »In diesem Hause lebte Majakowski« gab es schon.
Kusmin beteuerte, daß er Gemeinschaftswohnungen möge: Dort sei es nicht so langweilig. Allerdings muß er, denke ich, bei aller Umgänglichkeit und Leutseligkeit seines Charakters, bei all seiner freundlichen Leichtigkeit, doch unter der Enge und dem Mangel an Ruhe in dieser nicht langweiligen Wohnung gelitten haben. Er belegte zusammen mit Jurij Iwanowitsch Jurkun zwei Zimmer mit Fenstern zum Hof. Eines davon war ein Durchgangszimmer – eben jenes, wo Michail Alexejewitsch arbeitete und wo sich das Leben hauptsächlich abspielte. Kusmin und die Seinen schrieben, zeichneten, musizierten dort. Dort empfing man die Gäste. Die Shpitalniks, Pipkin, die Wesilidses und die Tschernomordiks durchquerten das Zimmer manchmal auf dem Weg zur Küche. Das zweite Zimmer war das Refugium der alten Veronika Karlowna, der Mutter Jurkuns. Gäste hatten dort keinen Zutritt. In Kusmins Zimmer stand ein weißes Klavier, das absichtlich leicht verstimmt war, damit es wie ein Cembalo klang. Zwischen den Fenstern stand ein kleiner Schreibtisch mit einer dicken Glasplatte; darüber befand sich ein Bücherregal mit der Gesamtausgabe von d’Annunzios Werken, den Michail Alexejewitsch mochte, wofür er sich ein wenig schämte.
Über den Büchern hing eine alte Ikone des heiligen Georg. Es gab eine Couch, ein paar Stühle und einen riesigen Wandschrank, der mit Büchern und Ordnern vollgestopft war, in denen die Zeichnungen und vielfältigen Sammlungen J. I. Jurkuns aufbewahrt wurden. Auf den runden Eßtisch pflegte man den Samowar zu stellen. Das Leben war offen vor den Gästen ausgebreitet. Jeden Tag von fünf bis sieben kamen welche. Sie erschienen ohne Einladung und konnten Bekannte mitbringen. Michail Alexejewitsch saß vor dem Samowar und goß allen Tee ein. Manchmal sagte er, sein Samowar werde irgendwann zu einer literaturgeschichtlichen Reliquie werden und in ein Museum kommen. Dazu kam es nicht. Nach der Verhaftung J. I. Jurkuns verschwanden alle Besitztümer Michail Alexejewitschs spurlos. Lediglich ein Amateurfoto ist erhalten geblieben, das Kusmin vor dem Samowar zeigt. Nach dem Tee setzte er sich ans Klavier und spielte meistens Mozart oder Debussy, und in seltenen Fällen sang er mit halber Stimme. Von den Gästen wurde dabei keine Gebetsstille verlangt; sie unterhielten sich lautstark weiter.
Im Frühling 1933 brachte mich der Maler K. E.Kostenko, mein Arbeitskollege im Russischen Museum, in dieses Haus. Wir kamen zur Empfangszeit, zwischen fünf und sieben. Am Tisch saß schon eine ziemlich große Gesellschaft. Michail Alexejewitsch stand beim Samowar. Mit ihm empfingen Jurij Iwanowitsch Jurkun, jugendlich und schön wie Dorian Gray, und Olga Nikolajewna Gildebrandt-Arbenina, Jurkuns Frau, die Gäste. Ich habe mich mit beiden bald darauf angefreundet. Von den Menschen, die ich an jenem Tag am Teetisch bei Kusmin traf, erinnere ich mich an den Dichter Konstantin Waginow, den Dichter und Übersetzer Benedikt Lifschitz sowie an Boris Sergejewitsch Mosolow, den Freund der Dichter, den Gumiljow, Pjast, G.Tschulkow und Wjatscheslaw Iwanow kannten und mochten. K. E.Kostenko und ich wurden an jenem Tag schon eingeladen, an jedem beliebigen Tag von fünf bis sieben Uhr vorbeizukommen.
[…]
Aus dem Russischen von Daniel Jurjew
Mit einer Nachbemerkung von Oleg JurjewSINN UND FORM 1/2015, S. 100-112, hier S. 100-102
- 6/2018 | Das Nichts. Drei Erzählungen
Petruschewskaja, Ludmila
- 3/1990 | Gespräch mit Antje Leetz
Pfeifer, Anke
- 5/2007 | Balkan und Balkanismus versus Europa
- 5/2007 | Gespräch mit Nora Iuga
- 3/2012 | Gespräch mit Mircea Cartarescu, S. 690 Leseprobe
Pfeifer, Anke
Gespräch mit Mircea Cărtărescu
ANKE PFEIFER: Sie gelten als einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren und sind auch jenseits der Landesgrenzen sehr bekannt. Seit dreißig Jahren veröffentlichen Sie Lyrik, Prosa und Essays. Vor zwei Jahren haben Sie die umfangreiche Trilogie »Orbitor« beendet, die zum Teil auch schon auf deutsch vorliegt. Als der abschließende dritte Band erschien, sagten Sie, dieses Romanwerk sei das beste Buch, das Sie schreiben konnten, und was nun komme, sei nur noch ein Anhang. Sind Sie immer noch dieser Meinung?
MIRCEA CĂRTĂRESCU: Es wäre sehr traurig, wenn ich das immer noch glaubte. Als ich es seinerzeit sagte, lastete auf mir der kolossale Druck der vierzehn Jahre, die ich an »Orbitor« geschrieben hatte. Ich verspürte eine akute Erschöpfung, die über ein Jahr anhielt. Nach dieser Trilogie, in der ich versuchte, mich eins zu eins abzubilden, wobei ich nicht weiß, ob mir das gelungen ist, war es wirklich schwierig, weiter zu schreiben. Inzwischen habe ich es jedoch geschafft, das Buch zu vergessen, und bin versessen darauf, etwas Neues zu schaffen.
PFEIFER: Ich nehme an, es wird sich wieder um Prosa handeln, sagten Sie doch kürzlich bei einer Lesung in Berlin, daß Sie keine Poesie mehr schreiben.
CĂRTĂRESCU: Poesie bedeutet zweierlei. Einerseits eine bestimmte Art und Weise, die Welt zu verstehen, sie mit den Augen eines Kindes zu sehen, vor aller intellektuellen Erfahrung. So gesehen gibt es Dichter, die nie ein Gedicht geschrieben haben. Ich habe versucht, für immer Kind oder Heranwachsender zu bleiben, gerade aus diesem Bedürfnis nach Poesie heraus, das ständig in mir ist. Ich lese viel, ganz unterschiedliche Sachen, und überall suche ich die Poesie. Selbst wenn ich einen realistischen Roman, ein Buch über Biologie oder Theologie oder auch die Bibel lese – bei allem interessiert mich hauptsächlich diese besondere poetische Weise, die Dinge zu betrachten. Aber Poesie bedeutet auch noch etwas anderes, nämlich ein literarisches Genre mit spezifischen Regeln, wobei mir die offensichtlichste Regel am wichtigsten erscheint: daß die Zeilen am linken Seitenrand beginnen und nicht bis zum rechten gefüllt werden. In diesem Sinne schreibe ich keine Verse mehr, wohl aber Poesie in Form von Romanen, Essays, Tagebüchern. Ich fühle, daß ich genau zu dem Zeitpunkt mit der Lyrik aufhörte, als ich nicht mehr in der Lage war, konzentriert und wahrhaftig Gedichte zu schreiben. Daher bin ich froh, daß ich die Kraft hatte, auf dieses Genre zu verzichten. Neben den sechs oder sieben Lyrikbänden aus meinem frühen Schaffen gibt es noch einen, den ich bisher nicht publiziert habe. Es war der letzte, den ich seinerzeit geschrieben hatte, und derjenige, bei dem mir wirklich klarwurde, daß sich meine poetischen Quellen erschöpft hatten. Damals war ich unzufrieden und habe ihn nicht publiziert. Heute möchte ich ihn als eher psychologisches denn ästhetisches Dokument herausgeben. Als ich ihn nach so langer Zeit in einem Schuhkarton entdeckte und wieder las, schien er mir überraschenderweise frisch und interessant, weil er wie heutige Lyrik klang. Und so habe ich gedacht, daß eine Veröffentlichung durchaus interessant sein könnte. Der Band heißt »Nimic« (Nichts) und ist ein Kontrapunkt zu dem in meiner Jugend entstandenen Band »Totul« (Alles).
PFEIFER: »Levantul« (Levante), ein Poem, das Sie für Ihr bestes lyrisches Werk halten, erschien 1990 und war auch Ihr letztes. War Ihr Abschied von der Lyrik gerade zu diesem Zeitpunkt Zufall oder hatte er auch mit anderen Dingen zu tun, zum Beispiel mit den tiefgreifenden Veränderungen im damaligen Rumänien?
CĂRTĂRESCU: »Levantul« war ein Abschied von der Jugend und eine Art Quintessenz von Formen der rumänischen Literatur, die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Geltung hatten. Das Buch hat gleichsam eine Kunstepoche beendet, sagen wir, die Moderne der rumänischen Lyrik, und etwas anderes eingeleitet, sagen wir, die Postmoderne. Es ist neben »Nostalgia« und »Orbitor« mein bestes Buch. Aber die Tatsache, daß ich zur Prosa gewechselt bin, ist auch einer äußeren Ursache geschuldet, nämlich der Existenz zweier verschiedener Literatenkreise, in denen ich gleichzeitig verkehrte. Es gab den von Nicolae Manolescu geleiteten »Cenaclu de luni« (Montagskreis), der sieben Jahre lang, von 1977 bis 1984, bis er wegen angeblicher Subversivität aufgelöst wurde, wöchentlich Sitzungen durchführte, an denen ich immer teilnahm. Außerdem ging ich noch zum Literaturkreis »Junimea« (Jugend) unter der Leitung von Ovid S. Crohmălniceanu. Während im »Montagskreis« überwiegend Lyrik gelesen wurde, war die »Junimea« ein Treffpunkt für Prosainteressierte. Meine besten Freunde waren Prosaisten, und für mich war das Schreiben von Prosa eine Art Hommage an diese Menschen. Zunächst entstanden fünf Erzählungen, die später genau in der Reihenfolge ihres Entstehens den Band »Nostalgia« bildeten. Angefangen habe ich mit dem »Roulettespieler«, den ich mit Erfolg im Literaturkreis vortrug, so daß ich mich entschloß, mit längeren Erzählungen weiterzumachen. Die einzige Erzählung, die ich dort nicht mehr lesen konnte, ist »Rem«, meiner Meinung nach die beste des Bandes. Dann habe ich mich entschlossen, Berufsschriftsteller zu werden, eine Entscheidung, die zumindest in den neunziger Jahren fortwährend Zweifel und Krisen nach sich zog.
PFEIFER: Was sagten Ihre Eltern damals zu Ihrer künstlerischen Betätigung?
CĂRTĂRESCU: Sie haben mich nicht gerade ermutigt, im Gegenteil. Als einfache Leute ohne große kulturelle Bildung waren ihnen meine modernen Gedichte völlig unverständlich. Erst sehr viel später, vielleicht im Zusammenhang mit dem relativen materiellen Erfolg, begriffen sie, daß ich etwas Ernsthaftes machte. Doch wegen ihrer Aufrichtigkeit sind sie mir lieb und teuer. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, haben sie es mir direkt gesagt.
PFEIFER: Für die 80er Generation war Schreiben Lebensersatz, Flucht aus der Wirklichkeit. Sie selbst sagten einmal, daß Sie bis zu Ihrem vierunddreißigsten Lebensjahr, also bis 1990, im wesentlichen in Büchern gelebt haben. Wie ist das heute?
CĂRTĂRESCU: Ich würde nicht sagen, daß das Verfassen von Literatur für uns damals eine Flucht aus der Wirklichkeit war. Im Gegenteil, die Realität bedeutete einen Rückzug vom Schreiben, einem Schreiben, das uns alles bedeutete. Wir waren jung, naiv. Wir konnten Rumänien nicht verlassen und somit unsere Situation nicht wirklich einschätzen. Wir hatten den Eindruck, die Realität müsse so sein, wie sie war, und die Literatur half uns zu überleben, durchzuhalten. Meine Kollegen und ich haben unter gräßlichen Bedingungen gearbeitet, aber die Literatur, die wir schufen, wird für immer die Literatur jener Zeit sein. Wir haben versucht, wie freie Menschen zu schreiben.
PFEIFER: Waren die Literaturkreise nicht eine Art Parallelwelt?
CĂRTĂRESCU: Eigentlich war die Wirklichkeit eine Parallelwelt der Literaturkreise, denn die waren für uns die Normalität. Es gab in den achtziger Jahren einen kulturellen Aufbruch, trotz Dunkelheit, Kälte und Elend. Es gab ein kleines normales Rumänien inmitten eines immensen paranormalen Rumänien. Ich weiß nicht, wie es zur Rede vom Widerstand durch Kunst gekommen ist. Eigentlich zählte nur die Kultur, sie war weder Widerstand noch Flucht. Sie war real, während die übrige Realität meiner Meinung nach anormal war.
[…]
SINN UND FORM 3/2012, S. 383-394.
Pfeifer, Arthur
- 4/2005 | Briefe an Gerda Baumann
Pfeiffer, Alfred
- 4/1975 | Leserbrief
Pfeiffer, Hans
- 4/1955 | Junge Autoren über Theaterprobleme. Wirkung und Wirklichkeit des Schaustücks
Pfelling, Liane
- 1/1968 | Fradkins Brecht-Buch
Pfennig-Just, Dagmar
- 5/1989 | ...lebendig begraben
Pfennig, Matthias
- 3/1991 | Gedichte
Pfütze, Hermann
- 1/2005 | Die Kunst »entkunsten«. Über Jochen Gerz
- 1/2016 | Tino Sehgal. Situationen zwischen Kunst und Alltag
Pfützner, Dankwart
- 4/1952 | Neue Lyrik. Gedicht
Philipp, Michael
- 6/1991 | Vierzig Jahre Castrum Peregrini
Philippe, Charles-Louis
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Philippide, Alexandru
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- 2/2023 | Hans Magnus Enzensberger und das Totengespräch
Picasso, Pablo
- 6/1981 | Der Künstler
Pick, Erika
- 2/1973 | Gespräch mit Eduard Claudius
- 5/1974 | Gespräch mit Benito Wogatzki
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Pielenz, Arno
- 3/1974 | Zu »Die neuen Leiden der jungen Lyrik«
- 1/1984 | Nichts gegen Homer - Wortmeldungen zu Erich Köhlers gleichnamigem Aufsatz
Pielow, Winfried
- 4/1994 | Die ungesäumte Wegwerfung des Lebens - Der Diskurs des Offiziers Axel von dem Bussche
Pieper, Josef
Pieske, Manfred
Pietraß, Richard
- 2/1982 | Der Tropfen Leben. Walter Ballhause / Johannes R. Becher: »Überflüssige Menschen«, Fotografien und Gedichte aus der Zeit der großen Krise, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1981
- 2/1984 | Seitenblicke
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- 2/2000 | Gedichte
- 2/2011 | Pariser Lust
- 5/2013 | Dichter offener Wunden. Grabrede für Rolf Haufs
- 1/2015 | Der verwaiste Spaten. Meine Begegnung mit Seamus Heaney
- 5/2020 | Eine nicht erträumte Heimat. Vorstellungsrede an der Darmstädter Akademie
- 2/2021 | Fürwitz. Gedichte
Piglia, Ricardo
Pilinszky, János
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Pitschmann, Siegfried
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- 3/2016 | Aufzeichnungen eines Lehrlings. Mit einer Vorbemerkung von Kristina Stella, S. 446 Leseprobe
Pitschmann, Siegfried
Aufzeichnungen eines Lehrlings
Vorbemerkung
Siegfried Daniel Pitschmann, ein kaum bekannter ostdeutscher Meister der Short story, wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen Grünberg (heute Zielona Góra) geboren und war das zweitälteste von sechs Kindern des Tischlermeisters Daniel Pitschmann und seiner Frau Lucie, die einer alteingesessenen schlesischen Handwerker- und Lehrerfamilie entstammte. Anfang 1945 wurde die Familie mit einem der letzten Flüchtlingszüge, die unversehrt aus Grünberg herauskamen, evakuiert. Zwei Kinder lebten schon nicht mehr: Siegfrieds kleine Schwester Dorothea starb mit zehn Monaten, der ältere Bruder Gottfried war, noch nicht achtzehnjährig, in den letzten Kriegsmonaten gefallen. Die Familie landete nach mehr als vierzehntägiger Fahrt in Mühlhausen in Thüringen. Pitschmanns Kindheit war, wie er später sagte, »für immer verloren«.
In zahlreichen literarischen Texten, die ab 1946 entstanden, verarbeitete er seine Erlebnisse. Auslöser war ein Preisausschreiben des Volksbildungsministeriums, bei dem das beste Jugendbuch Thüringens prämiert werden sollte. Pitschmann las in der Zeitung davon und begann spontan zu schreiben. Wegen seines »beachtlichen Erzähltalents« erhielt der Sechzehnjährige für die Erzählung »Monika und Friederchen« einen Anerkennungspreis. Er entdeckte Rilke, dem er sich seelenverwandt fühlte. 1948 begann er mit den »Aufzeichnungen eines Lehrlings« – eines Lehrlings, der eigentlich Modelltischler oder Musiker sein wollte, bis ihn die Liebe zu den Uhren packte. Die handwerkliche Präzision des Uhrmachers wurde zum Markenzeichen von Pitschmanns Texten; doch die Perfektion, die er sich abverlangte, hatte ihren Preis. Das Leben schien ihm voll unüberwindlicher Hürden und kaum verkraftbarer Verluste. Schreibend versuchte der sensible junge Mann mit der ungewöhnlichen Beobachtungsgabe seine Gefühle zu kanalisieren. In immer neuen Variationen bearbeitete er seine Themen, wechselte die Protagonisten, kombinierte Szenen. Er schrieb und schrieb.
Um 1950 entstand ein unbetitelter Prosatext. Das Typoskript umfaßt 49 Seiten. Die assoziativ aneinandergereihten Episoden können als Summe seines literarischen Frühwerks gelten. Pitschmann stand damals an der Schwelle eines neuen Lebensabschnitts und versuchte die traumatischen Erlebnisse hinter sich zu lassen. »Es soll keiner sich überreden lassen, das Nachstehende etwa als Biographie eines Bestimmten aufzufassen, es kann jeder gemeint sein. Du, ich, tausend. Es sollen nur in einer scheinbar lockeren Aneinanderreihung von Geschehen die Kräfte sichtbar gemacht werden, die in einem jungen Menschen und um ihn herum streiten und wirken und ihn formen«, heißt es im »Vorspruch« zum Text. Gleichwohl werden die autobiographischen Bezüge deutlich, es geht um die Erfahrungen der um 1930 Geborenen, die als Kinder vom Krieg geprägt wurden und dann den Aufbau des Sozialismus miterlebten. Die folgenden drei Episoden aus dem Typoskript werden hier erstmals veröffentlicht.
Das Werk Siegfried Pitschmanns ist trotz seiner vielversprechenden Anfänge schmal geblieben. Der Grund dafür war die Auseinandersetzung um sein Romanmanuskript »Erziehung eines Helden«, anhand dessen der Schriftstellerverband der DDR ein Exempel gegen die sogenannte »harte Schreibweise« statuierte. Aus der Berliner Zeitung vom 26. Juni 1959 mußte Siegfried Pitschmann erfahren, was seit Wochen hinter seinem Rücken lief : »Stilistisch äußert sich die ›harte Schreibweise‹ vor allem in Elementen wie Wiederholungen, stereotypen Redewendungen, aufgelösten Sätzen, vor allem aber im häufigen Gebrauch von Vokabeln aus dem Verbrecher- oder Kommiß-Jargon. Vorbild für unsere Autoren waren die Amerikaner Hemingway, Mailer, Jones und andere. Der ›hard boiled style‹ hat seine Wurzeln in einer zutiefst pessimistischen und nihilistischen Weltauffassung. Sie sehen ihre Umwelt als schlecht an (was größtenteils berechtigt ist), aber sie halten sie für unabänderlich. Einer unserer jungen Autoren arbeitet an einem Werk, das den Aufbau der ›Schwarzen Pumpe‹ zum Inhalt hat. Die Menschen, die hier arbeiten, werden als ständig betrunken, geldgierig und ohne moralischen Halt geschildert.« Der neunundzwanzigjährige Pitschmann wurde als Autor wie als Person gedemütigt und demoralisiert und unternahm sogar einen Selbstmordversuch. Sein Romanmanuskript konnte nicht erscheinen.
Vor dem Hintergrund seiner frühen Texte und ihres autobiographischen Gehalts erschließt sich erst die Tragweite des Geschehens. In dem 2005 posthum erschienenen Erinnerungsband »Verlustanzeige« schrieb er: »Es war ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht. Für mich war in dieser einen Stunde alles aus. Etwas in mir zerbrach.« Pitschmann war damals in zweiter Ehe mit seiner Schriftstellerkollegin Brigitte Reimann verheiratet. Es gelang ihm zwar, wieder auf die Beine zu kommen, doch sein Selbstvertrauen blieb beschädigt. Mit Reimann schrieb er die Hörspiele »Ein Mann steht vor der Tür« und »Sieben Scheffel Salz«. Ein gemeinsamer Neuanfang in Hoyerswerda und im Kombinat Schwarze Pumpe schuf zusätzlichen Abstand. Zu eigenen Arbeiten fehlte ihm vorerst der Mut; zu groß war die erlittene Ungerechtigkeit. Ähnliches widerfuhr einige Jahre später seinem Kollegen Werner Bräunig mit dem Roman »Rummelplatz«.
Trotz der vernichtenden Kritik war im Aufbau-Verlag ein Erzählband Pitschmanns geplant. Brigitte Reimann ermutigte ihren Mann dazu, seine fertigen Texte durchzusehen und für den Band bloß noch zu bearbeiten. Das gelang, und so konnte »Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns« 1961 erscheinen. Beim Variieren, Bearbeiten und Kombinieren blieb es, Pitschmann verband neue Erzählungen mit »allerlei Themen«, die er »noch auf Lager« hatte, zu »gemischten short stories«. So beschrieb er seinem Verleger Günter Caspar seinen Arbeitsstil, mit dem er die Schreibhemmungen zu kompensieren suchte. Dennoch blieben viele der frühen Texte unveröffentlicht. Mit Wehmut dachte er an deren Entstehungszeit zurück: »Warum nicht einfach heruntererzählen ohne Rücksicht auf Ballast? Warum schon das Lektorat vor dem Lektorat? Ein Teufelskreis aus Pedanterie, Vorsicht und Verkürzungssucht, den es nur selten zu durchbrechen gelingt. Ich denke voll Neid und Eifersucht an das dicke Manuskript, das ich unbekümmert, ohne Hemmungen in vierzehn Tagen schrieb; freilich war ich damals achtzehn Jahre alt, und natürlich konnte die Arbeit nicht gedruckt werden.« Pitschmann lebte nach seinem Weggang aus Hoyerswerda fünfundzwanzig Jahre in Rostock, war dort Vorsitzender des Bezirks-Schriftstellerverbandes und bei Hanns Anselm Perten am Volkstheater künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dramaturg, bevor er 1990 nach ThürinPischmanngen zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2002 in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung in Suhl lebte. Seine vier Ehen, aus denen drei Kinder hervorgingen, brachten ihm kein langfristiges privates Glück. In seinen letzten Lebensjahren engagierte er sich in der »Literarischen Gesellschaft Thüringen« und setzte sich für junge Autoren ein. 1976 erhielt Pitschmann den »Heinrich-Mann-Preis« der Akademie der Künste der DDR, 1978 den »Louis-Fürnberg-Preis«. Die Erzählbände »Kontrapunkte« (1968), »Männer mit Frauen» (1974), »Auszug des verlorenen Sohns« (1982), »Elvis feiert Geburtstag« (2000) und das Szenarium zu Lothar Warnekes Spielfilm »Leben mit Uwe« (1974) sowie das erfolgreiche Theaterstück »Er und Sie« (1976) sind seine wichtigsten Werke. Pitschmanns einziger Roman »Erziehung eines Helden« wurde jüngst aus dem Nachlaß herausgegeben; seine unveröffentlichten Erzählungen und Hörspiele sind noch zu entdecken.
Kristina Stella
SINN UND FORM 3/2016, S. 323-331, hier S. 323-325
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Ponge, Francis
- 2/2020 | Die Nelke / Die Mimose. Mit einer Vorbemerkung von Susanne Stephan, S. 160 Leseprobe
Ponge, Francis
Die Nelke / Die Mimose
Vorbemerkung
Im Herbst 1940 läßt sich Francis Ponge mit seiner Familie in Roanne westlich von Lyon nieder. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland war er zunächst eingezogen und in Rouen stationiert worden; als die Besatzer sich in Nordfrankreich etablierten, flüchtete er nach Süden in die »Zone libre« und traf nach einigen Irrfahrten in La Suchère (Haute-Loire) wieder auf seine Familie, die Ehefrau Odette und die fünfjährige Tochter Armande.In Roanne finden sie Zuflucht, und Ponge kann eine Tätigkeit im Steuerbüro eines Monsieur Dugourd aufnehmen. Schon in Paris mußte er als Versicherungsvertreter arbeiten, nachdem er seine Anstellung bei der Verlagsgruppe Hachette aufgrund seiner politischen Ansichten (seit 1937 war er Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs) und der Organisation eines Streiks verloren hatte. Ponge bleibt mit seiner Familie bis April 1942, danach leben sie in Bourg-en-Bresse und Coligny in der »Zone Sud«, wo er unter dem Vorwand, Buchhandlungen zu besuchen, als Journalist und Verbindungsmann für die Résistance tätig ist. Trotz der äußeren Unsicherheit und Ungewißheit – oder gerade deshalb – entstehen während der anderthalb Jahre in Roanne einige Schlüsseltexte seines Werks.
Im Mai 1942 erscheint bei Gallimard der Band »Im Namen der Dinge«, der Francis Ponge einem breiteren Publikum bekannt macht. Vom Verlag zusammengestellt, bei dem das Manuskript schon länger gelegen hatte, enthält er kurze Prosastücke der letzten zwanzig Jahre, wie »Die Brombeeren«, »Die Orange« und »Fauna und Flora«. Die Aufmerksamkeit für einfache, gewöhnliche Dinge – oft auch Pflanzen – war für den 1899 in Montpellier geborenen Ponge früh bestimmend; er verteidigt ihr Eigenrecht gegen sprachliche Vereinnahmungen, feststehende, also auch erstarrte Wendungen, Wortgirlanden, mit denen sie seiner Meinung nach bekränzt, verhängt oder auch mystifiziert werden. Gegen Ideologien, die sich mittels der Sprache, die poetische nicht ausgenommen, einschleichen, und gegen den Subjektivismus des Surrealismus, von dem sich Ponge, der noch das Zweite Surrealistische Manifest von 1930 unterzeichnet hatte, immer mehr entfernte.
In Roanne entstehen weitere Texte dieser Art, längere, mit poetologischen Passagen, darunter »L’OEillet« (Die Nelke) und »Le Mimosa« (Die Mimose), die hier zum ersten Mal auf deutsch erscheinen. Der letztere wird 1942 in der Zeitschrift »Fontaine« gedruckt und 1946 in einem Bändchen des Schweizer Verlags Mermod mit der »Nelke« und dem Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gewidmeten Prosastück »Die Wespe« erneut veröffentlicht. Sartre hatte mit dem Essay »Der Mensch und die Dinge« (1944) in der Zeitschrift »Poésie« auf Ponge aufmerksam gemacht, dessen Versuch einer Neubetrachtung der Beziehung zwischen Mensch, Ding und Sprache er für einen »der seltsamsten und vielleicht bedeutendsten« seiner Zeit hielt.
Alle drei gehen 1952 in den Auswahlband »La Rage de l’Expression« (Die Wut des Ausdrucks) ein, ergänzt durch »Notes prises pour un oiseau« (Notizen für einen Vogel), »Böschungen der Loire« und die beiden längeren Texte »Notizbuch vom Kiefernwald« und »La Mounine«, die gleichfalls in die Jahre 1940 /41 zurückreichen. Das »Notizbuch « hatte Ponge im ersten Kriegssommer in kurzer Zeit niedergeschrieben; im Anhang bekennt er, das Erlebnis des Walds von La Suchère habe seine Gedanken mehr angezogen als die Diskussionen über die Lage Frankreichs, die er unter anderem mit dem evangelischen Pfarrer führte (Ponge entstammte einer hugenottischen Familie). Er habe das Gefühl gehabt, der lichte Kiefernwald, diese »Kathedrale ohne Kanzel«, schlage seine ganze Person »in Bann« und bringe alles in ihm »zum Spielen« – und er könne »in der Erkenntnis und im Ausdruck des Kiefernwalds« sein Leben und die Grundbedingungen seiner Zeit viel klarer erfassen.
Von Roanne aus besuchte er im April 1941 eine erkrankte Tante in Aix-en-Provence; auf einer Busfahrt nahe der Ortschaft La Mounine erlebte er einen Himmel, der ihn zutiefst verstörte: einen »Azur cendré«, aschfarbenen Azur, einen über der Landschaft lastenden Himmel, den er nach seiner Rückkehr immer wieder neu ansetzend zu beschreiben versucht. So entsteht im Mai 1941, nahezu parallel zu den beiden Blumentexten, »La Mounine. Anmerkungen zu einem Himmel in der Provence«; die deutsche Übersetzung von Peter Handke erscheint 1982 mit dem »Notizbuch« und den »Böschungen der Loire«. Nach Una Pfaus Übertragung der »Wespe« 2011 in der Zeitschrift »Ostragehege« blieben aus »La Rage de l’Expression«, neben den »Notes prises pour un oiseau«, noch »Die Nelke« und »Die Mimose« unübersetzt. Vielleicht standen sie im Schatten späterer Texte, wie »Der Tisch« oder »Die Seife«, vielleicht weckte das Thema weniger Interesse: nur Blumen eben, von denen die Nelke in Deutschland lange als altmodisch, als floristische Massenware, wenn nicht gar als DDR-Staatsblume galt, während der Reiz der Mimose weitgehend unbekannt war.
In den fünfziger Jahren wurde Ponge bei uns als wichtiger Autor und Sprachtheoretiker wahrgenommen, so von der sogenannten Stuttgarter Schule um Max Bense und Helmut Heißenbüttel. 1956 hält er auf Benses Einladung an der Universität Stuttgart eine Rede über »Die literarische Praxis«. Seine Kurzprosasammlung »Proëmes« (1948) erscheint 1959 in der Übersetzung von Katharina Spann. Das Motto, »Natare piscem doces« (Er lehrt den Fisch das Schwimmen), benennt die Herausforderung: Selbstverständlichkeiten aufzubrechen, die Sprache, in der man sprechen und denken gelernt hat, gleichsam von außen zu betrachten, ihre Gesetze und Eigenheiten als vielleicht eigenmächtiges Wuchern zu reflektieren. Das Prosastück »Der Spaziergang in unseren Treibhäusern« hebt geradezu hymnisch an: »O Draperien der Worte, Ansammlungen der Dichtkunst, o Gebüsche, o Plurale, Beete farbiger Vokale …«, womit Ponge nicht zum ersten Mal die Sprache mit dem Wachsen, Blühen, Welken von Pflanzen engführt.
Erwähnt werden die »Nelke« und die »Mimose« in der 2005 von Thomas Schestag herausgegebenen zweisprachigen Ausgabe »L’Opinion changée quant aux fleurs / Änderung der Ansicht über Blumen«. Das 1954 in Les Fleurys (!), einem Ferienhaus der Familie, begonnene, Fragment gebliebene Projekt eines größeren Essays über Blumen sollte, wie Ponge im Manuskript vermerkte, Gedanken aus diesen beiden Texten wieder aufnehmen, ebenso eine Reflexion über den Eukalyptus, die im August 1941 skizziert und nicht weitergeführt wurde. In allen diesen Arbeiten verbinden sich Sprache und Botanik, wie schon im Begriff »fleur«, der Blume und Blüte, aber auch eine besonders schöne rhetorische Wendung, eine »fleur de rhétorique« – also eine »Stilblüte« im positiven Sinn –, meint. »Eine der typischen Leidenschaften menschlichen Denkens ist die Blume. Eines der Rädchen in seinem Getriebe. Eine seiner eingefahrenen Metaphern«, notiert Ponge auf den ersten Blättern von »Änderung der Ansicht über Blumen«. Seine Absichten bringt er auf die Formel: »Befreien wir die Blume, um uns zu befreien. Ändern wir die Ansicht über sie.«
Gemeint ist eine Befreiung von der Vereinnahmung mittels Sprache, mittels gleichsam florierender Floskeln, eine Öffnung des Sprechens wie des Denkens. Die Befreiung des Gegenstands von metaphorischem Gestrüpp zielt jedoch nicht auf Erfassung des Dings an sich, sondern auf eine »Erlösung der Dinge (im Geist des Menschen)«, wie Ponge im Anhang zum »Notizbuch vom Kiefernwald« betont. In einem in die »Proëmes« integrierten älteren Text mit dem Titel »Gründe, um glücklich zu leben« heißt es: »Nicht die Dinge sind es, die unter sich sprechen, sondern die Menschen unter sich, die von den Dingen sprechen, und man kommt durch nichts vom Menschen los.« Eine »veränderte Ansicht« bedeutet für Ponge auch, eine Blume als das wahrzunehmen, was sie botanisch gesehen ist: der kurze Blühzustand einer die meiste Zeit des Jahres oft unscheinbaren, nach Vermehrung strebenden Pflanze (es heißt ja auch Fortpflanzung, nicht Fortblumung). In diesem Sinne kann man seinen Ansatz auch als Kritik an unserem »floristischen« Verhältnis zu Blumen verstehen, die nur als dauerhaft und makellos blühende interessant erscheinen.
Dem »Konzept«, das die Blume für den Menschen geworden sei, stellt er den Begriff des »conceptacle« (Konzeptakel) entgegen, ein botanischer Fachausdruck für das Keimzellenbehältnis, etwa bei Braunalgen. Ein Bild, welches das Werden, das Sich-Entwickeln betont, ein immer neues Sagen statt der Perpetuierung von Gesagtem. Diese Art, über die Dinge zu sprechen, kann sich als Anregung zur Sprach- wie zur Ideologiekritik im Geist des Lesers fortsetzen.
In diese botanisch-poetologischen Reflexionen reihen sich »Die Nelke« und »Die Mimose« ein. Beide begreift Ponge als eine »Herausforderung« an die Sprache, die man ihrerseits als Gewächs aus Wörtern, als Material oder als Ding betrachten kann. Sartre bemerkt ein »Oszillieren zwischen Gegenstand und Wort«, eine auf den Leser übergreifende Unsicherheit, »ob nun das Wort der Gegenstand oder der Gegenstand das Wort ist«.
»Die Nelke« führt exemplarisch vor, daß die poetischen Bilder, Metaphern, Assonanzen für Ponge nur ein Mittel unter anderen sind, gewisse Eigenschaften eines Dings, einer Blume beispielsweise, zu beschreiben; dem lyrischen Sprechen bringt er sogar besonderes Mißtrauen entgegen – in »Böschungen der Loire« ist von »poetischem Geschnurre« die Rede, von dem er sich fernhalten wolle. Er nutze das »poetische Magma«, um sich davon zu befreien oder gar »ein Poem umzubringen, durch dessen Objekt« ("Notizbuch vom Kiefernwald«). An anderer Stelle spricht er von »Ausdruckstanz«, wozu für ihn auch Sprachspielereien gehören. Er durchstreift semantische Felder, geht Worterklärungen und -assonanzen nach, baut sich aus den Funden eine Art Beobachtungshügel, ein Gebilde aus Worten, das er andernorts mit der »Sekretion« einer Muschel vergleicht. Sartre erschienen Ponges Arbeiten wie »eckig geschliffene Gebilde«, jede ihrer Facetten entspreche einem Absatz. Die »Nelke« entwickelt sich so zu einem Text, der weder Gedicht noch wissenschaftliche Beschreibung ist. Und doch begreift Ponge seine Art der Ding-Umkreisung als eine Möglichkeit, beide Sprachen zu bereichern. Die Nelkenblüten beschreibt er mal als »Satin«, mal als bloßen »Lappen«, ein Wort, das er auch im Notat »Von den Gründen zum Schrei ben« gebraucht. Dieses ist auf 1929 / 30 datiert, weist also in die Phase seiner größten Sprachskrupel zurück. Die Lappen oder Lumpen sind hier die Worte: »Ein Haufen alter Lumpen, den man nicht mit der Pinzette anfassen möchte, das ist es, was man uns anbietet zu durchwühlen, zu schütteln und an einen anderen Platz zu tun.«
Die Assoziationsketten dienen nicht dazu, ein kohärentes Porträt zu schaffen, das vertraut- fremde Ding Nelke einzurahmen, sondern die Beschreibung in Bewegung zu halten: »Immer wieder zurückkommen auf das Objekt selbst, auf das Rohe an ihm, auf das, was es unterscheidet: unterscheidet vor allem von dem, was ich (bis zu diesem Moment) schon über es geschrieben habe«, notiert Ponge in »Böschungen der Loire«. Das zerlegte poetische Bild, die abgebrochene, an anderer Stelle wiederaufgenommene Assoziationskette erzeugen Verfremdungseffekte und eine neue Wahrnehmung. Zum einen erhebt das Ding eine »Nichtigkeitsbeschwerde« gegen die Sprache, zum anderen fordert sein »Mutismus« den Menschen heraus. Der Mensch, nicht nur der Dichter, ist für Ponge getrieben vom Drang sich auszudrücken und der Dinge Herr zu werden. Das Schweigen, das Ungerührtsein der Dinge und die Sprache des Menschen bilden eine antagonistische Beziehung. Sowenig Ponge der wortwörtlichen Bedeutung von »oeillet« (Äuglein) und der heutigen Zweitbedeutung »Öse« folgt, so frei hält er seine Erkundungen von geläufigen metaphorischen Assoziationen. Emblem der Arbeiterbewegung, wie in Deutschland und Österreich, war die Nelke in Frankreich nie, wo sie als Unglücksbotin gilt; die sozialistische Partei hat sich dort eine rote Rose zum Symbol gewählt. Aber auch die auf Theateraberglauben zurückgehende Konnotation als Unglücksblume spielt keine Rolle (eine nach der Vorstellung überreichte Nelke kündigte das Ende des Engagements an). Das Ignorieren aller Zuschreibungen erlaubt ungewöhnliche, aber bestechende Vergleiche. Entgegen dem bei uns verbreiteten Bild einer biederen Blume beschreibt Ponge die Nelke als »ungestüm« und als »zerrissenen Schalltrichter«, was man als passende Interpretation zu einem Gemälde von Hans Holbein d. J. im Frankfurter Städel Museum lesen kann. Auf dem berühmten Rundbild hält Sir Simon George of Cornwall eine einzelne rote Nelke zwischen den Fingern, damals ein gängiges Symbol für eine anstehende Verlobung. Falls es als Verlobungsgeschenk gedacht war, mag die umworbene Dame von der Szene irritiert gewesen sein, die Holbein auf der Hutschnalle versteckt hat: Diese zeigt Leda im Liebesspiel mit einem Schwan, dem verwandelten Zeus. In der Nelke des Adligen kann man mit Ponge sehr wohl »Zungen« sehen, »zerrissen von der Heftigkeit dessen, was sie sagen wollen«, jedoch »zusammengehalten von vernünftigen Grenzen«. Der sechste Abschnitt befaßt sich mit philosophischen Aspekten des Blühens und Verwelkens, die für Ponge auch poetologisch von Belang sind. Hier knüpft er, ob bewußt oder unbewußt, an die Tradition der Nelke als Blume der Denker an – ihr eher würziger als süßer Duft kläre den Geist, heißt es in Abhandlungen des 18. Jahrhunderts – sowie an ihre Konnotation als Begleiterin vom Leben in den Tod. Diese etwa in der Türkei noch fortlebende Symbolik scheint in der letzten Szene von Heinrich von Kleists Drama »Prinz Friedrich von Homburg« auf, als sich der zum Tod verurteilte Prinz im nächtlichen Garten in Fehrbellin eine Nelkenblüte reichen läßt.
Die abschließende Passage zur »Entschlossenen Rhetorik der Nelke« kann man als Beschreibung der Textbewegung selbst verstehen. Ponge vergleicht seine Recherche in diversen Sprachfeldern mit Wurzeln, die sich über eine größere Fläche erstrecken und verästeln, um das Gedeihen der Pflanze zu ermöglichen. So steht auch ihr Wachstum für ihn metaphorisch mit der Sprache in Verbindung: Sie »treffen ihre Vorbereitungen, sie schmükken sich, sie warten darauf, daß man sie liest«, heißt es in »Fauna und Flora« ("Im Namen der Dinge«). »Der tierische Ausdruck erfolgt mündlich oder mimisch durch Gebärden, die einander auslöschen. Der pflanzliche Ausdruck erfolgt schriftlich, ein für allemal.«
Sind es nun beliebige Dinge, die sich Ponge vornimmt? Waren es die Nelken im Garten von Roanne, die seine Reflexionen auslösten? Laut Sartre wählte er Gegenstände, bei denen er bereits eine Vorstellung davon hatte, was sich in ihnen entdecken läßt – eine Beobachtung, die auf jeden Fall für »Die Mimose« zutrifft. Diese Blume nennt Ponge eine Lieblingsblume seiner Kindheit. Er wurde in Montpellier geboren und wuchs in Avignon auf; als er zehn war, zog die Familie nach Caen in der Normandie, wo es keine blühenden, duftenden Mimosensträucher wie in der Provence gab. Beim Transport oder in der Vase halten sich Mimosen nicht lange, vor allem nicht in geheizten Räumen; dann fangen die Blütenbällchen sofort an zu welken, worin Ponge, wie er in »Veränderte Ansicht über Blumen« schreibt, eine Analogie sieht: »Wir gebrauchen die Wörter genau in dem Augenblick, in dem sie welken, sich krümmen wie die Blütenblätter der Blumen.« Die Mimose inspiriere ihn überhaupt nicht, aber er trage eine »Idee von ihr« in sich, was er als Spur und Hindernis zugleich begreift, wie auch den trügerischen Einklang von Ding und Wort, denn der Name scheine »vollkommen«. Er folgt Assoziationen, etwa von Mimose zu Mime, Schauspieler. Aber die Vorstellung, das eigentliche Wesen eines Dings, einer Pflanze zu erfassen, bleibt für ihn »süße Illusion«.
Eine frappante Analogie dazu findet sich in den »Fragmenten« des Novalis, die Ponge nachweislich 1941 gelesen hat: »Unendliche Ferne der Blumenwelt. Schauspielertalente «. Allzuoft wird die blaue Blume aus Novalis’ Romanfragment »Heinrich von Ofterdingen« mit »romantischer«, entgrenzter, unbestimmter Naturschwärmerei verbunden – daß für ihn jedoch Blumen nicht der Inbegriff des Authentischen in einer entfremdeten Welt sind, daß sie gar »Schauspielertalente« zeigen, mag überraschen, aber nur, wenn man die radikale Welt- und Subjektkritik der Frühromantik ausblendet. Ponge setzt immer neu an, um die überwältigende, zugleich ephemere Blüte der Mimose, eine Explosion von Gelb auf azurblauem Grund, wiederzugeben. Man hat den Eindruck einer Fuge mit Variationen, bei der auch die Typographie mitwirkt. Die zeitgeschichtliche Situation blitzt in den Kapitälchen des letzten Absatzes auf mit der nur hier verwendeten Metapher der »schrecklichen Autorität der Schwärze«.
Im erwähnten »proëme« bekräftigt er: »Man sollte allen Gedichten diesen Titel geben können: Gründe, um glücklich zu leben.« Es geht ihm nicht um Virtuosität, schon gar nicht um lyrischen Glanz, sondern um eine »Erlösung der Dinge (im Geist des Menschen) «, verbunden mit einer »Erlösung (Entsklavung) des Menschen«. Darum, den Dingen wie der Sprache den mystischen Schleier zu nehmen, der oft einer des Aberglaubens sei. 1947 trat Ponge aus der Kommunistischen Partei aus. Was für ihn Opposition zum Faschismus gewesen war, erwies sich jetzt selbst als eine die Wirklichkeit mittels der Sprache maskierende und verfälschende Ideologie. Was weiterwirkt, ist das oben erwähnte Konzeptakel, das Behältnis zur Weitergabe des Samens anstelle eines festen Konzepts – aber ist nicht auch Blütenzauber, Wortmagie im Spiel? Eine Art alchemistische Reaktion, welche die Subjekt-Objekt-Spaltung für Momente aufhebt? »Alles ist Samenkorn«, heißt es in den »Fragmenten« des Novalis. »Wir sind beim Buchstaben stehn geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren. Formularwesen.« Gegen die Sprache als »Formularwesen« tritt Ponge an, und selbst wenn er die poetischen Mittel schmäht, sind sie vielleicht auch für ihn die wirksamsten.
Susanne Stephan
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Poschmann, Henri
- 3/1969 | Das wunderbare Gesetz. Louis Fürnbergs Werdegang und die Oktoberrevolution
- 5/2009 | Durch Hölle, Haß und Liebe. Louis Fürnberg 1909 - 2009
Poschmann, Marion
- 1/1995 | Gedichte
- 1/2021 | Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien, S. 70 Leseprobe
Poschmann, Marion
Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien
YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und erinnern hauptsächlich »Pflastersteine und Randsteine, (…) das Licht in Unterführungen und (…) den Schotterweg der Poppelsdorfer Allee und die Wirtschaftswege zwischen den Kopfsalatfeldern in Lessenich, (…) die Waldwege im Kottenforst und wie sich all das unter den Fahrradreifen ausnahm«. Der Abschnitt mit der prosaischen Zwischenüberschrift »Straßenbelag« mündet in die Schilderung Ihrer Erweckung zur Dichterin. An besagtem Abend war es bereits dunkel, im Licht der Straßenlaternen schimmerte der Asphalt wie eine Wasserspiegelung. Sie brachten mitten auf der Straße Ihr Rad zum Stehen – und Ihr erstes Gedicht zu Papier. Dieses Gedicht, so schreiben Sie, »glich nichts anderem, was ich je gelesen hatte«. Ich würde gerne mehr über dieses erste Gedicht erfahren: Was zeichnete es aus? Wurde es veröffentlicht?
MARION POSCHMANN: Dieses erste Gedicht hat viel Interesse geweckt, seit ich es in meiner Vorlesung erwähnt habe, aber ich habe es nicht veröffentlicht und möchte das auch weiterhin nicht tun. Es war für mich inmitten der Texte, die ich bis dahin geschrieben hatte, etwas Besonderes, weil von ihm eine eigenständige Kraft ausging. Es gibt beim Schrei ben ja oft so etwas wie eine Keimzelle, einen Kristallisationspunkt, dieser bleibt im fertigen Text aber nicht immer im Vordergrund, manchmal verschwindet er auch wieder oder verwandelt sich so, daß man ihn als Schreibansatz nicht mehr erkennen kann. In dieser untergründigen Position möchte ich jenes erste Gedicht belassen. Friederike Mayröcker hat die Angewohnheit, an manchen ihrer Materialkisten einen Zettel mit dem Wort Tabu zu befestigen, das heißt, Unbefugte haben keinen Zugang. Und vielleicht hat selbst die Dichterin nicht immer das Recht, darauf zuzugreifen. Ich bin seit langem von Freuds Aufsatz »Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen« fasziniert, in dem es um diese Kraft geht, die einem Objekt zugeschrieben wird: Sie kann überwältigend sein, deshalb ist sie gefährlich, aber man möchte auf jeden Fall an ihr partizipieren. Kurz und gut, dieses sogenannte erste Gedicht möchte ich auf gar keinen Fall preisgeben.
PAULY: In der Folge geht es in der Bonner Poetik-Vorlesung um die Geschichte naturkundlicher Wissensordnungen. In der Biologie versteht man unter Taxonomie die Lehre von der Einordnung der Lebewesen in ein Schema hierarchischer Klassifikation. Die wissenschaftliche Nomenklatur als Grundlage dieses Ordnungssystems geht auf Carl von Linné zurück. Er versah Mineralien, Pflanzen und Tiere mit binären lateinischen Bezeichnungen, in denen ein Substantiv die Gattung und ein Adjektiv die Art angibt. Die Linnésche Taxonomie wurde nach und nach auf andere Wissensbereiche angewandt, so von Luke Howard, einem Zeitgenossen Goethes, auf die Wolken.
POSCHMANN: Das besondere Verdienst von Howard bestand darin, daß es ihm gelang, sich vom illustrativen Erscheinungsbild der Wolken zu lösen und das Augenmerk auch auf die Bedingungen ihrer Entstehung zu richten. Er sah nicht länger Schafe, Elefantenwolken oder Schwertfischwolken am Himmel, sondern er begriff, daß es sich bei Wolken um ein fluides System handelt, das nicht in Analogie zu festen Körpern zu denken ist, sondern aus Übergängen besteht. In einem Geniestreich übertrug er das Linnésche Taxonomiesystem auf die Wolkennamen. Es gibt einen Hauptnamen für die Grundform, also Cumulus (Haufenwolke), Stratus (Schichtwolke), Cirrus (Federwolke), Nimbus (Regenwolke), sowie Zwischenformen wie Cumulonimbus, die Gewitterwolke. Neben der Gattung kann die Art differenziert werden, etwa castellanus, floccus, nebulosus. Dieses System macht Ähnlichkeiten kenntlich, bezieht aber auch die Möglichkeit von Veränderung und deren Richtung mit ein. Wolkennamen sind temporär, dieselbe Wolke kann nach ein paar Stunden anders heißen. Ihr neuer Name ist aus dem ersten nicht ableitbar, aber es gibt Regeln ihrer Verwandlung, weil es nicht beliebig viele Veränderungsmöglichkeiten von einer Wolkenart zur anderen gibt.
PAULY: Eben jenes Bemühen um die Klassifikation von Übergängen, die Bannung des Fluiden, die Bestimmung des Unbestimmten macht das Geschäft des Naturforschers anschlußfähig für die Dichtung. Auf Grundlage der biologischen entwerfen Sie im Schlußteil der Vorlesung das Konzept einer poetischen Unterscheidungskunst.
POSCHMANN: Es handelt sich dabei um das Paradox, daß eine poetische Taxonomie klassifiziert, was sich nicht klassifizieren läßt. Worte ähneln insofern den Wolken, als ihre Bedeutung schwanken kann, sich verwandeln, sich auflösen. Auch die Gegenstände der Dichtung sind wolkenhaft, es sind immaterielle Größen wie Wahrnehmungseffekte, Gedanken und Gefühle, so daß der Dichter letztlich vor der Aufgabe steht, Wolken mit den Mitteln der Wolken zu bestimmen. Und wenn wir über Dichtung sprechen, verhält es sich ähnlich, man redet über einen ungreifbaren Text, der etwas Ungreifbares zur Grundlage hat. Jeder Dichter verfolgt dabei ein anderes Verfahren, beschreibend, konstruierend, montierend, assoziierend, evozierend, und daraus entsteht jeweils eine private Taxonomie, eine eigene Ordnung aus persönlichem Wortgebrauch, subjektivem Blick auf die Welt.
PAULY: Es liegt nahe, an dieser Stelle nach der Ordnung Ihres lyrischen Werks zu fragen: Wo differenzieren Sie besonders fein, wo weniger? Welches Netz werfen Sie über die Wirklichkeit, welche Sicht der Dinge wird in Ihren Gedichten offenbar? Vielleicht ist es sinnvoll, mit dem Leitkonzept der Taxonomie insofern Ernst zu machen, als wir uns an das hierarchische Schema halten und bei der Betrachtung Ihres Werks vom Großen zum Kleinen gehen, also bei der Makrostruktur ansetzen. Harald Hartung hat in der Besprechung Ihres zweiten Gedichtbands »Grund zu Schafen« 2004 darauf hingewiesen, »daß wir es mit einer Autorin zu tun haben, die methodisch arbeitet und in Serien denkt«. Das ist ein Grundzug Ihres lyrischen Werks, der Sie von anderen zeitgenössischen Dichtern unterscheidet.
POSCHMANN: Bei meinen Gedichtzyklen bzw. Gedichtgruppen, denn Zyklus impliziert für mich etwas Abgeschlossenes, das sich gerundet hat, während eine Gruppe offener ist und gegebenenfalls noch ergänzt werden kann, bei diesen Zyklen oder Gruppen also gibt es zunächst meist eine formale Ähnlichkeit. Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Formen, klassischen Metren, Oden, Sonetten, freien Versen, in einer Gedichtgruppe konzentriere ich mich in der Regel auf eine formale Herangehensweise. Bei den Madonnen im Zyklus »Barocke Serie« aus meinem Debütband »Verschlossene Kammern« sind das freie Verse, die indirekte Rede wird als Stilmittel eingesetzt und die Titel der einzelnen Gedichte nehmen ikonographische Bezeichnungen für bestimmte Bildtypen auf, die im Zusammenhang mit der Madonnendarstellung kanonisiert sind. Also etwas die Madonna im Rosenhag, mit dem Einhorn, die Mater Dolorosa oder die Schutzmantelmadonna. Ich fand das damals unter taxonomischen Gesichtspunkten interessant. Man stellt die Madonna dar, aber immer mit bestimmten Attributen, und zeigt damit eine Gestalt unter verschiedenen Aspekten, mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften oder Zuschreibungen, was ja sofort die Frage aufwirft: Wo ist der gemeinsame Nenner? Ist das die Madonna in jeweils anderem Gewand, oder sind das doch verschiedene Figuren? Die Jungfrau, der Meerstern, die Gottesmutter. Was ist zum Beispiel eine Gottesmutter ohne Kind? In den Verkündigungsbildern ist gerade dieses Noch-Fehlen, die Leerstelle, die Offenheit entscheidend. Tatsächlich gibt es in der ikonographischen Tradition auffallend viele Bildtypen, die die Madonna ohne Kind zeigen. Etwa die »Madonna auf der Mondsichel«. Das wäre ein Titel zu einem Gedicht, das ich gern noch schreiben und das gut in diese Serie passen würde. Im nachhinein habe ich mich manchmal selbst gefragt, warum ich das nicht längst getan habe, aber wenn man eine Kategorie aufmacht, muß man sie mit etwas füllen, und mir kam es, wenn ich mich richtig erinnere, so vor, als sei mit dieser Überschrift alles gesagt. Dafür habe ich, und damit kommen wir zu den ersten Querverbindungen, in einem anderen Band das Gedicht »Königin der Nacht«. Aber für das Konzept der Serie sind die Titel entscheidend. Das habe ich auch in andern Fällen so gehandhabt, etwa im Band »Geliehene Landschaften«. Dort gibt es ein Kapitel mit der Überschrift »Bernsteinpark Kaliningrad«, und alle Gedichte tragen die Namen von Bernsteinvarietäten. Zum Beispiel »Knochen«, »Bunt«, »Flom«, »Antik«, »Schwarzfirnis«, »Kumst«, sehr evokative Titel, bei denen aber vermutlich die wenigsten wissen, welche Art Bernstein man sich darunter vorzustellen hat. Das gibt mir dann eine gewisse Füllungsfreiheit, während die Reihe der Titel schon fast ein eigenes Gedicht ergibt.
SINN UND FORM 1/2021, S. 73-85; hier S. 73-76
Das Gespräch wurde am 23. Juni 2020 im Rahmen einer Kooperation des Literaturhauses Berlin mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ursprünglich online, als "Audio-Korrespondenz", publiziert und ist in dieser Form nach wie vor über die Mediatheken beider Einrichtungen zugänglich. Integraler Bestandteil dieser Fassung waren 13 Abbildungen taxonomischer Arrangements, die Yvonne Pauly nach dem Modell naturkundlicher Sammlungen zum lyrischen Œuvre Marions Poschmanns entworfen hatte; fünf dieser Bilder zeigen wir hier:
Posener, Alan
- 6/1993 | Hamlet und das Manifest
Posener, Julius
- 4/1992 | Hamlets Monolog
Pozner, Vladimir
- 6/1955 | Einen Baum begräbt man nicht
- 1/1956 | Wie Picasso arbeitet
- 1-2-3/1957 | bb
- 6/1957 | Weg des Arabers - Weg des Franzosen
- 5-6/1958 | Erinnerungen an Gorki
- 5-6/1959 | Der blaue Mantel
- 5-6/1962 | Für Hanns Eisler
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Notizen über Hanns Eisler
- 3/1969 | 19. Februar 1969
- 1/1971 | Ich möchte leben und sterben
- 1/1979 | Algerien 1976
- 1/1984 | Das ist nicht Peru! Doch, vielleicht.
- 5/1984 | Für Anna Seghers
- 2/1987 | Erinnerung
- 5/1988 | Als wäre es gestern
Prabala-Joslin, Avrina
- 2/2022 | Das Paradox der uneigentlichen Archive
- 3/2023 | Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum, S. 265 Leseprobe
Prabala-Joslin, Avrina
Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum
Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn.
Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn niemand da ist und sie sich einfach an den neuen Computer setzen kann. Damals waren Computer noch eine große Neuheit und sie gehörten zu den wenigen Leuten in der ganzen Stadt, die einen zu Hause hatten.
Ihr Dad ist der Präsident von irgendwas. Nicht des Landes, nicht der Stadt. Es ist so etwas wie ein Geheimdienst, wie diese Bühnenarbeiter, die zwischen den Akten Möbel herumschieben. Blackouts. Sein Telefon klingelt ständig. Er sagt nicht »Chellaiya hier«, wenn er abhebt. Sagt nicht »Wiederhören«, wenn er auflegt. Sie findet, das sollte er. Zwei seiner Freunde sind vor kurzem gestorben.
Ihre Mom ist Wissenschaftlerin. Biotechnologin. Immunologin. Diese Wörter kannte sie schon, bevor sie wußte, wie man eine Geschichte nacherzählt. Das ist der erste Schritt im Niedergang vom Baby zum Kind. Mom hat acht Hände, auf jeder Seite vier. Mom ist nie am Telefon, obwohl sie so ein Klapphandy hat. Nichts als Schriftstücke. Die hat sie einmal aufeinandergestapelt, als ihre Mutter nicht zu Hause war. Sie wuchsen immer weiter in die Höhe, und sie brauchte erst einen Hocker, dann einen Stuhl, dann eine Leiter aus dem Keller, um mehr und mehr Schriftstücke aufzutürmen, bis sie keinen Halt mehr hatten und schwankend einstürzten.
Mom ist gleich Zeit. Dad ist gleich Ort.
Sie hätten einen Hund haben können.
Sie ist sechzehn minus zwei, fühlt sich aber wie plus acht. Er hat ihr ein Bild von sich mit Hut, Fliege und Hosenträgern geschickt. Ein Dinner mit Krimispiel, das er für seine Freunde gegeben hat. Auf einem anderen angelt er allein an der Ramganga im Jim Corbett Nationalpark. Er trägt ein Barett und eine Hose, die überall Taschen hat. Sie hat einen Ordner in einem Ordner in einem Ordner in einem Ordner namens »Brillante Tutorials – Mathe-Prüfung« angelegt, in dem sie seine Bilder abgespeichert hat, zusammen mit denen, die sie ihm geschickt hat. Angelruten hat sie bisher nur auf Bildern gesehen.
Mom kauft einen klobigen Drucker und verbindet ihn mit dem Computer in ihrem Zimmer. Der Drucker druckt noch, als sie im Bett liegt. Langsam einziehen, doppelseitig ausdrucken, eilends ausspucken. Dad ist ein Stift-und-Papier-Typ. Mom holt nachts eine Lampe hervor, und plötzlich ist der Eßtisch ein Gewächshaus. Bilder von allen möglichen Dingen sehen unter dem Mikroskop ziemlich ähnlich aus, so daß sie denkt, vielleicht ist am Ende doch alles gleich.
Dad weiß nicht, wie er sein Telefon stummschalten kann, oder er will es nicht. Er sollte als erster vom Sterben seiner Freunde erfahren oder vom Vater seines Freundes, den der Sohn seines Freundes umgebracht hat. Wenn sein Telefon nach ihrer Schlafenszeit klingelt und die Eingangstür aufgeht und zuklappt, setzt sie sich im Bett auf und überlegt, welche Geschichte jetzt auf sie zukommt, bis Mom eintritt, ihr die Schultern wieder ins Bett drückt und ihr erzählt, was passiert ist, oder irgendwem, der Luft oder der Erde erzählt, daß Dad weggegangen ist und wiederkommt, wenn er sich um die Sache gekümmert hat.Mom ist eine Detektivin mikroskopischer Welten. Dad hält sichtbare Ökosysteme instand.
Im Internet machen die Leute, was sie wollen. Es gibt Bilder, die das beweisen. Sie sucht auf Google nach ihrem eigenen Namen und schaut sich die Bilder an. Da ist eine Hunderasse, die genauso heißt wie sie. Da ist ein Schmuckhersteller in London, der jung und alt zugleich ist. Ein Mann aus Málaga heißt auch wie sie, dabei ist seine Haut dunkler als ihre und er spricht eine ganz andere Sprache. Sie erscheint auch auf der Liste der Suchergebnisse, zumindest erscheint da das Bild von Halle Berry, das sie als ihr Profilbild auf MySpace hochgeladen hat. Wenn irgendwer irgendwo ihren Namen googelt, dann glaubt er, sie sehe aus wie Halle Berry.
In Yahoo-Chatrooms fragen die Leute nach Alter, Geschlecht und Wohnort, sie tippen »Hallo, ASL?« oder einfach nur »ASL?« für Age, Sex, Location ein, und sie sagt, sie ist sechzehn oder achtzehn. Weiblich oder männlich. Delhi oder Kairo oder Sydney. Ihr Paßwort heißt »godisgreat«.Er weiß, wo sie den Koordinaten nach wohnt. Als er das im Internet eingab, sagte ihm die Betaversion einer Entfernungsrechner-Website, er wäre in drei Stunden und siebzehn Minuten bei ihr. Er weiß nicht, daß er so nur zu dem Munusamytempel drei Straßen weiter kommt.
Neben den Stapeln von bedrucktem Papier liegen leere Blätter, und obwohl die in ihrem Zimmer am Computertisch, der im Prinzip ein gemeinschaftlicher Bereich ist, Platz wegnehmen, macht ihr das nichts aus. Ab und zu nimmt sie sich ein paar Blätter und zeichnet ihre Vorstellung davon, wie die Haut unter ihrer Haut unter einem Mikroskop aussieht, oder ihr DNA-Profil, das im wesentlichen aus flachen bunten Kästchen auf zwei Fingerbreit auseinanderliegenden Linien besteht. Sie schiebt diese Blätter zwischen die Forschungsarbeiten ihrer Mutter, und das ist ein bißchen so wie die Zettel mit »Iß die Möhren« oder »Die geheime Zutat ist nicht Liebe, sondern Zimt«, die Mom ihr in die Lunchbox steckt.
In der Mittagspause sitzt sie auf dem Schulhof mit drei anderen Mädchen unter dem Neembaum. Sie nimmt den Liebesgruß ihrer Mutter heraus, steckt ihn in die Tasche und ißt Zitronenreisbällchen mit weichen Erdnüssen darin. Sie erzählt den anderen Mädchen die Geschichte vom Vater des Freundes ihres Dads, der vom Sohn des Freundes ihres Dads umgebracht wurde. Ihre drittbeste Freundin findet es zu gruselig, beim Essen darüber zu reden, daß jemand jemand anderen zerstückelt hat. Ihre zweitbeste Freundin findet es verrückt, daß jemand jemand anderen der Liebe wegen umbringt. Ihre beste Freundin findet es unheimlich traurig, wenn jemand nicht will, daß jemand mit jemandem zusammen ist, nur weil sie verschiedenen Kasten angehören.
Sie geht mit der besten Freundin zusammen in eine Kabine. Die beste Freundin holt ein Handy aus ihrem BH, schaltet es ein und wählt eine Nummer. Sie hockt sich über die Toilette und pinkelt, während die beste Freundin jemandem erzählt, daß sie ihn liebt. In der hinteren Ecke sitzt eine winzige Kakerlake. Es ist dieser Mann mit dem Fahrrad, der sie durch die ganze Stadt verfolgt. Das hat vor einem Jahr angefangen, und im Grunde hat er sich in ihrer beider Leben gebettelt. Die Tamil-Lehrerin, die sie dabei erwischt hat, wie sie Nachrichten zwischen Fahrradbettler und bester Freundin hin und her trug, hat gesagt, es gehöre sich nicht, wenn kleine Mädchen um erwachsene Männer herumhüpfen. Dabei machen sie im Film eigentlich nichts anderes, und alle lachen oder weinen darüber in der Nachmittagsvorstellung.
Die beste Freundin gibt ihr das geheime Telefon, das der Fahrradbettler ihr für diese Romanze gekauft hat. Als sie nach Hause kommt, sitzt Dad am Eßtisch, und sie schaut auf die Uhr, ob es schon sechs ist. Dad telefoniert. Sie kocht Milch auf, gießt sich eine Tasse ein und rührt etwas Honig hinein, und Dad legt die Hand auf das Telefon und bittet sie, ihm einen Kaffee zu kochen. Er spielt wieder dieses Spiel, bei dem er auf seinem Notizblock herumkritzelt, während er sich nach dem Wohlergehen irgendeiner Familie erkundigt, um seine menschliche Anteilnahme zu zeigen, dabei klopft er die Leute in Wirklichkeit nur langsam weich, damit er sie irgendwann später um einen Gefallen bitten kann. Er nennt das Kontaktpflege. Eigentlich ist es auch nichts anderes als das, was sie mit der besten Freundin macht. Als sie den Topf mit heißer Milch über Dads Tasse hält, vibriert das Telefon in ihrem BH, und sie läßt den Topf auf die Tasse fallen. Die Tasse bricht in der Mitte durch, und Milch läuft auf die Küchentheke. Ihr Brustkorb blinkt.Sie zieht sich in die kleine Abstellkammer zurück, eine Kammer, die sich nur von außen öffnen läßt. Das Telefon brummt weiter. Die beste Freundin ließ das Handy in ihrem BH immer ausgeschaltet. Er ist dran. Als sie das Handy ausschaltet, ist es stockdunkel, und sie hämmert von innen an die Tür, die ganze Kammer riecht nach Reis in Kokosfasersäcken. Manchmal bittet Dad um Kaffee und geht dann einfach weg. Sie hämmert weiter. Ihre Tasse Honigmilch wird auf der Küchentheke kalt. Manchmal schert Dad sich herzlich wenig um Fragen von Leben und Tod.
[…]Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
SINN UND FORM 3/2023, S. 380-389, hier S. 380-383
Prammer, Theresia
- 6/2015 | Mönchsgrasmücken, Tamarisken,
Bekassinen. Der Dichter Giovanni Pascoli, S. 830 Leseprobe
Prammer, Theresia
MÖNCHSGRASMÜCKEN, TAMARISKEN, BEKASSINEN Der Dichter Giovanni Pascoli
oci oci oci oci oci oci,
fi fideli fideli fideli fi,
ci cieriri ci ci cieriri,
ci ri ciwigk cidiwigk fici fici.
Oswald von Wolkenstein
chioccola il merlo, fischia il beccacino;
anch’io torno a cantare in mio latino.
es flötet die Amsel, die Schnepfe schlägt ein;
auch ich singe weiter in meinem Latein.
Giovanni Pascoli
Obwohl im deutschen Sprachraum bis heute kaum bekannt, war Giovanni Pascoli (1855 –1912) einer der großen Dichter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Für Pier Paolo Pasolini, der ihm bereits in jungen Jahren ein Buch gewidmet hatte, stellte sein poetisches Denken und Wirken sogar die Grundlage der italienischen Gegenwartslyrik dar. Wie sein Lehrer, der Bologneser Universitätsprofessor Giosuè Carducci, verband Pascoli die Universitätslaufbahn mit der Berufung des Dichters. Sein Werk umfaßt Oden und Hymnen ebenso wie spirituell gefärbte Verse; die exaltierten Züge des Fin de siècle spiegeln sich darin und lassen doch Raum für das Privat-Alltägliche, Erlebte, »Nicht-zu-Erfindende« (Pascoli). Dem aulisch-rhetorischen Gestus D’Annunzios stand Pascoli trotz gegenseitiger Wertschätzung eher distanziert gegenüber; seine besten Dichtungen bleiben symbol- und bildverhaftet, mit suggestiven Ausrufen und fragmentarischen Einsprengseln direkter Rede.
Der Gegensatz zwischen urbaner, gesellschaftlicher Realität und ländlich-bäuerlicher Intimität bildet den Hintergrund seiner wichtigsten Gedichtbände »Myricae « und »Canti di Castelvecchio«. In ihnen verknüpft sich das Heimweh nach dem »Nest«, dem Hort vertrauter Räume und familiärer Zuneigungen, mit einer obsessiven und groß artigen Präzision im Hinblick auf Orte und Schauplätze, botanische und zoologische Kategorien und Begriffe.
Einen Gutteil seines Werks hat Pascoli seinem unbestrittenen Lebensthema, nämlich der individuellen und überindividuellen Erfahrungsdimension des Kindseins gewidmet. In dem vielbeachteten Essay »Das Knäblein. Poetik und Poesie« (»Il Fanciullino«) wendet er sich gegen alles Proklamatorische (das ihm in seinen patriotisch-politischen Gedichten allerdings selbst nicht fremd ist) und plädiert für die Aufwertung elementarer kindlicher Mythen und Erinnerungen. Diese erscheinen ihm universell und vermittelbar, sofern der Dichter sich nicht auf die Rolle des »Redners oder Predigers«, des Philosophen, »Historikers, Lehrers, Volkstribuns oder Demagogen, Staatsmanns oder Höflings« beschränkt, sondern seine Berufung zur Erziehung der Gefühle erkennt. Dabei steigern sich reale Erlebnisse mitunter zu wachtraumartigen Visionen. Die Ermordung des Vaters, die Pascoli mit knapp zwölf Jahren verwinden mußte, ist eines davon und findet in zahlreichen Gedichten ihren Niederschlag: Ruggero Pascoli, Verwalter des Landguts »La Torre«, fiel 1867 auf dem Heimweg von der nahen Stadt Cesena einem brutalen Anschlag zum Opfer. Die Hintergründe, ob politisches Komplott oder Begehrlichkeiten um den Posten des Vaters, wurden nie geklärt. Der Täter jedenfalls entging der Strafe; kollektives Schweigen, Banditentum und Verschleierung von Fakten hielten die Ermittlungen über Jahre auf. Die Familie mußte das Wohnhaus aufgeben und aufs Anwesen der Mutter nach San Mauro übersiedeln. Caterina Pascoli überlebte ihren Mann nur um wenige Monate, danach wurde, der Not gehorchend, auch ihr Elternhaus veräußert. Aufgrund eines Verdachts stellten die Brüder eigene Nachforschungen zur Identität des Mörders an; Morddrohungen und Repressalien waren die Folge. Weitere Todesfälle ereilten die Familie: Pascoli verlor kurz nacheinander zwei seiner Geschwister.
Die Wege der Hinterbliebenen trennten sich: Die Schwestern Ida und Maria wurden im Kloster von Sogliano am Rubikon ausgebildet, Pascoli begann seine Universitätslaufbahn und schloß sich der sozialistischen Bewegung seines Heimatlandes an. Von Schuldgefühlen geplagt, holte er die Schwestern später wieder zu sich, denen er bis zu seinem Lebensende in einer Art Schmerzensgemeinschaft verbunden blieb. Idas Heirat empfand Pascoli, der zum Wohl der Familie auf eine eigene Ehe verzichtet hatte, als Verrat. Dennoch unterstützte er sie und ihren Mann wie auch den unsteten Bruder Giacomo noch jahrelang.
Die überaus enge, einer Liebesbeziehung nicht unähnliche Bindung an die Schwestern hat Pascolis späte Jahre mehr als alles andere bestimmt und seine Exegeten zu ebenso wunderbaren wie wildwüchsigen Mutmaßungen beflügelt. (Cesare Garboli etwa prägte das merkwürdige Wort vom »lesbischen Pascoli«.) Dieser selbst interessierte sich mehr und mehr für das Unbewußte und brachte es zu beachtlichem psychologischen Tiefblick.
»Mögen sie um das alte Grab meiner jungen Mutter herum wachsen und blühen, diese herbstlichen myricae«, schreibt Pascoli im gleichnamigen, an Vergils »Bukolika« angelehnten Band. Die fein verästelten Tamarisken also werden aufgerufen, um dem Trauernden Trost zu spenden, erneuern aber auch die Trauer, indem sie symbolisch auf die Vergänglichkeit verweisen. Die wichtigsten poetischen Repräsentanten seiner Kindheitsorte sind in den »Myricae« wie den »Gesängen aus Castelvecchio« die Vögel des Apennin. Die Rufe der Nachtigallen und Buchfinken, Zeisige und Eichelhäher, Bekassinen und Mönchsgrasmücken haben es Pascoli angetan, nebst ihren Brutgewohnheiten, Flugstrecken und dem Farbenspiel ihres Gefieders. (Tierlaut und Vers sind im Italienischen übrigens ein und dasselbe Wort: verso.) Seine volksetymologischen Erkundungsgänge und Wechselgesänge von Mensch und Tier bringen eine Naturverbundenheit zum Ausdruck, die weit über eine bloße Evokation von Naturerscheinungen hinausgeht. Eine nicht selten pathetische und metaphorisch überhöhte Identifikation mit anderen Lebewesen kommt hier zum Tragen. Das belegen wiederkehrende Motive wie der Vergleich der verwaisten Familie mit einem verlassenen Schwalbennest oder das sentimentale Porträt der »grauen Stute«, die die Kutsche des Vaters zog und nach seiner Ermordung in den Zeugenstand berufen wurde, wo sie wiehernd sogar den Namen des Täters angedeutet haben soll. Eine solche Identifikation liegt schließlich auch der Analogie von dichterischer Sprache und Vogeljagd zugrunde: »In der Tat«, schreibt Pascoli, »gleicht der Schriftsteller oder Redner, der zwei Wörter für eine Idee verschwendet, dem Vogeljäger, der zwei Patronen auf ein Rotkehlchen verschießt und es dennoch nicht erwischt.« (»Anmerkung« zu den »Gesängen aus Castelvecchio«)
Wohl um frühere Versäumnisse zu kompensieren, kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter italienischen Kritikern zu einem regelrechten Wettstreit in der Pascoli-Auslegung. Cesare Garboli faszinierte die Mischung aus kosmischem Schwärmen und intimer Zartheit, Gian Luigi Beccaria interessierte vor allem Pascolis weitgehend auf Klangfarben, Tonwerte, Lautmalereien und Anagrammstrukturen gründende Poetik, die das Terrain der »bekannten Sprache« und die »verbindliche Tradition hoher und ›nachahmenswürdiger‹ Beispiele« hinter sich lasse – zugunsten einer noch unbekannten oder untergegangenen Sprache, »die auf dem Grunde der bekannten gesucht« werden müsse.
Auch als Verfasser neulateinischer Gedichte erlangte Pascoli eine außergewöhnliche Meisterschaft: dreizehnmal gewann er den Amsterdamer Preis für lateinische Poesie. In seinen »Gedanken zum Schulwesen« polemisiert er gegen den Vorschlag, den Griechischunterricht abzuschaffen, und kommt zu dem Schluß: »Die Sprache der Dichter ist immer eine tote Sprache«. Doch fügt er gleich hinzu: »Sonderbare Aussage: eine tote Sprache, verwendet, um dem Denken größere Lebendigkeit zu verleihen.« Hier spricht Pascoli in eigener Sache; die Werke der Klassiker sind für ihn »kleine Lämpchen, die auch im Grab weiter zu leuchten vermögen«. In der Spannung zwischen individuellem Erinnern und emotionalem Gehalt überlieferter Begriffe bereichern und erneuern sie die Sprache und ermöglichen es dem Dichter, der an sie anknüpft, in andere Rollen zu schlüpfen. So wählt Pascoli seinen Standpunkt in der Vergangenheit, um Gegenwart und Zukunft träumerisch Gestalt zu geben – eine bewährte Strategie im Umgang mit Verlusterfahrungen (Traum steht gegen Trauma).
SINN UND FORM 6/2015, S. 830-840, hier S. 830-833
Praz, Mario
- 1/2010 | Shakespeares Italien
Prescher, Ina
- 1/2003 | Vorbemerkung zu: Else Lasker-Schüler, Leopold Lindtberg, Briefe zur Uraufführung von »Arthur Aronymus und seine Väter« in Zürich 1936
Prévert, Jacques
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | 1933
Prévost, Claude
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Aktuelle Probleme des Romans. Versuch einer vorläufigen Bilanz
- 6/1976 | Pariser Gespräch mit Jean Tailleur, Jean Guégan, Jaqueline Verger, Gilbert Badia, Claude Seibisch, André Gisselbrecht, Michèle Tailleur und Jean-Paul Barbe über die Prosa der DDR
- 4/1978 | Aragon - Bildung und Umbildung
Priestly, John Boynton
- 5/1975 | Beiseitegesprochenes
Prigogine, Ilya
- 2/1972 | Die tragische Philosophie Jacques Monods. Gespräch mit Jean Améry
Primavera-Lévy, Elisa
- 6/2017 | Gespräch mit Matthias Weichelt und Friedrich Dieckmann über Literatur und Kultur in Ost und West
- 1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Wolfgang Kohlhaase und Matthias Weichelt, S. 756 Leseprobe
Primavera-Levy, Elisa
»Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Wolfgang Kohlhaase und Matthias Weichelt,
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon
sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen?
WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt haben, die hat mein Sohn. Und wenn Sie so ein Tonrohr suchen, das hier mal in der Wiese gelegen hat, das hat auch mein Sohn. Dieser Sohn war ein Mann in den Siebzigern, der einen halben Arm verloren hatte im Krieg, und der Vater war in den Neunzigern. Es war ein abgelagerter Konflikt zwischen Vater und Sohn. Und dann kam das schöne Wort »übrigens«. Übrigens, sagte er, was ich Ihnen schon lange sagen wollte, ich habe bei Ihnen mal ein Rad sichergestellt. Na, Sie waren ja noch nicht ganz hier und ich bin immer mal eine Runde ums Haus gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Und da lehnte hinter dem Haus ein Rad. Da hab’ ich gedacht, wer weiß, was für ein Spitzbube hier ein Rad hingestellt hat, und hab’ es sichergestellt. Nun konnte er mit diesem Rad aber sein Leben lang nicht fahren, denn ich hätte es ja wiedererkannt. Und der Gedanke saß bei ihm tief: Der sieht das.
WEICHELT: Hat er es Ihnen zurückgegeben?
KOHLHAASE: Ich hab’s nicht genommen. Das hat ihn enttäuscht. Ich sagte, wissen Sie – der hieß auch noch Marx –, wissen Sie, Herr Marx, wenn Sie auf das Rad so lange achtgegeben haben und das ist immer noch da, dann behalten Sie es doch. Dieses Ausbleiben einer kleinen Belohnung hat ihn nicht gefreut.
WEICHELT: Diese Geschichte ist ja fast schon eine Filmszene oder eine kleine Erzählung.
KOHLHAASE: Einmal kam er und trank ein Bier bei mir, er kam immer mal vorbei. Ich guckte Fußball und sagte, gucken Sie auch Fußball, Herr Marx? Und er: Wegen Fußball habe ich 1909 bei den Husaren drei Tage mittleren Arrest gekriegt. Machte eine kleine Pause, in die ich natürlich reinging – was ist denn da passiert? Wissen Sie, sagte er, wir hatten so einen verrückten Leutnant, der wollte immer, daß wir im Kasernenhof Fußball spielen. Die, die sich dafür interessiert haben, wurden vorne eingeteilt bei den Stürmern, und die, die sich nicht so interessiert haben wie ich, waren hinten als Verteidiger. Irgendwie kam ich in die Nähe des Balles und habe ihn ins eigene Tor geschossen. Da kam der Leutnant angerannt und sagte, Mann Gottes, sind Sie verrückt geworden, ohne Bedrängnis, ohne Not schießen Sie den Ball ins eigene Tor! Da habe ich gesagt, Herr Leutnant, das hatte ich mir von Anfang an vorgenommen, sowie ich in den Besitz des Balles komme, schieße ich ihn auf kürzestem Wege in das nächstgelegene Tor. Und weniger das Selbsttor als der Vorsatz des Selbsttors hat den Leutnant so von der Rolle gebracht, daß er drei Tage Arrest bei Wasser und Brot anordnete. Na ja, solche und ähnliche Geschichten erzählt man sich auf dem Land. Wie die über einen Menschen, der Koslowski hieß, mit dem war mein Nachbar zusammen bei den Husaren in Brandenburg. Ich habe ein paar Notizen gemacht, ein fiktives Gespräch mit einem Kohlenhändler, der genau weiß, wer wo stationiert war.
ELISA PRIMAVERA-LÉVY: Das ist in Ihre Erzählung »Kohlen und Kavallerie« eingegangen. Der Kohlenhändler war einst Ulan in Leipzig und fachsimpelt mit dem Ich-Erzähler über Kürassiere in Pasewalk, Dragoner in Parchim und Husaren in Stendal.
KOHLHAASE: Ja, und mit Koslowski war Marx 1914 im Ersten Krieg, zuerst in Belgien, wo Koslowski hinter den Mädchen her war. Dann wurden sie nach Serbien versetzt, und da hat Marx zu Koslowski gesagt, das ist hier nicht wie in Belgien mit den Mädchen, der Serbe ist falsch. Da mußt du immer dran denken, der Serbe ist falsch. Und Koslowski weiter mit den Mädchen, und dann lag er totgestochen hinter dem letzten Haus. Er wollte ja nicht hören.
WEICHELT: Um Liebesangelegenheiten im weiteren Sinne geht es ja auch in Ihrem Text »Onkel, hast du Feuer?«, über den wir uns gern unterhalten würden. KOHLHAASE: Ich ahne überhaupt nicht, was auf mich zukommt.
PRIMAVERA-LÉVY: Es gibt viele Gespräche mit Ihnen über Ihr filmisches Schaffen. Wir möchten in erster Linie über Ihre schriftstellerische Arbeit sprechen, schließlich sind mehrere Texte aus Ihrem Erzählungsband »Silvester mit Balzac« in den siebziger Jahren zuerst in Sinn und Form erschienen. »Onkel, hast du Feuer?«, Ihr bisher unveröffentlichtes Exposé, hat uns beim Lesen sofort be geistert. Die Handlung spielt offensichtlich in der DDR, aber ob in den sechziger oder siebziger Jahren, ist nicht leicht zu sagen. Wissen Sie noch, wann Sie es geschrieben haben und was der Anlaß dafür war?
KOHLHAASE: Ich wollte etwas über das machen, was man heute die Medienwelt nennt, über den permanenten Schwindel der hergestellten Diskussionsstoffe und die sogenannte öffentliche Meinung. Und da hatte ich eine sehr schmale Idee. Was man so als Redensart ständig hört: Mir geht das vollkommen auf den Sack ... Warum soll es immer nur auf den Sack gehen oder aufs Herz? Ich habe gesagt, wie ist es, wenn es jemanden sozusagen in der Mitte seiner Männlichkeit trifft? Und wieviel Komik ist daraus zu gewinnen? Dann habe ich an die Manipulation der gesammelten Nachrichten gedacht. Aus dem nicht zum Alltag gehörenden, aber eher harmlosen Wunsch eines Zehnjährigen, eine Zigarette zu rauchen, macht man einen Beitrag über die Schädlichkeit des Rauchens überhaupt. Und ich habe diesen Satz geschrieben, der auch in der DDR dauernd in der Luft hing, als permanente Drohung: »Erdöl ist teurer geworden.« Das Problem mit dem Erdöl und den Russen geht ja dreißig Jahre und länger zurück. Die haben auch früher manchmal auf und zugedreht. Dann wurde die Braunkohle wieder in Gang gebracht oder wieder eingebuddelt und es hieß: Unser Erdöl wird teurer – wenn Öl teurer wird, wird alles teurer, wenn alles teurer wird, wird die Moral schlechter, warum sollen wir noch über gesellschaftlich Problematisches reden? Es blieb immer irgendwie auf dieser Spaßebene ... Bei Geschichten über Impotenz ist es auch so – die können ja komisch sein. Da ist jemand, der sich plötzlich vor sich selbst fürchtet, der etwas fürchtet, was ihm noch nie passiert ist. Über die Rolle von Plot und Figuren in dieser Geschichte habe ich noch gar nicht entschieden. Wenn man darüber nachdenkt, kommt man dahinter, daß sich das gar nicht trennen läßt: Die Figur bedient den Plot, der Plot bedient die Figur. Man kann also gar nicht so eindeutig sagen, ob der Plot das Sujet ist oder die Figur.
WEICHELT: Das Bemerkenswerte an diesem Text ist, daß man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob es ein literarischer Text ist oder eine Filmvorlage. Es steckt beides drin. Der Text präsentiert sich als Filmexposé, funktioniert im Grunde aber auch als Erzählung.
KOHLHAASE: Da bin ich ganz unsicher, ob das wirklich merkwürdig genug ist als Erzählung. Und die Sache hat ja eine gewisse Atemlosigkeit, aus der man keinen soliden, stabilen Prosa-Atem machen darf.
WEICHELT: Das denke ich auch, die Lücken gehören zur Stärke dieses Textes. Und mir scheint, wie gesagt, das Besondere zu sein, daß hier Ihre beiden Ausdrucksweisen, das filmische und das literarische Schreiben, zusammenkommen. Das Szenische spielt darin eine große Rolle, aber auch das Erzählerische. Es gibt diese schnellen Wechsel zwischen den Handlungsorten, die gar nicht erklärt werden, und trotzdem bleibt die Geschichte in sich stimmig und wird getragen von einer großen Leichtigkeit, Komik und Lebendigkeit.
KOHLHAASE: Man könnte hier auch noch dichter zu den Figuren gehen, denn die sind auf jeden Fall da, sowohl die mit einem Vorbild als auch die ausgedachten. Ich hab’ noch mal geblättert in den liegengebliebenen Seiten und gedacht, man könnte auch noch einen älteren Mann dazunehmen, als Ehemann der Frau, die jetzt nur dazu gut ist, Hoffie darauf anzusprechen, daß er schon wieder ein Mädchen mitbringt. Dieser Mann hätte sich in seinem 65. Lebensjahr ins Bett gelegt und gesagt, ich stehe nicht wieder auf, ich spiele nicht mehr mit, ich bleibe liegen ... Die Geschichte wäre dann die: Er war im Krieg gewesen und er war Schneider, jedes Regiment brauchte einen Schneider, wenn die Hosen nicht mehr paßten oder wie auch immer. Und seine Frau war katholisch und eine Polin, die es irgendwie nach Deutschland verschlagen hatte. Er schlief nicht mehr mit ihr, obgleich sie schön war, sie wiederum sagte, Gott hat das anders geplant, Gott will, daß die Menschen sich vermehren, aber wenn das nicht geht, dann geht’s nicht. Und so lebt sie mit ihm ein schizophrenes Leben. Ab und zu rennen sie ungeheuer um den Tisch, weil er sie jagt, aber nie kriegt. Sonst liegt er im Bett und guckt fern. Also sagen wir mal, zu diesen Figuren hätte ich eine Tür.
PRIMAVERA-LÉVY: Meine Vermutung war, das Exposé könnte etwa aus derselben Zeit wie Ihr Film »Solo Sunny« (1978 / 79) stammen, weil die Figuren sich ähneln, auffallend etwa in ihrer Mühelosigkeit des Anbandelns, was man als eine ganz eigene DDR-Erotik bezeichnen könnte. Wissen Sie noch, was Sie mit dem Text vorhatten?
KOHLHAASE: Eigentlich hatte ich vor, einen Film zu machen. Und ich glaube, Konrad Wolf starb, der aber nicht auf die Geschichte aufgesprungen war, er sagte zwar, es interessiere ihn, aber dann schied er aus. Und Frank Beyer starb auch. Es starben also Leute, mit denen ich gearbeitet hatte, dennoch dachte ich, vielleicht ist es trotzdem ein Film und kein Erzählstück.
WEICHELT: Bei Hoffie durchmischen sich das Filmische und das Erzählerische auf eine spezielle Weise. Irgendwann spielen auch Spiegel eine größere Rolle. Er sieht sich dauernd selber, schaltet immer den Fernseher an, wenn eine Frau da ist, sieht sich bei den Umarmungen im Spiegel und merkt plötzlich, was daran seltsam ist. Das macht ja die Komik aus: Als Casanova ist er eher ungeschickt, kann weder unterhalten noch sich als Liebhaber betätigen, man fragt sich, worin eigentlich seine Anziehungskraft liegt.
KOHLHAASE: Ich habe mal darüber nachgedacht, »Nicht-Geschichten« zu erzählen, im Sinne von: hat nicht geklappt. Da dachte ich an so einen Drehstab wie in »Onkel, hast du Feuer?«, der auf dem Land unterwegs ist. Die Dorfjungs und Dorfmädchen lösen für ein langes Wochenende ihre Verabredungen, und die flotten Jungs vom Film sind nicht die Schauspieler, sondern die Kameraassistenten. Das eine Mal überredet einer davon ein schönes Mädchen zu einem langen Spaziergang, bei dem es immer bedrohlicher wird, weil sechs Leute aus dem Dorf hinter ihnen herlaufen und allmählich den Abstand verkürzen. Und als es schon ganz gefährlich aussieht, kommt auf dem Fahrrad ein Volkspolizist und der Assistent sagt, wenn ich Sie einen Augenblick in Anspruch nehmen dürfte, ich fühle mich hier bedroht und verfolgt ... Und der hört sich das alles an, stellt sein Fahrrad ab, hört sich das weiter an und haut dann seiner Tochter eine runter, eine ungeheure Schelle. Die zweite Geschichte, die mit der ersten korrespondiert, wäre sozusagen nicht mehr im Wald, nicht beim Spazierengehen, nicht in der Nähe dieser Dorfrabauken, sondern bei ihr zu Hause. Sie gehen leise eine Treppe hoch, die knarrt, so ist das, aber alles wunderbar, das Ziel ist erreicht. Und da fällt ihm ein, was ihm vorher hätte einfallen sollen, noch mal die Blase entleeren, das schafft lockerere Haltung. Und dann sagt er, bin gleich wieder da, bis gleich. Er also wieder runter und rennt irgendwo dagegen, es klappert. Aber da ist die Tür, er ist wieder oben, in ihrem Zimmer. Nur im Bett sitzen aufrecht die erschrockenen Eltern, weil er die Tür verwechselt hat. Das war die zweite Nichtgeschichte. Die dritte Nichtgeschichte wäre: In keinem Restaurant, in keiner Wohnung, in keinem Wald, aber hier um die Ecke muß es doch erträgliche Örtlichkeiten geben. An einer mit Efeu zugewachsenen Mauer, wenn überhaupt, dann hier. Und er guckt nach links und nach rechts und lockert sozusagen die zu enge Bekleidung, da springt ein ungeheurer Kater aus dem Efeu, ein lebensgefährlich gesonnener.
WEICHELT: Das klingt wie ein Dekamerone des Scheiterns, man erzählt erotische Geschichten, die aber nicht zu dem führen, wozu sie führen sollen.
KOHLHAASE: Eben. Und wenn du so etwas pur erzählst, dann muß es sehr gut sein. Mit Ironie kannst du das sozusagen aus dem Handgelenk machen. In jedem
Fall darf man dieses Impotenzproblem, dieses Hemmungsproblem nicht aus dem Auge verlieren. Wenn man in der Prosa komisch schreiben will, geht das nur über die Situation. In »Onkel, hast du Feuer?« sind für mich die Tagebau-Szenen am wenigsten überzeugend. Das wird einfach nur zitiert und hat eigentlich kein Fleisch. Würde man mich fragen, welcher Teil ist am ehesten DDR, dann käme ich auf diesen Aspekt, da stehen die Fragen der Wahrheit im Vordergrund. Das gab’s nur in der DDR, die Frage nach der Wirklichkeit verbittet sich die heutige Welt entschieden.(…)
SINN UND FORM 1/2023, S. 21-35, hier S. 21-25
Prin, Claude
Prischwin, Michail
- 1/2018 | »Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet, S. 5 Leseprobe
Prischwin, Michail
»Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet
Vorbemerkung
Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928Wie soll man dagegen sein! Nur ein Verrückter kann sich unter die Lawine stellen und denken, daß er sie aufhält. Mir vormerken: In ein Umfeld gehen, wo aufgebaut und an etwas geglaubt wird.
28. Oktober 1929Die Revolution beraubt den Menschen seines individuellen Schicksals.
24. Dezember 1930Michail Prischwin (1873 –1954) ist dem Leser, in Rußland wie jenseits seiner Grenzen, vor allem als Kinderbuchautor bekannt und als »Sänger der russischen Natur« – ein Titel, den er Maxim Gorki verdankt. In den deutschen Sprachraum vermittelte ihn als erster Alexander Eliasberg, der 1914 im Münchener Georg Müller Verlag eine Auswahl früher Erzählungen vorlegte. Den Kulturvermittlern in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR galt Prischwin, da offiziell zwar anerkannt, doch ideologisch wie stilistisch fern jedem sozialistischen Realismus, als probater Autor, um das deutschsprachige Publikum an die Sowjetliteratur heranzuführen; allerdings betrieb kein Verlag in Ost oder West kontinuierliche Werkpflege. In der DDR erschien noch das eine oder andere, meist aber wurde bereits Übersetztes neu herausgebracht. Prischwins einziger Welterfolg war und blieb »Ginseng. Die Wurzel des Lebens«, verfaßt 1932 / 33, erstmals erschienen 1934. Daß es einen zweiten – gleichwohl vom Naturschilderer nicht zu trennenden – Prischwin gibt, den Beobachter und Bedenker der Menschen und des Menschengemachten, entging der Öffentlichkeit. Und es mußte ihr entgehen: Der Autor, der seit 1905 Tagebuch schrieb, tat dies ab 1917 im verborgenen, auch im engsten Umfeld wußte bis zuletzt nur seine zweite Frau davon. Eine einbändige, thematisch geordnete Auswahl ohne Datumsangaben, die 1960 unter dem Titel »Nesabudki« (Vergißmeinnicht) erschien, konnte nicht – und durfte wohl auch nicht – das tradierte Bild korrigieren. Möglich machte dies erst die Perestrojka: Zwischen 1991 und 2017 wurden Prischwins Tagebücher in 18 Bänden mit mehr als 13 000 kleingedruckten Seiten ediert. Sie umfassen drei russische Revolutionen, den Großen Terror, den Zweiten Weltkrieg, das erste Jahr nach Stalins Tod und bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten wie einfachen Menschen, aus Betrachtungen zu Literatur, Religion, Politik, Philosophie, aus Träumen und Selbstbeobachtungen, Naturschilderungen, Briefkonzepten, literarischen Entwürfen, Haushaltsfragen, Überlegungen zur Beziehung der Geschlechter etc. Vor allem aber verzeichnen die Tagebücher immer wieder kleine und kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im Alltag, im Individuum, im Zwischenmenschlichen, in der Sprache. Dieses gigantische diaristische OEuvre entsprang dem Willen, den eigenen Blick, das eigene Fühlen und Denken, die eigenen Wertvorstellungen, die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele aus mangelnder Widerstandskraft oder aus Angst erlagen – oder zu denen sie durch ihren Glauben an die Revolution verführt wurden. Auch Prischwin gelang es nicht, von den politischen und sprachlichen Topoi des neuen Regimes gänzlich unberührt zu bleiben. So notiert er am 14. November 1930: »Sechs Jahre habe ich an der ›Kette des Kaschtschej‹ [einem autobiographischen Roman] geschrieben in der Hoffnung, unser Land stünde vor einer Wiedergeburt, die ich als einträchtiges gemeinsames Schaffen eines guten Lebens verstand. Mein Vorgefühl hat mich getrogen, wie sich zeigt, ist der Weg bis zu einem ›guten‹ Leben in freiem Schöpfertum noch weit (…)« Zugleich endet der Eintrag mit der Feststellung, daß ihm »die ›Notwendigkeit‹ mit ihrem Realismus « jetzt näher sei »als die ›Freiheit‹ mit ihrer Illusion und Romantik«.
In den Jahren der Leninschen »Atempause« (der Neuen Ökonomischen Politik) und noch 1928 erlaubte sich Prischwin bei aller abständigen Skepsis Hoffnung. Es ist das Jahr, in dem der erste Fünfjahrplan zur Förderung der Wirtschaft in Kraft tritt, die Zeitschrift »Oktjabr« Scholochows »Der stille Don« und Ilf und Petrows »Zwölf Stühle« abdruckt, der wie Grigori Sinowjew und Dutzende andere linke und rechte Oppositionelle aus Politbüro und Partei ausgeschlossene Lew Trotzki nach Alma-Ata verbannt wird, Sergej Eisensteins Film »Oktober« in die Kinos kommt und Maxim Gorki nach siebenjähriger Abwesenheit erstmals wieder sowjetischen Boden betritt. Von Prischwin erscheinen die Bände 3 bis 6 einer auf sieben Bände angelegten Werkauswahl, die, noch ehe der letzte Band herauskommt, 1929 in die 2. Auflage geht. Seine immer wieder aufkeimende Hoffnung auf eine bessere Zukunft verdankt sich seinem früh in einer persönlichen Krise erworbenen Credo der Lebensbejahung, auch dann, wenn Wirklichkeit und persönliche Verzweiflung eher dessen Verneinung nahelegen (Suizid gedanken begleiten ihn bis ins Jahr 1940). Dem augenscheinlich Bösen, Katastrophischen, Sinnlosen einen Sinn abgewinnen, es nicht als das Äußere, Überwältigende, Andere zu betrachten, sondern es als Teil der eigenen lebensweltlichen Wirklichkeit durch teilhabende Beobachtung und distanzschaffendes Schrei ben ins tägliche Dasein zu integrieren – diese Haltung half ihm bereits, die Bürgerkriegsphase zu überstehen. Nach einem zweiwöchigen Gefängnisaufenthalt – man hatte ihn zusammen mit Führungspersonen von »Wolja Naroda« (Volkswille, einer Zeitung der Sozialrevolutionäre, für deren Literaturbeilage er schrieb) verhaftet – notierte er am 30. Januar 1918: »Jetzt ist klar, daß es unmöglich ist, im Namen der menschlichen Individualität gegen die Bolschewiki anzutreten: Der Bottich brodelt und wird bis zuletzt brodeln, man kann höchstens an den Rand des Bottichs treten und überlegen: ›Wie, wenn ich mich auch hineinstürzte‹?« Der Bottich ist bei Prischwin eine Metapher für persönlichkeitslose Räume, für die Geschichte und das kollektive ("östliche«) Wir.
Er selbst wird sich nicht hineinstürzen, sondern dicht am Rand des Bottichs stehenbleiben. Im Frühjahr 1918 zieht er wieder ins heimatliche Chruschtschowo, ein Dorf nahe Jelez im Gouvernement Orjol, wo er versucht, auf einem ererbten Stück Land, auf dem er ein Haus gebaut hat, als Lehrer, Jäger und Selbstversorger mit Frau und zwei Kindern durchzukommen. Doch die Mushiki verjagen ihn schon im Herbst: Es war die Zeit der »schwarzen Umteilung«, in der Landlose nach Gutdünken Enteignungen durchführten. 1920 / 21 darbt Prischwin als Lehrer in Alexino (Smolensker Gebiet), wo er im einstigen Adelssitz der Baryschnikows das »Museum des Gutslebens« einrichtet. Er hungert, geht auf die Jagd und läuft viele Werst in die Stadt, um für seine Dorflehrerration zu kämpfen. Was immer ihm begegnet, notiert er im Tagebuch: Natureindrücke, den Mushiki Abgelauschtes, in deren Dialekt sich Vulgarismen mit Biblischem und verdrehtem Bildungswortschatz ("Antilligenz«) mischen, die Gestik der Revolutionäre, den verunglückenden Sowjetsprech und die Gewaltexzesse der neuen lokalen Machthaber, häusliche Szenen, und dazu nicht selten christlich-apokalyptisch gefärbte Reflexionen über all dies. 1922 verdichtet er, was ihm in Chruschtschowo und Alexino widerfuhr, in wenigen Monaten zu einer schauerlich wahren Groteske, ganze Tagebuchpassagen finden nahezu unverändert Eingang in die Erzählung »Der irdische Kelch«, über die Trotzki, auch wenn er ihr »großen künstlerischen Wert« bescheinigt, das Todesurteil verhängt: »Ganz und gar konterrevolutionär«. Eine vollständige und unzensierte Fassung des Buches liegt erst seit 2004 vor.
Aber noch in den schwärzesten Phasen sucht und findet Prischwin den Augenblick des Innehaltens und Zurücktretens, der Schönheit, der Harmonie, des Aussetzens der jagenden Zeit: das Idyll. Das Idyll nicht als Flucht aus Gesellschaft und Geschichte (also als innere Emigration), sondern im Gegenteil als Rebellion: als beharrliches Erinnern an eine andere Dimension des Daseins – des Seins als solches. Das um so unbeirrter gepriesen werden muß, je mehr es bedroht ist. Er selbst spricht nicht von Idyllen, sondern von »phänomenischen« Notaten und Skizzen. Auch in seinen Romanen schreibe er letztlich »otscherki«, jene nur ungenügend mit »Skizze« übersetzbare Kleinform, die nah an realen Begebenheiten bleibt, sie aber derart verdichtet, daß ein verborgener Sinngehalt hervorgetrieben und das Geschehnis transzendiert, aus seiner Einzelfallhaftigkeit erlöst wird. Tatsächlich ist jedes Tagebuchnotat mal mehr, mal weniger sprachlich-stilistisch durchgestaltet, und die Diarien erscheinen im Ablauf der Tage merklich komponiert. So entsteht Eintrag um Eintrag ein fünfzig Jahre umspannender chronikalischer roman fleuve, dessen Protagonist durch eine Zeit grauenvoller Irrungen und Wirrungen geht, eine Zeit, die Tag für Tag, Jahr um Jahr von den Menschen gelebt wurde, vom einzelnen, der seine Hilflosigkeit, sein Ausgesetztsein erfährt, dem vielleicht eben nur diese eine Chance bleibt: einen Ort zu finden, den er freihalten kann von dem System reiner, vollendeter Tatsachen, die Zeit und Raum und Geist bis an den äußersten Rand füllen und füllen sollen.
Prischwin hat diesen Ort im diaristischen Schrei ben gefunden. »Der Kampf vom Lachen bis zum Schrei und den Tränen über die eigene Person wird für alle gebraucht – darin besteht mein Weg in der Literatur. Deshalb hat mich der im Wasser zappelnde Schmetterling beschäftigt: Das bin ich! Folglich muß der Schmetterling gerettet werden«, notiert er am 18. Juni 1937. Dieser Ort des Rückzugs, der Raum des diaristischen Schreibens, erweist sich auf dialektische Weise zugleich als derjenige Ort, an dem man sich auf die Zumutungen des Faktischen mit allen geistig-seelischen Konsequenzen einlassen kann und an dem sich andere Erkenntnisse gewinnen lassen als im »Bottich« (in den sich etwa ein Ilja Ehrenburg warf): Man erlebt sich – noch eine dialektische Volte – als hineinverwickelt, widersprüchlich, zerrissen, fehlgehend: »Im Politischen irre ich mich beständig, weil ich mir meine Urteile aus Material bilde, das mein Herz mir zuträgt, mein Verstand wagt nur im Verein mit dem Gefühl aufzutreten«, konstatiert er am 21. Juli 1929, »deshalb sind meine Urteile im Politischen stets kleinbürgerlich und unsicher.«
Deutlich wird diese Unsicherheit etwa in Prischwins zwiespältiger Haltung gegenüber den Mushiki, dieser Lumpenbauernschaft, die zwischen 1917 und 1922 zu einem plündernden und mordenden gesellschaftsfeindlichen Mob wurde. Ihm zog er, so brutal sie ihrerseits war, die bolschewistische Staatsmacht vor, schien sie doch ein Minimum an Ordnung zu garantieren. Als er 1928 / 29 in Sagorsk (Sergijew Posad) lebt und viel auf dem Land unterwegs ist, fühlt er sich erneut an die Zeit des Kriegskommunismus erinnert: »Dem Mushik ›die Freiheit geben‹«, vermerkt er am 21. August 1928, »bedeutet, ihm die Freiheit zur Zerstörung zu geben.« Gut ein Jahr später, am 1. November 1929, schreibt er: »Das äußere Bild erinnert sehr an 1918, damals allerdings wurde das Plündern mit der Revolution gerechtfertigt: ›Plündere den aus, der dich ausgeplündert hat‹, heute mit dem sozialistischen Aufbau der Zukunft. Damals saß auf jedem Posten ein überzeugter Revolutionär, heute nur noch ein Exekutivbeamter, Überzeugte gibt es nicht mehr. [durchgestrichen: Die Welt hat in der Geschichte alle Arten von Raub und Plünderung gesehen, aber so etwas, daß jeder Werktätige ausgeraubt wird zugunsten der faulenzenden ›Armut‹ und die Bürokraten mit dem Wort ›wer nicht arbeitet‹ … Widerlich, daran zu denken.]« Drei Tage zuvor hatte er notiert: »Selbst wenn es eine Akkumulation der Produktionsmittel, von Traktoren und anderen Maschinen gibt, so zahlt den Preis dafür die Bevölkerung durch Verarmung. Die Frage ist bloß, was zuerst eintritt: Machen die Maschinen die Armen glücklich und reich, oder zerstören die Armen in äußerster Verzweiflung die Maschinen? Warten sie oder nicht?«
Michail Prischwin betrachtete seine Tagebücher als sein Hauptwerk. Zu Recht: Sie sind Zeitchronik und Zeitroman in einem, sind durch die Wahrnehmung eines einzelnen gegangene und in unterschiedlichem Maße literarisch verdichtete Mitschriften der Ereignisse. Dieser einzelne – man kann es sich denken – ist zu keinem Zeitpunkt ein innerlich entschiedener oder gar sich offen bekennender Gegner des Regimes, doch ebensowenig ein Befürworter. Gerade das öffnet sein Ich auf all die anderen einzelnen, die unter den Bedingungen von Revolution, Krieg, Bürgerkrieg und Stalinismus lebten.
Der folgende Auszug stammt aus dem Jahr 1930, das am 5. Januar mit dem ZK-Beschluß »Über das Tempo der Kollektivierung und die staatlichen Hilfsmaßnahmen beim Kolchosaufbau « begann. Am 30. Januar folgte der Beschluß »Über Maßnahmen zur Liquidierung der Kulakenwirtschaft und zur Durchsetzung der Kollektivwirtschaft«, am 25. April der »Über die Konsolidierung der Situation in den Arbeitslagern«. In Sogorsk wurden im Januar die Glocken von den Kirchtürmen gestürzt. Prischwin hat dieses »Glockensterben « im Tagebuch und auch auf Fotos festgehalten. Er selbst gerät als Mitglied der Schriftstellergruppe Perewal in die Kritik. In Moskau wurde am 2. Februar eine Ausstellung zu Majakowski eröffnet, der gut zwei Monate später den Freitod wählte; Isaak Brodski malte »Lenin im Smolny«, und im Bereich der Literatur erschienen Arkadi Gajdars »Die Schule des Lebens«, Marietta Schaginians »Das Wasserkraftwerk«, Iwan Bunins »Das Leben Arsenjews«, Andrej Platonows »Die Baugrube« sowie, im Berliner Exilverlag Slowo, Vladimir Nabokovs Roman »Lushins Verteidigung«.
Eveline Passet
SINN UND FORM 1/2018, S. 5-27, hier S. 5-9
Pristawkin, Anatoli
- 5/1988 | Schlief ein goldnes Wölkchen unter Sternen
Prochasko, Jurko
- 4/2008 | Mein Fenster zur Welt. Dankrede für den Friedrich-Gundolf-Preis, S. 566 Leseprobe
Prochasko, Jurko
Mein Fenster zur Welt. Dankrede für den Friedrich-Gundolf-Preis
Es kam, wie es kommen mußte. Es kommt so: es kommt der Frühling, er ist noch jung. Der wilde Wein auf dem großen langen Balkon beginnt erst, Knospen zu treiben. Es ist ein ganz zartes Grün, ein blasser Schimmer vielmehr. Eine Ahnung. Die Rebe braucht ihre Zeit. Sie kommt spät. Junge Blätter an alten, faserigen Zweigen. Aber die Sonne ist schon stark genug, um die lange erwarteten Gerüche zum Leben zu erwecken: der warme körnige Verputz der Mauer, das alte Holz der Blumenkästen, die trockene, silbrige Erde in den Tontöpfen, der feine, spitze Staub auf der hölzernen Schwelle zwischen den beiden Türen, der winterliche Anflug an den Fensterscheiben, der wie Wachteleier gefleckte Balkonboden, die abblätternde Farbe an den Türen, außen rostrot, innen gelblichweiß. Der süßliche Geruch der sonnenheißen Messingtürklinken.
Dann geht es in das halbrunde Zimmer hinein. Der Sonnenschein erwärmt den alten schwarzen Flügel, die grobe Leinendecke darauf. Er steht hier wie eine schöne große schwarze Leiche, gänzlich bedeckt mit dem weißen Stoff. Meine in Wien geborene Tante, die ich nie kennengelernt habe, hat darauf gespielt. Unlängst hat man einen bekannten alten Klavierstimmer kommen lassen, nach seinen Eingriffen riecht der Flügel jetzt auch nach Medizin, ältlich. Es ist mittlerweile so warm draußen, daß man die Balkontür mehrere Stunden am Tag offenlassen möchte. Man tut das. Jetzt erreichen die Strahlen auch den massiven dunkelbraunen Schreibtisch meines Großvaters. Er riecht ganz anders. Er riecht streng und präzise. Dunkelblaugold schimmernde herbe Pelikan-Tinte und reglose Rechenschieber im Lederetui. Die Tante mit dem Klavier war seine erste Tochter.
Sie war sehr schön und ist mit siebzehn gestorben. Hier, in dieser Wohnung in Stanislau.
Und dann kommt es, wie es kommen muß. Wie jeden Frühling. Die Sonnenstrahlen erreichen den Bücherschrank am anderen Ende des Zimmers. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis der Geruch kommt. Der betörendste aller Frühlingsgerüche in diesem Zimmer: so konnte nur der warme Meyer riechen. Ganz oben stand es, »Meyers Großes Konversations-Lexikon«. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens in 22 Bänden, Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig und Wien. Bibliographisches Institut. 1902–1909. Das trockene dicke Leder des Einbands mit goldgeprägtem Jugendstilmuster roch anders als die leicht vergilbten, elfenbeinfarbenen Seiten innen. Und darum ging es, um diesen inneren Geruch. Die Seiten rochen unter dem Einfluß der Sonne wie warmer Strudelteig aus dem Backofen, wie frische Oblaten waren die hauchdünnen Zigarettenpapierblätter zwischen den Farbtafeln, und die Farbbilder selbst waren so schwer und dick aufgetragen und klebten süß und glitzernd wie Marzipan. Die Bände waren dick und schwer wie der Pischinger. Das Alter der Bücher roch nach der Frische der Bäckerei, hatte das Gewürz des Frühlings, es war ein behaglicher, abgestandener und doch flüchtiger Geruch, den man nur aus nächster Nähe wahrnehmen konnte. Obstsorten und Menschenrassen, Tätowierungen und Vögel, Wappen und Blumen waren dort abgebildet und vieles mehr.
Sie war hier drinnen, in diesem Lexikon, komplett, diese alte Zivilisation von Grandhotels und Kurhäusern, paneuropäischem Eisenbahnnetz und erster Globalisierung, Kolonialwaren, die noch aus den Kolonien kamen und in Kolonialläden verkauft wurden, perfekten englischen Tuchen und deutschen Universitäten, die ihren Ruf zu Recht hatten, europäischen Gegengewichten und Eindämmungen, europäischem Kräfteausgleich, der einzigen allgemein anerkannten und von niemandem hinterfragten Hauptstadt des guten Geschmacks, Paris, Übereinkunft darüber, was ein Necessaire alles beinhalten soll, was ein Picknickkorb und was der Bildungskanon, die Zivilisation des übernationalen Hochadels und des transnationalen Hochhandels, des europäischen Judentums und eines noch so gut wie unbefleckten Sozialismus, der deutschen Technik und Romantik, französischer Moden und raisons d’état, von skandinavischen Theaterstücken, russischen Romanen und Romanows, italienischem Tourismus, Schweizer Alpenstöcken, schlechten österreichischen Vorahnungen und wunderbar wuchernden Liebesneurosen, Bahnhöfen mit gußeisernen Hallen und Messinggeländern, Ozeandampfern, erkennbaren Druckschriften, universalen Pässen, ersten Radiowellen und Aviationsversuchen, den Baedekers und der frühen Elektrizität.
Perfekt gezeichnete technische Geräte, Elektroturbinen, Dampfloks und Haubitzen. Exakte Stadtpläne. Tadellos ausgearbeitete Schraffur bei Bildnissen von Fürsten und Feldherrn, Dichtern und Denkern, Kaisern und Königen. Akademische Kupferstiche von wichtigen Gebäuden, solide und doch raffinierte Frakturschrift. Wissensfülle, Geordnetheit, Verläßlichkeit. Hierarchien und Kategorien. Es war die ganze wohltemperierte Welt von damals hier drinnen.
Diese Folianten begannen also im Frühling immer entzückend zu riechen. Einen ähnlichen Geruch habe ich später in verschiedenen Bibliotheken und Buchsammlungen Europas wiedergefunden, keiner konnte sich aber mit dem Original messen. Einen vergleichbaren hatten allenfalls die Bücher meiner Lemberger Tante. Den zweitbesten besaß der große Lesesaal der Universitätsbibliothek in Lemberg, in der Drahomanowa-Straße. Nach Lemberg ging ich mit siebzehn, um Germanistik zu studieren. Erst nachträglich habe ich die Bedeutung dieser Entscheidung begriffen. Wenn es darum ging, Kinder in eine Schule zu schicken, dann sollte das eine Schule mit Deutsch sein. Ging es darum, die Welt durch das Studium zu erschließen, war das für mich Germanistik – die Weltsprache, die Weltkultur, die Weltliteratur meiner Kindheit. Das war mein offenes Fenster in die verschlossene Welt von damals. Und dieser Instinkt saß in unserer Familie sehr tief, trotz aller Erschütterungen, trotz allen Selbstzweifels dieser Kultur. Er war alt, dieser Instinkt, alt und stark. Die Erschütterungen des Glaubens ans Deutsche haben meine Großeltern sehr wohl mit- und durchgemacht. Seinen Selbstzweifel durch die mittlerweile fest verschlossene Grenze wohl nicht mehr. Es war nie ihr ausdrücklicher ausdrücklicher Wunsch gewesen, daß ihre Kinder oder Enkelkinder Deutsch lernen sollten. Auch nicht der meiner Eltern. Wohl aber meiner.
Diese Universität ist – wie auch später meine Geburtsstadt – nach Iwan Franko benannt. Mein Urgroßvater, der nach Stanislau gekommen und hier Kirchenchorleiter an der griechisch-katholischen Kathedrale geworden ist, und dank dem wir überhaupt ein Stanislauer Geschlecht geworden sind, war derselbe Jahrgang wie die beiden großen mit Galizien so oder anders verbundenen F-Männer: Franko und Freud. Seine Tochter, meine Großmutter, hörte Freuds Vorlesungen in Wien. Dort hat sie Medizin studiert und praktiziert. Dort haben meine Großeltern geheiratet. Dort ist ihre erste Tochter auf die Welt gekommen. Als sie nach Stanislau zurückkamen, brachten sie mit: mein Großvater das Meyer-Lexikon, meine Großmutter Großmutter die schwarze Anatomie, meine Tante den schwarzen Gustav-Rösler-Flügel.
Das haben sie alles aus Wien mitgebracht, als sie nach Großvaters Studienabschluß 1932 nach Stanislau zurückkehrten. Ganz oben im Schrank standen die Meyer-Reihe, ganz unten die sechs schwarzen Anatomie-Bände. »Rauber’s Lehrbuch der Anatomie des Menschen«, von Prof. Dr. Fr. Kopsch, Privatdozent und Oberassistent am Anatomischen Institut der Universität Berlin, neu bearbeitet und herausgegeben. 10., vermehrte und verbesserte Auflage. Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1914. Es könnte, alles könnte vielleicht auch weiterhin vermehrt und verbessert werden, aber vorne, auf dem Schmutztitel, war schon das Jahr 1914 zu lesen. Dazwischen standen die übrigen Bücher. Meine Großeltern haben die riesige, in Wien in vielen Jahren gesammelte deutschsprachige Bibliothek mitgebracht, den gesamten bildungsbürgerlichen Kanon des späten 18., des ganzen 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Sie haben diese Bücher in dieser Wohnung heimisch gemacht. Sie haben sich hier schön und modern und nach neuesten Standards einrichten wollen. Sie hofften, hier eine sinnvolle Existenz aufzubauen. Die zivilisatorischen Vorbilder aus Karlsruhe und Wien hierher mitzunehmen und hier umzusetzen. Sie ließen sich ein Haus bauen, nach dem neuesten Stand der Technik, sie haben dort diese Bibliothek eingerichtet. Sie haben sich verrechnet. Sie haben sich alle verrechnet, die das Jahr 1939 und die darauffolgenden Jahre, die auch in Wien nicht unbedingt besser waren, miterleben sollten. Aber 1940 wurde hier meine Mutter geboren. Sie haben sich also doch nicht verrechnet.
Im Sommer gingen wir immer in das Huzulenland. Im Städtchen Delatyn, wo wir, mein Bruder, der genau heute, am 16.Mai 2008, in dieser Wohnung in Iwano-Frankiws’k vierzig wird, und ich, unsere Schulferien verbrachten, gab es damals einen ganz passablen Buchladen. Unerwartete Schätze konnte man dort antreffen. Aus dieser Buchhandlung stammten unter anderem die beiden Bücher, die ich mir als Schüler gekauft und dann im Schatten unseres riesigen Nußbaums im Garten zelebriert habe: Hölderlins Lyrik, übersetzt von Mykola Bažan, in der schönen kleinformatigen Reihe mit exquisiten Holzschnitten oben auf dem Umschlag, »Perlen der Weltlyrik« hieß die Reihe. Das andere Buch waren die »Lebens-Ansichten des Katers Murr« von E.T.A. Hoffmann, ins Ukrainische übertragen von Jewhen Popowyè. Bei diesen Büchern ist mir zum ersten Mal bewußt geworden, daß es übersetzte Bücher sind: nicht etwa weil sie schlecht, sondern weil sie so exzellent übersetzt waren, daß es sogar mir auffiel.
Jewhen Popowyè, dessen Ukrainisch mich sehr ansprach, weil es dem meiner Großeltern so ähnelte, lebte in Kiew und übersetzte viele hervorragende deutsche Bücher. Unter anderem auch den »Tim Taler« von James Krüss, der bei mir erst die richtige Lust aufs Lesen erweckt hat. Jewhen Popowyè starb letzten Sommer in Kiew, ungefähr um die gleiche Zeit wie Ingmar Bergman und Antonioni, und kaum einer hat es zur Kenntnis genommen. Seinem Alter nach könnte er der Generation meiner Großeltern zugerechnet werden. Noch vor ihm starb Anatolij Onyško aus Kalusch, der Nietzsche und E.A. Poe übersetzt hat, und auch dieser Tod blieb so gut wie unbemerkt. Von seinem Tod habe ich – sein Kollege und Verehrer – erst viele Monate später, und das nur durch den schwarzen Rahmen um seinen Namen in seiner Curtius-Übersetzung erfahren. Er war derselbe Jahrgang wie meine Eltern: 1940.
Ich erwähne diese beiden Männer aus diesen zwei Generationen stellvertretend für all diejenigen ukrainischen Übersetzer, die diesen Preis viel mehr verdient hätten als ich und die ihn nicht mehr bekommen werden, weder vom Land der Ausgangssprache Ausgangssprache noch von dem der Zielsprache. Ihr Ziel war aber die Sprache selbst, und das haben sie selten verfehlt.
Ich wuchs in einem Teil Europas auf, der noch sehr ähnlich wie das Europa ausschaute, das im alten Meyer-Lexikon in der obersten Reihe des Bücherschranks festgehalten war. Die Lebensbedingungen waren mit denen des Jahres 1906 durchaus vergleichbar: Eisenbahnviadukte und Schmalspurbahnen, Landmaschinen, der Holzofen in unserem Haus. So war dieses Ostgalizien mit seiner alten Architektur und den weitgehend unveränderten Landschaften. Die sahen aus wie viele europäische Landschaften, auch deutsche, im Meyer-Lexikon, in welchen ich aufwuchs. Auch diejenigen, die ich nicht kannte, Meeresansichten, skandinavische Städte oder Bremen und Hamburg, die dort abgebildeten Schiffe waren mir aus den Familienerzählungen und unzähligen Postkarten in den Schubladen aus den Memoiren meines anderen Urgroßvaters, der griechisch-katholischer Priester war und sich auf einem dieser Ozeandampfer, über Bremen und Bremerhaven, nach Übersee aufmachte. Die Kanonen und Gewehre, die Uniformen europäischer Armeen waren 1906 die gleichen wie im Ersten Weltkrieg, wie mein Großvater, der Sohn dieses amerikanisch gewordenen Priesters, der später in Wien studierte und das Lexikon 1932 nach Stanislau brachte, wenige Jahre später als k.-u.-k. Unteroffizier feststellen sollte. In Delatyn fand ich in Blumenbeeten und im Garten die Hülsen und mit etwas Glück auch Patronen aus diesem Krieg. Die Welt kam zu uns mit dem Krieg. Die Enzyklopädie meiner Kindheit, die Enzyklopädie der Lebenswelt meiner Großeltern. Die Stadtpläne von Wien, New York, Hamburg, Karlsruhe, Venedig und Triest waren dieselben, nach welchen sich meine Vorfahren orientierten. Viele haben sich inzwischen sehr stark verändert, nicht aber ihre innerste Topographie verloren.
Das Lexikon roch für mich im Frühling, das Huzulenland im Sommer. Alles hat gepaßt. Deshalb wuchs ich mit dem zärtlichen Gefühl der Übereinstimmung auf. Das Europa, das ich erlebte, war fast identisch mit dem, das auf den Seiten der Enzyklopädie dargestellt war. Das vermittelte Ruhe und Zuversicht. Die Überzeugung, daß die Welt genau so ist wie in den Büchern, und umgekehrt – was mir fast noch wichtiger war –, daß die Bücher die Welt so abbilden, wie sie wirklich ist. Von neueren Entwicklungen wußte ich noch nichts. Das war ein Zustand vollkommener Harmonie. Einer vollständigen, natürlichen, selbstverständlichen und offenbarten Zugehörigkeit. Und dieses später nie mehr erlebte Gefühl sprach damals zu mir auf deutsch. Das war das alte Europa meiner jungen Großeltern. Das Europa meiner Kindheit.
Ich bin sehr froh, diesen Preis als ein noch relativ junger Mann zu bekommen.
Ich freue mich, daß ich Lust und Kraft habe, mich darüber zu freuen, mich daran zu erfreuen, mich darauf zu freuen, was er mit sich bringen wird.
Ich bin sehr froh, daß diese Freude und diese Lust so ähnlich sind wie die, die ich spüre, wenn ich mich an eine neue Übersetzung mache. Leidenschaft für die Literatur und Lust auf das Leben. Denn das ist dann nicht nur ein Zeichen der Anerkennung, sondern auch etwas, das einem Lebenslust macht. Es ist überhaupt ein wunderbares Paar: Lust und Dankbarkeit. Es ist großartig, beide gleichzeitig erleben zu dürfen. Das eine macht Lust weiterzugehen, das andere gibt Anlaß sich umzuschauen, zurückzuschauen. Das zweite ermöglicht das erste. Das erste berechtigt zum zweiten. Heute stehe ich in der Mitte. Mitten im Leben, mitten in Europa. Ein Mittler. Ein Vermittler zwischen Lust und Dankbarkeit. Zwischen meinen Großeltern und Hölderlin, zwischen meinen Eltern und Freud, zwischen Franko und Hoffmann, zwischen den verstorbenen und den lebenden Kollegen, zwischen deutsch und europäisch. Zwischen Alteuropa und dem von heute. Zwischen der Lust auf das Schreiben und der Dankbarkeit für das Gelesene.
SINN UND FORM 4/2008, S. 566-570
Protzmann, Heiner
- 4/1988 | Rudolf Schottlaender zum Gedenken
Pruszak, Hans-Joachim
- 3/1968 | Ravensbrück
Przybos, Julian
- 4/1949 | Neue polnische Lyrik
Pschawela, Washa
- 6/1970 | Aluda Ketelauri. Aus dem Leben der Chewssuren
Puschkin, Alexander
- 4/1964 | Maria Schoning. Fragment
Putrament, Jerzy
- 5/1982 | Ein halbes Jahrhundert
Pütz, Eric
- 6/1998 | Gespräch mit Robert Gernhardt, Bernd Kreuziger und Daniel Lenz
- 4/2000 | Gespräch mit Thomas Hürlimann und Daniel Lenz
Pytlik, Radkó
- 2/1983 | Wie der Schwejk entstanden ist