Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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N. N.
- 2/1953 | Die Deutsche Akademie der Künste zum Tode J. W. Stalins
- 3-4/1953 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste
- 6/1953 | Zum Tode Erich Weinerts
- 6/1953 | Nachruf für Friedrich Wolf
- 6/1953 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste
- 3/1954 | Die Deutsche Akademie der Künste zum Tode ihres Ehrenmitglieds Martin Andersen Nexö
- 5-6/1954 | Mitteilung der Deutschen Akademie der Künste. Verleihung des Heinrich-Mann-Preises
- 1/1955 | Zum Tode Ernst Penzoldts
- 2/1955 | Georg Lukacs zum 13. April 1955
- 2/1955 | Thomas Mann Ehrenmitglied der Deutschen Akademie der Künste
- 2/1955 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste
- 5/1955 | Zum Tod Franz Carl Weiskopfs
- 2/1956 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Verleihung des Heinrich-Mann-Preises 1956
- 2/1956 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Verleihung des Lessing-Preises 1956
- 3/1956 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Neuwahl des Präsidenten
- 3/1956 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Stiftung eines F.C. Weiskopf-Preises
- 1-2-3/1957 | Mitteilung des Bertolt Brecht-Archivs
- 1/1958 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Erklärung zum Friedensmanifest der Kommunistischen und Arbeiterparteien
- 2/1958 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Gedenkfeier für Louis Fürnberg
- 2/1958 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Verleihung des F. C. Weiskopf-Preises 1958
- 2/1958 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Verleihung des Heinrich-Mann-Preises 1958
- 2/1958 | Beschluss der Freien Akademie der Künste in Hamburg
- 5-6/1958 | Zum Tode Johannes R. Bechers
Nachbar, Herbert
- 4/1969 | Gespräch mit Armin Zeißler
- 3/1970 | Die Millionen des Knut Brümmer
- 6/1980 | Mein Onkel Balthasar
Nádas, Péter
- 3/1997 | Minotauros
- 5/2005 | Es ist nicht möglich niemanden zu lieben
- 2/2013 | »Wir versuchen, mit dem Chaos zu leben«. Gespräch mit Jörg Magenau
Nadjma, Milad
- 5/1971 | Abu Djubran und der Fels
Nadolny, Sten
- 5/2013 | »Das Schweigen gehört dazu«. Ein Gespräch über das Gespräch mit Florian Welle
Nagel, Ivan
- 4/2016 | Dieses Rätsel will ich leben. Im Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen, S. 458 Leseprobe
Nagel, Ivan
»Dieses Rätsel will ich leben«. Im Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen
JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders.
IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser Situation der dreifachen Minderheit fertig werden? Als meine Mutter während der ungarischen Revolution am Wiener Westbahnhof ankam, wir hatten uns nach meiner Flucht, meiner Emigration aus Ungarn acht Jahre nicht gesehen, stieg sie aus dem Zug aus und sagte: »Ich habe die Adresse eines Psychiaters.« Für mich war das ein entscheidendes Ereignis. Denn das, was ich als Judenkind bei den Nazis nicht sein durfte, nämlich ich selbst, was ich als bürgerliches Kapitalistenkind bei den Kommunisten nicht hätte sein können, hat meine Mutter mit der ganzen versteinerten Autorität der Budapester Bourgeoisie mitgebracht und mir so eigentlich dasselbe angetan: Geh zum Psychiater, du bist krank, du darfst nicht sein, was du bist. Es stimmt, daß man damals im Adenauer-Deutschland nicht dafür bestraft wurde, was man tat, also nicht für den Liebesakt zwischen einverstandenen, willigen Volljährigen. Aber man wurde dafür bestraft, was man war, im Sinne von § 175 durfte man kein Homosexueller sein: was man war, war strafbar. Dann, im Kinderheim, als Judenkind, hatte ich diese ungeheure, unerklärliche Energie eines Kindes, leben zu wollen, und hielt mich fest an der Behauptung: Es kann nicht sein, daß das, was ich bin, falsch ist, unerlaubt ist. In den glücklichen drei Jahren nach der Befreiung konnte sich diese Ich-Energie ausdehnen und mir die Welt und die Kunst erobern. Aber nach dieser Periode bin ich sozusagen mit mir, mit diesem Ich-Drang und dieser Ich-Energie allein geblieben. Die Gefahr war natürlich, daß man ins Ich-Loch des Egoismus, des Solipsismus hineinfällt. Davor rettet einen nur die Liebe, das heißt das Ausbrechen aus dem eigenen Ich. In der Liebe lernt man am Körper eines anderen, einer anderen sich selbst kennen und merkt, daß diese Lippen, diese Arme, diese Schenkel schön sind, richtig sind, daß der Mensch schön und richtig ist. Mit sechzehn wollte ich eigentlich nicht mehr älter werden. Ich sagte mir: Jetzt ist das Gehirn am klarsten, die Welt am transparentesten, warum soll ich mich einlassen auf diese Erwachsenen-Seuchen, diese trüben Geschichten von Geschlechtskomplikationen, von Geschäftsdrang, von Karriere. Meine Vorbilder waren die großen jungen Mathematiker, die großen jungen Komponisten, die mit sechzehn auf dem Höhepunkt waren, weil ihre Welt diese Transparenz hatte, weil ihre Gehirne noch nicht verseucht waren von diesen seltsamen Erwachsenenkrankheiten. Aber die Liebe ist der Ausweg, das erotische Ertasten, das Kennenlernen des anderen und damit von sich selbst, den Menschen liebgewinnen durch diesen Akt der Spiegelung, des Erkennens.
FISCHER: Sie haben als Jude in den fünfziger Jahren in Frankfurt die wenigsten Schwierigkeiten gehabt, weil das Thema damals dem sogenannten kollektiven Schweigen unterlag. Als Staatenloser und als Homosexueller hatten Sie hingegen manifeste Probleme.
NAGEL: Ja, das war ein großer Unterschied. Das Jude-Sein war eine aufgezwungene Identität, ich fühlte mich in meinem Leben nie hauptsächlich als Jude, als hundertprozentiger Jude. Staatenloser – das war keine Identität, das versuchte man so schnell loszuwerden, wie es irgend möglich war. Aber ich wußte, erkannte und stand dazu, daß ich als Homosexueller so bleiben würde, wie ich war, das heißt, daß meine Identität damit zusammenhing. Da war der Angriff, da war das Problem: Was ist Homosexualität? Ist sie eine Verengung, eine Beschränkung auf das eigene Geschlecht? Ist es eine Feigheit vor dem wirklichen Abenteuer, sich in einem anderen als seinesgleichen, in zwei Formen des Menschseins zu erkennen? Die Heterosexualität hat allerdings einen großen Haken, nämlich daß der zentrale Auftrag des Menschen, mit anderen, gleichen und verschiedenen Menschen zurechtzukommen, vor allem in der christlichen Religion abgeschliffen wird zu einer Art ordentlichem Benehmen, das auch noch vom lieben Gott befohlen wird. Es wird etwas Anpasserisches, Normales daraus, was einem den großen Auftrag der Begegnung mit dem gleichen Anderen verschleiert. Ich habe da zwei wunderbare Schocks gehabt. Der erste Schock war das Erlebnis Mozarts und Goyas, der denkbar heterosexuellsten Menschen, die die Begegnung mit der Frau niemals als abgeschliffene Routine, als bloße Normalität betrachtet, sondern auf die heftigste, leidenschaftlichste, liebevollste Weise gelebt haben. Es ist kein Wunder, daß ich zuerst über diese beiden wunderbaren Menschen und Künstler nachgedacht und geschrieben habe. Aber es gab ein zweites Problem, sozusagen das Subrätsel unter diesem Rätsel: Wie war es möglich, daß die universalsten Kenner, die reichsten Darsteller der Menschheit nur Männer glücklich liebten? Shakespeare und vielleicht Proust, Michelangelo und Leonardo. Wie war es möglich, diese universale Vorstellung zu haben, wenn sie unter jener »Verengung«, »Beschränkung« litten – unter der ich ja keineswegs gelitten habe, und sie offenbar auch nicht. Sondern diese als Sprungbrett genutzt haben zur umfassendsten, genauesten und herrlichsten Erkenntnis dessen, was ein Mensch ist. Nehmen wir Shakespeare: Julia ist tausendmal tiefer und interessanter als Romeo, Rosalinde tausendmal lebendiger als Orlando, Cleopatra unendlich fesselnder als Antonius. Dazu noch die gespenstische Überlegung: Diese Frauenfiguren, die wunderbarsten, die geschrieben worden sind, wurden von fünfzehnjährigen Knaben gespielt. Wie ist das möglich? Mein Entschluß war Gott sei Dank, auch als die Angriffe durch die Gesetze und durch meine eigene Mutter kamen, gefestigt genug, um zu sagen: Dieses Rätsel will ich leben. Ich stehe dazu, ich zu sein. Dazu noch eine kleine Bemerkung. In Platons »Gastmahl« gibt es die Aristophanes-Erzählung vom zweigeteilten Menschen. Ich glaube, diese Erzählung ist viel tiefer und wahrer als unsere Adam-und-Eva-Geschichte. Denn es wird nicht gesagt, weshalb Adam sich so einsam fühlt, weshalb die Frau geschaffen worden ist. Aber Aristophanes sagt: Es gab einmal ganze, vollständige Menschen. Die wurden getrennt, entzweigeschnitten in Mann und Frau, in Mann und Mann, in Frau und Frau, und seitdem suchen sie sich mit aller Sehnsucht, um sich wieder zu vereinigen. Die ersten Arbeiten, die ich gemacht habe, galten der Frau, nämlich Mozart und der Liebe in seinen Opern und Goya mit seinen beiden Frauenaktbildern, den beiden Majas. Mein späteres Hauptwerk neben dem Mozart-Buch »Autonomie und Gnade« heißt »Gemälde und Drama« und beschäftigt sich, nicht ganz zentral, weil es um die Erschaffung des konkreten, lebendigen Menschenbildes in der italienischen Malerei der Renaissance geht, aber doch auch mit der Frage: Wieso war die florentinische Entdeckung des leibhaft seelischen, des ganzen Menschen bei Brunelleschi, Donatello, Masaccio, Alberti die Entdeckung des männlichen Körpers? Das Ungerechte daran stand mir ganz klar vor Augen: Aus dem Verhältnis Mann und Frau wurde die Frau herausgedrängt, auch von dieser homoerotischen Gruppe. Und trotzdem waren Donatello und Masaccio, der Bildhauer und der Maler, der Durchbruch zum leibhaften Menschen.
FISCHER: Bei Shakespeare ist es, glaube ich, nicht ganz erwiesen, wir wissen einfach nicht genug …
NAGEL: Aber die einzigen Liebesgedichte, die er geschrieben hat, sind an einen Mann gerichtet. Es ist ja so, als ob Sie sagen würden: Petrarca hat aus irgendwelchen Gründen einen Lauro, einen hübschen Italiener, Laura genannt und so getan, als ob er auf Frauen stehen würde. Das ist absurd. Man will seit vierhundert Jahren verschweigen, was die einfachste und einleuchtendste Geschichte der Welt ist. Wenn einer seine Liebesgedichte einem Mann schreibt, dann hat er es offenbar mehr mit Männern als mit Frauen. Eine Zeitlang hat man bei Shakespeares Sonetten das »er« in »sie« korrigiert, um die Sache in Ordnung zu bringen, denn der größte Dichter durfte natürlich nicht auf Männer stehen.
WOLFGANG HAGEN: Wir waren gerade beim Stichwort »innere Biographie«, und ich habe Sie so verstanden, daß Sie Heterosexualität und Homosexualität gar nicht gegeneinander ausspielen, sondern im Grunde genommen einen Weg zur Heterosexualität finden über das, was im Homosexuellen in Spannung bleibt. Weil das Heterosexuelle mehr oder minder kulturelle oder auch machtpolitische Rollenzuweisungen erfahren hat, die den eigentlichen Grund, warum zwei Menschen zusammenkommen, längst überschrieben haben.
NAGEL: Ich glaube, daß die Zweigeschlechtlichkeit, wie wir aus tausend Romanen, Gedichten und Lebensbeschreibungen wissen, das große Rätsel, das zentrale Problem ist. Das kann gezähmt, verdrängt werden, indem man sagt: Na ja, man heiratet, man liebt ja Frauen, das ist normal und der liebe Gott will es so. Aber ich glaube, daß die Heterosexualität sich diesem größten und schwierigsten Auftrag stellen muß. Und ich glaube außerdem, das Problem der Homosexualität besteht in Folgendem: Wenn man dieses volle Sich-Stellen verweigert, durch seine Triebstruktur gar nicht in diese Perspektive kommt, ist das eine Reduktion, ein Verlust. Oder ist das ein zweites Rätsel, das einem zuteil geworden ist und das man bestehen muß?
SINN UND FORM 4/2016, S. 458-465, hier S. 458-461
Nagel, Otto
- 1/1954 | Die Deutsche Akademie der Künste. Zur Gründung des Ministeriums für Kultur
- 1/1958 | Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste. Ehrung Arnold Zweigs und Frans Masereels
- 3/1958 | Zur Verleihung des Lenin-Friedenspreises an Arnold Zweig
- 3/1978 | Es geht einer vor die Hunde
Nagibin, Juri
- 6/1980 | Bekanntschaft mit Literatur - ohne Lesen?
Nagy, László
- 1/1969 | Das Feuer
Naimowitsch, Maxim
- 5/1968 | Brief aus Sofia
Namier, Lewis
Naqvi, Arif
- 4/1969 | Urdusprache und -literatur
Narečionis, Romualdas
- 5/1981 | Durchs Fernglas
Narekazi, Grigor
- 5/1975 | Klagegesang
Nasilowska, Anna
- 5/2008 | Polnische Literatur nach 1989
Naujack, Marion
- 5/1990 | Gedichte
Naum, Gellu
Naumann-Beyer, Waltraud
- 6/1989 | Empfang einer Flaschenpost - Anlässlich des Erscheinens der »Dialektik der Aufklärung« von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Leipziger Reclam-Verlag
Naumann, Manfred
- 6/1957 | Französische Literatursprache in der deutschen Aufklärung
- 1/1959 | Stendhals Bemühung um die Wirklichkeit
- 1/1966 | Literarischer Held und »nouveau roman«
- 3/1966 | »Steh auf! Geh! Handle! Kämpfe!«. Zum Gedenken an Roman Rolland
- 4/1969 | Flaubert, »Madame Bovary« und der Realismus
- 6/1973 | Realismus und Geschichte
- 5/1983 | Prolegomena zu einer Werner-Krauss-Biographie
Naumenko, Iwan
- 6/1976 | Iwan und Marja
Nawrocki, Witold
- 4/1974 | Polnische Prosa der Gegenwart
Nazagdordsh, Daschdordshijn
- 3/1976 | Der Sohn der alten Welt
NDiaye, Marie
- 1/2015 | Unablässig daran denken
Neagu, Fanus
- 1/1974 | Ein verrückter Sommer
Nebel, Gerhard
- 2/2004 | Gerhard Nebel und Erhart Kästner. Briefwechsel
Neef, Sigrid
- 4/1987 | Ruth Berghaus und Michael Gielen gefragt nach den Möglichkeiten von Oper in dieser Zeit
Neef, Wilhelm
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Willi Bredel und die Musik
Neff, Margarete
- 4/2009 | Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938
Neher, Caspar
- 1-2-3/1957 | Dem Gedächtnis meines Freundes
Nehru, Jawaharlal
- 4/1969 | Hoffnung und Schmerz
Nejedlý, Zdenek
- 1/1953 | Die alte und die neue Kunst
Nellhaus, Gerhard
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Brecht-Bibliographie
Nelson, Kent
Nemes Nagy, Ágnes
- 1/1973 | Gedichte
Nentwich, Andreas
- 4/2002 | Gespräch mit Sigrid Damm
Neruda, Pablo
- 5/1950 | Holzfäller, wach auf!
- 2/1951 | Lateinamerikanische Lyrik
- 4/1951 | Dir erkläre ich meine Liebe, Valparaiso
- 4/1951 | Te declaro mi amor, valparaíso
- 5/1952 | Die Höhen von Macchu Picchu
- 1/1955 | Drei Oden
- 4/1956 | Gedichte
- 1/1961 | Elementare Oden
- 3/1973 | Kindheit und Dichtung
- 1/1974 | Nobelpreisrede
- 1/1975 | Dichten ist ein Beruf
- 2/1976 | Gedichte
Neto, Agostinho
- 1/1977 | Gedichte
Netzeband, Günter
- 5/1982 | Gespräch mit Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase
Neubert, Werner
- 1-2/1965 | Satire im sozialistischen Roman
- 4/1973 | Zu Ulrich Plenzdorfs »Neuen Leiden des jungen W.«
Neubert, Winfrid
- 1/1994 | Mann ohne Geburtstag
Neumann, Margarete
Neumann, Marion
- 1/2019 | Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Georg Stefan Troller über Heimat, Emigration und Verwandlung, S. 136 Leseprobe
Neumann, Marion
Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Georg Stefan Troller über Heimat, Emigration und Verwandlung
MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von Ihrer Rückkehr nach Paris. Wie haben die Jahre des Exils Sie geprägt? Und hat sich diese Zeit auch auf Ihren Stil ausgewirkt?
GEORG STEFAN TROLLER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Jahrelang habe ich unter Zukunfts- und Lebensangst gelitten, auch unter der Minderwertigkeit, die mir so viele Jahre lang eingetrichtert wurde, und der eigenen Bedeutungslosigkeit: Es kommt nicht auf dich an. Ob du lebst oder stirbst ist der Welt vollkommen gleichgültig. Ein Soldat, der im Krieg fällt, hat irgendwie seine Pflicht getan oder war Teil eines Verbunds. Der Emigrant hingegen ist isoliert, bestenfalls mit seiner Familie unterwegs, aber sonst hat er niemanden. Er ist ein Einzelwesen, das sich sinnlos vorkommt. Diese Sinnlosigkeit des eigenen Lebens muß man und kann man, wenn man jung ist, überwinden. In meinem Fall waren es die journalistischen Arbeiten, meine Filme und Bücher, die mich mein Leben als halbwegs gerechtfertigt ansehen ließen. Daß die Emigration heutzutage Exil genannt wird, scheint mir die Veredelung einer Sache durch ein schönes Wort zu sein. Wir kannten das Wort gar nicht. Exil, das war Thomas Mann, vielleicht noch Brecht oder Anna Seghers – Leute, die zurückkommen und Deutschland umformen würden. Wir hatten ja keine Idee davon, wir waren überzeugt, daß wir in unseren Ländern, Amerika, Mexiko oder Shanghai, bleiben würden, weil es nichts Besseres gab und weil kein Ruf aus der Heimat kam: »Wir wollen euch zurück.« Die österreichische Sozialistische Partei etwa war zum Großteil von menschenfreundlichen Juden gegründet und geleitet worden. In der Emigration bekamen sie Briefe von den Daheimgebliebenen und neu erwachten Sozialisten, daß sie doch bitte bleiben sollten, wo sie waren, damit man nicht wieder als Judenpartei in Verruf käme. Und wer hätte mich denn gebraucht? Ich hatte mir eine Chance ausgerechnet, in Los Angeles, wo ich damals wohnte, Scriptwriter für Hollywood zu werden. Das hätte ich auch gekonnt, berühmt wäre ich wohl nicht geworden. Und ob ich glücklich geworden wäre, weiß ich auch nicht. Es gab so viele Emigranten, die in Hollywood unterkamen, ich kannte viele. Erich von Stroheim etwa traf ich nach seiner Rückkehr in Europa wieder. Denn auch ich kehrte 1949 aus Europasehnsucht zurück, obwohl alle Kollegen und Kameraden sagten, ich sei meschugge, in dieses zerdepperte deutsche Kulturgebiet zu gehen, wo nichts zu holen sei. Ich werde immer wieder gefragt, ob Frankreich oder Amerika meine Heimat ist: Eine Heimat kann man sich nicht wieder aufbauen, das funktioniert nicht. Man kann einen Wohnsitz und Freunde finden, man kann sich zurechtfinden und seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber Heimat ist da, wo man zum ersten Mal die Welt als etwas wahrgenommen hat, das außerhalb von einem selbst besteht. Heimat ist das Kennenlernen der Umwelt als kleines Kind. Wie uns die Psychologie lehrt, finden die entscheidenden Erfahrungen größtenteils vor dem achten oder zehnten Lebensjahr statt, und diese machst du nur in der Heimat als Zugehöriger. Und so ist dieses Österreich, das mich rausgeworfen hat, doch Heimat, ich kann es nicht ableugnen.
NEUMANN: Sie haben über 150 Reportagen und Filme gedreht, meistens Porträtfilme, die fast immer davon handeln, wie ein Mensch in schwierigen oder hoffnungslosen Situationen zurechtkommt. Wie hat Ihre Jugend, die Sie dann auch in Amerika verbrachten, Ihren Zugang zu diesen Themen geprägt?
TROLLER: Einen Film, der mir besonders am Herzen liegt – »Ron Kovic – Warum verschwindest du nicht?« –, habe ich 1977 mit einem amerikanischen Vietnam-Veteranen gedreht. Kovic war querschnittsgelähmt, seit seinem 23. Lebensjahr im Rollstuhl, und kämpfte nicht nur gegen den Vietnam-Krieg, sondern allgemein gegen Krieg. Dieser ungebildete Junge, der den Titel seiner Autobiographie »Geboren am 4. Juli« nicht richtig buchstabieren konnte, hatte begriffen, worum es geht: Jeder kann seine Schwächen überwinden. Das ist mir sehr nahegegangen, weil ich mich als Kind nicht mochte und mich als verzweifelten Fall ansah. In Amerika habe ich vor allem gelernt, daß man sich zu einem neuen Menschen ummodeln kann. Die Millers oder Smiths hießen alle ursprünglich Müller oder Schmidt und waren zuvor ganz andere Leute: arme Emigranten, arme Juden, arme Deutsche. Alle waren hoffnungslose Fälle, ohne professionelle Ausbildung. Sie änderten ihre Namen, wurden Amerikaner und schließlich zu anderen, vielleicht auch fähigeren Menschen. Als amerikanischer Student in Kalifornien habe ich mich Steve genannt – George habe ich immer gehaßt. Und Steve war ein anderer, ein interessanter Europäer von irgendwoher, ein Dichter und Frauenliebhaber – Steve kam an. Ich wußte, daß ich das nicht bin, und ging zurück, weil ich wieder ich sein wollte. Diese Möglichkeit der Selbstverwandlung gibt es. Mein verstorbener Bruder zum Beispiel, der in England lebte, hat sich zum Katholizismus bekehrt. Er wurde begeisterter Katholik, hat seine ganze Arbeitskraft und sein Geld der Kirche gewidmet und ist in Frieden mit seinem Gott gestorben. Das war nicht vorgesehen. Auf einmal war er Francis Trent, obwohl er in Wirklichkeit Herbert Troller hieß. Die Möglichkeit, jemand zu werden, der wir sein wollen, haben wir alle – ohne daß wir unbedingt unseren Namen ändern müßten. Mich interessierte in meinen Filmen immer: Wie ziehst du dich am eigenen Zopf aus der Misere? Denn nur du kannst es, andere können höchstens helfen. Und wie die Leute, mit denen ich diese Filme gedreht habe, es geschafft haben, fand ich lehrreich für mich und andere.
NEUMANN: Sie zitieren in Ihrem Erinnerungsbuch sehr eindrücklich Alfred Polgar, der 1938 im Prager Tagblatt über die Lage der österreichischen Flüchtlinge schrieb: »Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet.« Ihre Erlebnisse liegen über siebzig Jahre zurück. Hat sich heute in der Haltung der Leute auf beiden Seiten des Stroms etwas geändert?
TROLLER: Rund um Europa werden überall Mauern aufgerichtet, genau wie damals, und jedes einzelne Land denkt oder sagt offen: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet. Und dann schaue ich mir die Gesichter der Flüchtlinge an, der Frauen und Kinder, der jungen Männer. Sie sehen nicht anders aus als ich und haben dieselben Gefühle. Meistens hatten sie irgendwo ein Haus oder eine Wohnung. Zum Teil hatten sie Arbeit, zum Teil waren sie Intellektuelle. All das ist zerstört oder aufgegeben worden, und jetzt dürfen sie darum bitten, sich als Zimmermädchen oder Straßenarbeiter integrieren zu dürfen. Auch das wird abgelehnt, weil sie zu viele sind. Wie viele sind »zu viele"? In der Schweiz gab es den Spruch »Das Boot ist voll«. Er wurde zu einer Zeit verkündet, als es dort um die fünf Prozent Ausländer gab. Später sagte man, die Obergrenze liege bei 25 Prozent. Nun wird auch diese Zahl schon in manchen Ländern überschritten. Manche fühlen sich fremd in ihrem eigenen Land. Ich habe mal einen Film mit Abbé Pierre gemacht, einem katholischen Geistlichen, der als Apostel der Obdachlosen in Frankreich Tausende von Behelfswohnungen errichten half. Im Krieg war er im Widerstand und hat jüdische Kinder gerettet und über die Grenze gebracht. Er sagte mir: »Wenn die wohlhabende Welt nicht zehn Prozent ihres Einkommens, und das betrifft jeden einzelnen Bürger, abführt, so werden unweigerlich diese Ausgespuckten und Verhungerten der Dritten Welt millionenfach zu uns nach Europa kommen, und was willst du dann tun? Mit Maschinengewehren hineinfeuern?« Er hat vor dreißig Jahren vorhergesehen, was passieren würde.
NEUMANN: Was raten Sie jungen Menschen, was sie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun können?
TROLLER: Noch läuft alles gut. Die Jugend hat Zukunft. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Es kann sich glücklich schätzen, es gibt sehr viel Freiheit und auch Respekt vor der Jugend. Man hört ihr zu und tut etwas für sie. Ganz allgemein bin ich optimistisch. Aber ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringt: der Brexit in England, der zunehmende Nationalismus in Österreich, Polen, Ungarn etc. Irgendwie kommt da etwas auf uns zu, das einen fatal an die dreißiger Jahre erinnert. Das Volk wird nicht mehr vom Volk repräsentiert, sondern von Volksverführern, die behaupten, in seinem Namen zu sprechen, und ihre Ideen durchsetzen, die immer von Ausländerhaß getragen sind oder von Haß gegen andere Religionen, gegen Banker und Unternehmer, gegen die Reichen und Eliten ganz allgemein. Irgend jemand muß schuld sein, und diese Schuldigen werden auch gefunden. Was mich derzeit beunruhigt, ist diese wieder erwachte antidemokratische Tendenz zur radikalen Vereinfachung. Alles drin. Kinder, freut euch des Lebens, aber seid bereit, euch zu wehren und zu organisieren und zu kämpfen, denn es kommen harte Zeiten.
NEUMANN: Sie haben viele Reportagen gedreht, die in gewisser Weise subversiv waren, die Abseitiges gezeigt haben. Durch sie hat man immer viel über das jeweilige Land, Amerika zum Beispiel, gelernt. Ich habe das Gefühl, daß diese Art des Journalismus ausgestorben ist, daß die intensive, ruhige Auseinandersetzung mit einer Situation gar nicht mehr stattfindet, obwohl die Themen doch auf der Straße liegen.
TROLLER: Ja, was ist da passiert? Natürlich geht es um Geld, um Werbung, darum, wo sie am effektivsten ist. Daß die Fernsehanstalten sich dermaßen in diese Richtung verkauft haben, ist das Verblüffende und Erschütternde. Man sagte zu meiner Zeit immer, wenn eine Sendung wichtig ist, wird sie zu einer guten Sendezeit gebracht. Davon kann heutzutage keine Rede mehr sein, es wird nur noch nach potentiellen Einschaltquoten geschielt. Ich bin kein Philosoph, aber der steigende Materialismus und der absackende Idealismus auf der Welt sind evident. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, denn die verläuft wellenförmig. Wie bekannt, hat Ludwig XVI. an dem Tag, als die Bastille gestürmt wurde, »rien«, nichts, in sein Tagebuch geschrieben. Es erschien unwichtig, daß seine Pariser Hauptfestung erstürmt worden war. Eine umwälzende Veränderung war nicht vorstellbar. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist, der alles für verloren hält, es kommen immer wieder neue Strömungen und Möglichkeiten. Und jungen Menschen fällt es leicht, diese Strömungen zu lenken oder etwas in Bewegung zu setzen. Die Leute sind da und die Überzeugungen sind da. Nur wissen sie oft nicht, daß es allgemeine Überzeugungen sind. Jeder meint, nur er denke so und man könne nichts tun. Und auf einmal stellt sich heraus: Millionen glauben dasselbe. Ich denke, die Jugend hat ihre Chance und wird, vielleicht als letzte Generation, noch durchsetzen, was sie sich erträumt. Was danach kommt, weiß niemand. Vielleicht ja auch das Paradies auf Erden. Pessimismus ist gefährlich, denn was man erwartet, das passiert auch.
NEUMANN: Sie äußerten einmal, Ihre Vorstellung von Religion sei, daß in jedem Menschen ein göttliches Prinzip vorherrsche. Was für eine Bedeutung hat diese Vorstellung für Sie?
TROLLER: Wir wollen hier nicht von Religion reden. Aber ein göttlicher Funke ist in uns allen, ob wir es nun Gott nennen oder anders. Fast alle haben eine Ahnung davon, daß etwas Größeres als wir selbst existiert. Das scheint mir sehr wichtig, weil sonst alles an Eigennutz krepiert. Wenn man so vielen Leuten verhältnismäßig intim, wie es mir mein Beruf erlaubte, gegenübergetreten ist, weiß man doch häufig, wo die Grenzen sind. Manchmal erreicht man sie verhältnismäßig schnell, manchmal hat man das Gefühl, man erreicht sie gar nicht, und manchmal passieren völlig überraschende Dinge. Ein Mann wie Charles Bukowski war in Wirklichkeit ein Mystiker und sprach mir in die Kamera von seinem kommenden Tod und wie er ihn erleben will, während seine junge Freundin dabeisaß und mißbilligend den Kopf schüttelte. Da war ich vollkommen verblüfft. Diese Ansichten hatte er immer verheimlicht, weil sein Erfolgsrezept der Schweinkram war – dem ist er gefolgt, so wollten ihn die Leute sehen und so gab er sich. Und nun, als alter Mann, der den Tod kommen fühlte, wollte er darüber reden, was dieser für ihn bedeutet und daß er sich das Recht zuerkennt, in Frieden zu sterben, weil er sich so ausgelebt hat. Ich glaube, wir sind alle mit einem Funken geboren. Als Kind wissen wir noch Bescheid. Kinder leben mit Fragezeichen: Wer bist du, was ist die Welt, wieso bist du meine Mutter, wieso bin ich ich? Ein Kind stellt die richtigen Fragen, die nachher vergraben werden. Aber zu diesen Fragen kann man wieder durchstoßen und das Gefühl haben, man habe nicht umsonst gelebt. Irgendwann hört die Jugend auf, man meinte als junger Mensch, sie währe ewig. Aber dann kommen die Dinge auf einen zu und man fragt sich in schlaflosen Nächten, wofür man eigentlich gelebt hat, was man gemacht hat. Dann ist es gut, wenn man sich sagen kann: Mehr, als ich je gedacht habe, nichts so Ungeheures, aber mehr, als ich mir zugetraut hätte, ist daraus geworden. Das ist schon allerhand, damit kann man leben und vielleicht auch sterben.
SINN UND FORM 1/2019, S. 136-139
Neumann, Oskar
Neumann, Peter
Neumann, Peter Horst
Neumann, Robert
- 6/1972 | Was bleibt?
Neuner, Michael
- 5/2020 | Noch ein Wanderer. Mutmaßungen über Franz Schubert und Heinrich Heine
Neustädter, Karl
- 1/1989 | Gedichte
Neutsch, Erik
- 3/1977 | Über Alexander Abusch
- 2/1978 | Der Friede im Osten
- 1/1979 | Georg Forster Heute
- 3/1981 | Gespräch mit Cornelia Molle
- 2/1982 | Novelle vom Reh
- 6/1983 | Pläneschmieden
Nexö, Martin Andersen
- 4/1951 | Der tragische Jongleur
Nezval, Vìteslav
- 2/1959 | Moderne Dichtung
Nezval, Vítezslav
Nickel, Gunther
- 3/2012 | »Seite Ende, Brief Schluß, Herzlichst Peter«. Peter Hacks schreibt an Mamama, S. 293 Leseprobe
Nickel, Gunther
»SEITE ENDE, BRIEF SCHLUSS, HERZLICHST PETER«. Peter Hacks schreibt an »Mamama»
Die Entscheidung von Peter Hacks, im Sommer 1955 von Bayern in die DDR zu übersiedeln, muß seine Mutter schwer getroffen haben. Ihr erster Sohn Jakob wohnte mit seiner Familie zwar in Laufnähe, aber die »Mamama«, wie sie in der Familie genannt wurde (und noch heute genannt wird), hing doch sehr am jüngsten, mit dem sie nach dem Tod ihres Mannes im August 1950 allein in der Goethestraße 10 in Dachau lebte. Daß sie ihrem Sohn 1955 das Versprechen abnahm, ihr regelmäßig zu schreiben, gilt in der Familie als gesichert und ist angesichts des ausgeprägten Eigensinns, den Hacks schon in jungen Jahren entwickelte, auch naheliegend. Mitteilungen über Alltäglichkeiten hielt er zeitlebens für überflüssig. In den »Auskünften zur Person«, die er 1990 für André Müller sen. verfaßte, hielt er kurz und bündig über sich fest: »Er ist Schriftsteller; sein Leben enthält keine äußeren Ereignisse.« Obwohl es ihm im Grunde lästig war, fügte er sich dem Wunsch der Mutter. So begann ein regelmäßiger Schriftverkehr, der von zahllosen Paketsendungen von Dachau nach Ost-Berlin begleitet war.
Nicht wenige der Sohnesbriefe enthalten Einkaufslisten oder ausführliche Würdigungen der eingetroffenen Waren: Käse, Rosinen, Pampelmusen, Schokolade, Mixed Pickles, Marshmallows ("Besonders richtig waren die Marshmallows. Wir wollen Marshmallows. We want Marshmallows.«), Nüsse, Gelatine, Oliven, Fruchtkonfekt, diverse Teesorten (bevorzugt von Dallmayr), »Klo-Rollen«, »Fuß-Frisch"-Sprays, Waschmittel-Eimer der Marke Dash oder Schminkutensilien für Anna Elisabeth Wiede, Hacks’ Ehefrau.
Man macht auch Bekanntschaft mit »Onkel Paul«; so wird Hans Joachim Pavel zuweilen genannt, der Leiter des Drei-Masken-Verlags in München, der Hacks‘ Bühnenrechte im Westen vertrat. Diese Geheimniskrämerei hatte einen guten Grund, denn offensichtlich hat Hacks nicht alle Einkünfte in der Bundesrepublik dem für ihn zuständigen Finanzamt in der DDR gemeldet; und so konnte sich »Mamama« im Bedarfsfall jederzeit bei »Onkel Paul« mit Bargeld versorgen. Von dessen »Erbe« erwarb sie im Dezember 1962 »1 Kühlschrank 160 Liter (~ 850, –). 1 Trockenschleuder ›Sicco‹ (~ 225,–). 1 Fernseh-Truhe ›Club‹ (~ 1750,–). 1 Waschmaschine ›Flora‹ (~ 525,–). 1 Küchenmaschine ›Komet‹ (~ 250,–). 1 Hochantenne.« All diese Gerätschaften wurden von einer dänischen Firma nach Berlin in die Schönhauser Allee 129 transportiert, als Hacks und seine Frau dort eine geräumige Wohnung bezogen.
Andere Begleitumstände beim Geschäft des Dichtens werden ebenfalls in aller Ausführlichkeit geschildert, etwa die Schwierigkeiten mit den wechselnden Haushaltshilfen, die Suche nach einem angemessenen Landsitz für den Sommer oder die unermüdliche Jagd nach Antiquitäten. Obligatorischer Bestandteil der Briefe ist die Erörterung der meteorologischen Lage; Hacks litt unter niedrigem Blutdruck und Wetterfühligkeit, was seine Arbeitsfähigkeit mitunter stark beeinträchtigte.
Hacks machte oft keinen Hehl daraus, daß er mit seinen Aufzeichnungen aus dem Alltagsleben nur einer leidigen Pflicht genügte: »Das neue Farbband ist auch schon fast die größte von den Neuigkeiten.« Oder er schloß abrupt und demonstrativ erleichtert: »Seite Ende, Brief Schluß, Herzlichst Peter«. Manchmal versuchte er auch, sich der auferlegten Mitteilungspflicht zu entledigen, indem er einfach einbekannte: »Liebe Mamama, das ist doch wirklich kein würdiger Brief, der, um den Inhalt einer gewesenen Woche zu schildern, sich mit dem einzigen Satz begnügt: Es wird schon ein wenig wärmer. Aber in Wahrheit, das ist schon das Wesentliche.« Er kam dann aber doch noch ins Plaudern, so daß am Ende auch dieses Schreiben eine einzeilig mit Schreibmaschine gefüllte DIN-A4-Seite umfaßte. Ohnehin obsiegte in der Regel die für Hacks charakteristische Freude an einer guten Pointe. Wenn schon von nichts Wichtigem die Rede war, sollte es wenigstens witzig zugehen. Und so bereiten viele der überlieferten Episteln allen Einkaufslisten zum Trotz doch ein erhebliches Lesevergnügen.
Natürlich sind die Kommentare zur (Kultur-)Politik und zum Zeitgeschehen in den mehr als 450 Briefen, die Hacks bis zu ihrem Tod im Jahr 1972 an seine Mutter schickte, literaturhistorisch ungleich aufschlußreicher als die Auskünfte über Konsumbedürfnisse und gesundheitliche Befindlichkeiten. Die besondere Haltung des Briefeschreibers wird aber erst durch diese Melange deutlich, denn Nachrichten aus dem Kulturbetrieb werden auf die gleiche Art weitergegeben wie Erörterungen der Wetterlage: konstatierend und dekretierend. An nichts, so zeigt sich selbst in seiner privaten Korrespondenz, war Hacks weniger interessiert als an einem Austausch von »Ansichten«. Hatte er 1948 in einem Referat »Über den Stil in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹« für ein Seminar Artur Kutschers noch bestimmt: »Überlegenheit heißt Einsicht in Zwiespälte und gleichwertige Polaritäten« und Thomas Mann sogar wegen des »einsichtigen Verzichts auf wahre Erkenntnis« gelobt, so sind Hacks’ Briefe alles andere als Zeugnisse einer solchen Überlegenheit. Er nahm Standpunkte ein, verhandelbar waren sie für ihn nicht. Wechselte er einen Standpunkt, dann war eben ein Irrtum korrigiert und mehr darüber nicht zu sagen. Eine solche Korrektur vollzog er in der Einschätzung Wolf Biermanns, den er 1962 gegenüber seiner Mutter als »äußerst begabten Knaben« titulierte, vier Jahre später aber in der Zeitschrift »Theater heute« wegen der ihm bestenfalls als drollig erscheinenden Anwandlung, ständig die Regierung belehren zu wollen, als ostdeutsches Gegenstück zu Günter Grass verspottete. Sein Urteil über die Politik Gorbatschows revidierte er noch schneller: 1987 rühmte er ihn in einem Brief an seinen Bruder als »hochbegabten Schüler von Andropow«. Ein Jahr später verurteilte er ihn als »unbegabt«: »Wie Du richtig siehst, hatte ich ihm, solange er Andropowsche Meinungen vorbrachte, Vertrauen geschenkt. Leider hat er inzwischen eigene.«
Peter Hacks verübelte seinem Bruder, der Mitglied der FDP war, seine politischen Ansichten zutiefst. Auch sonst läßt sich ein Brüderpaar kaum gegensätzlicher denken: Jakob Hacks, der 1947 an der Technischen Hochschule in München mit der Arbeit »Über ein neues empfindliches Verfahren zum Aufsuchen von kleinen ferromagnetischen Körpern« promoviert wurde und bis 1951 als Ingenieur bei Telefunken, dann bei der Firma Rhode und Schwarz in München arbeitete, war zunächst begeisterter Tennis-, später Golfspieler; zusammen mit Gerd Hedler veröffentlichte er 1977 das Buch »Unser Kind spielt Tennis«. Peter Hacks dagegen, der kinderlos blieb, hatte schon 1943 als Schüler in Breslau jegliche Art von Sport verachtet. Er wurde 1943/44 wegen wiederholt ärztlich diagnostizierter Herzinsuffizienz und Anämie vom Turnunterreicht freigestellt und quittierte ausweislich der Erinnerungen seines damals engsten Freundes Hansgeorg Michaelis die von einem Mitschüler vorgebrachte Kritik an seiner mangelnden Muskelmasse mit dem Satz: »Ich habe geistige Muskeln.« Doch erst der politische Dissens machte den Gegensatz zwischen den Brüdern unüberbrückbar.
Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß Peter Hacks die Entscheidung, in die DDR zu ziehen, jemals angezweifelt hat. In den Briefen an seine Mutter kommt vielmehr ein klares Lagerdenken zum Ausdruck: »wir in der DDR«, »ihr im Westen«. Daß sich viele seiner Hoffnungen nicht erfüllten und er unzufrieden mit der politischen Entwicklung in seinem Land war, besonders von 1971 an, als es von Erich Honecker regiert wurde (Hacks bezeichnet ihn in einem Brief an seinen Bruder voller Verachtung als den noch vor Hans-Dietrich Genscher »beliebtesten westdeutschen Politiker«), hat sein grundsätzliches Einverständnis mit dem Staat, in dem er sich zu leben entschlossen hatte, nie beeinträchtigt. Seine Unzufriedenheit der Familie gegenüber zu bekunden, verbot er sich, um nicht immer wieder erklären zu müssen, warum er der DDR dennoch die Treue hielt. In Dachau war man ohnehin weder gewillt noch in der Lage, dergleichen zu verstehen. Als die Mutter einmal glaubte, eine Packung Reis in eines ihrer Freßpakete packen zu müssen, antwortete ihr Hacks lakonisch: »Nun, man soll nicht klagen, andere Leute kriegen Mehl und Margarine geschickt.« Da er auf wenig bis gar kein Verständnis hoffte, verlor er der Mutter gegenüber so gut wie kein Wort über das Verbot seines Stücks »Die Sorgen und die Macht«. Über die beschämende Absetzung seines Mentors Wolfgang Langhoff als Intendant des Deutschen Theaters im Mai 1963 berichtete er ohne Anzeichen von Empörung. Selbst das kulturpolitische Desaster, zu dem das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 führte, brachte ihn erst aus der Ruhe, als auch sein Stück »Moritz Tassow« vom Spielplan gestrichen wurde.
Kurios nimmt sich aus, daß Anfang des gleichen Monats Friedrich Dieckmann Hacks besuchte und außer Manfred Bierwisch auch Uwe Johnson mitbrachte. Sechs Jahre zuvor hatte Hacks »diesen Uwe Johnson« noch scharf attackiert, ihm vorgeworfen, er dehne »sein Nichtwissen von der Gesellschaft aus auf die Welt und erachte sie, bestens unterstützt von allen reaktionären Ideologen, für nicht erkennbar«. Und nun saß »dieser Uwe Johnson«, als ob nie etwas gewesen wäre, friedlich im biedermeierlich-opulent ausstaffierten Wohnzimmer von Hacks, der sich darüber nicht weiter verwundert zeigte, sondern sich nur maßlos ennuyierte.
Hacks buhlte nicht im geringsten um die Zuneigung der Mit- und Nachwelt. Daß er nach ihrem Tod in einem Telegramm um nichts anderes als die Sicherung seiner Briefe an »Mamama« bat, dürfte kaum geeignet sein, seine Sympathiewerte beim Durchschnittsleser steigen zu lassen. Was man als Allüre und Eitelkeit anprangern kann (und sicher tun wird), birgt indes einen Vorzug, den man nicht unterschätzen sollte: Hacks hat sich weder im Privaten noch im Politischen und schon gar nicht im Ästhetischen jemals opportunistisch verhalten. Seiner Irrtümer schämte er sich nicht und sah auch sonst keinen Anlaß, Dokumente seines Lebens der Nachwelt vorzuenthalten. Seinem Verleger Matthias Oehme ließ er freie Hand, alles, was diesem einfalle, aus dem Nachlaß zu veröffentlichen. Im Jahr 2000 schenkte er sogar, ohne über eine Kopie zu verfügen, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach seine Akte aus dem Ministerium für Staatssicherheit. Die diese Akte verwaltende Behörde gab sie allerdings nicht heraus, was Hacks fragen ließ, mit welchem Recht man sich zwischen ihn und sein Publikum dränge.
Obwohl sein Nachlaß ihn als umsichtigen und sorgfältigen Archivar zeigt, hat er nur zwei Briefe und eine Postkarte seiner Mutter aufbewahrt. Das widerspricht nicht dem Befund einer rückhaltlosen Offenheit gegenüber der Nachwelt, denn Biographisches hielt Hacks im Hinblick auf die literarische Leistung eines Dichters für völlig belanglos. Das mag erstaunen, hat er in seinem erfolgreichsten Theaterstück »Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe« doch Intimstes aus dem Privatleben des Klassikers verwandt. Tatsächlich interessierten ihn an diesem Stoff jedoch nicht die Initimitäten, sondern die Möglichkeit, das prekäre Verhältnis von Genie und Gesellschaft dramatisch darstellen und das Formproblem des Monodramas auf eine ästhetisch befriedigende Weise lösen zu können.
Hacks’ entschiedene Sonderung von Wichtigem und Unwichtigem bei der Selbstarchivierung seines Lebens bringt mit sich, daß die – neben der Korrespondenz mit dem Jugendfreund Hansgeorg Michaelis – wichtigste biographische Quelle ebenso ein Monolog bleibt wie sein Drama über Charlotte von Stein und Goethe. Die Stimme der Mutter, ihre Sorgen, Nöte, kulturellen Interessen (die ausgeprägt waren) erschließen sich allenfalls mittelbar. Von ihr kennen wir nur ein paar Lebensdaten, wissen, daß sie mit dem Juristen und Sozialisten Karl Hacks verheiratet war und sich (das berichtet der Historiker Fritz Stern in seinen Erinnerungen) in Breslau für die Montessori-Schule engagiert hat. Mehr wissen wir nicht.
Am Ende dokumentiert die Art und Weise der Überlieferung seiner Familienbriefe genauso wie Hacks’ wiederholte Beteuerung, es sei doch gar nichts Berichtenswertes vorgefallen, daß in seinen Augen Lebensgewohnheiten von Dichtern nichts zum Verständnis von Dichtkunst beitragen. Die Briefe an seine Mutter sind mithin auch eine Mahnung an künftige Biographen, sich tunlichst mit dem einzig Wesentlichen in seinem Leben zu befassen: seinen Werken.
SINN UND FORM 3/2012, S. 293-297.
Niekisch, Ernst
- 1/1949 | Zum Problem der Elite. Bemerkungen zu Ortega y Gasset
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Niemiec, Maciej
- 4/1996 | Gedichte
- 3/1998 | Gedichte
- 3/2016 | Skizze der Flut. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Renate Schmidgall
Niemöller, Martin
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Nikiforowa, Irina
Nikolić, Jovan
- 3/2002 | Gedichte
- 2/2006 | Von meiner Kindheit und meinen Erlebnissen
- 3/2015 | Letzte Worte, S. 381 Leseprobe
Nicolić, Jovan
LETZTE WORTE
Die Kindheit
Wie groß ist die Welt, wenn du klein bist. Die Menschen, der Hund, die Bäume und der Fluß. Der Himmel so fern und die Wolken ein so schöner und angenehmer Anblick, der ein unbestimmtes, aber grenzenloses Vertrauen zum Leben gibt. Die ganze Welt war vollständig hier, neben mir: meine Mutter, mein Vater und alle, die sich um mich kümmerten. Diese Welt, das waren auch unser Haus, mein Zimmer, darin mein Bett, mein Kopfkissen und meine Träume, grünes Gras und Blumen in der Ecke des Hofes, der Hund, ein Paar Katzen und mein Spielzeug. An gewissen Tagen, die vor Licht strahlten und unsere sonst so ruhige Straße mit Lärm füllten, hörte ich Gespräche zwischen Erwachsenen in einer mir vollkommen unverständlichen Sprache, und ich merkte mir erste bedeutende Wörter: Geburtstag, Neujahr, Weihnachten … Wie schön war es, ein Kind zu sein, jeder neue Tag war – ein Fest! Ich unterhielt mich mit meinen Spielsachen; sie waren kleine Schauspieler in meiner Fantasiewelt. Ich lehnte bunte Kasperle, steife Soldaten, lackierte Pferde und Artillerie ab. Ich mochte das Emaille im Auge der Puppen, Wangen, die vor Schminke glühten, prunkvolle Spitzen, goldene Kleider, geschmückt mit Federn und funkelndem Geschmeide … Eine große Aufregung überkam mich, wenn ich jemanden erblickte, der so alt war wie ich, aber kurzgeschnittenes Haar hatte. Dieser Jemand schaute mich an, blinzelte mit den Augen, redete und spielte mit mir bis zum späten Nachmittag. Ich sagte mir: Mit dieser Puppe werde ich immer spielen, auch wenn ich groß bin!
Der erste Spaziergang auf der Donaupromenade zeigte mir das Wunder der Bäume, die friedlich am Fluß standen. Auf ihren Zweigen saßen Vögel, und auf den Zweigen, die sich im Fluß spiegelten, saßen Fische. Auf einem Karneval sah ich einen Löwen. Mein Vater versicherte mir vergeblich, es sei nur ein Schauspieler, der sich als Löwe verkleidet habe, und lud mich ein, seinen Schwanz zu berühren. Starr vor Angst, traute ich mich nicht. Beim ersten Mal im Zoo sah ich viele Tiere in Käfigen. Die Gitter dämpften meine Angst vor den riesigen Elefanten, Giraffen, Zebras, Krokodilen, Nashörnern, Bisons, Affen und Löwen … Danach glaubte ich noch lange, daß hinter den Gittern in Wirklichkeit als Tiere verkleidete Schauspieler lebten, die abends, nachdem der letzte Besucher gegangen war, ihre Kostüme ablegten, Anzüge anzogen und nach der anstrengenden Arbeit nach Hause gingen, um sich zu erholen und in Ruhe mit ihren Familien Abendbrot zu essen.
Aus dem Serbischen von Zuzana Finger
Schuld
Ich entsinne mich, daß mich der Taxifahrer in diesem Traum zu einem unbeleuchteten Hauseingang brachte. Da ich kein Bargeld bei mir hatte, bat ich ihn, auf mich zu warten, bis ich Geld aus der Wohnung geholt hätte. Widerwillig stimmte er zu. Glauben Sie nicht, daß ich diesen Trick nicht kenne, aber egal, ich traue Ihrer Physiognomie. Mit eingeschaltetem Zähler wartete er in seinem Taxi. Ich lief die spiralförmige Treppe hoch, sperrte die Wohnung auf, nahm ein Bündel Geld aus der Schublade und wachte auf!
Ohne böse Absicht betrog ich den Mann, der mir sein Vertrauen geschenkt hatte!
Jetzt verfolgt mich der Gedanke, daß sich ohne Unterlaß und in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Schuld auf dem geträumten Taxameter, das vielleicht bis heute läuft, vergrößert. Wenn der Taxifahrer noch immer auf mich wartet, ist die Schuld inzwischen so sehr angewachsen, daß ich sie unter keinen Umständen begleichen kann. Ebensowenig wie all das, was ich nach den Gesetzmäßigkeiten meines Karmas hätte begleichen müssen, aber durch Faulheit und Fahrlässigkeit unterlassen habe. Wer garantiert mir, daß ich mich nicht irgendwann im Traum im selben Taxi wiederfinde? Würde der Fahrer die vertrauenerweckenden Gesichtszüge aus dieser Nacht Ende November 1994 wiedererkennen?
Was kann er alles von mir verlangen, damit ich meine Schuld bei ihm begleiche? Es beruhigt mich einigermaßen, daß ich beim Schlafengehen immer einen Amulett-Lederbeutel mit ein paar Münzen um den Hals trage. Nur der Teufel mag wissen, ob mich nicht ein dreiköpfiger Zerberus vom Rücksitz anknurrt oder der Taxifahrer auf den Namen Charon hört.
Letzte Worte
Auf der Jagd nach Flecken und Schlampereien. Mit der Zunge befeuchtete er die Finger, las sorgfältig Brösel, Papierfetzen und jeglichen Unrat vom Boden auf. Mit dem Finger fuhr er über die polierte Oberfläche der Zimmermöbel und betrachtete gründlich seine Fingerkuppen, ob sich Staubspuren daran fänden. Fettige Verneblungen glatter Flächen rieb er weg, putzte bereits Geputztes, räumte das Geschirr vom Tisch und die unordentlich verteilten Kleidungsstücke von den Stühlen, sammelte unter dem Bett vergessene Socken und Unterwäsche ein, schrubbte mit dem Schwamm das Spülbecken, stapelte die Kleider im Schrank erneut um und faltete die Handtücher im Badezimmer quadratisch zusammen.
Er tauschte den Aschenbecher nach nur einer Zigarette aus, stellte die Schuhe im Flur der Größe nach auf.
Jede Nacht ließ er das Tor unverschlossen, einen Fensterflügel offen, das Licht blieb bis zum Morgengrauen an. Er schlief mit dem Telefon neben dem Kissen, dazu leise Musik und einige aufgeschlagene Bücher auf dem Boden.
Eines Morgens, als er eine Tasse Kaffee trank, zwang er sich aufzustehen, um die Hemden an der Leine umzuhängen, ihre Ärmel mit Wäscheklammern zu verbinden, weil ihm schien, daß sie zu weit voneinander entfernt an einer halbleeren Leine hingen …
»Das kann ich gerade noch ertragen«, waren die ersten Worte, mit denen er seine Frau aus der Entbindungsklinik empfing, als ihre Tochter geboren wurde, »daß du etwas zur Welt bringst, was dein Geschlecht hat. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, daß ein männliches Wesen sein Geschlechtsorgan durch deine Vagina bringt.«
»Was, wenn ich einen Jungen empfangen hätte?«
»Dann wäre unser Sohn durch einen Kaiserschnitt geboren worden!«
Beim Sterben, als sie neben seinem Bett saß, nahm er ihre Hand, als wolle er um Vergebung bitten. Sie beugte sich leicht vor. Um Luft kämpfend, röchelte er: »Dir steht ein Haar aus der Nase.«
Gute Nacht
Vor der beginnenden Dunkelheit, wenn alle Pflichten im Haus getan sind und das Fieber des in die Nacht mündenden Tages abklingt, senken sich die Schatten in Hof und Garten auf die Bäume und Blumen, auf das daniederliegende Gras, und Düfte steigen auf. Durch die spaltbreit geöffneten Fenster spüren wir einen Kältestrom, und seltene Geräusche erfüllen die Stille. Jeder liegt in seinem Bett. Mutter als letzte, nach einem inbrünstigen, auf Knien verrichteten Gebet vor der Ikone der Muttergottes.
Wir sehen zu, wie der Widerschein der Flammen im Ofen die Zimmerdecke leckt. Im schwärzlichroten Rahmen der Ofentür knistern die Funken, und hier und da fällt Glut heraus, die der Vater mit drei bespuckten Fingern eilig zurück in die Feuerstelle wirft.
Auf dem zitronengelben Boden bleiben Glutspuren, schwarze Löcher wie erloschene Sterne.
Der Reihe nach sagen wir einander »Gute Nacht«, als ob wir uns für kurze Zeit trennten, als ob wir irgendwohin gingen, jeder auf seinem eigenen Weg.
Und alles wird auf einmal taub.
Mich überkommt ein wohliger Schauer, weil ich auch diese Nacht durch zauberhafte Traumlabyrinthe gleiten werde.
Aber ich fürchte die dichte Dunkelheit und die Einsamkeit in meinem riesigen eisernen Bett.
Ich lausche, wie die Möbel knarzen und wie das Haus auf dem Fundament arbeitet. Vereinzelt fernes Bellen. Das fließende Blut pocht in den Ohren. Vater und Mutter bereden sich flüsternd. Plötzlich denke ich an ihren Tod. Der Großvater sagte, daß jeder Mensch sterblich sei. Was mache ich ohne Vater und Mutter?
Schweigend zittere ich und schlucke das Weinen hinunter, um mich nicht zu verraten. Ich halte mich am Saum der schweren Decke fest, unter der ich nur die Nase hervorstecke, damit ich – noch bevor mich der Traum auslöscht –, nicht im dunklen Fluidum der Traurigkeit versinke, mit der ich von Geburt an beschenkt bin.
Sagt man, wenn man stirbt, auch »Gute Nacht"?
[…]
Aus dem Serbischen von Dagmar Vohburger und Dragoslav Dedović
SINN UND FORM 3/2015, S. 405-408
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Nimtz-Köster, Renate
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Nimtz-Köster, Renate
Tauben auf dem Arm, Tarnfleck auf den Straßen. Czernowitz im zweiten Kriegsjahr
Schon wieder Czernowitz? Ist nicht alles über diese Stadt in der ukrainischen Bukowina gesagt worden? Auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa gelegen, galt sie einst als »heimliche Hauptstadt Europas«, schwärmte noch in den neunziger Jahren der Journalist Georg Heinzen. Mit Rosensträußen, wie er poetisierte, seien die Bürgersteige gefegt worden. Und es habe mehr Buchhandlungen als Bäckereien gegeben.
Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt, es gibt zahllose Konditoreien feinster Güte, überschaubar ist hingegen die Zahl der Buchhandlungen. In deren Fenstern ist der Lesestoff eher wahllos ausgelegt. Das traditionsreiche »Literaturcafé« am Rathausplatz ist zur »Literaturbank« umgestylt worden – die Bücherwand hinter der alten Wendeltreppe ist ausgedünnt. Aber vor allem wird hier, Handy und Laptop auf dem Tisch, Cappuccino, Zitronentarte oder auch »Kruasani« zugesprochen.
An den legendären Bildungsdrang ihrer ehemals vielsprachigen und multiethnischen Bewohner knüpfen heute ein Literaturfestival und ein Paul-Celan-Zentrum an. Gipsköpfe und Gesamtausgaben der deutschen, polnischen, ukrainischen und rumänischen Geistesgrößen zierten im 19. Jahrhundert die Stuben bürgerlicher Christen und Juden. Lingua franca war Deutsch. Auch die Vielfalt der Baustile spiegelte die Buntheit der Völkerschaften.
Dieser Ort der kulturellen Vielfalt war schon lange auch mein Sehnsuchtsort. Erstmals besuchte ich Czernowitz 2014, da herrschte im Osten der Ukraine schon Krieg und die Krim wurde besetzt. Mancher sprang deshalb von der Studienreise ab. Ich blieb und hatte das Glück, beim Besuch von Czernowitz an der von Franz Joseph I. gegründeten Universität die Germanistin Oxana Matiychuk kennenzulernen. Im Oktober 2023 hat sie mitsamt ihrem Team in Berlin den Georg-Dehio-Kulturpreis bekommen – für ukrainisch-deutsche Kulturarbeit und humanitäre Tätigkeit.
Umgeprägt wurde das Czernowitzer Leben immer wieder von gewaltsamen Umbrüchen. Doch die konnten der Stadt das Gesicht nicht nehmen. Nicht mit Rosen, sondern mit den herkömmlichen Reisigbesen werden heutzutage die Straßen gefegt, besonders sorgsam vor den Bauten, die als historische Denkmale ausgewiesen sind. Und das ist wohl jedes zweite in der Innenstadt, vor allem in der Kobyljanska-Straße, wo ich eine Wohnung gemietet habe. Der Krieg soll mich nicht vom Reisen abhalten.
In den vergangenen Jahren war ich für journalistische Projektwochen an der Universität und wollte nun auch in der schweren Zeit nach Czernowitz, Freunde treffen, neue Menschen kennenlernen, Veränderungen wahrnehmen, Verborgenes entdecken, in die Atmosphäre des Alltags eintauchen: Wie hat der Krieg diesen Ort im Westen des Landes verändert, der durch fast zwanzigtausend Studenten so lebendig wirkt? Noch ist Czernowitz, sechzig Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt, die einzige ukrainische Stadt, die bislang nicht bombardiert wurde. Ist der einst kosmopolitische Ort eine unversehrte Insel am Rande des Kriegsgeschehens?
Vom Balkon meiner Wohnung überblicke ich die Flaniermeile, benannt nach der Dichterin Olha Kobyljanska. Gegenüber ist das elegante gelbe Gebäude mit den Lünetten im grauen Dach, aus der Blütezeit des 19. Jahrhunderts, mit der Europafahne beflaggt, es könnte in Frankreich stehen. Auf zwei Stockwerken ist hier die Geschichte der Stadt und ihrer Landschaft, der Bukowina, in Szene gesetzt. Die Gruppen von Schulkindern sind schon fort, ich habe das Museum für mich, bin aber nie allein: In jeden Raum begleitet mich eine andere Dame mittleren Alters, knipst das Licht an, wartet, knipst es wieder aus. So habe ich es schon vor Jahren erlebt, so war es immer schon. Trachten, Schlachten, nachgebaute Festungen, Bauernstuben, farbenprächtige Webteppiche, Aufrufe an die »Mitbürger« zur Zeichnung von Kriegsanleihen, an »jeden guten Oesterreicher, jeden Patrioten« vom November 1917, auf rumänisch, deutsch, ukrainisch. Ich verharre bei einem großen Gemälde, es zeigt das Jüngste Gericht. Der naive Maler hat die grausigsten Torturen dargestellt und jeweils beschriftet. Wir blicken uns an, meine Begleiterin und ich haben schon ein paar Worte über den Krieg gewechselt. Das seien die Strafen für Putin, meint sie, eher traurig als wütend.
Die wechselnden Damen führen an Franz- Joseph-Porträts vorbei, an ungelenk bestickten roten Grußbannern zum Besuch der Genossen Molotow und Woroschilow, an einer Ausgabe des »Ukrainischen Gesetzbuches, mit Berücksichtigung der nationalen Minderheiten «, auch auf rumänisch. Der letzte Raum ist neu und der Gegenwart gewidmet: Kriegsgerät, Fotos und Abzeichen ukrainischer Kriegshelden, patriotische Verse und auf roter Banderole »Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm« – das häufige Grußwort in diesen Zeiten.
Auf den Straßen sind sie öfter zu sehen als im vergangenen Jahr, Soldaten im Tarnfleck. Vor der Kommandantur nahe dem Wochenmarkt steht die schwerbewaffnete Wache, der Mann reagiert freundlich auf meinen Gruß. Öfter sind Soldaten auch auf der Kobyljanska zu sehen, darunter junge Soldatinnen, sehr langes Haar unter den Kappen. Ein Paar, wohl in den Vierzigern, geht langsam, der Soldat läuft mit Krücke. Dort, wo der Mann mit den dressierten Tauben seit jeher seinen Platz hat, lassen sie sich fotografieren, eine Taube auf der Hand, eine auf dem Arm, eine auf dem Kopf, sie lachen sich an, geben sich einen Kuß. Ich kann nicht anders, muß auch von mir ein Friedenstauben-Foto machen lassen.
Auf der Kobyljanska scheint an den immer noch warmen Oktoberabenden die akute Bedrohung weit weg zu sein. Auf beiden Seiten erinnert die Straße an ihre Vielvölker- Vergangenheit: Cernivtsi auf ukrainisch, Czernowitz, auch in der hebräi schen Schrift des Jiddischen, Cernăuţi auf rumänisch, Czerniowce auf polnisch ist in regelmäßigem Abstand eingraviert. Die ethnischen Gruppen hatten und haben immer noch ihre stolzen Nationalhäuser, das dreistöckige der Buchenland- Deutschen im Jugendstil von 1910. Gegenüber haben sich 1905 die Polen ihr Haus erbaut, weiter unten, zum Rathaus hin, die Rumänen. Das am Theaterplatz gelegene prachtvolle Haus der jüdischen Gemeinde von 1908 ist heute ein städtischer Kulturpalast mit jüdischem Museum, die Gemeinde besitzt hier nur noch einen Raum.
Auf der Kobyljanska reiht sich ein Restaurant ans andere, mit einladenden Terrassen, warm beleuchtet. Über das kleinteilige Granitpflaster schlendern hübsche modebewußte Frauen mit ihren ebenso modischen Hündchen. Eltern fotografieren ihre Kinder in der bronzenen Kutsche, die mitten auf der Straße steht. Auch viele Flüchtlinge aus dem Osten des Landes, die zu Tausenden in Czernowitz gestrandet sind, gehen mit der Familie aus. Sie sprechen Russisch, das nun hier öfter zu hören ist als vor dem Krieg. Aus den zwei Musikschulen an der Kobyljanska huschen noch Schüler mit ihren Instrumenten nach Hause.
Tagsüber, beim Streifzug durch die Seitenstraßen, offenbaren sich die Widersprüche, Schattenseiten und Bitternisse der Zeit: Ärmliche Frauen bieten an der Straßenecke Äpfel und Birnen an, viele schöne alte Häuser verfallen, in Balkonen klaffen bedrohliche Löcher. Altertümliche und moderne Busse rumpeln über lückenhaftes Kopfsteinpflaster. Neue Post, alte Post: Wie ein Ballsaal prunkt mit ihren Kronleuchtern die staatliche alte Post, an deren Schaltern Sondermarken mit Soldaten oder einem historischen Czernowitzbild verkauft werden. Ob und wann die Post ankommt? Sicher und schnell ist angeblich die Konkurrenz gegenüber, die private »Nova Poschta« mit auffälligem rotem Schriftzug.
Vor dem Rathaus, an dem neuerdings Bilder von Czernowitz über einen großen LED-Bildschirm laufen, starten Polizisten in neongrünen Westen zum Dienst auf dem Fahrrad.
Gegenüber, auf dem zentralen Platz mit Springbrunnen und Monument des Nationaldichters Taras Schewtschenko, sehe ich wieder die Gefallenen der Region Czernowitz: An der Wand sind die Fotos angebracht, die ich schon von 2022 kenne. »Sag, wo die Soldaten sind, wo sind sie geblieben? Zogen fort, der Krieg beginnt. Wann wird man je verstehen?« – »Where have all the flowers gone?« Pete Seegers zeitloses Lied von 1955 kommt mir in den Sinn. Kaum jemand weiß, daß zentrale Passagen aus diesem Song einem kosakisch-ukrainischen Volkslied entstammen. Wie viele Soldaten, Männer und Frauen, allein aus der Bukowina mußten ihr Leben geben im Vernichtungskrieg Rußlands? So viele sind es, daß man es wohl aufgegeben hat, ihre Fotos weiterhin hier anzubringen.
Am Kathedralplatz, wo vergangenes Jahr das Monument für die Rote Armee abgetragen wurde, parkt auf dem nun leeren Grund ein Auto mit einer quer übers Dach und das Rückfenster geklebten Aufschrift: Hohn über die Versenkung von Putins Flaggschiff »Moskwa« und: »Russen, verpißt euch …« Nicht mehr knallrosa, sondern zartgelb ist die Kathedrale des Heiligen Geistes gestrichen. Am Zugang zur Kirche wird in zwei Schaukästen auf ukrainisch und rumänisch versichert, daß dieses orthodoxe Gotteshaus keinerlei Sympathien für Putin oder seinen Patriarchen Kirill hege – ein Zeugnis des Kirchenstreits im Lande.
»Eine Bastion« der kirchlichen Putinfreunde sei die Kathedrale, empört sich Oxana. In ihrem Büro am Ende eines langen Ganges des labyrinthischen Unigebäudes herrscht Chaos: In den Regalen stapeln sich Medikamente, Sohlenwärmer, Handwärmer und Socken für die Soldaten. Studenten werden später alles ordnen und verpacken. Draußen, vor den Kasematten, liegen Sandsäcke. Im vergangenen Herbst mußte ich mit Studenten und Dozenten in den unterirdischen Gängen der Uni bei Luftalarm Schutz suchen. Diesmal bleibt es ruhig. Mit ihrem Ensemble von Gebäuden, die zur historischen Residenz der Bukowiner Metropoliten gehören, zählt die Jurij- Fedkowytsch-Universität zum UNESCOWeltkulturerbe. Hier, im Zentrum »Gedankendach«, nach einem Wort von Rose Ausländer benannt, über die Oxana promoviert hat, ist kaum mehr Zeit für wissenschaftliches Arbeiten. Wir eilen zur mathematischen Fakultät an der Universitätsstraße, um das Lager für die ständig eintreffenden Hilfsgüter zu inspizieren: Babywindeln, Ketchup, Reis, Nudeln, Mehl, Müsliriegel, Taschenlampen. Alles muß geordnet und weitergeleitet werden.
Dann endlich essen gehen im »Erdbeerchen «: Drei Tische hat das Restaurant, das Asa Petriwna gemeinsam mit ihrer Tochter Hannusja führt. Kultig würde man diesen altmodischen Ort in Deutschland nennen: Schon als Studentin hat Oxana hier gegessen, billig und gut. Täglich gibt es eine frische Gemüsesuppe, immer freitags den klassischen Borschtsch, natürlich alles mit saurer Sahne. Danach einfache, wohlschmeckende Gerichte – Kartoffelpüree mit Fleisch oder nur mit Gemüse, Kohlsalat, köstliche, mit Quark gefüllte Pfannkuchen, feine Wareniki, süß oder salzig gefüllte Teigtaschen. Hier kehre ich nun täglich ein – auch am Tag vor der Abreise, an dem sich noch drei Begegnungen ergeben haben: mit dem prominenten Germanisten und Celan-Experten Petro Rychlo, der deutsche Slawisten mit seinen Texten zum imperialistischen Denken russischer Schrifsteller, darunter Puschkin, Dostojewski und Solschenizyn, provoziert hat. Mit Natalia Nechaiewa, Politikwissenschaftlerin, die auch über die Zeit nach dem Krieg reflektiert. Und zu guter Letzt mit der Psychologiestudentin und Pfadfinderin Olha Melnyk, einundzwanzig Jahre alt. Das bezaubernde Mädchen, bekennende Patriotin, hat sein Trauma nach Kriegsausbruch mit Hilfe eines Stipendiums an der Universität Augsburg überstanden und wagt sich mit mir an einen ersten Podcast, auf deutsch. Thema: die Situation der Studenten im Krieg. Hinterher entspannen wir am Tischchen im Hof eines Hostels, wieder an der nahen Kobyljanska. Voller guter Gedanken nehme ich Abschied von Olha und ihrer Stadt, am nächsten Tag ist Abreise.
Mit dem Schlafen wird es nichts. Morgens um zwei stehe ich mit Gepäck auf der Straße bereit. Fahrer Mischa, der die Route nach Berlin und Hamburg mit seinem Kleinbus seit zwanzig Jahren fährt, kommt auf die Minute genau.
SINN UND FORM 2/2024, S. 272-275
Nisbet, Hugh Barr
- 6/2011 | Lessing und die Toleranz
Nitzschke, Helmut
- 1/1980 | Ein unbekannter Roman von Paul Zech
Nizan, Paul
- 6/1976 | Die Verschwörung
Nizon, Paul
- 1/2005 | Gespräch über Elias Canetti mit Werner Morlang
- 3/2006 | Aus den Journalen
- 3/2006 | Gespräch mit Renatus Deckert
Noack, Arndt
- 1/1989 | Godot doch noch erschienen?
Nogar, Rui
- 4/1984 | Zwei Gedichte
Nohl, Johannes
- 5/1963 | Karl Philipp Moritz als Gast Goethes in Weimar
Noll, Chaim
- 3/2010 | Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft, S. 309 Leseprobe
Noll, Chaim
Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft
Die Wüste gehört zu den großen Siegern unserer Tage. Und es scheint, als wäre dieser Sieg für den Menschen nichts anderes als eine Katastrophe. Unaufhaltsam expandieren Wüsten, Trockengebiete und Steppen, jedes Jahr um eine Fläche, die ungefähr dem Territorium Deutschlands entspricht. Von Desertifikation, wie Wissenschaftler den Vorgang nennen, sollen weltweit etwa anderthalb Milliarden Menschen betroffen sein: in dem Sinne, daß die Erde, auf der und von der sie leben, sich in Steppe oder Wüste verwandelt.
In den täglichen Katastrophennachrichten spielen die Heimsuchungen durch Wüste und Zu-Wüste-Werden eine geringere Rolle als Flutwellen, Überschwemmungen und Unwetter. Dabei gehen sie, global betrachtet, Hand in Hand, Dürre an einem Ort und Überwässerung an einem anderen, das Defizitäre und das Verschwenderische, als wolle die Natur uns unser Dilemma vor Augen führen, das, wozu wir nicht fähig sind, was wir trotz aller Bemühungen kaum je erreichen: vernünftigen Ausgleich. Es scheint ein globaler Vorgang zu sein, in der Natur wie in den menschlichen Gesellschaften dieser Tage: überall nehmen die Extreme zu, sowohl an Zahl wie an Stärke, überall schwindet „die Mitte“, die erträumte Domäne des Vernünftigen.
Der Zugang zum Thema Wüste erfolgt normalerweise über Kategorien der Wissenschaft: Wüste wird von der Vegetation und vom Klima her definiert, als aride oder semi-aride Zone, in der die Wasserverdunstung – zumindest den größten Teil des Jahres – den Niederschlag überwiegt. Man unterscheidet extrem trockene Kernwüsten, in denen es manchmal jahrelang nicht regnet, und semi-aride Steppen und Wüstensteppen, in denen wenigstens einige Monate im Jahr so viel Regen fällt, daß Pflanzenwachstum möglich ist.
Es gibt Wüsten und Steppen, aride oder semi-aride Zonen, die, bedingt durch Lage, Klima, ökologische Gegebenheiten, seit Menschengedenken nichts anderes gewesen sind, und es gibt andere, die erst durch menschliches Wirken dazu wurden. Zur ersten Gruppe gehören Tiefland- und Hochgebirgswüsten, das heißt große Landstriche, die von Gebirgszügen umschlossen sind, die Niederschläge und feuchte Luft von ihnen fernhalten. Passatwüsten zum Beispiel entstehen durch dominierende Ost- oder Südostwinde, etwa im Norden Afrikas. Auch Salzwüsten brauchen extreme Lage und Witterung. Dagegen können die vom Menschen verursachten Steppen- und Wüstengebiete fast überall und in fast jedem Klima entstehen. Ein frühes Beispiel dafür sind die verödeten, steppenähnlichen, baumlosen Gebiete des Imperium Romanum, in Kleinasien, im Libanon, in Griechenland oder Armenien, wo einst dichte Wälder standen, ehe die Römer sie für den Schiffbau abholzten, für die unzähligen Flotten, die das Imperium benötigte. Manche dieser Gebiete haben sich heute, zwei Jahrtausende später, immer noch nicht davon erholt. Kaum etwas ist geblieben von den legendären phönizischen Wäldern zur Zeit König Hirams (einst „der Schmuck des Libanon“, Jesaja 60,13). Auch auf den Höhenzügen Armeniens kündet, soweit das Auge reicht, karges, verkarstetes Land vom Raubbau der Römer.
Trockengebiete bedecken heute fast die Hälfte der Landfläche unseres Planeten. Der geringere Teil davon ist Wüste im extremen Sinn, das heißt in Form von Wanderdünen, Geröllhalden, Lehmflächen oder Salzkrusten ohne jede Vegetation. Der größere Teil sind Steppen und Halbwüsten, in denen noch Leben möglich ist. Nicht wenige Wüsten waren einst blühendes Land. In unseren Tagen, vor unseren Augen vollzieht sich ein gigantischer Prozeß der Degradation, des Zu-Wüste-Werdens großer Landflächen, und zwar überall in der Welt. Der erste Schritt in diese Richtung ist das allmähliche Verkümmern von landwirtschaftlicher Anbaufläche zu Steppe, Savanne, Prärie oder Grasland, also Landschafts- und Bodenformen, die sich zwar nicht mehr zum Anbau von Kulturpflanzen, aber noch zur Viehzucht eignen. Nach Angaben der Vereinten Nationen mußte während der letzten Jahrzehnte etwa ein Drittel der globalen Anbaufläche wegen Bodenerosion aufgegeben werden.
An sich ist Steppe für den Menschen bewohnbares Land. Vor allem dort, wo günstige klimatische Bedingungen hinzukommen. Bewohnbar sind auch Wüstenrandgebiete – sogar extrem trockener Wüsten –, wo große Flüsse oder Meere sich mit dem Trockenland berühren. In solchen Gebieten vollzieht sich der Übergang von der nomadischen zur seßhaften Lebensweise, und es kommt daher – über längere Zeiträume betrachtet – zur Herausbildung von Zivilisation. Hier entstanden die ersten Hochkulturen, die frühesten Schriftkulturen der Menschheit. Das alte
tische Reich entwickelte sich im Schwemmland entlang des Nils, Thomas Mann nannte es treffend „dieser vom Nil befruchtete Streifen Landes zwischen Wüste und Wüste“. Die babylonische Hochkultur, über Jahrhunderte die beherrschende der Alten Welt, bildete sich im sandigen Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Sie nahm ihren Anfang mit dem Bau von Kanälen zwischen den Flüssen, einem gigantischen Bewässerungsprojekt in der Wüste.
Das früheste Tontäfelchen mit Keilschrift, datiert um 3500 v.u.Z., wurde im babylonischen Kisch gefunden, einer ausgegrabenen Stadt im Zweistromland. Ägyptische Papyri mit Bilderschrift, entstanden in der Zone zwischen Nil und Wüste, reichen zurück bis ins Alte Reich zu Beginn des dritten vorchristlichen Jahrtausends. Etwa tausend Jahre später, um 1800 v.u.Z., ist nach heutigem Forschungsstand das erste Alphabet der Menschheitsgeschichte entstanden, in Kanaan, dem schmalen Küstenstreifen am Mittelmeer, der den Wüsten von Moab bis Aram vorgelagert ist. Die Entstehung der Schrift, folglich der ersten Literaturen, ist ursächlich mit dem Topos Wüste verbunden. Zum einen, weil Wüstenrandgebiete ihre Entstehungsorte waren, zum anderen, weil das Grundmotiv der Wüste, die zur Einheit gezwungene Ambivalenz extremer Gegensätze, ihre innere Spannung ausmacht. Diese Spannung ist eine frühe Metapher für die dem Leben innewohnende Gegensätzlichkeit: von Wasser und Wüste, Wachsen und Vergehen, Fülle und Mangel, Frieden und Krieg, Leben und Tod. Das auf Papyrus überlieferte Poem der ägyptischen Spätzeit „Katze und Affe“, entstanden um 1000 v.u.Z., faßt diese Ambivalenz in ein Bild:
In Ägypten gibt es keine Edelsteine,
aber die Nahrung, die den Menschen am Leben erhält,
wächst dafür wieder nicht in der Wüste.
Edelsteine sind wertvoller als Getreide,
aber essen kann man sie nicht.Zweimal kommt hier das Wort aber vor, Zeichen eines uns Menschen, unserer Umgebung, unserem Sein innewohnenden Widerspruchs. Er wird symbolisiert durch das ungelöste Nebeneinander von Wüste und Nicht-Wüste. Dabei wird „Wüste“ mit Schätzen assoziiert, die es erst noch zu entdecken gilt, was erschwert wird durch Mangel an „Nahrung, die den Menschen am Leben erhält“. Dagegen gibt es in „Ägypten“, womit das Schwemmland entlang des Nils gemeint ist, ausreichend zu essen, aber nichts Kostbares, Neues, Aufregendes mehr zu finden. Es ist eine auch heute noch anzutreffende Konstellation: der in einer entwickelten Gesellschaft lebende, materiell gutversorgte Mensch sehnt sich nach den Herausforderungen der Wildnis. Und umgekehrt: dort Hungernde streben in die reichen Länder. Die Verse finden in der Gegenüberstellung des scheinbar Unvereinbaren ihre Harmonie. Denn beide Sehnsüchte, beide Bewegungen artikulieren sich gleichzeitig.
Auch die biblischen Psalmen, in etwa um diese Zeit, im 10. Jahrhundert v.u.Z., entstanden, thematisieren den Dualismus der Wüste. Vor allem dort, wo von David die Rede ist, der, bevor er auf den Thron kam, jahrelang als Flüchtling in der judäischen Wüste lebte. Auch in ihm findet, korrespondierend mit der Gegensätzlichkeit des landschaftlichen Hintergrundes, die Ambivalenz des menschlichen Lebens, das Auf und Ab des Daseins ein überzeugendes Symbol. Zugleich wird ein weiteres Motiv angeschlagen, das von Anfang an mit dem Thema Wüste zusammenhing: Wüste als Fluchtort, als Refugium und Ort spiritueller Erneuerung. Schon in der berühmten altägyptischen Erzählung vom Flüchtling Sinuhe aus dem Mittleren Reich, zu Beginn des zweiten Jahrtausends v.u.Z., ist es zu finden. Auch an vielen Stellen der Bibel geht es darum, von den Propheten Jeremias und Elias, über Simon Makkabäus bis hin zu Jesus, der in der Wüste seinen berühmten Dialog mit dem Satan führte.
[…]SINN UND FORM 3/2010, S. 309-325
- 5/2015 | »Wo Juden sind, entsteht auch
Literatur«. Gespräch mit Przemyslaw Sznurkowski, S. 309 Leseprobe
Noll, Chaim
»Wo Juden sind, entsteht auch Literatur«. Gespräch mit Przemysław Sznurkowski
PRZEMYSŁAW SZNURKOWSKI: Sie zeichnen in Ihren Büchern ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft. Besonders in Ihrem 2014 erschienenen Roman »Die Synagoge« lernt man Sie als aufmerksamen Beobachter der politischen Ereignisse und sozialen Zustände in Israel, vor allem aber auch als kritischen Bürger kennen.
CHAIM NOLL: Kritik gilt hier in Israel als etwas vollkommen Normales. In Deutschland neigt man dazu, Konsens auf allen Gebieten herzustellen, man ist bemüht, möglichst immer einer Meinung zu sein, bis zur bösen Einheitlichkeit, die alle anderen Meinungen unterdrückt und totschweigt. So etwas ist hier unvorstellbar. Wenn man nach Israel kommt, dauert es einige Tage, bis man sich daran gewöhnt hat, daß hier jeder alles möglichst laut und möglichst zugespitzt zum Ausdruck bringt. Sonst wird man nicht wahrgenommen. Aber dieses auf den ersten Blick Verwirrende und Chaotische hat für Intellektuelle große Vorteile. Es ist ja das, was uns am meisten interessiert: Wie gebe ich meinen Gedanken Ausdruck? In der israelischen Gesellschaft kann ich sagen, was ich denke, und es wird immer jemanden geben, der das für einen bedenkenswerten Aspekt hält.
SZNURKOWSKI: Einer der wichtigsten Protagonisten Ihres Romans ist Holly, ein junger Mann, der gegen die Gesellschaft revoltiert. Er blickt ganz anders auf die Welt als die Generation seiner Eltern, er hält die Sicherheit Israels für gefährdet und steht der Politik des Landes ablehnend gegenüber. Sie haben ihn als typischen Außenseiter geschildert, der antisemitische Haltungen vertritt und sogar eine Freveltat begeht, indem er eine Tora-Rolle verbrennt.
NOLL: Außenseiter sind in der jüdischen Gesellschaft nichts Besonderes. Im Grunde sind wir alle Außenseiter. Die Toleranz gegenüber charakterlichen Eigenheiten oder Absonderlichkeiten ist unter Juden traditionell groß. Deshalb läßt die Gemeinschaft des Wüstenortes, in dem Holly lebt, ihn weitgehend tun und lassen, was er will. Bis zu einem bestimmten Punkt. Es gibt immer wieder Juden, die dem Judentum ablehnend, sogar feindlich gegenüberstehen. Wir kennen solche Fälle seit der Antike. Der Stratege der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70, der Generalstabschef von Kaiser Titus, war Tiberius Julius Alexander, ein alexandrinischer Jude, der in Rom erzogen worden und vom Judentum abgekommen war. Sein Vater hatte noch zu den Förderern des Tempels gehört.
SZNURKOWSKI: Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, daß die Wüste, die den Hintergrund der Handlung bildet, Sie außerordentlich fasziniert. Sie wird eindrücklich geschildert, manche Ihrer Figuren sind Wüstenforscher. Hatten Sie damit eine Art Huldigung an die Leute beabsichtigt, die dort leben?
NOLL: Wenn Sie den Roman als Huldigung an die Bewohner des Wüstenortes empfinden, freut mich das. Es sind Menschen, die sich aus Idealismus einer extremen Situation aussetzen. Sie beschäftigen sich mit einem Wissenschaftszweig, den vor zwanzig Jahren noch niemand ernst genommen hat. Inzwischen wissen wir: Die Erde befindet sich schon seit Jahrzehnten im Zustand der Desertifikation, wir leben in einem Prozeß der Versteppung der Erdoberfläche, zurückgehender Wälder, Erosion, Abgrasung der Steppen, ein jährlicher weltweiter Verlust an landwirtschaftlicher Anbaufläche von der Größe Deutschlands. Es muß etwas geschehen. Die Wüstenforschung hat sich zu einer bedeutenden Wissenschaft entwickelt. Viele von Desertifikation bedrohte Länder haben ihre Beziehungen zu Israel verbessert, weil sie an den hier gewonnenen Erfahrungen teilhaben wollen. Sie schicken ihre Studenten in die Wüste Negev, damit sie lernen, wie man in einem solchen Gebiet zivilisatorische Strukturen aufbauen, wie man ein Wüste gewordenes Land revitalisieren und landwirtschaftlich erschließen kann. Das sind die Fragen, mit denen sich diese Leute seit Jahrzehnten beschäftigen, unter Entbehrungen, improvisiert, mit wenig Geld. Der Ort wurde lange Zeit stiefmütterlich behandelt, obwohl Ben Gurion die Bedeutung der Wüstenforschung erkannt und dort draußen mit amerikanischen Sponsoren Institute gegründet hat. Inzwischen sind das weltbekannte Einrichtungen mit üppigen Forschungsetats. Die Zahl der Studenten hat sich verfünffacht, der Ort ist ein anderer geworden. In gewisser Weise ist es ein historischer Roman: Das Milieu, das ich beschreibe, gibt es so nicht mehr. Die meisten Bewohner sind zwar nicht im traditionellen jüdischen Sinn religiös, aber doch so spirituell, daß sie ihr Leben einer höheren Bestimmung widmen als dem Gelderwerb und der Karriere. Trotz aller Kontroversen sind sie sich einig, daß das, was sie zusammen machen, eine gute Sache ist, daß man Opfer bringen muß. Das ist vielleicht das Geheimnis der israelischen Gesellschaft überhaupt.
SZNURKOWSKI: Haben Sie sich auch über den Roman hinaus mit der Wüste als literarisches Phänomen befaßt?
NOLL: Ich arbeite seit zwanzig Jahren an einem Buch über die Literatur der Wüste. Das ist eines der Projekte, mit denen ich noch nicht fertig bin. Es gibt unendlich viel Material über all die Aspekte, unter denen die Wüste wahrgenommen worden ist. Einiges habe ich inzwischen in Zeitschriften veröffentlicht, zum Beispiel den Essay »Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft« in »Sinn und Form« und eine englische Fassung in der Zeitschrift des Internationalen PEN. Oder einen Aufsatz über T. S. Eliots »The Waste Land«, das den Topos nicht real als Sandwüste, sondern als Zustand des menschlichen Lebens behandelt. Das hat auch viele andere Autoren fasziniert. Wüste als Metapher oder Realität ist ein ewiges Thema der Literatur. Mich beschäftigt die Frage, welche Rolle die Wüste in unserem Bewußtsein oder Unterbewußtsein spielt. Wie ist es zum Beispiel zu erklären, daß Autoren, die nie in einer Wüste waren, anschaulich darüber schreiben konnten? Etwa Wilhelm Hauff in seinem Erzählzyklus »Die Karawane«. Oder Balzac in seiner wunderbaren Novelle »Leidenschaft in der Wüste« – auch er hat nie im Leben eine Wüste gesehen. Trotzdem war er imstande, die Einsamkeit dort genau zu schildern.
SZNURKOWSKI: In Ihrem Roman schreiben Sie über das Verhältnis der Israelis zu den deutschen Einwanderern. Eine Figur beispielsweise »schmerzte es, täglich die verhaßte Sprache zu hören«, »ein hartes, böses Gezisch«, »wie militärische Kommandos klingende Ausrufe«. Wie werden die deutschen Juden heutzutage in Israel wahrgenommen? Hört man Deutsch häufig im Alltag?
NOLL: Die Einstellung zur deutschen Sprache hat sich stark verändert. Es hat damit zu tun, daß sich auch die Beziehung zu Deutschland verändert hat. Das liegt zu einem guten Teil an den Deutschen selbst, die nach der Shoah in sich gegangen sind und versucht haben, ihre Vergangenheit kritisch zu betrachten und aufzuarbeiten. Das war auch mit einer gewissen Hinwendung zur jüdischen Kultur und Literatur verbunden. Als wir vor zwanzig Jahren nach Israel kamen, war die deutsche Sprache hierzulande weitgehend verachtet. Als wäre sie schuld an dem, was in der Nazi-Zeit geschehen ist. Ich habe diesen Widerwillen nie verstanden. Es schien mir vollkommen unsinnig, die verständliche Aversion gegen das Land ausgerechnet an der Sprache abzureagieren. Deswegen habe ich auch das Deutschverbot in der frühen Kibbuz-Kultur nicht begriffen. Familien, die aus dem deutschen Sprachraum kamen, haben ihre Kinder daran gehindert, ihnen regelrecht verboten, die Sprache ihrer Eltern zu lernen. Als wir in den Süden kamen, gab es kaum deutschsprachige Lehrer an der Universität, man konnte nicht einmal die Gründerliteratur des Landes studieren. In Sde Boker befindet sich das Ben-Gurion-Nachlaß-Institut. Dort liegen zahlreiche auf deutsch geschriebene Dokumente, denn viele der frühen Zionisten waren deutschsprachig, nicht nur Theodor Herzl, sondern auch Leute wie der Botaniker Warburg, die sich mit technischen und landwirtschaftlichen Fragen beschäftigten. Wir haben an der Universität gegen große Widerstände ein deutschsprachiges Programm gegründet, einer unserer Studenten ist ans Ben-Gurion-Nachlaß-Institut gegangen, um die Korrespondenz zu sichten. Sie war seit Jahrzehnten unbearbeitet, weil von den Historikern des Instituts keiner Deutsch lesen konnte. Dabei waren es oft Kinder deutscher Einwanderer. Ich habe vom ersten Tag an gesagt: Was wir hier brauchen, sind möglichst viele Sprachen. 1997 bin ich von der Universität in Beer Sheva eingeladen worden, an einem Programm für deutschsprachige Studenten mitzuarbeiten. Wir haben dazu in der Wüste Negev ein Studienzentrum gegründet, was damals noch abwegig schien. Ich kann mich erinnern, daß Leute von der Straße in den Hörsaal kamen, um zu protestieren. Eine Frau lief nach vorn und rief: »Ich will hier im Land kein Deutsch hören!« So war die Stimmung damals. Doch davon ist nichts geblieben, höchstens bei sehr alten Leuten. Wenn ich heute auf der Straße Deutsch rede, mit Freunden oder weil ich mit meiner Frau oder Tochter telefoniere, sprechen mich oft junge Leute an und sagen mir, daß sie sich freuen, hier in Beer Sheva Deutsch zu hören. Daß sie diese Sprache lernen, weil ihre Großeltern Deutsch gesprochen haben oder weil sie eine Weile in Deutschland leben wollen. Es ist erstaunlich, wie sich das gewandelt hat.
SZNURKOWSKI: Auch bei Ihnen gab es eine Phase der Abwendung von der deutschen Sprache.
NOLL: Ich habe erst 2000 wieder auf deutsch geschrieben, und zwar den Roman »Der Kitharaspieler«. Eine historische Geschichte, die im 1. Jahrhundert im alten Rom spielt. Ich habe versucht, das Buch in einer antikisierenden Sprache zu schreiben, und das konnte ich nur auf deutsch. Als wir nach Israel kamen, hatte ich eine starke Aversion gegen das Land, aus dem wir weggegangen waren. Meine Frau war seit 1994 nicht mehr in Deutschland. Ich fliege inzwischen regelmäßig hin, aber zunächst war auch ich zehn Jahre nicht dort. Unsere Bemühungen an der Universität, die deutsche Sprache wieder ins israelische Leben einzuführen, die Begegnungen mit den Studenten, die veränderte Haltung der israelischen Jugend – all das hat mich zur deutschen Sprache zurückgebracht. Auch als Schreibsprache. Heute bin ich froh darüber. Ich stehe in jener Lücke der deutsch-jüdischen Literatur, die durch die Shoah entstanden ist. Jemand muß die Stellung halten. Und es wird wieder viele deutsch-jüdische Autoren geben, denn inzwischen gibt es wieder viele Juden in Deutschland, und wo Juden sind, entsteht auch Literatur. Ich habe als Kind die Bücher der großen deutschsprachigen jüdischen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelesen. Ein gewaltiges Erbe. Irgendwann habe ich begriffen, daß ich selbst in dieser Tradition stehe, und dann natürlich auch in der Sprache, in der ich aufgewachsen bin und in der diese Literatur lebte. Und hoffentlich fortbesteht.
SZNURKOWSKI: Ihr Roman »Die Synagoge« ist auch eine Auseinandersetzung mit nationaler und religiöser Identität. So sagt etwa die Figur Abi, daß er – im Gegensatz zu Heine – kein Problem damit habe, Jude zu sein. »Jude sein ist die wunderbarste Sache der Welt.«
NOLL: Für mich ist Judentum nicht nur eine Religion, sondern eine über mehrere Jahrtausende gewachsene Lebenshaltung, die weit über das Religiöse hin ausgeht. Sie hat zu einer besonderen Form des Menschseins geführt, zu besonderen Ausprägungen, besonderen Fähigkeiten, allerdings auch zu besonderen Schwächen. Wenn mein Protagonist sagt, für ihn sei es die wunderbarste Sache der Welt, Jude zu sein, dann heißt das nicht, daß auch alle anderen Menschen das so sehen, nicht mal alle Juden. Es gibt Juden, die nicht glücklich darüber sind, Jude zu sein, was ich persönlich nicht verstehen kann. Es gibt Menschen, die offen sagen, es bedeute ihnen nichts, es sei ihnen zu kompliziert. Ein Jude trägt immer mehrere Jahrtausende Geschichte mit sich herum. Daher das ständige Lernen und Studieren, auch in Form ritueller Handlungen, am Seder-Abend oder beim Laubhüttenfest. Jüdische Kinder wachsen im Bewußtsein einer uralten Vorgeschichte auf, einer starken Verbundenheit mit frühesten Menschheitskulturen. Sie erwerben Kenntnisse, die man anderswo an der Universität studieren muß. Biblische Geschichte ist Volks- und Landesgeschichte, dazu gehört auch Babylonien, das alte Ägypten, Griechenland, Rom. Um zu verstehen, was es heißt, Jude zu sein, muß ich tief in der Geschichte verwurzelt sein, daher unsere geradezu manische Erinnerungskultur. Wir leben zu einem großen Teil in der Erinnerung. Das macht uns allerdings nicht rückwärtsgewandt, sondern ist das Potential für die Fähigkeit, die Zukunft zu erkennen und mit der Gegenwart zurechtzukommen. Wenn man Jahrtausende im Bewußtsein hat, auch die Katastrophen, die Fehlentwicklungen, die Niedergänge, ist man natürlich im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Lebens viel erfahrener als andere Völker, die zum Vergessen und Verdrängen neigen. Das ist der zweite Gesichtspunkt, der die Juden auszeichnet: Sie haben eine ungeheure Erfahrung im Überwinden katastrophaler Situationen. Ich habe vor Jahren in einem Interview gesagt, Juden seien geborene Spezialisten für den Katastrophenschutz. Für das Überleben hoffnungslos scheinender Situationen. Das kann kein anderes Volk so gut wie wir.
SINN UND FORM 5/2015, S. 657-667, hier S. 657-661
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Nooteboom, Cees
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Nowka, Michael B.
- 5/2020 | Zweige verwandelt in Hände. Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers (1983 –1990), S. 597 Leseprobe
Nowka, Michael B.
Zweige verwandelt in Hände. Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers (1983-1990)
Beschreibung eines geheimen Berufs
Wir Harzer in der DDR waren Leistungslöhner. Und Langstreckengeher. Zehn bis zwanzig Kilometer pro Tag und mehr, je nach Baumdichte. Ich ging in meinen Revieren oft über feinstengliges, weiches Waldgras. Die vorjährige Schmiele war verfilzt und bildete noch grüne, kräftezehrende Luftpolster. Schützenlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg kreuzten die ausgetretenen, mit der Axt notdürftig gelichteten, kaum sichtbaren Arbeitspfade von Baum zu Baum. Fuchs- und Dachsbaue, Ameisenhaufen. Ich ging durch urwaldähnlichen Unterwuchs aus Vogelkirschen, Faulbaum, jungen Kiefern, Birken, Eichen und Robinien. Brombeerhecken und Wipfelbrüche umging ich. Herabgefallene, ins Gras eingewachsene Äste und alte, ebenfalls überwachsene Fuchsbaue waren Knochenbrecher.
Mitte April bis Anfang Mai waren die schwersten, aber auch schönsten Wochen im durchwachsenen Kiefernhochwald. Ich schnitt die tiefen, senkrechten Tropfrinnen ins noch wintertrockene Holz. Die zwei Zentimeter starke U-Klinge, am unteren Stielende eines Hammers befestigt, mußte ich oben ansetzen und einen knappen halben Meter unter starkem Druck nach unten ziehen, damit fürs ganze Jahr ein ausreichend tiefer Ablaufkanal entstand. Am unteren Ende der Tropfrinne schlug ich den Topfhalter an. Fünftausend Tropfrinnen in vierzehn Tagen. Im ersten Frühjahr schmerzte mir nach einer Woche der Brustkorb. Husten war kaum möglich. Jeder weitere Schnitt, jede neue Tropfrinne löste rasende Schmerzen aus. Als würde sie sich auch in mich eingraben. Lungenentzündung? Niemand da, mit dem ich darüber sprechen konnte. Wir etwa fünfzehn Harzer des Forstbetriebs waren um die Stadt Brandenburg verstreut. Der Harzmeister kam alle vierzehn Tage vorbei. Er brachte Werkzeug, Arbeitsschutzhandschuhe und das Mückengift »Mückin«. Zum Glück ging ich nicht zum Arzt. Die Blamage! War nur Muskelkater, den alle Neulinge durchstehen mußten.
Wenn jedoch die Kohlmeisenhähnchen, auch Schlossermeisen genannt, ihr ständig gleiches Lied wie auf silbernen Ambossen weithin pinkerten, dann ahnte ich, warum ich in den Wald gegangen war.
Als ob ich unter hohen Kiefernkronen durch eine riesige Halle, einen seltsamen Dom lief, in dem fröhlich gearbeitet wurde. Das Klingeln der silbernen Ambosse anderer, weiter entfernt singender Schlossermeisen klang wie ein Echo auf den »Vorarbeiter«, der ganz in meiner Nähe sein »Hämmerchen« schwang. Erste Buchfinkenmännchen prügelten sich im Waldgras.
Der gelbe unsichtbare Vogel Bülow, der Pirol, in den Baumwipfeln, in der Ferne der Kuckuck und im weiß blühenden Schlehengebüsch die Nachtigall beendeten diese schönste Zeit des Jahres im Wald. Die Nachtigall und andere Bodenbrüter brachten die Mücken mit, oder war es umgekehrt? Myriaden von Mücken – von denen leben diese begnadeten Sänger. Deshalb sind sie da. Sie leben von den Mücken, die von uns leben. Die Mücken schienen am fremden Geruch von Mückin interessiert, aber auch verwirrt. Sie waren die besten Antreiber. Solange ich mich bewegte, stachen sie nicht, mit oder ohne Mückin. Wenn ich eine Pause einlegen, die Hobelklinge reinigen und schärfen mußte und mir Notizen zu Gedichten und für das Tagebuch machte, suchte ich mir stets einen Sonnenflecken. Mücken mögen keine Sonne. Hatte ich schnell herausgefunden. Aber an schwülen Tagen, unter bedecktem Himmel, waren die Mücken besonders aggressiv. Flogen einem zu zehnt auf einmal ins Gesicht und auf andere unbedeckte Hautstellen. Summten nicht lange, sondern stachen sofort zu. Ausgerechnet an solch einem Tag hatte ich das Mückin vergessen! Ich brüllte und schlug mir mit den steifen ledernen Handschuhen ins Gesicht. Immer wieder. Mit dem Rad zehn Kilometer nach Hause und wieder zurück fahren? Dann war der halbe Tag vorbei. Das Harz lief an solchen Tagen am besten.
Im Hochsommer lösten andere Blutsauger, die kleinen flinken Bremsen, das ersterbende Mückenvolk ab. Im Verein mit Blind- und Rinderbremsen. Und alle sind von unerforschten Parasiten befallen, die sich gern im menschlichen Körper austoben. Man weiß und ignoriert es. Ich vertraute meinen Freßzellen im Blut und blieb im Wald.
Die sich wie Stubenfliegen gebenden Wadenstecher und kleine, überall hinkriechende Gnitzen machten den Bremsen bald Konkurrenz. Im Herbst die Hirschlausfliegen. Werfen nach der Landung die Flügel ab. Jucken im Bart und Nackenhaar, sind aber nicht zu fassen. Wie aus flachem Leder mit Widerhaken gemacht, ich kratzte über sie hinweg. Erst abends in der Wanne schwammen sie mit dem Seifenwasser davon.
Wie die Mücken begannen sich auch die Baumschädlinge zu regen. Die Bäume mußten nun ihre etwa achtzig Harzkanälchen pro Quadratmeter Splintholz unter der Rinde und Bastschicht gefüllt halten. Auch gegen mich, den Harzer. Ich war der größte Waldschädling.
Zecken und Milben hatte ich fast das ganze Jahr als treue Gefährten bei mir. Was war schlimmer, die stehende, fast unerträgliche, dehydrierende Hitze im Hochsommer unter den knisternden, Terpentin verströmenden Wipfeln des Kiefernhochwalds oder der beißende Frost in kalten Wintern? Je nach Höhe der Harzlachte stand oder kniete ich im Winter beim Glätten der Rinde vorm Baum. Feuer machen und es unterhalten war Romantik. Keine Zeit. Leistungslohn. Der Rücken schwitzte. Trotz dicker Schafwollsocken und Einlagen in den Filzstiefeln kroch der Frost in die unbewegten Zehen. Auf, auf, einen Hundertmeterlauf über den Waldweg. Aber nicht zu schnell, weil die Lunge sonst schmerzte. In den kurzen Eßpausen tunkte ich die hartgefrorenen Klappstullen in den Becher mit heißem Tee aus der Thermospulle. In solch einem Winter las ich abends in der Zeitung die Zehnzeilennotiz von einem erfrorenen Waldarbeiter in Polen. Kann nur ein Harzer gewesen sein, schoß es mir durch den Kopf. Als man ihn endlich suchte, war er wohl schon steif. Natürlich hatte ich für alle Fälle Streichhölzer, eine Axt und Kohleanzünder dabei, damit das Entfachen schneller ging.
Von all dem wußte ich nichts, als ich im Wald zu arbeiten begann. Waren es die glitzernden Harztropfen in der Frühlingssonne? Der klagende Ruf des vom Schnabel bis zur Schwanzspitze einen halben Meter langen Schwarzspechts? Ich wollte, ich mußte das machen. Wald. Im Wald arbeiten. Waldarbeiter. Das wollte ich sein!
Wir mußten als einzige Forstarbeiter allein im Wald zurechtkommen. Die Anteile, die der einzelne für eine Gruppe erbrachte, waren in einer mit jungem Unterwuchs bestandenen Harzung schlecht überprüfbar und kaum abzurechnen. Es hatte zu oft Streit gegeben.
Fünfzig Pfennig bekam ich pro Kilogramm Harz. Um in der Saison etwa tausend Mark im Monat zu verdienen, damit es zur Überbrückung des geringeren Lohns im Winter reichte, mußte ich jeden Tag tausend hundertjährige Kiefern anreißen. Das waren fünftausend Kiefern pro Woche. Im Sekundentakt rechts und links der Tropfrinne zwei halbzentimetertiefe und unterarmlange Schnitte. Direkt ins helle, lebende Splintholz. Dort durchtrennte ich die Harzkanälchen. Das zähe, noch glasklare Harz tropfte dann einige Stunden über den Riß und die Tropfrinne in den Auffangtopf, bis der Baum die Wunde durch Kristallisieren des Harzes schloß.
Dann den nächsten Baum im Unterwuchs finden, anreißen, Reizmittel aufsprühen, Regenwasser aus den Töpfen kippen, das Tropfblech säubern, damit nichts danebenfließt, volle Töpfe gegen leere wechseln und so weiter und so weiter. Wenn die Klinge an einem eingewachsenen Aststumpf brach, war man erst mal entsetzt. Dann so richtig durchfluchen. Eine neue Klinge einschrauben, schleifen, feilen – manchmal schnitt sie erst nach einer Woche oder vierzehn Tagen wieder richtig. Vielleicht gar nicht. Als es in den letzten DDR-Jahren keinen Schwedenstahl mehr für die staatliche Forstwirtschaft gab, schnitten die noch mal so dicken Klingen schlechter. Wir machten trotzdem weiter.
Bezahlt bekam ich nur das abgelieferte Harz. Wegegeld, Erschwernis- und Reparaturzuschläge, Regenstunden? Pfennigbeträge. Augenwischerei. Bei Regen konnte man nicht harzen. Wasser spülte das frische, leichte Harz aus dem Sammeltopf. Pech, wenn es unmittelbar nach getaner Arbeit regnete. Der Tag war verloren. Die zwei, drei Regenstunden monatlich mit einem niedrigen Lohnsatz ersetzten den Verlust nicht mal annähernd.
Der Kiefernhochwald steht im Havelländischen Flußauengebiet zumeist auf einer sogenannten Dunke. Ein großer, kaum merklich ansteigender Sandhügel, der von tiefergelegenen Erlenbrüchen und Weidenmooren umgeben ist. Das Fenn. Meine Kiefernharzung, in der ich am längsten von 1983 bis 1990 gearbeitet hatte, wurde ebenfalls durch solch ein Fenn begrenzt. Die Pelze. Ein sprechender Name.
Als ich das Abenteuer Harzung begann, stolperte ich aus der halbdunklen Fabrikhalle in den lichtdurchfluteten Wald. Mein nun täglicher Kampf ums Überleben in der Einsamkeit fiel mir leichter als vielen anderen, die den Job bald wieder aufgaben. Vielleicht, weil ich mich daran erinnerte, daß der Mensch wohl viele Tausende von Jahren im Hochwald und den angrenzenden Sümpfen zu Hause war? Alles wiederholt sich, wenn auch auf einer anderen Ebene. Ich fuhr ja nach Feierabend mit dem Rad in unsere ferngeheizte »Platte«, ins »Steintälchen « zurück. Drei fünfstöckige Mehrfamilienhäuser aus Beton, in der Vorstadt an einem Havelsee.
Am Tage wurde ich schnell wieder zum Jäger und Sammler. Das Harz, durch die ständige Bewegung zu Teer in die Haut eingekneteter Balsam, ließ sich abends nicht einfach mit Wasser und Seife entfernen. Diese Kruste mußte mit Margarine eingerieben und dann mühsam abgepolkt werden. Vielleicht hatte Siegfried in Wahrheit auch so in frischem Kiefernbalsam gebadet?
Im Winter mußte ich die fünftausend Bäume auf die Sommersaison vorbereiten. Mit der Axt und einem Bügelschaber glättete ich die schrundige, am Stammfuß bis zu dreißig Zentimeter dicke Borke. Erst dann konnte ich im Sommer mit der einen Zentimeter langen, U-förmigen Klinge des Harzhobels die Splintschicht des Kiefernstamms erreichen. Um das zu schaffen, durfte die Borke auf der Arbeitslachte nur zwei bis drei Millimeter dick sein. Haute ich wie in den ersten Wintern den Bügelschaber stellenweise bis zur empfindlichen Bastschicht über dem Splintholz durch, bildeten sich im Frühjahr scheußlich schmierige Harzgallen. Die Hobelklinge rutschte aus. Das Harz lief aus jener Rutschbahn auf den Stamm und verhärtete ihn noch zusätzlich. Es war zum Heulen. Der Zeitpunkt, an dem die meisten Neulinge den Wald wieder verließen.
Ließ ich aber zur Sicherheit im Winter zuviel Rinde stehen, rutschte die Klinge auf der brüchigen Borke auch weg oder erreichte das Splintholz nur mit der Spitze. Es bildete sich zwar eine U-förmige Ablaufrinne, das Harz versickerte aber in der Borke und verhärtete später die restlichen Arbeitsflächen. Das provozierte ebenfalls häßliche Harzgallen und fast glashartes Holz.
Das Glätten der Borke, Röten genannt, war eine schwere, schlecht bezahlte und doch filigran auszuführende Arbeit. Die Fluktuation in der Harzung war hoch. Dreißig Prozent Abgang etwa, jährlich. Nach drei Jahren gehörte ich schon zu den »alten Hasen«.
Mitte April 1990 waren wir Harzer rund um die Stadt Brandenburg noch guter Dinge. Auf meiner ersten Harzung wuchsen schon wieder kleine, hüfthohe Kiefern. Die Füchsin hatte ihren Bau wieder bezogen. Der Ameisenhaufen mit den winzigen Harzbröckchen zwischen den Kiefernnadeln war wieder aufgebaut. Die Kiefer mit dem Seeadlerhorst war stehengeblieben. Sie brüteten noch. Ich sah nur den Schwanz der Majestät über den Nestrand ragen, während der scheue Partner hoch über uns kreiste, den Bodenfeind anzeigend.
»Kennt ihr mich denn nicht mehr?«
Ende Mai 1990, nach vier Rissen, also vier Wochen, kam der Harzmeister zu meiner Pelzeharzung raus. Er sagte mir mit ernster Miene, was er den anderen auch schon gesagt hatte – die Harzung wurde wegen der anstehenden Währungsunion eingestellt: »Eine Tonne Kolophonium und andere Harzspaltprodukte aus Sibirien, dem Balkan, den Subtropen und Tropen importiert kostet 250,– DM. Die Union haben wir ab dem ersten Juli. Die Produktion von Harz bei uns kostet pro Tonne 1000,– DM. Haben wir ausgerechnet.«
Mir wurden die Knie weich. Ich setzte mich an den Fuß jenes Stammes, an dem ich meinen letzten Riß tat. Als letztes sollten wir die Harztöpfe ausleeren und mitsamt den eisernen Topfhaltern aus dem Wald schaffen. Wir würden beim jeweiligen Förster für Wegebau, Holzeinschlag und Kulturpflege eingesetzt. Motorsägen, Arbeitsschutzkleidung und anderes Werkzeug sollten wir selbst kaufen und pflegen. Wie angeblich in der Bundesrepublik so üblich. Ich ging auf die fünfzig zu und es wurde von Entlassungen gemunkelt. Der Harvestar, eine schwedische Baumfällmaschine, würde kommen.
Ganz ungelegen kam mir die Wende im Wald nicht. In den vergangenen beiden Jahren hatten sich die Hexenschüsse vermehrt. Irgendwann müßte ich sowieso raus. In der Zeitung entdeckte ich ein Nachtwächterangebot. Endlich Zeit zum Schreiben. Tagebuchfragmente auf der »Erika« abtippen und vervollständigen.
Nach einem Jahr war der Großhandelsbetrieb abgewickelt. Dubiose Wachschützer mit Waffenscheinen und Schäferhunden bissen uns vier Nachtwächter, im normalen Schichtbetrieb arbeitend, im wahrsten Sinn des Wortes raus. Wilder Osten.
Etwas von meinen Tagebüchern aus jenem seltsamen, kaum bekannten Beruf habe ich in jenen Nächten im Pförtnerhäuschen immerhin fertigbekommen. Im sogenannten Schreibtischfach schliefen meine direkt im Wald, im Rhythmus der Arbeit und im Laufen entstandenen Gedichte bis heute. Wie auch meine Tagebuchaufzeichnungen. Die Notizen dazu machte ich mir mit einem Bleistiftstummel auf Zetteln aus meiner Jackentasche. Im Wald geschah eigentlich immer irgend etwas Aufschreibenswertes. Ich war dort auch nie wirklich allein. Wie an diesem für mich merkwürdigen Tag, ein halbes Jahr vor der politischen Wende Ostdeutschlands, die auch die Welt veränderte. Und den Wald.
Da ich alles noch so erinnerte, als würde ich es jetzt erleben, habe ich es auch so auf- und fertiggeschrieben.
(…)SINN UND FORM 5/2020, S. 597-613, hier S. 597-602
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