Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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Kabiri, Nahid
- 4/2016 | Die Einsamkeit der Straße
Kabus, Sylvia
- 1/1991 | Das allmähliche Heranreifen einer Geschichte im Beisein eines Generals
Kadare, Ismail
Kadivar, Pedro
- 2/2013 | Landschaften des Exils
- 3/2016 | Orte der Muttersprache. Aus dem Kleinen Buch der Migrationen
Kaeser, Eduard
Kafka, Franz
Kähler, Hermann
- 1-2/1965 | Max Frischs »Gantenbein«-Roman
- 3-4/1965 | Bobrowskis Roman
- 5/1965 | Hildesheimers Flucht nach Tynset
- 1/1966 | »Die Aula« - eine Laudatio auf die DDR
- 2/1966 | Professor Kunischs geistige Ordnung
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Wallraff in westdeutschen Industriebetrieben
- 4/1967 | Pongs Contra Dialektik
- 5/1967 | »Aber unter den Menschen ist nichts gewaltiger als die Sehnsucht«. Zum Bild der Sowjetunion in der Lyrik Georg Maurers
- 3/1968 | Richters Zeugnis
- 1/1969 | Christa Wolfs Elegie
- 6/1969 | Gespräch mit Helmut Sakowski
- 1/1970 | Armin Stolpers »Zeitgenossen«
- 2/1970 | Renaissance und Volkstheater. Zu »Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters« von Robert Weimann
- 3/1971 | »Ästhetik und Gewalt« - Protest als Happening?
- 2/1972 | Überlegungen zu Komödien von Peter Hacks
- 3/1972 | Mit Kant in Stockholm
- 4/1972 | Impressionen
- 6/1972 | Feuer aus Ochsenaugen
- 5/1974 | Georg Maurers »Erfahrene Welt«
- 2/1975 | Neue Gedanken zur Literaturtheorie
- 3/1975 | Erfundene Geschichte eines Erfinders. Fritz Rudolf Fries: Das Luftschiff / Hinstorff Verlag Rostock 1974
- 1/1976 | Die Chronik einer Arbeiterfamilie
- 2/1976 | Weltentwurf oder Milieu - Die Stücke Heiner Müllers
- 1/1978 | Die Wiederentdeckung Moreaus
- 1/1979 | Leben Brechts in Wort und Bild
- 4/1979 | Ein Lesebuch über einen Kritiker
- 5/1979 | Bohrers schreckliche Ästhetik
- 3/1980 | Achill und die Schildkröte
- 5/1980 | Treffpunkte
- 4/1981 | Die Tochter und das Tabu. Heinrich Ehlers: »Hanna Mahler - Aufzeichnungen einer jungen Frau«. Hinstorff Verlag Rostock, 1980
- 1/1983 | Erzähltes Rätsel. Wieland Förster, »Die versiegelte Tür«, Prosa, Union Verlag Berlin, 1982
- 1/1984 | Wiedersprüchliches zu »Amanda«. Irmtraud Morgner: »Amanda, ein Hexenroman« Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1983
- 2/1986 | Unordentliche Bemerkungen zu einem nicht abseitigen Thema
- 6/1987 | Der Dichter und der Psychologe
- 1/1990 | Das kritische erste Weimarer Jahrzehnt
Kahn, Hartmut
- 3/1982 | Hugo Huppert - Poet und Interpret. Zu den Memoiren Hugo Hupperts, erschienen 1976 bis 1980 in 3 Bänden beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig
- 4/1983 | Vom guten Vorsatz oder »Wie war die Lage?«. Benito Wogatzki: »Das Narrenfell«, Roman. Verlag Neues Leben, Berlin 1982
Kailas, Uuno
- 1/1951 | Finnische Lyrik. Die Märtyrer
Kais, Leila
Kaiser, Georg
- 3/1949 | Gedichte
- 6/1949 | Zweimal Amphitryon. Fünfter Akt
- 2/1959 | Nachgelassene Gedichte
- 5-6/1960 | Nach einem verlorenen Krieg
- 4/1961 | Drei Skizzen
Kaiser, Gerhard
- 1/2010 | Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft. Zu Daniel Kehlmanns Roman »Die Vermessung der Welt«
Kakabadse, Nodar
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
Kalász, Márton
- 1/1969 | Gelegenheitsgedicht gegen Faschismus
Kalka, Joachim
- 1/2011 | »Das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische«. Zur Mythologie der geheimen Gesellschaften, S. 43 Leseprobe
Kalka, Joachim
»Das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische«. Zur Mythologie der geheimen Gesellschaften
Was hat es auf sich mit den geheimen Gesellschaften? Der vielleicht erste Historiker, der sich sine ira et studio mit ironisch-professioneller Trockenheit dieses Themas annahm, J. M. Roberts aus Oxford in »The Mythology of the Secret Societies« (1972), schließt mit dem Fazit: »Obwohl zwischen 1750 und 1830 in Europa geheime Gesellschaften in großer Zahl existierten und versuchten, die politischen Ereignisse zu beeinflussen, lag ihre hauptsächliche Bedeutung in dem, was die Leute von ihnen glaubten. Dies war stets wichtiger als das, was diese Sozietäten tatsächlich taten, und ihre Mitgliederzahl und politische Wirksamkeit standen in keinem Verhältnis zur Macht ihres Mythos. Hierin liegt ihre wahre Bedeutung, und das macht sie auch für den Historiker interessant; was man von ihnen glaubte, war ein wichtiger Teil dessen, was die Reaktion der Menschen auf große Ereignisse bestimmte.« Der Zeitraum, den Roberts für seine Untersuchung gewählt hat, 1750 bis 1830, entspricht ziemlich genau der Lebenszeit Goethes; das Thema gehört in die Epoche, die wir nach Goethe zu benennen gewohnt sind. Wenn hier nun noch einmal die Frage gestellt wird: Was hat, was hatte es auf sich mit den geheimen Gesellschaften? dann in dem eben formulierten Sinne. Nicht ihre verzwickte, konfuse und tragikomische Geschichte, die nur angedeutet werden soll, ist hier mein Gegenstand, sondern das, was man von ihnen glaubte – und was sie selbst von sich glaubten. Das ist ihre eigentliche Geschichte. Die äußere des Ordenswesens wird nur kurz gestreift; jedermann kann sich mühelos über sie informieren. Im übrigen versuche ich, etwas vom Fluidum der Geheimgesellschaften, der imaginierten Geheimgesellschaften spürbar zu machen. Nähern wir uns dem Thema mit zwei ganz unterschiedlichen Zitaten aus der deutschen Literatur.
Eines von deren großen Dramen, wohl eines der größten, beginnt auf eine seltsam irrlichternde Weise. In einer der erhaltenen Versionen des Stücks, das Fragment geblieben ist, zu Lebzeiten des dreiundzwanzigjährig verstorbenen Autors nie veröffentlicht wurde und in der Tat erst ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod zur Uraufführung kam, lautet der Anfang folgendermaßen (nach der einleitenden Regieanweisung, daß auf der Szene zwei Männer Stecken im Gebüsch schneiden):
»ANDRES (pfeift und singt).
Da ist die schöne Jägerei.
Schießen steht jedem Frei
Da möcht‹ ich Jäger sein,
Da möchte ich hin
Läuft dort a Has vorbei
Frägt mich ob ich Jäger sei.
Jäger bin ich auch schon gewesen,
Schießen kann ich aber nit.«
Der andere spricht mit einem Mal: »Ja Andres, das ist er, der Platz ist verflucht. Siehst du den leichten Streif, da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen da rollt Abends der Kopf, es hob‹ ihn einmal einer auf, er meint es sei ein Igel, 3 Tage und 2 Nächte, [unlesbar] Zeichen, und er war tot. (Leise) Das waren die Freimaurer, ich hab‹ es haus. – ANDRES. Es wird finster, fast macht Ihr ein Angst. (er singt)« – Der andere kommt her. »(Faßt ihn an.) Hörst du's Andres? Hörst du's es geht! Neben uns, unter uns. Fort, die Erd schwankt unter unsern Sohln! Die Freimaurer! Wie sie wühlen! (Er reißt ihn mit sich.)"
So beginnt in der sogenannten zweiten Entwurfsstufe das Woyzeck-Fragment, hauptsächlich 1835-36 entstanden, spät herausgegeben und von den Lesern spät entdeckt, dann allerdings von epochaler Wirkung, nicht zuletzt durch Alban Bergs Oper. Als Elias Canetti zum ersten Mal auf dieses Stück stößt, liest er es eine ganze Nacht lang immer und immer wieder. »Es war, als hätte der Blitz in mich eingeschlagen… Ich habe nicht glauben wollen, daß es so etwas gibt«, schreibt er im dritten Band seiner Autobiographie »Das Augenspiel«. Die Schicksale des armen, gepeinigten, mörderischen Titelhelden schildert Georg Büchner in der Nachfolge zeitgenössischer Berichte über ähnliche Verbrechen; er ist durchaus fasziniert von diesen Fällen, so, wie er den Gerichtsdiener im »Woyzeck« sagen läßt: »Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann wir haben schon lange so kein gehabt.« Büchner wollte, soweit wir es aus dem fragmentarischen Text erkennen können, die kuriosen Phantasien Woyzecks über die Macht der Freimaurer nur in wenigen spukhaft eindringlichen Sätzen andeuten. Schlägt man aber im Aktenmaterial des Woyzeck-Prozesses nach, findet man eine kleine Blütenlese der abergläubischen Ideen, die sich an die Freimaurerei hefteten. So liest man in dem zweiten Gutachten, das der Arzt Dr. Johann Christian August Clarus 1821 über den geständigen Woyzeck lieferte: »Schon auf seinen Wanderungen habe er [Woyzeck] von reisenden Handwerksburschen allerhand nachteilige Gerüchte über die Freimaurer gehört, unter anderm, daß sie durch heimliche Künste, zu denen sie nichts als eine Nadel brauchten, einen Menschen ums Leben bringen könnten.« Solcher Aberglaube war tief verwurzelt, man kann dafür in den einschlägigen volkskundlichen Werken unzählige Belege finden. Beispielsweise steht in Leander Petzoldts Sammlung »Deutsche Volkssagen« (München 1970) ein Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Rügen aufgezeichneter Text: »Ein verheirateter Mann kann nur dann Mitglied der Genossenschaft [der Loge] werden, wenn seine Frau ihre Einwilligung dazu gibt. Einstmals wollte eine Frau nicht dareinwilligen, daß ihr Mann Freimaurer würde. Da befahlen ihr die Freimaurer, sie solle sich die Bilder in dem roten Saale ansehen. Sie tat es, und fand auch das Bild ihres Mannes. Darauf sagte man ihr, sie solle ihren Mann mit einer Stecknadel durchstechen. Sie tat es: als sie aber nach Hause kam, fand sie ihren Mann tot im Lehnstuhl sitzend, seine Schläfe mit einem Nagel durchbohrt.«
Das ist das Freimaurerische – das geheime Töten, die hieroglyphischen Figuren auf dem Waldboden, das Unterirdische, all das, was so alptraumhaft unheimlich ist und doch suggeriert, so könne man die Welt begreifen, ihre eigentliche mysteriöse Ordnung erkennen und schließlich sagen: »Ich hab es haus.« Dieses »Ich hab es haus« sollte man sich merken als eine der Grundgebärden der Vorstellung von geheimen Gesellschaften, die den Weltlauf regieren. Dieser Satz will besagen: Ich habe die Welt durchschaut, ich kenne ihre geheime Mechanik. Nun ein weiter Sprung: In seinem 1971 erschienenen »bürgerlichen Roman« (Untertitel) »Tadellöser & Wolff« schildert Walter Kempowski neben so vielen anderen mit mikrologischer Präzision erfaßten Lebensdetails einer in der Tat in jedem Sinne bürgerlichen Familie im Dritten Reich eine Einzelheit aus dem Jahre 1939.
»Beim Abendessen war mein Vater mürrisch.
Er klingelte im Teeglas herum.
'Wo kommst du jetzt her?'
Seine goldene Brille funkelte. […]
'Du hast auf die Minute pünktlich zu sein!'
Immer wieder sei hinter mir hertelefoniert worden, ab sofort würden andere Saiten aufgezogen.
Da gäbe es Wind von vorn.
Meinen Berichten lauschte er nur obenhin.
'Jaja, so isses woll… Wackel nicht so mit dem Stuhl.'
Sie hatten ihn nicht genommen.
Er hatte den blauen Umschlag geöffnet, der schon seit Jahren im Schreibtisch lag, sich am Samstag auf sein Fahrrad geschwungen […] und war zum Wehrbezirkskommando gefahren.
Right or wrong – my country.
Aber, sie hatten ihn nicht genommen.
'Was, Freimaurer?'
Mit Rot durchgestrichen: Freimaurer. Aus.
'Das wird Vati nie verwinden‹, sagte meine Mutter. Im Stahlhelm gewesen und schon in der Systemzeit immer alle Übungen mitgemacht, den ganzen Weltkrieg, Ypern, Somme, Kemmel […], immer in der vordersten Linie.
Übrigens ohne je verwundet worden zu sein, nicht eine Schramme. (Wenn man von der Haut absehe.)
Die Loge sei doch ganz harmlos gewesen, wie so ein Verein. Da hätten sie immerlos gesoffen, gegenseitige Beziehungen, alles Kaufleute.
'Na, wer weiß, wozu es gut ist.'"
Die Worte der Mutter sind prophetisch. Später wird Vati trotz seiner Logenzugehörigkeit doch noch eingezogen, rückt in der militärischen Hierarchie langsam ein wenig nach oben und wird kurz vor der Kapitulation ein Opfer des Krieges.
Wenn man diese beiden durch ziemlich genau hundertvierzig Jahre getrennten Zitate nimmt, das Unheimliche bei Büchner mit seinem Hintergrund aus Wahnsinn und Volksaberglauben und das wegwerfend Beiläufige des spätbürgerlichen Alltags, zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Begriff des »Freimaurerischen« im deutschen Volk. Zu ihr gehört, daß hinter der nüchternen Trivialisierung im Hause Kempowski ("immerlos gesoffen«) die nationalsozialistische Verschwörungsphantasie auftaucht: Freimaurer werden nicht »genommen«, sie sind eo ipso national unzuverlässig. Darin steckt eine gewisse stolze Wahrheit.
Die Literatur hat das Motiv der mächtigen Geheimgesellschaft, welche die Welt verändern möchte und jene Menschen, auf die sie ein Auge geworfen hat, je nachdem gütig lenkt oder bedroht und verfolgt, gerne verwendet; schon Reinhold Tautes frühe und dilettantische Bibliographie der Ordens- und Bundesromane von 1907 nennt an die vierhundertfünfzig Titel. Hier müssen die Hinweise auf wenige wichtige Werke genügen: Karl Philipp Moritz‹ »Andreas Hartknopf« (1786-90), Meyerns »Dya-na-Sore oder Die Wanderer« (1787-89), Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1795-96) mit der geheimnisvoll-ambiguosen Turmgesellschaft (und dann »Wilhelm Meisters Wanderjahre« mit der gleichsam abgeschwächten Form der »Pädagogischen Provinz«), Jean Pauls »Unsichtbare Loge« (1793) und Gutzkows »Die Ritter vom Geiste« (1850-57). Mancher Leser wird hier einige der Lieblingsbücher Arno Schmidts erkennen; man könnte noch die von ihm geliebte »Insel Felsenburg« von Schnabel (1731-43) hinzunehmen. Der Grund dürfte wohl sein, daß in den ausführlichen Schilderungen und weiträumigen Landschaften dieser Romane oft eine ungewöhnlich konzentrierte Welthaltigkeit möglich wird: durch das alles rätselhaft verknüpfende Bundesmotiv. Es ist hier nicht der Ort, weiter in die verzweigte Geschichte des Geheimbundmotivs in der Literatur vorzudringen – ich erwähne nur zwei Bücher, die sich seiner auf ganz verschiedene Weise bedienen: André Gides »Verliese des Vatikans«, wo das Gerücht, der Papst werde von den Freimaurern in der Engelsburg gefangengehalten, während ein Doppelgänger die Amtsgeschäfte versieht, eine zentrale Rolle spielt, und die merkwürdige kleine poetische Utopie »Die Gesellschaft vom Dachboden« von Ernst Kreuder, eines der wichtigsten Bücher der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland. Daß das Motiv auch der postmodernen Literatur nicht fernliegt, zeigt unter anderem Pynchons »Versteigerung von Nr. 49«.
Eine knappe Skizze der frühen Freimaurerei in Deutschland sähe etwa so aus: Ausgehend von England, dem Mutterland der Maurerei, die sich im siebzehnten Jahrhundert in Anlehnung an ältere Zunft- und Bauhüttensymbolik herausgebildet hatte, entstanden in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts die ersten Logen in den deutschen Staaten. 1738 wurde in Braunschweig der preußische Kronprinz, der spätere König Friedrich II., durch eine Deputation aus Hamburg initiiert. Rasch konnte die Maurerei sich ausbreiten; sie gefiel einerseits dem reformfreudigen Adel und dem fortschrittlichen Bürgertum, andererseits allen möglichen wunderlüsternen und auf Offenbarungen hoffenden Köpfen. Hier vermischten sich auf lokal und regional ganz unterschiedliche Weise die Bedürfnisse nach einer freieren Geselligkeit, als sie der Hof bot, nach Information und Diskussion (nahebei liegt die Geschichte der Lesegesellschaften), nach einem politischen Aufmarschterrain der radikalen Aufklärung, die sich eine Öffentlichkeit erst erschaffen mußte, und nach Befriedigung eines diffusen Interesses an Geheimlehren, alten Mysterien, vielleicht auch nach einem pittoresk-erhabenen Ritual, wie es zumindest der Protestantismus nicht mehr bereithielt. Bald erfolgte eine Radikalisierung: 1776 wurde in Ingolstadt, dessen katholische Universität ein Zentrum aufgeklärter Gelehrsamkeit bildete – nicht umsonst läßt Mary Shelley Dr. Frankenstein dort studieren –, unter Führung des Juristen Weishaupt der Illuminatenbund gegründet, mit dem Vorsatz einer planmäßigen Besetzung wichtiger Schaltstellen in Politik und Verwaltung und damit einer gründlichen Reform der Gesellschaft. Dies zu einer Zeit, da die Formierung von »Parteyen« für den absolutistischen Staat Anathema war.
In den letzten Jahrzehnten wurde das Bild der Freimaurerei und insbesondere auch der Illuminatenbewegung, dem zufolge die vom Orden verkündeten Präzepte und die intern verschickten langen Listen der Adepten oft überbewertet wurden, durch eine Fülle von Einzelstudien präzisiert, von denen ich nur die auch als Einführung in die Geschichte der Illuminaten geeignete schmale Schrift von Monika Neugebauer-Wölk nennen möchte: »Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten« (Wetzlar 1993). Die Entwicklung der europäischen Freimaurerei im Spannungsfeld zwischen irrational-esoterischen und kosmopolitisch-aufklärerischen Ideen ist außerordentlich kompliziert, die Forschung ist noch im Gange. Eine Momentaufnahme auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen gab zuerst Ludwig Hammermayers Studie über den Ordenskonvent zu Wilhelmsbad im Jahre 1782. Die Freimaurerei vereinte oft die besten und berühmtesten Köpfe einer Stadt. Der Bildhauer Houdon schuf eine Serie von Freimaurerporträts (Lafayette, Laplace, Lalande, Voltaire, Washington), meist wohl im Auftrag der berühmten Loge des Neuf Sœurs in Paris, deren Mitglied er war; diese Loge war auf Anregung von Helvétius gegründet worden, ihr erster Stuhlmeister war der Astronom Lalande, Mitglieder waren neben den Genannten u. a. Condorcet, d'Alembert, Sieyès, Greuze, Boucher und Gluck. Die Liste zeigt die breite gesellschaftliche Akzeptanz der Freimaurerei. Houdons Marmorporträt von Cagliostro aber markiert die Achillesferse dieses nobel-aufgeklärten Freimaurertums: Schwärmerei und Scharlatanerie. Cagliostro war ein Abenteurer und ist mit seiner erfolgreichen (gelegentlich erotisch aufgeladenen) »Ägyptischen Maurerei« doch Teil der Geschichte des Logenwesens. Er zog durch Europa, immer auf der Flucht, immer eine Stadt, wo ihm der Boden zu heiß wurde, hinter sich lassend, um in der nächsten wieder eine ägyptische Loge zu gründen, die Armen umsonst mit seinen Elixieren zu heilen, die Geister der Toten zu beschwören und die Zukunft zu enthüllen, die Höfe und die Geheimgesellschaften zu faszinieren und seinen Zwecken dienstbar zu machen. Ahnungslos geriet er schließlich in den Strudel einer verhängnisvollen Staatsaffäre des ancien régime – er wurde, dieses eine Mal wohl tatsächlich ohne alle Schuld, in die Pariser Halsbandaffäre verwickelt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Skandalintrige haben Goethe und Schiller im »Großcophta« und im »Geisterseher« Cagliostro-Figuren eingeführt. Goethe schrieb in den »Tag- und Jahresheften« (1789): »Schon im Jahre 1785 hatte die Halsbandgeschichte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittlichen Stadt-, Hof- und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulichsten Folgen gespensterhaft, deren Erscheinung ich geraume Zeit nicht loswerden konnte; wobei ich mich so seltsam benahm, daß Freunde, unter denen ich mich eben auf dem Lande aufhielt, als die erste Nachricht hievon zu uns gelangte, mir nur spät, als die Revolution längst ausgebrochen war, gestanden, daß ich ihnen damals wie wahnsinnig vorgekommen sei.«
Was bot, was lehrte Cagliostro in Überbietung der klassischen Maurerei, doch diese immer hofierend? Prophezeiungen, Schau entfernter Vorgänge (vor allem mit Hilfe eines wahrsagenden Kindes), Belehrungen über die Geisterwelt mit ihren Schutzgeistern und feindlichen Mächten, Beschwörungsrituale, Hinweise auf vergrabene magische Schätze, auf die Kraft des Gebets, die Wunder der Apostel, Andeutungen über okkulte Arzneien, die eine Lebensspanne von mehreren Jahrhunderten ermöglichten, Zubereitung stärkender Elixiere, Versuche, durch suggestive Wiederholung Träume zu induzieren, Vorlesungen über Dämonologie und eine Rhetorik, die zu mahnen, schmeicheln, drohen, rühren verstand. Alle diese Künste gehörten zum Angebot einer geheimen Gesellschaft, »welche diejenigen zu höherer Glückseligkeit führe, die mit reinem Herzen nach Wahrheit strebten, und voll Liebe zum allgemeinen Besten, ihre Kenntnisse zu erweitern suchten. Uns gefiel die Idee...« So schrieb Elisa von der Recke, eine junge kurländische Aristokratin, die Cagliostros Charme verfiel, sich dann aber von ihm löste und ihre Ablehnung schließlich in der bemerkenswerten Form einer von ihr selbst kritisch kommentierten Ausgabe ihrer schwärmerischen Aufzeichnungen als Cagliostro-Adeptin publizierte.
Hier möchte ich ein besonders interessantes Rädchen der konspirationstheoretischen Maschinerie demonstrieren: die Austauschbarkeit der Gegensätze (man denke an die Ineinssetzung von Kommunismus und Kapitalismus im Judentum durch die Nazis). Als Elisa mißtrauisch wurde, richtete sich dieses Mißtrauen zunächst nicht gegen Cagliostros »magische Experimente« an sich – sie befürchtete vielmehr, er gehe den Weg der schwarzen Magie. Schließlich jedoch gelangte sie zu der Überzeugung, daß er ein Schwindler war. Kein gewöhnlicher Betrüger, sondern ein Abgesandter der Jesuiten. Offenbar schrak sie vor dem letzten Schritt zurück: der Einsicht, daß all dies ganz und gar nichtig sein könnte. Ist der Wundermann schon ein Scharlatan, so muß er doch ein Scharlatan in hohen Diensten bleiben, eine Figur in einem mysteriösen europäischen Schachspiel. Anscheinend bot die Einordnung von Schwindlern à la Cagliostro in die Apparatur einer Jesuitenverschwörung für die enttäuschte Wunderhoffnung eine Art defensive Rückzugsposition: Wenigstens die Aura der Verschwörung blieb, wenigstens die hochpolitische Bedeutsamkeit des undurchsichtigen Abgesandten arkaner Mächte. Die Jesuitentheorie scheint so etwas wie eine rettende Falle für manche Skeptiker gewesen zu sein, die zwar enttäuscht von dem diskreditierten Wundermann abließen, aber es nicht über sich brachten, in ihm lediglich einen virtuosen Impresario seiner selbst zu sehen. Der Gedanke, daß man von dem Agenten einer weitverzweigten, mächtigen und erschreckend intelligenten Konspiration genarrt wurde, mag erträglicher gewesen sein als das Gefühl, einem phantasiebegabten, auf eigene Faust operierenden Glücksritter auf den Leim gegangen zu sein. Auch der Leipziger »Kaffeewirth« und Geisterbeschwörer Schrepfer galt als Emissär der Jesuiten. Der katholische Prediger Johann August Starck (für viele Zeitgenossen ein typischer jesuitischer Intrigant) schrieb ihm einen hieroglyphischen Brief: »nach dem Wenigen, was mir, mein Bruder, von Ihnen bekannt geworden ist, müßte mein Geist sehr trügen, und die Siegel, die unser Orden seinen Geweihten aufgedrückt, verwischt sein: oder ich muß in Ihnen einen Mann finden, der eines Ursprungs mit mir ist und mit mir zu einem Zwecke geht.« Gerüchte suggerierten eine systematische katholische Unterwanderung der Freimauererei (mit dem langfristigen Ziel einer Gegenreformation vor allem in den protestantischen Staaten Deutschlands). Die Neigung, überall Kryptokatholizismus und jesuitische Intrigen zu entdecken, gehört zu einem Repertoire von Verschwörungsphantasien, aus dem sich noch Wilhelm Busch in »Pater Filucius« (1872) bedient. Um 1800 gab es immerhin ein, zwei Gründe für eine solche Konstruktion. Die 1688 durch die glorious revolution, welche Wilhelm von Oranien auf den Thron hob, aus England (und Schottland, wo die Dynastie ihren Ursprung hatte) vertriebenen Stuarts saßen noch ein Jahrhundert nach der Flucht Jakobs II. in Rom und hatten dem Anspruch auf die britische Krone nie entsagt. Immer wieder, zuletzt 1749 – das ist der Gegenstand des großen ersten Romans von Walter Scott, »Waverley« –, hatten sie versucht, sie durch Aufstände zurückzuerobern. Da im Antagonismus der katholischen Stuarts und des anglikanischen England ein letztes Echo der großen Religionskriege furchterregend nachklang, wurde der Jesuitenorden schließlich auf Grund gewisser Indizien einer Verschwörung bezichtigt, die der Rekatholisierung des protestantischen Europa und der Restauration der Stuarts diene, mit Hilfe der jakobitisch gefärbten Freimaurerei des »schottischen Ritus«. Die Virulenz der antijesuitischen Agitation wird daraus ersichtlich, daß sich Papst Clemens XIV. 1773 gezwungen sah, den Orden aufzuheben, der erst 1813 wiederhergestellt wurde. Die Angst vor den Jesuiten führte paradoxerweise zu erhöhtem Mißtrauen gegen die mehrheitlich aufklärerisch und oft auch antiklerikal gesonnenen Freimaurer.
[…]
SINN UND FORM 1/2011, S. 93-111
- 1/2013 | Die bösen Ärzte. Eine Montage, S. 43 Leseprobe
Kalka, Joachim
Die bösen Ärzte Eine Montage
Wissen Sie nicht, was die erste Pflicht des Mediziners ist?
Die erste Pflicht ist es, um Verzeihung zu bitten.
Ingmar Bergman, »Wilde Erdbeeren«Auch damals ihr, ein junger Mann,
Ihr gingt in jedes Krankenhaus,
Gar manche Leiche trug man fort,
Ihr aber kamt gesund heraus.
Goethe, »Faust I, Vor dem Tor«Von keinem anderen Berufsstand erwarten wir, wenn es darauf ankommt, so viel wie von den Ärzten. Unsere Hoffnungen heften sich, sind wir einmal aus der bewußtlosen Routine unseres unauffällig funktionierenden Organismus herausgerissen und stehen – liegen! – krank oder verwundet da, flehend und fordernd an die ärztliche Kunst. Da der Arzt diese Hoffnungen oft nur begrenzt erfüllen kann, wird er uns gelegentlich zur verhaßten, in schwarzen Farben gemalten Figur. Die Vernunft sagt uns, daß es Krisen und Katastrophen des Körpers gibt, bei denen ärztliche Kunst nichts oder nur sehr wenig vermag. Gut, aber sagt sie uns nicht auch, daß die Medizingeschichte selbst beweist, wie viele Pfuscher, Ignoranten und Sadisten es unter den Ärzten gibt? Das gilt für jeden Beruf, sagt die Vernunft, deren Stimme, wie Freud bemerkt hat, leise ist. Wir aber sehen, sind wir angstvoll mißgelaunt, lieber »den Arzt« schlechthin als höchst unzuverlässige Gestalt. Dies geschieht in wechselnden Graden mit allen Berufen, von der Witzblattkomik des Installateurs, der für den Wasserrohrbruch immer erst nächste Woche Zeit hat, bis zur schneidenden Justizsatire bei Daumier oder Karl Kraus. Kein Berufsstand aber scheint das Mißtrauen so anzuziehen wie die Ärzte. Eine Wurzel dieses Mißtrauens liegt in der Neigung der Patienten, die Möglichkeiten des Arztes zu überschätzen und dann enttäuscht zu sein.
Lange blieb der Medizin nicht viel anderes übrig, als die Unzulänglichkeit und Kärglichkeit ihrer Mittel durch Spekulation und Pittoreskes zu ergänzen – mit Begründungen, die (wie der heute noch den Nashörnern verhängnisvolle Analogieglaube) Hoffnungen auf eine geheime Ordnung der Welt zum Ausdruck brachten. Eine barock ausziselierte Vignette derartigen Aberglaubens entsteht, als der Held in Herzmanovsky-Orlandos »Gaulschreck im Rosennetz« (1928) bei einer hexenartigen Hebamme einen Liebestrank bestellt. Die Alte setzt ihm umständlich die Schwierigkeit des Unternehmens auseinander: »auch müsse man den Koth einer unschuldigen, weißen Taube dazutun. Der verfaulte Zahn einer Kindsmörderin, sowie ein Loth getrocknetes Krokodilshirn seien als Beigabe sehr zu empfehlen, letzteres wäre aber selten, – ob er vielleicht wo eins wüßte? Früher hätten die ‚Venedigermanderln’ einen schwunghaften Handel damit getrieben, aber heute … die verfluchte neiche Apothekerordnung …« So führt ein Strang der Medizingeschichte direkt zurück in die Hexenküche; ein anderer in die Jahrmarktsbude. Auch hinter dem marktschreierischen Scharlatanswesen steckt die Suggestion des Dämonischen. Noch eine Schausammlung wie die des Josephinums in Wien mit ihren Wachspräparaten scheint den Besucher in eine Sphäre zurückzuversetzen, wo die ärztliche Wissenschaft in den Zauberkreis des Gruselkabinetts gerät. Bis in die Nachkriegszeit verhießen Jahrmarktszelte Einblicke in die Geheimnisse des menschlichen Leibes – eine schäbig-mysteriöse Inszenierung, wo sich für den halbwüchsigen Besucher die Angst vor Krankheit und Tod mit der sexuellen Ignoranz legierte, wo die Innereien des Menschen ausgebreitet und nebenbei die Stadien der Syphilis erläutert wurden. Werfen wir einen Blick in jene merkwürdige Kuriositätenbude, die ("Zündet der Ägypter nicht schon die Flammen rings um das Zelt an?«) in einer Erzählung von Gustav Meyrink aufragt. Sie liefert Ernst Bloch im Abschnitt »Südsee in Jahrmarkt und Zirkus« des »Prinzip Hoffnung« einen Kardinalbeleg für dämonischen Exotismus in der Jahrmarktswelt. Der Ursprung der monströsen Ausstellung in Meyrinks »Das Wachsfigurenkabinett« (1918) ist in den Aktivitäten eines geheimnisvoll-skrupellosen Mediziners zu suchen, des Persers Mohammed Darascheh-Koh. Dieser diabolische Arzt, der in einer anderen Geschichte Körperteile seines angeblich verstorbenen Feindes als dekorative – auf geheimnisvolle Weise lebendige – Gebrauchsgegenstände in seiner Wohnung angebracht hat ("Das Präparat«), gehört zu einer Reihe von unheimlichen Medizinern, denen man in Meyrinks Sammlung »Des deutschen Spießers Wunderhorn«, dieser Enzyklopädie des Décadence-Horrors, begegnen kann: Dr. Cinderella, Dr. Kassekanari … Es ist interessant, daß Meyrink, für den die aufgeblasene Wichtigtuerei der medizinischen Wissenschaft zu den bevorzugten Gegenständen seiner satirischen Konstruktionen gehört (mit Gestalten wie »Sanitätsrat Mauldrescher«), andererseits dem Mediziner diabolische, schrankenlose Macht attestiert. Hier verspottet er ihn als anmaßenden Ignoranten, zehn Seiten später zeigt er ihn uns flüsternd als grausamen Übermenschen. Meyrink hat in seinen satirischen Erzählungen des öfteren den Arzt als Inkarnation der »aufgeklärten« Stupidität abgebildet ("Der heiße Soldat«, »Blamol«, »Die schwarze Kugel« usw.), doch das Revers dieser Verachtung ist die abergläubische Scheu, die sich in Schreckensgeschichten wie »Die Pflanzen des Dr. Cinderella« oder »Der Albino« ausprägt. So haben wir bei ein und demselben Autor nebeneinander den Arzt als albernen Ignoranten und allwissenden Dämon.
Das gehört auch zusammen. Der fast magische Hochschätzung der medizinischen Möglichkeiten, die den Patienten immer wieder Unmögliches vom Arzt erhoffen (oder befürchten) läßt, entspricht eine sardonische Verspottung der Medizin, mit der man diese entgelten läßt, daß sie den Menschen eben doch nicht unsterblich machen und häufig nicht einmal die Krankheiten (seine Mängel als Naturwesen) beheben kann. Die Satire auf die Ärzte, die vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert eine reiche eigene Tradition bildet, konzentriert sich auf die dem Arzt nur allzu bewußte Mangelhaftigkeit seiner Möglichkeiten. Ihre zentrale Figur ist der jegliche Unsicherheit aggressiv überspielende Quacksalber, der medizinische Scharlatan, der Gaukler, der vor keiner Versprechung zurückschrickt und – wie im hübschen Couplet des Doktor Eisenbart – machen kann, »daß die Lahmen sehen, / und auch die Blinden wieder gehen«. Hier spiegelt sich die lange Periode, in welcher der Arzt zwar schon ein Beruf mit alter Tradition, das ärztliche Wissen und Vermögen jedoch, gemessen an den heutigen Mitteln, noch äußerst gering war. Der Arzt dieser vergangenen Epoche, der – wie auf zahllosen Bildern, oder als kleine Groteskschnitzerei im Chorgestühl der Oude Kerk zu Amsterdam – das Beschauglas für den Urin (in der katholischen Ikonographie das Requisit, an dem man die heiligen Ärzte Cosmas und Damian erkennt) ernst gegen das Licht hält, übt eine genuine diagnostische Praxis, doch eben diese zeigt die Beschränktheit seiner Möglichkeiten. Das schmale Repertoire der alten Medizin privilegiert, sofern sie nicht gleich zum scharfen Messer und zum glühenden Eisen greift, die ebenfalls recht brachialen Möglichkeiten des Aderlasses und der Purgierung. Es ist ein hübsches Detail, daß der vergiftete und von den ignoranten Medizinern der Garnison bedrängte römische Beamte in »Asterix bei den Schweizern« vor dem Eintreffen des weisen gallischen Druiden sich nichts besseres weiß, als die ihn umdrängenden, streitenden, tobenden Ärzte zu bitten, sie möchten dem Asklepios für seine Genesung einen Hahn opfern: um sie endlich loszuwerden.
Im Städel hängt ein Bild, das Anlaß für ein Gedicht von Wilhelm Busch wurde ("Sahst du das wunderbare Bild von Brouwer?...« in »Kritik des Herzens«). »Die Operation am Rücken« zeigt einen Eingriff, den ein Landarzt oder Bader in einer Wirtsstube vornimmt; das verzerrte Gesicht des Patienten, der im weißen, halb herabgestreiften Hemd auf der Bank sitzt, und die gelassenen Physiognomien des Arztes und der assistierenden alten Frau – diese drei Gesichter, in ein Dreieck gesetzt, sind das eigentliche Sujet. »Ein kühler Doktor öffnet einem Manne / Die Schwäre hinten im Genick; / Daneben steht ein Weib mit einer Kanne, / Vertieft in dieses Mißgeschick.« Busch nimmt die Bildbetrachtung zum Anlaß für eine jener Verallgemeinerungen, die oft nur platt sind, hier aber seltsam plausibel: »Ja, alter Freund, wir haben unsre Schwäre / Meist hinten. Und voll Seelenruh / Drückt sie ein andrer auf. Es rinnt die Zähre, / Und fremde Leute sehen zu.« Mit schöner Beiläufigkeit nimmt Busch die metaphysische Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem Zentralbegriff des »Anderen« vorweg. Bilder von Arztbesuchen gehören in der niederländischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts immer zum Genre, entweder wie hier zum niedrigen, wo ein robustes Handwerk mit grotesk-komischen Zügen geschildert wird, oder zum eleganten. In letzterem erweist sich der Arzt entweder als überflüssig (wie bei den zahllosen Varianten – mindestens achtzehn allein bei Jan Steen – des Topos von der melancholischen Liebeskranken, welcher ärztlich nicht zu helfen ist), oder aber er denkt mit ernster Miene über seine Diagnose nach: eine Nachdenklichkeit, die fast schon Ratlosigkeit bezeichnet. Zeitlose Themen, wenigstens eins aber scheint überwunden: Die theatralisch-liebenswürdige Gebärde des Jahrmarkts-Zahnausreißers auf Genre-Gemälden (etwa von Rombouts, wie in Gent, Münster oder im Prado) ist Geschichte – ein Auftritt mit einer gewissen Suggestion jovialer Eleganz (der Bewegung) und geschmeidiger Ansprache an das Publikum, der immer noch beklemmend wirken kann. Alle, die am Gedanken des »Fortschrittlichen« ganz und gar verzweifeln wollen, mögen nur ein kleines Stück in die Historie zurückgehen, etwa bis zur Zahnarzt-Episode in Wilhelm Buschs »Balduin Bählamm«, um im Kontrast zu unserer örtlich betäubbaren Gegenwart zu erleben, daß es den Fortschritt tatsächlich gibt.
[...]
SINN UND FORM 1/2013, S. 43-46
Kalmar, Rudolf
- 5/1977 | Der Tod ist des Trompeters Kirilenko
Kaltschew, Kamen
- 3/1972 | Die Waffe
Kalytko, Kateryna
- 2/2023 | Vater unser. Gedicht
Kamerling, Werner
- 2/1950 | Neue Lyrik
Kaminskaja, Juliana
- 5/2022 | Verzweiflung und Widerstand. Ein Gespräch mit Thomas Irmer über Marina Zwetajewa
Kaminsky, Ilya
- 3/2017 | Autorengebet. Gedichte
Kammerer, Peter
- 5/1994 | Gespräch mit Peter Stein und Ekkehard Krippendorff. Über die Inszenierung von Shakespeares Römerdramen auf den Salzburger-Festspielen
Kammerer, Petra Magdalena
- 1/2006 | Kurzprosa
Kamnitzer, Heinz
- 1/1967 | Über Arnold Zweig
- 4/1972 | Brecht und das Antlitz der Literatur
- 4/1985 | Londoner Rechenschaft
- 2/1986 | Zwischen Swiss Cottage und Parliament Hill
- 4/1987 | Wiederbegegnungen
Kampmann, Anja
Kanafani, Ghassan
- 5/1971 | Land der traurigen Orangen
Kändler, Klaus
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Arbeiter, Politiker, Schriftsteller
- 6/1971 | Das Straßentheater stellt sich vor
- 5/1982 | Prosa junger Autoren
- 5/1983 | Jahrgang 1948... Uwe Saeger: »Nöhr«, Roman, Hinstorff Verlag Rostock, 1980; Frank Weymann: »Kein Sterbenswort«, Roman, Verlag Neues Leben, Berlin 1981.
- 1/1984 | Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss´ »Die Ästhetik des Widerstands«
- 5/1986 | »Ich war Schriftsteller und wurde Verleger«
- 1/1988 | Meinungen zu einem Streit - »Nun ist dieses Erbe zu Ende...«!?
Kanowitsch, Grigori
- 2/1990 | »Erinnern Sie sich...« - Rede auf dem Kongreß der Juden Litauens am 5. März 1989
Kant, Hermann
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Der Bericht von der Trauerfeier
- 6/1971 | Wie ich zur Literatur kam
- 2/1973 | Eine Übertretung
- 6/1978 | Gesprächsprotokolle
- 5/1980 | Schreiber, Leser und Verbände
- 6/1980 | Der dritte Nagel
- 2/1983 | Kino
- 3/1984 | Plexa
- 5/1985 | Ein Briefwechsel (mit Jürgen Kuczynski)
- 5/1985 | Bronzezeit
- 5/1991 | Gespräch mit Arthur Arndt
Kanterian, Edward
- 2/1998 | Das Tagebuch Mihail Sebastians
- 3/2008 | Über den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt von Holocaust-Tagebüchern, S. 342 Leseprobe
Kanterian, Edward
Über den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt von Holocaust-Tagebüchern
Im Oktober 1941 wurden auf dem Friedhof der südgalizischen Stadt Stanisławów über zehntausend Juden von deutschen Polizeieinheiten und ukrainischen Hilfstruppen ermordet. Die Überlebenden wurden in ein neuerrichtetes Ghetto gesperrt. Unter ihnen war die junge Eliszewa Binder, die bald begann, den Ghettoalltag in ihrem Tagebuch zu dokumentieren. Die letzte Eintragung stammt vom 19. Juni 1942, vermutlich ihr letzter Lebenstag, denn das Tagebuch wurde in einem Straßengraben in der Nähe des Friedhofs gefunden, auf dem das Massaker stattfand. Zehn Tage zuvor hatte sie angesichts der drohenden Vernichtung – der Judenrat hatte 800 Menschen zum Friedhof beordert – kommentiert: »Nun ja, diese ganze Kritzelei hat keinen Sinn. Tatsache ist, daß wir nicht überleben werden. Die Welt wird auch ohne meine weisen Notizen von allem erfahren.«
Objektiv betrachtet liefern ihre Aufzeichnungen tatsächlich kaum historische Informationen. Eliszewa Binder konnte nicht wissen, daß solche Massaker bald in allen Gebieten unter deutscher Herrschaft stattfinden würden. Im Januar 1942 wurden auf der Wannseekonferenz die Details der Endlösung beschlossen. Im März 1942 begann die »Aktion Reinhardt«, der die Juden im polnischen Generalgouvernement zum Opfer fielen. Eliszewa Binder schreibt nichts über diese Fakten; sie artikuliert einzig und allein ihre Gedanken und Gefühle, die sich zwischen völliger Verzweiflung und zaghafter Hoffnung bewegen. Diese Beobachtung trifft für nahezu jedes persönliche Zeugnis zu, besonders natürlich für Tagebücher und Briefe. Und sie führt zu dem Einwand, ob solche Texte nicht ohnehin viel zu subjektiv sind, um objektives Wissen über den Holocaust zu vermitteln. Sollte man sie nicht vor allem als dramatische Fallbeispiele oder als Veranschaulichung der furchtbaren Tragödie lesen? Oder anders gefragt: Würden uns wesentliche Umstände des historischen Geschehens verborgen bleiben, wenn wir die Tagebücher von Eliszewa Binder, Anne Frank oder Mihail Sebastian (um den es hier in erster Linie gehen soll) ignorierten?
Gewiß enthalten etliche dieser Tagebücher wichtige Informationen, vor allem, wenn ihre Autoren an herausgehobener Position wirkten wie Adam Czerniaków, der Vorsitzende des Warschauer Judenrats, wie Herman Kruk, der in der Ghettobibliothek in Wilna arbeitete, wie Raymond-Raoul Lambert, der Vorsitzende der Union Générale des Israélites des France, oder wie Abraham Lissner von der kommunistischen Widerstandsgruppe Ftp-Moi in Paris. Sie geben tiefere Einblicke in die Interaktion zwischen Judenräten und deutschen Dienststellen, aber auch in die Verhältnisse der jüdischen Gemeinschaft, in die einzelnen Fraktionen, die Widerstandsinitiativen und nicht zuletzt auch in die materiellen Aspekte des Ghettolebens. Aber von solchen Tagebüchern sind nur wenige erhalten geblieben, weshalb sich die Holocaustforschung in ihrer Frühphase auch auf die Täter konzentrierte, die ihre Verbrechen minutiös geplant und oft auch genauso minutiös dokumentiert haben, so daß wir heute Bescheid wissen über die Logistik und Befehlsstruktur von Deportationen und Massentötungen, über die Befehlsgeber, Befehlsempfänger und Handlanger. Hinzu kommt, daß auch Tagebücher und Briefe sowohl hochrangiger als auch subalterner Täter existieren, die das Bild ergänzen. Warum also auf die diffusen, wenn nicht gar irreführenden Auskünfte der Menschen hinter dem Stacheldraht zurückgreifen, wenn genügend Informationen von denjenigen vorliegen, die den Stacheldraht aufzogen?
Die gemäßigte skeptische These lautet: Von einigen wenigen Zeugnissen abgesehen, läßt sich die Realität des Holocaust ohne die Stimmen der Opfer beschreiben. Adam Czerniakóws Tagebuch ist eine unersetzliche historiographische Quelle, das Tagebuch von Eliszewa Binder oder Mihail Sebastian dagegen nicht. Etliche Einträge Sebastians wie etwa der vom 18. Dezember 1941 sind geradezu unverständlich: »Die neuen Anführer der Juden Streitman und Vilman! Heute von Lecca berufen«. Um zu begreifen, wieso ein Mitglied der rumänischen Regierung die neuen Anführer der Juden beruft, braucht man Hintergrundkenntnisse, die Sebastian nicht liefert, weil er sie auch nicht hat. Radu Lecca war in der Antonescu-Regierung der Beauftragte für jüdische Angelegenheiten und damit zuständig für die Deportationen und in dieser Funktion der Partner von Adolf Eichmann, der die Bildung von Judenräten angeordnet hatte. Sie sollten die jüdischen Gemeinschaften kontrollieren und der Vernichtungsmaschinerie zuarbeiten.
Raul Hilbergs frühes Meisterwerk »Die Vernichtung der europäischen Juden« ist paradigmatisch für die methodologische Ausrichtung auf die Dokumente der Henker. In »Die Quellen des Holocaust«, seinem letzten Buch, präsentiert Hilberg eine Typologie der Holocaustquellen. Zwar lehnt er die Zeugnisse der Opfer nicht rundweg ab, was ja auch seiner Editionsarbeit an Czerniakóws Tagebuch, das er als ein Schlüsselzeugnis ansieht, widerspräche, aber er stellt eine Art Zuverlässigkeitshierarchie auf, nach der die von Tätern während des Ereignisses verfaßten (amtlichen) Dokumente tendenziell bedeutsamer sind als die (persönlichen) Zeugnisse der Opfer. Auf der untersten Stufe stehen reine Erfindungen wie Binjamin Wilkomirskis »Bruchstücke: Aus einer Kindheit 1939–1948« (1995) sowie Täterberichte, die nach dem Krieg verfaßt wurden und der Entlastung dienen sollten (man denke an Albert Speers Memoiren). Hilberg ist auch kritisch gegenüber der Oral history, da sie dem Ideal des ursprünglichen, unmittelbaren, nicht revidierten Zeugnisses kaum entspreche. Aus ähnlichen Gründen hat er sogar Vorbehalte gegen die Erinnerungen von Überlebenden. Die Tagebücher von Opfern, oder jedenfalls einige davon, stuft er höher ein, am höchsten aber die deutschen Dokumente, obwohl auch sie Mängel und blinde Flecken aufweisen, wie er anhand vieler Beispiele zeigt.
Wenn aber keine Quelle ganz verläßlich ist, wie kann dann unser Wissen über den Holocaust objektiv sein? Ist dann nicht jede Quelle letztlich problematisch? Darauf scheinen Hilbergs Schlußbemerkungen hinauszulaufen: »Alle Ergebnisse befinden sich stets in einem Zwischenstadium. Wohl ist die Historiographie auch eine Kunstform, die das Streben nach Vollendung fordert, aber die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar.« Diese vorsichtig formulierte Skepsis ließe sich zuspitzen. Erstens: Die Quellen des Holocaust sind nicht aus zufälligen historischen, sondern aus notwendigen, in der Natur der Sache liegenden Gründen begrenzt. Zweitens: Alle Vergangenheitsquellen sind in dieser Weise begrenzt. Womit die Vorstellung von einem objektiven Zugang zur Geschichte eine Chimäre wäre. Ein solch radikaler Skeptizismus ist philosophischer Art. Er unterscheidet sich nur thematisch von Descartes’ in den »Meditationen« (1641) angestellter Überlegung, es gebe kein unanfechtbares Kriterium, das uns versichert, daß wir nicht träumen, wenn wir wach zu sein glauben – und nur in der Formulierung von Bertrand Russells Behauptung in der »Analyse des Geistes« (1921), es sei kein logischer Beweis dafür möglich, daß die Welt nicht erst vor fünf Minuten entstanden ist, inklusive aller Menschen und aller ihrer Erinnerungen an eine angebliche Vergangenheit.
Philosophischer Skeptizismus ist nur philosophisch zu beantworten. Am besten gelang dies Wittgenstein in seinen postum veröffentlichten Bemerkungen »Über Gewißheit« (1969). Doch wir müssen Hilberg nicht mit Wittgenstein gegen den Vorwurf allzu radikaler Skepsis verteidigen. Seine historiographische Praxis belegt eine andere Überzeugung als die oben skizzierte, hält er sich doch, zumal in seinem frühen Hauptwerk, an das erwähnte Hierarchiemodell, indem er den einzelnen Quellenkategorien von vornherein einen unterschiedlichen Wahrheitsgehalt zuschreibt. Danach sind Tagebücher wie die von Binder oder Sebastian Zeugnisse von »Privatpersonen« und damit weniger bedeutsam als die von Czerniaków oder Lambert. In epistemischer Hinsicht stehen sie jedoch über den Quellen, die aus dem Rückblick entstanden. Hier könnte uns jedoch ein weiterer skeptischer Gedanke verunsichern, daß nämlich gerade die Verankerung eines Tagebuchs im Hier und Jetzt sein größter Mangel wäre, da ja das Hier und Jetzt naturgemäß flüchtig, bruchstückhaft und zudem geprägt ist von der Persönlichkeit des Autors, seinen Lebensumständen und seiner Weltsicht. Derlei Argumente sind nicht bloß eine theoretische Möglichkeit. Man begegnet ihnen in Diskussionen über Holocaust-Tagebücher, wo ihnen kaum widersprochen wird, weil sie der Weisheit letzter Schluß zu sein scheinen.
[...]SINN UND FORM 3/2008, S. 343-352
Kantor, Maxim
- 5/1991 | Apologie der freien Rede
Kantor, Wladimir
- 3/1999 | Gestohlene Luft
Kantorowicz, Alfred
- 5/1951 | Heinrich Manns Henri-Quatre-Romane
Kányádi, Sándor
- 4/2006 | Ketzer-Depeschen. Zbigniew Herbert zum Gedenken
Kapijew, Effendi
- 1/1952 | Ein Märchen
Kappacher, Walter
- 5/2018 | August in Rom
Kapsaski, Andrea Gabriella
- 3/1988 | Gedichte aus Griechenland - Ägina
Kaputikjan, Silva
- 5/1975 | Ich fürchte mich nicht
Karalaschwili, Reso
- 1/1976 | Stimmen über den Roman der DDR - ausTibilissi
Karalius, Vytautas
Karalus, Wolfgang
- 4/1989 | Wilhelm Voigt - Versuch über einen Unsterblichen
Karasek, Alexander
- 3/2006 | Reinhard Lettau, Der Freund des Landes und andere Fragmente aus dem Nachlaß. Vorbemerkung Alexander Karasek
- 3/2007 | »Mein Gulliver«. Zu einem Gedichtentwurf von Günter Grass
Karlauf, Thomas
- 1/2007 | George und Hofmannsthal
- 2/2009 | Meine Jahre im Elfenbeinturm, S. 262 Leseprobe
Karlauf, Thomas
Meine Jahre im Elfenbeinturm
I
Die Fahrkarte habe ich aufgehoben. Das kleine ockerfarbene Pappstück, 3 x 5,5 cm, liegt in meiner Devotionalienschachtel: einfache Fahrt 2. Klasse von Frankfurt (Main) Hbf nach Amsterdam, ausgestellt auf den 7. August 1974, Preis DM 56,60. Der Zug trug den herrlichen Fernwehnamen »Wien-Holland- Expreß«. In Wiesbaden wurde die Lok ans andere Ende gespannt, dann ging es gemütlich den Rhein entlang. Zwei Monate vorher hatte ich Abitur gemacht. Weil ich in Griechisch ohnehin verloren war, hatte ich mich mit zwei Klassenkameraden zusammengetan, um es wenigstens in Mathematik noch auf die rettende Vier zu schaffen. Nachmittags trafen wir uns, um sogenannte Kurven zu diskutieren. Wer sich als erster erbarmte, ging zum Plattenspieler und legte die einzige Platte auf, die wir in diesen Wochen hören mochten: Dylans »Highway 61 Revisited«. Spätestens beim fünften Lied der A-Seite war es mit dem Lernen vorbei. »Because something is happening here, but you don't know what it is«, krächzte Dylan, und grölend stimmten wir jedes Mal ein in den Refrain: »Do you, Mister Jones?« Dann holten wir uns was zum Durchziehen, und während die Scheibe zum dritten oder vierten Mal abgenudelt wurde, verflüchtigten sich unsere Kurven in süße Rauchringe.
Der von Dylan verspottete Mister Jones - so viel stand fest - war ein Idiot, ein intellektueller Streber, einer, der kluge Bücher las und glaubte, überall mitreden zu können. Bis er eines Tages in eine merkwürdige Gesellschaft geriet, in der ihm die abstrusesten Dinge widerfuhren und er jede Orientierung verlor: »Give me some milk or else go home.« - »Ballad of a Thin Man« zählt zu den großartigsten Dylan-Songs überhaupt und ist ziemlich deftig; geschildert wird eine Art früher Swingerparty in der Schwulen- und Transvestitenszene von Greenwich Village. Die sexuellen Anspielungen des Textes blieben mir zwar verborgen. Aber selbst wenn ich die Obszönitäten verstanden hätte - »Here is your throat back, thanks for the loan« -, wäre ich mit Mister Jones kaum nachsichtiger gewesen; er war und blieb ein Spießer.
Was ein Spießer ist, weiß ein heller Junge in diesem Alter sehr genau. Spießer waren zum Beispiel die Klassenkameraden, die nach dem Abitur eines dieser öden Studienfächer belegten, die schon ihren Vätern zur Karriere verholfen hatten. Auf die Idee, bei einer Literaturzeitschrift in Amsterdam, die keiner kannte, eine Lehre zu absolvieren, wären sie nicht einmal gekommen, wenn man ihnen die Lehre bezahlt hätte. Spießig war die Deutschlehrerin, die ich davon hatte überzeugen wollen, daß Stefan George nun wirklich bedeutender war als Rilke. Als sie mir am letzten Schultag die Hefte des »Castrum Peregrini« zurückgab, die ich ihr zur Nachhilfe ausgeliehen hatte, lag eine Ansichtskarte bei: »Gott segne Sie und Ihren Idealismus!« Pikanterweise zeigte die umseitige Abbildung einen nackten griechischen Jüngling. Dabei war die Deutschlehrerin gar nicht so übel, und ich hatte ihr zum Lohn die schönsten Hölderlin-Aufsätze geschrieben, die sie wohl je zu lesen bekam.
Am spießigsten war natürlich meine Mutter. Sie platzte vor Neugier, traute sich aber nicht, den einzig relevanten, für sie als Mutter aber unaussprechlich heiklen Punkt, was sich denn da nun zwischen den Männern in diesem Amsterdamer Kreis abspiele, mir gegenüber zur Sprache zu bringen. Nur in Gegenwart meines Vaters wagte sie sich bisweilen ein Stück vor; dann sprach sie etwa so, wie der Biologielehrer im Aufklärungsunterricht von den Bienen gesprochen hatte, bis mein Vater, dem das Ganze wohl ziemlich klar, aber sichtlich unangenehm war, ihr den Mund verbot. Heute glaube ich, daß der Grund ihres in Andeutungen sich erschöpfenden Schweigens nicht mangelnde Aufrichtigkeit oder fehlender Mut war, sondern die Sorge, mich, ihren einzigen Sohn, zu verlieren. Am Ende war sie aber vor allem stolz, daß dank der gewaltigen Dimension des Großen Geistigen, das sich ihrem Sohn durch Aufnahme in den George-Kreis eröffnete, sogar für ihre eigene Bildungsgeschichte noch etwas abfiel.
"How does it feel to be such a freak«, sang Dylan unterdessen zum hundertsten Mal, »and you say ›impossible‹, as he hands you a bone.« Ich hielt den »Knochen« für eine Dylansche Metapher und rätselte stets aufs neue, um welchen besonderen Knochen es sich wohl handelte.
Im Oktober 1970 war ich auf der Frankfurter Buchmesse von Wolfgang Frommel, dem Gründer und nimmermüden Spiritus rector der George-Zeitschrift »Castrum Peregrini«, angesprochen worden. Ich war fünfzehn und besserte mein Taschengeld auf, indem ich am Nachmittag den »Rheinischen Merkur« verkaufte. Aufmacher der Messe-Woche war ein Artikel über Richard Nixon; an das dazugehörige Porträtfoto erinnere ich mich gut, weil es mir hämische Bemerkungen der in Scharen vorbeiziehenden Achtundsechziger in ihren für den Bücherklau präparierten viel zu großen Parkas eintrug. Einmal blieb ein älterer Herr mit langem weißem Haar stehen. »Was für eine interessante Zeitung Sie da haben«, meinte er. Was ich denn so machte, wenn ich keine Zeitungen verkaufte. »Ach, Sie gehen auf das Gymnasium, wie interessant.« Alle Antworten, die ich dem Herrn auf seine neugierigen Fragen gab, quittierte er so - »ach, wie interessant«. Daß es ein humanistisches Gymnasium war, daß ich gern malte, daß ich katholisch war - alles fand er furchtbar interessant.
Am nächsten Tag kam er wieder, um eine Zeitung kaufen. Als ich ihn darauf hinwies, daß es sich beim »Rheinischen Merkur« um ein Wochenblatt handele, meinte er etwas verlegen, er habe gar keine Zeit gehabt, die Zeitung zu lesen, er kaufe mir aber gern ein zweites Exemplar ab. Ein weiterer Herr, der deutlich jünger war, vielleicht Anfang vierzig, und den ich beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, stand diesmal etwas näher. »Das ist der Verleger unserer Zeitschrift«, sagte der Weißhaarige, »kommen Sie doch einmal an unserem Messestand vorbei.« Später legte der Jüngere stets großen Wert darauf, daß er es war, der mich als erster gesehen oder - wie es in der Sprache der Georgeaner hieß - mich »entdeckt« hatte. So werden Stammbäume des Geistigen begründet.
Ich besuchte die Herren in ihrer Koje, und eh ich mich versah, hatte ich für die zwei Wochen später beginnenden Herbstferien eine Einladung nach Amsterdam. Die Stadt galt als Hippiezentrum und war besonders bei der Afghanistan-Fraktion angesagt; einen bestickten Hirtenmantel besaß ich schon, und die Chance, da mal vorbeizuschauen, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Meine Mutter hatte schlaflose Nächte. Nachdem ein halbes Dutzend Professoren und sonstiger Honoratioren ihr telefonisch versichert hatte, es könne im Leben eines Fünfzehnjährigen gar nichts Großartigeres geben, als von Wolfgang Frommel eingeladen zu werden, schämte sie sich wohl ein wenig, überhaupt auf abwegige Gedanken gekommen zu sein, und gab ihre Zustimmung unter der Bedingung, daß ein Freund mitfuhr.
[...]Sinn und Form 2/2009, S. 262-264
- 4/2009 | »Nie mehr zurück in dieses Land.« Ein Pappkarton aus Harvard, S. 262 Leseprobe
Karlauf, Thomas
»NIE MEHR ZURÜCK IN DIESES LAND« Ein Pappkarton aus Harvard
Am 7. August 1939, dreieinhalb Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen, erschien in der »NewYork Times« unter der Überschrift »Prize for Nazi Stories« ein ungewöhnlicher Aufruf. Wissenschaftler der Universität Harvard seien auf der Suche nach Augenzeugenberichten über das Leben in Deutschland vor und nach 1933 und hätten zu diesem Zweck einen Wettbewerb ausgeschrieben. Das Preisgeld betrage insgesamt tausend Dollar, zur Teilnahme berechtigt sei jeder, der aufgrund eigener Erfahrungen berichten könne, wie sich der Alltag seit dem Machtantritt Hitlers verändert habe. Die Texte könnten auch anonym oder unter Pseudonym eingereicht werden und würden streng vertraulich behandelt – »but they must be authentic«.
»Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933« – so lautete der Titel des Preisausschreibens, und der ausführliche, auf deutsch verfaßte Aufruf, der in den folgenden Tagen und Wochen über jüdische Informationsbüros und Hilfswerke weltweit verbreitet wurde, umriß das Projekt sehr genau. Die Lebensbeschreibungen sollten etwa achtzig Maschinenseiten umfassen und »möglichst einfach, unmittelbar, vollständig und anschaulich gehalten sein«. Geschildert werden sollten nur »wirkliche Vorkommnisse«, und deshalb könne jeder, der »ein gutes Gedächtnis, scharfe Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis« besitze, sich beteiligen, auch wenn er zuvor nie etwas geschrieben habe. »Zitate aus Briefen, Notizbüchern und sonstigen persönlichen Schriftstücken geben Ihrer Schilderung die erwünschte Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit.« Auch wer keinen Preis bekomme, dürfe sicher sein, daß seine »Arbeit für das Studium des neuen Deutschlands und des Nationalsozialismus sehr wertvoll sein« könne. Einsendeschluß war der 1. April 1940.
Mehr als 250 Manuskripte aus aller Welt gingen in Cambridge ein. 155 Texte kamen aus den USA, davon allein 96 aus New York; 31 Autoren gaben als Absender eine Adresse in Großbritannien an, zwanzig schickten ihren Beitrag aus Palästina. Aus Shanghai, wo sich dank einer Lücke in den internationalen Visa-Bestimmungen eine jüdische Enklave gebildet hatte, wurden sechs Manuskripte beigesteuert. Zwar folgten nicht nur emigrierte Juden dem Aufruf. Ein schlesischer Konditor etwa, der als Koch bei der Handelsmarine angeheuert hatte und jetzt als »feindlicher Ausländer« in einem britischen Lager festsaß, schwärmte ebenso vom neuen Deutschland wie das Au-pair-Mädchen aus Berlin, das in Amerika vom Kriegsausbruch überrascht worden war – aber diese Texte bildeten die Ausnahme. Die große Mehrzahl der Berichterstatter waren Juden, die Deutschland und Österreich nach den Pogromen vom November 1938 verlassen hatten.
Die meisten von ihnen waren in Großstädten zu Hause gewesen; allein 61 Berichte stammten aus Berlin, 39 aus Wien. Überproportional vertreten waren die freien Berufe, Rechtsanwälte und Ärzte, Hochschullehrer und Angehörige der schreibenden Zunft; neben den Repräsentanten des wohlhabenden Bürgertums meldeten sich aber auch kleine Handelsvertreter und Leute zu Wort, die sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hatten. Rund ein Viertel der Texte stammte von Frauen.
So unterschiedlich das soziale Milieu, so unterschiedlich die Motive der Autoren, sich am Wettbewerb zu beteiligen. Mit dem Preisgeld für den ersten Platz, fünfhundert Dollar, konnte ein Emigrant in den meisten Ländern mehrere Monate überdauern, und manch einer bezeichnete den Sieg im Preisausschreiben denn auch als seine »etzte Hoffnung«. Andere hatten schriftstellerische Ambitionen; obwohl ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, daß es sich nicht um einen literarischen Wettbewerb handle und auch »kein Interesse an philosophischen Erwägungen« bestehe, erhielten die Initiatoren auch einige komplette Romanmanuskripte. Diesem und jenem verhalfen sie zu Kontakten mit Verlegern und Redakteuren; einige Bewerber verlangten aus Enttäuschung darüber, daß sie weder ausgezeichnet noch gedruckt wurden, ihren Text zurück. In Einzelfällen bemühte man sich in Harvard auch, für diejenigen etwas zu tun, die bei Kriegsausbruch von den Briten inhaftiert und in Lager nach Australien oder Kanada überstellt worden waren.
Das Hauptmotiv der meisten war, wie der Berliner Publizist Wolf Citron formulierte, »durch Aufarbeitung und Rekapitulation des Erlebten Abschied von Deutschland« zu nehmen. Dabei rechnete keiner so radikal ab wie der 21jährige Moritz Berger aus München, der seinem fünfseitigen Bericht den Titel »Rache« gab und davon träumte, als Bomberpilot seine Vaterstadt dem Erdboden gleichzumachen. Alle Berichte stimmten jedoch darin überein, daß die in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 ungehemmt sich austobende Brutalität des Nationalsozialismus den größten Zivilisationsbruch der abendländischen Geschichte darstelle und es für einen deutschen Juden schlicht undenkbar sei, je wieder in diesem Land zu leben. »Nie mehr zurück in dieses Land«, notierte die Berliner Ärztin Hertha Nathorff eine Woche nach dem Pogrom, »wenn wir es erst einmal lebend verlassen haben.« Mehrere Autoren griffen am Schluß ihrer Erinnerungen den Titel des Preisausschreibens auf und faßten die Unumkehrbarkeit der Ereignisse in dem Satz zusammen: »So endete mein Leben in Deutschland«. [....]
SINN UND FORM 4/2009, S. 437-442
- 1/2010 | Stauffenberg. Eine Motivsuche, S. 262 Leseprobe
Karlauf, Thomas
Stauffenberg. Eine Motivsuche
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das
langsame Nachwirken der historischen Schuld.Treitschke
Wie die meisten Autoren, die sich außerhalb des germanistischen Seminars heute mit Stefan George beschäftigen, stieß auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Norton am Schluß seiner vor einigen Jahren erschienenen voluminösen Studie »Secret Germany« auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Nachdem er 750 Seiten lang mit inquisitorischem Eifer alle Indizien zusammengetragen und so aufbereitet hatte, daß ein schnurgerader Weg vom Dichter zum »Führer« ging, stand das Denkmal des Hitler-Attentäters allerdings etwas verloren im Park der Georgeschen Lyrik. Es leuchtete nicht recht ein, weshalb der glühende Jünger, der sich im Alter von fünfzehn Jahren in den Dienst des Meisters gestellt hatte und nach dessen Tod 1933 zu den treuesten Hütern seines Vermächtnisses zählte, zehn Jahre später den Entschluß gefaßt haben soll, ausgerechnet den Mann zu töten, in dem sich – nach Nortons Verständnis – die Prophetie Georges doch erfüllt hatte. Die Sache schien dem Autor selbst nicht ganz geheuer, wie die merkwürdige Dialektik im letzten Absatz seines Buches vermuten läßt: »Bis zum Schluß blieb Stauffenberg den Idealen treu, die er von Stefan George gelernt hatte. Wir werden niemals erfahren, ob Stauffenberg begriff, daß diese Ideale und der Mann, der sie predigte, dazu beigetragen hatten, denjenigen hervorzubringen, den er vernichten wollte.«
Im Sommer 2007 rückte, ausgelöst durch Spekulationen um den Walküre-Film von Tom Cruise, Stauffenberg in den Blickpunkt der Medien. Als der Film im Januar 2009 mit einiger Verspätung in die deutschen Kinos kam, meldete sich aus Cambridge der Historiker Richard Evans zu Wort und machte unmißverständlich klar, was von der ganzen »Operation Walküre« zu halten sei – nämlich nichts. Was dem Hitler-Attentäter vorschwebte, so Evans im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, sei ein von George inspiriertes neuromantisches Ideal gewesen, für das es schon 1944 keine Verwendung mehr gegeben habe. Stauffenbergs Vorstellung, daß Europa nur unter Führung der Deutschen eine Zukunft habe, sei genauso anachronistisch gewesen wie seine Sehnsucht nach dem Ständestaat. Ein Mann, der »für die parlamentarische Demokratie zeitlebens nur Verachtung übrig« hatte, schien dem Autor »als Vorbild für künftige Generationen schlecht geeignet«.
Wäre Demokratietauglichkeit der Maßstab historischen Interesses, hätten wir die Geschichtsschreibung eigentlich nicht nötig – die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Es liegt in der Logik einer solchen Argumentation, daß sie den Attentäter nur als Opfer seines Wahns begreifen kann. Immerhin, räumte Evans ein, habe Stauffenberg in der Erkenntnis seiner Mitschuld verantwortungsvoll gehandelt. Weil ihm »seine Bombe vor allem als moralische Geste bedeutsam war«, sei er heute zumindest menschlich rehabilitiert – ein geradezu aberwitziger Gedanke, der das Staatsstreichkonzept schlicht auf den Kopf stellt: Wer den Umsturz plant, handelt nun einmal aus Patriotismus, wie immer er ihn definieren mag, und nicht weil er als Gutmensch in die Geschichte eingehen will. Der Artikel sei »nahezu begriffsstutzig«, befand Karl Heinz Bohrer eine Woche später in seiner Replik, »reichlich naiv, aber auch scheinheilig« und – »nicht ohne Infamie«.
Für Robert Norton war die Diskussion, wie aus dem George-Schüler der Hitler-Attentäter hatte werden können, offenbar von Anfang an schiefgelaufen. Als seien die Historiker von falschen Prämissen ausgegangen, erklärte er im Juli 2009 in einem Artikel in der »Zeit«, der Hitler-Attentäter sei gar nicht der George-Schüler. Vielmehr habe sich Stauffenberg, um den Anschlag überhaupt denken zu können, zuvor von seinem Meister befreien müssen. »Als Stauffenberg seinen unvorstellbar mutigen und einsamen Versuch unternahm, hat er sich von zentralen Idealen und Werten Georges losgesagt. Stauffenberg hat die Achtung, die man ihm jetzt zuerkennt, auf schwerste Weise verdient. Dafür verdient aber Stefan George keine.« In der Wissenschaft kommt es nach dem berühmten Wort von Max Weber darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. Wer fragt, ob Stauffenberg in der Lage war zu erkennen, daß die Ideale, denen er folgte, den Aufstieg Hitlers begünstigt hatten, zäumt das Pferd vom Schwanz auf. Nicht weil er die Georgesche Welt als Irrtum begriff, faßte er seinen Entschluß, sondern weil er glaubte, daß Hitler seine, Stauffenbergs, Ideale verraten hatte.
»Auf innerpolitischem Gebiet hatten wir die Grundideen des Nationalsozialismus zum größten Teil durchaus bejaht«, gab Berthold von Stauffenberg, der ältere Bruder, nach seiner Verhaftung am 21. Juli zu Protokoll. »Der Gedanke des Führertums, der selbstverantwortlichen und sachverständigen Führung, verbunden mit dem einer gesunden Rangordnung und dem der Volksgemeinschaft, der Grundsatz ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ und der Kampf gegen die Korruption, die Betonung des Bäuerlichen und der Kampf gegen den Geist der Großstädte, der Rassegedanke und der Wille zu einer neuen, deutsch bestimmten Rechtsordnung erschien uns gesund und zukunftsträchtig.« Im Laufe der Jahre seien aber »die Grundideen des Nationalsozialismus … in der Durchführung durch das Regime fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden«.
Die Stichworte aus dem Vokabular der NS-Ideologie, auf die Berthold in den Gestapo-Verhören verwies, finden sich auch in jenem Aufruf, den die Brüder am Vorabend des Attentats gemeinsam formulierten, um den Staatsstreich sittlich zu begründen. Das »Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt« ist und durch seinen Stolz auf die eigene Scholle Neid und Mißgunst überwindet, wird, so heißt es in dem Memorandum, von Führern geleitet, »die aus allen Schichten des Volkes« wachsen und »durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorangehen«. Die Gesellschaft der Zukunft müsse wieder feudalistisch aufgebaut und nach den Mustern von Herrschaft und Dienst organisiert werden: »Wir wollen eine Neue Ordnung die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen.«
Der Text, den die Brüder am Abend des 4. Juli 1944 als ihr politisches Testament verfaßten, atmete bis in die letzten handschriftlichen Korrekturen von Claus den Geist Stefan Georges. Der hatte seine Verachtung für die Masse, für alles, was mit Freiheit und Fortschritt, mit Liberalismus und Demokratie zu tun hatte, in Hunderten von Versen niedergelegt: »Schon eure zahl ist frevel«. Zur Herrschaft waren in seinen Augen nur die Wenigen bestimmt, junge Männer, die bei den Griechen »kaloikagathoi« hießen, die Schönen Guten, die schon im Knabenalter ausgewählt und auf ihre künftigen Aufgaben im Staat einschließlich des Kriegsdienstes vorbereitet wurden. Im 20. Jahrhundert – so wollte es George – sammelten sich diese Besten um ihn:
Ich sah von fern getümmel einer schlacht
So wie sie bald in unsren ebnen kracht.
Ich sah die kleine schar ums banner stehn ..
Und alle andren haben nichts gesehn.Dieser »kleinen Schar« hatte der Meister nicht nur die Zukunft Deutschlands, ihr hatte er das Schicksal des ganzen Kontinents in die Hände gelegt. Schon in den Büchern der Ahnen sei zu lesen, hieß es in einem der großen programmatischen Gedichte aus der Endphase des verlorenen Ersten Krieges, »dass einst / Des erdteils herz die welt erretten soll«. Je schlechter es um die Nation bestellt war, desto hemmungsloser richteten sich die Phantasien ihrer Vordenker auf das, was am Ende das Geistige selbst genannt wurde; von nichts träumten die Deutschen während des 19. Jahrhunderts lieber als von geistiger Vorherrschaft. Mit der Griechenschwärmerei fing es an; der Deutsche sei aufgerufen, das Erbe der Griechen anzutreten, hatte Hölderlin um 1800 wortmächtig in die Welt gesetzt. Hundert Jahre später war deren Genius restlos in den deutschen Volkskörper überführt. »Wir bekennen uns«, hieß es daher konsequent im »Schwur« der Stauffenbergs, »im Geist und in der Tat zu den grossen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge im germanischen Wesen das abendländische Menschentum schuf.« Dieser besonderen Konstellation verdanke der Deutsche »die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen«.
Sich heute in solche Phantasiewelten hineinzudenken, fällt unendlich schwer. Wir empfinden die Szene des 4. Juli als geradezu gespenstisch und fragen nervös, in welcher Wirklichkeit die Stauffenbergs eigentlich lebten. Als folgten sie anderen Gesetzen, als gälte für sie ein anderes Zeitmaß, blieben sie bis in die letzten Stunden hinein ihrer elitären Grundhaltung treu. Ihre kalte, mitleidlose Arroganz macht sie uns fremd, ja verdächtig.
[...]
SINN UND FORM 1/2010, S. 5-17
- 4/2010 | Bericht von einer Auktion. Die Bibliothek des Castrum Peregrini
- 2/2011 | Meister mit eigenem Kreis. Wolfgang Frommels George-Nachfolge, S. 262 Leseprobe
Karlauf, Thomas
Meister mit eigenem Kreis. Wolfgang Frommels George-Nachfolge
Ich habe es versäumt, mit ihm darüber zu sprechen. Als im Herbst 1983 der Amsterdamer Freundeskreis von jenem Brief erfuhr, aus dem, wie es hieß, hervorging, daß Wolfgang Frommel nie beim Meister zu Besuch gewesen sei, habe ich nicht mehr den Mut gefunden, eine eindeutige Antwort von ihm zu verlangen. Frommel stand im 82. Lebensjahr, seine Kräfte hatten zuletzt stark nachgelassen. Warum ihn noch einmal quälen mit einer Frage, die auszusprechen für die meisten Freunde schon Verrat bedeutete, schließlich gehörte Frommels »Dichterbericht«, in dem er seine Begegnung mit Stefan George im Jahre 1923 ausführlich geschildert hatte, zu den Identität stiftenden Büchern unserer Runde. Innerlich hatte ich bereits Abschied genommen: Ein paar Monate noch, dann würde ich das exterritoriale Leben der letzten zehn Jahre für immer hinter mir lassen und nach Deutschland zurückkehren. Es gab keinen Grund, noch einmal eine dieser aufreibenden Diskussionen über richtige und falsche Überlieferung vom Zaun zu brechen. Die Frage, ob Frommel George begegnet war oder nicht, hatte für mich keine existentielle Notwendigkeit mehr, sie interessierte mich nur noch phänomenologisch, und deshalb ging ich dieser letzten Auseinandersetzung aus dem Weg.
Fünfundzwanzig Jahre später gewann das Thema jene Eigendynamik, die meinen Ehrgeiz weckte: Jetzt wollte ich es doch genauer wissen. Ende 2007 stellte die Zeitschrift »Castrum Peregrini«, von Frommel 1951 im Geist Stefan Georges gegründet und bis zum Ende der Magnetberg seiner Verehrung, nach 280 Heften ihr Erscheinen ein. Ohne Frommel und seine Zeitschrift – so schrieb ich damals – »wäre die eigentümliche Welt Stefan Georges, die Welt des ›geheimen Deutschland‹, nicht bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts präsent geblieben«, und fügte hinzu, daß das Frommelsche Lebenswerk noch um vieles staunenswerter sei, wenn man bedenke, daß er George wahrscheinlich nie begegnet ist. In den Augen der Nachlebenden hatte ich mich damit endgültig als Verräter erwiesen. Daß es hier nicht um Wahrheit oder Lüge ging, sondern um die Bedingungen einer Nachfolge, die ohne persönliche Legitimation durch den Stifter nicht glaubte auskommen zu können, und daß genau hier das geistige Abenteuer begann, überstieg die Vorstellungskraft der Orthodoxen. In »Kreis ohne Meister«, seiner zwei Jahre später erschienenen Studie über das Nachleben Georges, nahm Ulrich Raulff auf meine Ausführungen Bezug. Wegen des problematischen Quellenzugangs habe er auf ein Kapitel über Wolfgang Frommel und das »Castrum Peregrini« verzichtet. Er könne allerdings nicht erkennen, daß eine Wirkungsgeschichte Georges ohne dieses Kapitel unvollständig sei, im Gegenteil. Raulff schien geradezu erleichtert, daß er sich mit den Amsterdamer Dunkelmännern nicht näher befassen mußte. Vor allem hätte ihn der Alleinvertretungsanspruch des »Castrum Peregrini« gezwungen, Nachfolge – den zentralen, von ihm recht großzügig gehandhabten Begriff seines Buches – genauer zu definieren. Weil er hier im Ungefähren blieb, konnte er zahlreiche für das Nachleben Georges periphere Figuren in den Zeugenstand rufen, wie etwa den Prinzen Löwenstein, der durch köstliche Anekdoten zur Eroberung Helgolands freilich sehr zum Unterhaltungswert des Buches beitrug.
So weit, so gut, könnte man sagen, eine Georgesche Wirkungsgeschichte ohne Frommel ist eben eine Georgesche Wirkungsgeschichte, die einen ganz bestimmten, zunächst nicht näher bezeichneten Bereich ausklammert. Ein bißchen schade, wird der eine oder andere gedacht haben, aber schließlich haben es sich die Frommel-Erben selbst zuzuschreiben, daß sie noch restriktiver und selektiver mit den Akten umgehen als das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Schlägt man indes das Register des Raulffschen Buches auf, stellt man fest, daß der Name Frommel zu den am häufigsten genannten gehört, daß er genauso oft vorkommt wie der seiner beiden schärfsten Widersacher im Kampf um die George-Nachfolge: Edgar Salin und Ludwig Thormaehlen. Wie ein roter Faden zieht sich der Name durch das Buch. Das wirft dann doch Fragen auf.
Im George-Kreis der späten zwanziger und dreißiger Jahre galt Frommel als der Usurpator, der sich über geschickt eingefädelte Beziehungen Zugang zum Innersten verschaffen wollte, und entsprechend schlecht wurde über ihn gesprochen. Nach dem Krieg setzte sich diese Rivalität in den Diadochenkämpfen fort, die insbesondere zwischen Amsterdam und Genf, dem Wohnsitz des Erben Robert Boehringer, ausgetragen wurden. Während die meisten Freunde Georges in Frommels Augen zu bloßen Verwaltern mutiert waren, die sich längst in bürgerlichen Existenzen eingerichtet und damit dessen Ideale mehr oder minder verraten hatten, war er dem Auftrag des Dichters gefolgt: durch alle Fährnisse hindurch unverzagt nach jener Jugend Ausschau zu halten, die bereit war zur Aufnahme des dichterischen Wortes. Es ging in dieser Auseinandersetzung nicht darum, wer welche Texte veröffentlichen durfte, es ging um Grundsätzliches: um die Berechtigung der eigenen Existenz, die zugleich die Existenz des jeweils anderen verneinte. Dem Erben in Genf hätte es ziemlich gleichgültig sein können, was Frommel trieb, wäre ihm dies nicht wie ein schwerer Mißbrauch des Georgeschen Werkes vorgekommen.
Hier wiederholte sich ein Verdacht, dem George selbst ein Leben lang ausgesetzt war, der Verdacht, daß seine Gedichte immer auch als Werkzeuge dienten, schöne Jünglinge aufzuschließen. Weil sie in ihm eine Art photographisches Negativ erkannten, das an die flimmernden Seiten Georges erinnerte, die ihnen ja durchaus nicht verborgen geblieben waren, ist Frommel in den Briefen der George-Jünger als Scharlatan und böser Geist, als der leibhaftige Antichrist allgegenwärtig. Spätestens seit 1931, als der von ihm initiierte Gedichtband »Huldigung« die Verehrung für George zum Programm erhob: »Es ist das erste Mal«, hieß es im Ankündigungsprospekt, »daß aus dem Lager der weiteren Jugend dichterisch eine Antwort auf den an sie ergangenen Ruf vernommen wird.« Frommels Aktivitäten, nicht zuletzt viele der in dem von ihm geführten Runde-Verlag erschienenen Publikationen, brachten die Freunde Georges wiederholt in Verlegenheit. Frommel war der Stachel im Fleisch der Georgeaner.
[...]SINN UND FORM 2/2011, S. 211-218
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Kasack, Hermann
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- 4/1951 | Majakowskij - persönlich!
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- 3/2019 | Chamowniki. Einleitung zu einer Erzählung
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- 3/1982 | Leben und Erinnern. András Süto: »Mutter verspricht guten Schlaf«, Roman, aus dem Ungarischen von Helga Reiter; Verlag Volk und Welt, Berlin 1980
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Kaufmann, Hans
- 6/1963 | Zum »Empfindungsgedicht« bei Heine
- 1/1978 | Zur DDR-Literatur der siebziger Jahre
- 2/1984 | »Es sitzt wer in mir, den kennen Sie nicht...« Erwin Strittmatter: »Der Laden«, Roman; Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1983
- 3/1984 | Wider die troianischen Kriege. Christa Wolf: »Kassandra«. Vier Vorlesungen /Eine Erzählung, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1983
Kaufmann, Walter
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Briefe an Willi Bredel
Kaul, Friedrich Karl
- 4/1980 | Verhör am Tatort
Kavafis, Konstantin
- 3/1979 | Gedichte
Kawalec, Julian
- 2/1980 | Abschied vom Berg
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Kazantzakis, Nikos
- 6/1968 | Odyssee
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- 3/2001 | Gelächter im Dunkeln
Kehlmann, Daniel
- 6/2006 | Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt
- 6/2006 | Ein Buch, an das ich jeden Tag denke
- 2/2009 | Selbstvorstellung
- 1/2010 | Schicksallosigkeit. Rede auf Imre Kertész
- 1/2011 | Die Wunder des Erzählens. Anmerkungen zu »Hundert Jahre Einsamkeit«
- 1/2016 | Der Apfel, den es nicht gibt. Unordentliche Gedanken über Bilder und Wirklichkeit, S. 786 Leseprobe
Kehlmann, Daniel
Der Apfel, den es nicht gibt. Unordentliche Gedanken über Bilder und Wirklichkeit
I
Wer in diesen Tagen eine Ausstellung schöner Dinge eröffnet, muß auch von den häßlichen reden. Wer laut über Schönheit nachdenkt, muß im Verdacht der Gefühllosigkeit stehen, als wollte er sie mit Gewalt nicht sehen, die Fliehenden, die überfüllten Boote, die in Lastwagen Erstickten, die Menschen hinter Stacheldrähten und die Mordbanden, die im Namen der Religion Köpfe abschneiden. Das Schlimmste passiert gerade jetzt, und natürlich ist es nahezu blamabel, so zivilisiert hier zu stehen, als passierte es nicht. Wie also den Übergang finden, wie sich hinüberretten zur Schönheit?
II
Wer durch diese Räume geht, wird wohl auch vor Willem van Haechts »Apelles malt Kampaspe« stehenbleiben. Das Bild verdoppelt die Realität: in einem Raum voller Gemälde ein Gemälde, das einen Raum voller Gemälde darstellt. Van Haechts Gestalten des Malers, des Modells, des mächtigen Herrschers und der Umstehenden sind letztlich weniger interessant als ihr wundervoll reicher Hintergrund: ein heller Museumsraum, an dessen Rückwand sich ein Torbogen auf einen weiteren Raum voller Bilder und Statuen öffnet, an dessen Rückwand sich als traumartige Versprechung ein weiteres Tor zu einem weiteren Raum befindet. Es könnte einen die Lust anwandeln, statt durch die echte durch die imaginäre Ausstellung zu gehen und statt des Städels bloß van Haechts Bild zu besuchen. So imaginär sein Museum ist, so echt ist doch die Ausstellung darin: Vorlage war die vom Künstler selbst als Kurator betreute Sammlung des Antwerpener Gewürzhändlers Cornelis van der Geest. Da sind Rubens’ »Amazonenschlacht« und Renis »Kleopatra«, da sind Tizian, van Dyck und Domenichino, und da sind viele Bilder, die heute nicht mehr identifizierbar und nirgendwo sonst erhalten sind als auf diesem Bild, das ein schlechthin vollkommenes Museum ohne Anmaßung und falsche Sakralität zeigt, eine scheinbar unordentliche, aber innerlich wunderbar geordnete Heimstätte der Kunst.
Van Haecht malte sie im Jahr 1630. Er malte sie als Bürger eines Landes, das seit zweiundsechzig Jahren in einen Krieg mit Spanien, der führenden Großmacht der Welt, verwickelt und außerdem seit zwölf Jahren vom blutigsten Schlachten der europäischen Geschichte umgeben war, das man damals naturgemäß noch nicht das Dreißigjährige nennen konnte und das den Norden des Kontinents in einer Weise verwüstete, wie wir es uns unter Aufbietung unserer ganzen Phantasie nicht vorstellen können. Wir beschweren uns über die Wespenplage dieses heißen Sommers, aber in jenen Jahren gab es eine Wolfsplage, und dieses Wort bedeutet genau das, was wir uns darunter vorstellen und wovon heute noch unsere Märchen erzählen, und dazu war die lange Pestepidemie noch immer nicht vorbei, und auf den Scheiterhaufen brannten in katholischen wie protestantischen Landen Menschen unter der Anklage der Hexerei, insgesamt über hunderttausend. All das ist keine schwarze Folklore. Willem van Haecht malte diesen hellen und friedlichen Dialog der Meisterwerke in einem der schlimmsten Momente der Geschichte. Das Bild selbst scheint das nicht zu wissen, einzig die auftrumpfende Figur des Monarchen vorne bringt eine Ahnung von der Anmaßung der Mächtigen herein.
Was ist wirklich geblieben aus dieser Zeit – geblieben in dem Sinn, daß es uns noch vertraut und nahe ist? Dieses Bild und viele der Bilder, die es zeigt, und andere Bilder und einige Gedichte und große Musik. Ich meine das nicht im Sinn einer Phrase wie »Die hehre Kunst überdauert alles«. Erstens überdauert auch die hehre Kunst meist nicht, und zweitens bin ich nicht sicher, ob das Vergehen, Verwehen, Verschwinden und Vergessen des millionenfachen Menschenleids so eine erfreuliche Sache ist. Die großen Verbrechen werden, ist genug Zeit vergangen, zu spannenden Schauergeschichten, und die Schmerzen, die sie verursachten, bestenfalls zum Detail im Geschichtsbuch. Die Kunst ist für die Wahrheit da, aber diese findet ihren Ausdruck im Schein – ein Wort, das schon Hegel im Bewußtsein seines Doppelsinnes von Glanz und Illusion verwendet hat, oder stärker ausgedrückt: von Licht und Lüge.
III
Nun muß ich doch meine Kunstlehrerin erwähnen. Ich wollte es nicht, aber es läßt sich nicht vermeiden. Sie hat sich wohl nicht träumen lassen, daß einmal im Städel von ihr die Rede sein könnte. Aber ich verdanke ihr viel. Hat sie mein Interesse für Malerei geweckt? Das kann man beim besten Willen nicht behaupten. Ich hatte ein paar großartige Lehrer. Sie gehörte nicht dazu.
Ihr Hauptanliegen bestand darin, von uns Schülern in Ruhe gelassen zu werden, damit sie Zeitung lesen konnte. Also stellte sie irgendeinen per se schon wenig einnehmenden Gegenstand vor uns hin – eine Blumenvase, eine Lampe, eine unglücklich blickende Puppe –, forderte uns auf, ihn abzuzeichnen, und verstummte. An einem besonders tristen Vormittag bestand die Aufgabe darin, unseren Ärmel zu zeichnen. »Schaut darauf, schaut, wie der Stoff Falten wirft, und dann zeichnet das!«
Es verging eine quälende Stunde, in der ich Stifte kratzen hörte und sah, wie andere rechts und links von mir das hinbekamen, manche gut, manche weniger gut, viele, so wie ich, überhaupt nicht. Ich wurde immer verzweifelter, weil dieser schreckliche Stoff meines Ärmels, den ich doch so deutlich sah, sich weigerte, den Weg aufs Papier zu nehmen. Ich versuchte es immer wieder, aber jedesmal entstand nur ein unförmiger Fleck mit ein paar hellen und ein paar dunkleren Stellen, der wirklich nicht meinem Ärmel ähnlich sah. Wenn jemand nachfragte, wurde die Lehrerin ungeduldig. »Schau doch einfach hin!« Und ihr Gesicht verschwand wieder hinter den Schlagzeilen.
Also schaute ich hin. Und das half nichts! Wie konnte das sein? Denn es klang ja so überzeugend, was sollte man denn noch tun als einfach hinschauen! Und doch ging es nicht.
Damals, mit zehn Jahren, begriff ich, was es heißt, begabt zu sein. Ich begriff es, weil mir klar wurde, daß ich unbegabt war. Daß es eine Verwandlung gab, zu der andere imstande waren, ich aber nicht. Und noch etwas verstand ich: daß das Hinschauen allein niemals nützt. Nicht beim Zeichnen, nicht beim Geschichtenerzählen. Daß es eine Technik gibt, daß jemand dir erklären muß, wie man es macht, denn auch das einfachste Abbilden ist ein Vorgang der Transformation. Vor kurzem fand ich eine ähnliche Kunstunterrichtsituation im Roman »Der Scheiterhaufen« des ungarischen Schriftstellers György Dragomán wieder, da allerdings geschildert aus der Sicht eines im Unterschied zu mir begabten Mädchens. Ihr Lehrer fordert sie auf, einen Baum abzuzeichnen:
»Der Kohlestift sitzt auf dem Blatt, die Bewegung in meiner Hand, ich weiß schon, daß es gut wird, diese Linie wird gut, so wie es sein muß, und ich weiß, man darf das nicht denken, ich darf mich nicht darum kümmern, ob es gut wird, sicher, wenn es schlecht wäre, müßte ich mich darum kümmern, doch wenn es gut ist, spielt es keine Rolle, es bedeutet nur, daß man nicht aufhören muß. Das Papier ist weiß, die Kohle schwarz, der Zeichenlehrer hat nicht erklärt, was das bedeutet, ich führe den Kohlestift, und wie sich die Knorren des Baumstammes aus der Linie herausbilden, begreife ich es. Es bedeutet, daß man dumm sein muß, beim Zeichnen muß man dumm sein, nicht blind und nicht eingebildet, sondern einfach nur dumm genug, um zu akzeptieren, daß die Linie nur eine Linie ist, auch dann, wenn sie sich für mehr ausgeben will.«
Denn die Außenwelt kommt nicht in runder und bunter Vollständigkeit zu uns, die man nur passiv betrachten muß, wir setzen sie kontinuierlich und unter erheblichem Aufwand zusammen. Strecken Sie den Arm aus und blicken Sie auf Ihren Daumennagel, so klein ist der Fleck, den Sie scharf und farbig sehen können, größer nicht. Alles darum herum glauben Sie nur zu sehen, aber Sie sehen es nicht, sondern erinnern sich nur daran, daß Sie es soeben oder vorhin oder irgendwann gesehen haben oder meinen es gesehen zu haben, und setzen es aus vagen und oft nicht korrekten Erinnerungen zusammen, und das, was dabei herauskommt, ist löchriger, als wir meinen. Da ist natürlich der blinde Fleck in der Mitte unseres Blickfeldes, den unser Bewußtsein einfach ausblendet, und da ist der noch viel größere blinde Fleck des Raumes hinter uns, den wir nicht sehen, ohne uns überhaupt darüber zu wundern, daß diese große Dunkelheit nicht in irgendeiner Form in unserem Gesichtsfeld auftaucht – warum ist da keine schwarze Leere, sondern buchstäblich nichts, also auch keine Abwesenheit? Weil unser Bewußtsein sogar das Nichts eskamotieren kann. Unsere Augen bewegen sich unablässig, unser Gehirn ist dauernd damit beschäftigt, aus dem Nacheinander der Eindrücke ein Nebeneinander zu machen, ein stabiles Modell von Dingen in einem in drei Dimensionen ausgespannten Raum. Die Welt, wie sie uns wirklich entgegentritt, sieht einem Braque ähnlicher als einem Watteau. Die Verwandlung eines aufwendig konstruierten Objekts in dessen zweidimensionale Abbildung ist ein komplizierter Vorgang: Man braucht Technik, Können und Erfahrung, man darf die Dinge nicht als Dinge sehen – eben das meint Dragománs Heldin damit, daß man dumm werden müsse. »I am a camera« heißt Christopher Isherwoods berühmter Reportagenband; ein schöner Titel, aber die Wahrheit ist, daß kein Mensch eine Kamera ist, und sogar eine Kamera braucht eine Menge Linsen und komplizierte Manipulationen des Lichtwegs, damit eine scheinbar simple Abbildung entsteht und wir meinen können, die Realität wäre etwas, das sich fangen läßt wie ein Fisch im ausgeworfenen Netz.
(...)
SINN UND FORM 1/2016, S. 64-75, hier S. 64-
- 2/2017 | Der Palast der Perspektiven. Über Gottfried Wilhelm Leibniz
- 1/2019 | Die verdunkelten Jahre. Über zwei Romane Franz Werfels
Keilson, Hans
- 3/1952 | Zu einem alten Niggun
- 2/2009 | Gespräch mit Matthias Weichelt, S. 273 Leseprobe
Keilson, Hans
Gespräch mit Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens in Holland gelebt und gearbeitet, halten aber immer noch an der deutschen Sprache fest, schreiben auf deutsch. Das ist etwas Besonderes.
HANS KEILSON: Das ist es bestimmt. Meine Frau würde sagen, es ist schon sehr seltsam. Ich bin holländischer Arzt, holländischer Nervenarzt, Psychoanalytiker. Aber es gibt eine Verbindung, eine Beziehung, für die ich nur das Wort Treue finde.
WEICHELT: Dabei heißt Ihr 1986 erschienener Gedichtband, in dem Texte seit den dreißiger Jahren, also auch aus der Zeit vor Ihrer Flucht versammelt sind, »Sprachwurzellos«. Ist in diesem Begriff für Sie beides enthalten, Herausgerissensein und Verbundenheit?
KEILSON: So ist es. Das ist Sprachwurzellosigkeit. Ich spreche mit meinen Patienten holländisch, habe aber meinen ersten Roman im S.Fischer Verlag publiziert. Ich erinnere mich daran, daß der alte Samuel Fischer mir bei einem Empfang in seiner Villa im Grunewald die Hand schüttelte und sagte: Wir bringen ja ein Buch von Ihnen. »Das Leben geht weiter« konnte 1933 noch herauskommen, wurde aber schon im Jahr darauf verboten. Mein zweiter Roman, »Der Tod des Widersachers«, in dem ich meine Erlebnisse in der Nazizeit verarbeite, erschien 1959 bei Westermann. In Deutschland wurde das Buch kaum wahrgenommen, in Amerika bekam es glänzende Kritiken.
WEICHELT: So ging es ja vielen geflohenen Autoren in der Nachkriegszeit, etwa Alfred Döblin, der wie Sie bei S. Fischer war. Haben Sie dafür eine Erklärung?
KEILSON: Ich dachte immer, das liege an meiner Haltung. Der Roman ist ja kein Haßroman. Ich habe 1944 auch ein Gedicht geschrieben, »Variation«, in dem heißt es: »Doch lieg ich jetzt und gar so wund / in fremdem Land und scheu das Licht. / Es tönt aus meines Kindes Mund / ein andrer Klang als mein Gedicht. // Und wenn es dämmert, ziehn vom Meer / Flieger herauf zur Phosphorschlacht. / Ich lieg auf meinem Lager, schwer, / denk ich an Deutschland – in der Nacht.« Damals haben die englischen Flugzeuge Phosphor über Deutschland abgeworfen. Und ich lag auf meinem Lager, versteckt, und wollte nicht, daß mein Land mit Phosphor bombardiert wird. Ich wünschte es auch meinen Feinden nicht. Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, auch wenn das viele gestört hat.
WEICHELT: Ihren Unmut über die Zerstörung der deutschen Städte haben Sie ja noch vor Kriegsende in einem Essay zum Ausdruck gebracht.
KEILSON: Ja, im Februar 1945 schrieb ich den Text »Ein leises Unbehagen«. Mit war nicht wohl bei der Vorstellung, daß auf Zerstörung immer nur Zerstörung folgt, daß man einen Brand, also die Bombardierungen durch die Deutschen, mit neuen Bränden löschen will. Wohin sollte all das führen? Mein Unbehagen bestand darin, daß eine Welt vernichtet wurde, nicht nur schöne Städte. Es war zwar die Welt unseres Feindes, aber irgendwann würde es die Welt unseres Freundes sein. Eine Welt, durch Wille und Fleiß von Menschen im Verlauf ihrer Geschichte aufgebaut, wurde durch Wille und Fleiß anderer Menschen zu Nichts zerschmettert, als wäre es Kinderspielzeug.
WEICHELT: Sie haben in Berlin Medizin studiert und 1934 das Examen gemacht, durften als Jude aber nicht Arzt werden, so haben Sie bis zu Ihrer Emigration an jüdischen Privatschulen Sport und Gymnastik unterrichtet. Wie schnell wurde Ihnen klar, daß Sie aus Deutschland wegmußten?
KEILSON: Ich erinnere mich, daß Oskar Loerke, mein Lektor bei S.Fischer, 1935 zu mir sagte: Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, ich befürchte das Schlimmste.
WEICHELT: Haben Sie das auch so gesehen? [...]SINN UND FORM 2/2009, S. 273-277
Keisch, Henryk
- 4/1964 | Roger Vailland, »Seltsames Spiel«
Kellen, Konrad
- 3/2009 | Mein Boß, der Zauberer. Als Sekretär von Thomas Mann in Los Angeles, S. 362 Leseprobe
Kellen, Konrad
Mein Boß, der Zauberer. Als Sekretär von Thomas Mann in Los Angeles
In Thomas Manns Tagebüchern von 1941-43 komme ich öfter vor, aber immer als Konrad Katzenellenbogen. Das war in der Tat mein ursprünglicher Name. Ich nannte mich in den USA eine Zeitlang »Bogen«, entschied mich aber schlußendlich für die Abkürzung Kellen, nachdem ich im August 1943 in die amerikanische Armee eingezogen und vom Soldaten zum Gefreiten befördert worden war.
Noch unter Kaiser Wilhelm II., am 14. Dezember 1913, wurde ich als Kind christlicher Eltern jüdischer Herkunft in Berlin geboren und in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche getauft und eingesegnet. Ich lebte mit meinen Eltern teils in unserem prächtigen Haus an der Bendlerstraße 40 in Berlin, teils auf unserem Rittergut mit dem schönen Namen Freienhagen außerhalb von Berlin, zu welchem ein Dorf gleichen Namens gehörte. Meine Mutter hatte eine große Gemäldesammlung mit Bildern von Monet, Manet, Renoir und Cézanne und wurde von Max Liebermann gemalt. Mein Vater führte die Brauerei Schultheiß-Patzenhofer.
In der Weltwirtschaftskrise und durch einen Finanzskandal verloren meine Eltern 1930 den Großteil ihres Vermögens, 1933 wurden sie geschieden, und somit zerfiel unsere Familie. Dennoch schrieb ich mich im Frühjahr 1932 an der Universität in Heidelberg als Student der Rechte ein und verbrachte mein zweites Semester in München, als im Januar des Jahres 1933 zum Jubel der Männer und auch der Frauen Adolf Hitler über Deutschland hereinbrach. Vor diesem Wahnsinn floh ich sogleich und schlug mich recht und schlecht durch in verschiedener Herren Länder, bis ich nach Amerika kam. Nicht bevor der »Führer« sich eine Kugel in den Schädel geschossen hatte, betrat ich wieder deutschen Boden - dieses Mal als amerikanischer Besatzungsoffizier mit der Aufgabe, bei der Bereinigung der verseuchten deutschen Presse mitzuwirken.
Zwei Jahre zog ich ziellos durch Frankreich, Jugoslawien und Holland. In Paris lernte ich im Februar 1935 Klaus Mann kennen. Ab und zu besuchte ich ihn und Erika in Südfrankreich, wo sich damals viele deutsche Emigranten aufhielten. Im Herbst 1935 fuhr ich auf dem holländischen Dampfer „Statendam« in das mir völlig unbekannte New York. Dort schlug ich mich vier Jahre mit kleinen Pöstchen durch. Ich war Aktienhändler bei dem später sehr berühmten Börsianer Benjamin Graham an der Wall Street. Aber meine Bemühungen, mir dort ein Riesenvermögen zu verdienen, oder mir wenigstens ein neues Leben zurechtzuschustern, waren nicht von Erfolg gekrönt.
Die Mann-Kinder besuchten mich in New York, wenn sie in der Stadt waren. So kam es 1937 auch zur Begegnung mit Thomas Mann im Hotel Bedford. Er war zu dieser Zeit wieder auf einer Amerikareise. Das Bedford war und ist ein für amerikanische Verhältnisse kleines, aber vornehmes Hotel an der 40. Straße in Manhattan, nur sechs oder sieben Stockwerke hoch, in einer verhältnismäßig ruhigen Gegend. Die Manns hatten zwei Schlafzimmer und einen kleinen Salon im ersten Stock gemietet. Während des Tees im Salon waren auch Thomas Mann und seine Frau Katia erschienen.
Im ersten Gespräch mit Thomas Mann fiel mir vor allem auf, daß seine Ausdrucksweise weniger gewählt und viel humorvoller war als in seinen Büchern, aber so präzise, daß sie mich faszinierte. Er wirkte bescheiden, aber selbstsicher, und vor allen Dingen überaus förmlich. Zugleich war er ausgesprochen freundlich. Bei unserem ersten Gespräch trug er einen grauen Anzug mit Weste und eine breit gebundene Krawatte. Beim Tee fragte er mich, wie und wann ich nach Amerika gekommen sei und wie ich mich hier eingelebt hätte. So lernte ich schon beim ersten Gespräch eine seiner Haupteigenschaften kennen: wenig selber zu sagen, aber viel zu fragen.
Anfang 1940 übersiedelte ich nach Santa Monica, einem Vorort von Los Angeles, in der Hoffnung, dort Fuß zu fassen. Ich wohnte in einem kleinen Mietshaus mit Blick auf den Pazifik. Es war wirklich das Land, in dem überall die Zitronen blühten, reiften und für einen Pappenstiel zu kaufen waren. Ein paar Monate später, im Juli 1940, traf ich auf einem Spaziergang auf der Ozean-Promenade in Santa Monica Erika Mann wieder. Ihre Eltern waren für eine Weile nach Los Angeles gekommen. Erika wohnte bei ihnen in einem gemieteten Haus in Brentwood. Im Verlauf des Sommers war ich öfters bei den Manns zu Gast, wobei ich ihnen mit allen möglichen Dingen behilflich war.
Nachdem Thomas und Katia Mann im April 1941 definitiv nach Kalifornien umgezogen waren, sahen wir uns schon ein paar Tage nach ihrer Ankunft wieder. Erika hatte mir erzählt, daß ihr Vater einen Sekretär für seine umfangreiche deutsche und englische Korrespondenz und zum Kopieren seiner Manuskripte (die er alle mit Tinte und Füllfederhalter schrieb) suche und ich vielleicht für diesen Posten geeignet und akzeptabel sei. Berückt von der Aussicht, Manns Sekretär zu werden, begab ich mich am Karfreitag in sein gemietetes Haus in Pacific Palisades, einem Vorort von Los Angeles, um die Sache mit dem »Zauberer« zu besprechen, wie er in der Familie genannt wurde.
[...]
SINN UND FORM 3/2009, S. 362-363
Kellermann, Bernhard
Kemal, Orhan
- 2/1961 | Auf den fruchtbaren Feldern
Kempff, Diana
- 3/2012 | Gedichte
Kempker, Kerstin
- 5/2018 | Einer muß wachen. Nachtstück
- 1/2021 | Ohne Form sind wir Staub. Aus einem Berliner Nachtstück
- 2/2022 | Fußnote 8
- 5/2023 | Leonor rückwärts. Vom Sturz in eine Geschichte
Kempowski, Walter
- 5/1994 | Dankeswort
- 2/2006 | Gespräch mit Detlef Hamer
- 3/2019 | »Dieser Brief mußte geschrieben werden«. Korrespondenz mit Jörg Drews 2005 – 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler, S. 231 Leseprobe
Kempowski, Walter
»Dieser Brief mußte geschrieben werden.« Korrespondenz mit Jörg Drews 2005 - 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Vorbemerkung
»Ich glaube, Du bist der einzige Mensch, der das, was ich unternehme, zu würdigen versteht «, schrieb Walter Kempowski am 30. Januar 1998 an den Literaturwissenschaftler und Kritiker Jörg Drews. Der hatte kurz vorher unter der Überschrift »Das Fernsehen, von Walter Kempowski geschreddert« eine Rezension zu dessen »Bloomsday ’97« verfaßt. Das Buch – ein Protokoll der Fernsehrealität, von Kempowski und seinem Team am 16. Juni 1997 auf 37 Sendern zusammengezappt – war von den meisten Rezensenten äußerst kritisch aufgenommen worden. Wie oft in solchen Momenten fühlte sich Kempowski von der Kritik unverstanden. Drews dagegen hatte den richtigen Ton getroffen. Er beschrieb die Lektüre zwar als »problematisch, ja vielleicht eigentlich gar nicht möglich«, doch in einer glühenden Verteidigungsrede zündete er ein wahres Feuerwerk an Argumenten, um die Berechtigung eines solchen literarischen Experiments – fast »ein Stück Concept Art« – zu unterstreichen, und bescheinigte dem Autor scherzhaft eine »hochgradig naive Intelligenz«. Kempowski wäre nicht Kempowski, hätte er dieses Bonmot unkommentiert gelassen. Selbstironisch begann er seinen Brief mit den Worten: »Bevor ich wieder an die Arbeit gehe, ›hochgradig naiv‹, aber einigermaßen intelligent, möchte ich Dir noch einen kurzen Liebes- und Dankesgruß senden.«
Warum sich zwei Menschen befreunden, gehört vielleicht zu den größten Mysterien des Daseins; was dieses Mehr an Sympathie stiftet, läßt sich oft nur schwer ergründen. Daß aber ein Schriftsteller und ein Kritiker auf Dauer Freundschaft schließen, darf an sich schon als seltener Umstand gewertet werden – um so mehr, wenn sie a prima vista so unterschiedlich sind, wie es Kempowski und Drews waren: auf der einen Seite der zierlich gebaute und introvertiert wirkende Autor, der als »Dorfschulmeister« (Kempowski) zurückgezogen im niedersächsischen Nartum lebte und über Jahrzehnte ein riesiges literarisches Werk schuf, auf der anderen Seite der stattliche, weltläufige, dynamisch und vital auftretende Drews, der nicht nur zwischen Bielefeld, wo er bis 2003 als Professor lehrte, und seinem zweiten Zuhause München pendelte, sondern überall auf der Welt in literarischer Mission unterwegs war.
Daß der in seinem Kosmos wie in einer Zelle lebende Kempowski und der umtriebige Drews dennoch Freundschaft schlossen und diese mehr als drei Jahrzehnte, bis zu Kempowskis Tod hielt, war kein Zufall. Was die beiden verband, war offensichtlich stärker als die vordergründigen Gegensätze: Es war zuallererst das Eintreten für experimentelle moderne Literatur. Dazu paßte ihre gemeinsame Begeisterung für das Werk von Arno Schmidt. Drews, der keine Berührungsängste vor Autoren zeigte – auch nicht vor solchen, die wie Schmidt als »verschroben« galten –, besuchte den notorischen Einzelgänger 1964 in Bargfeld, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. 1970 erfand er das »Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat«, dessen Mitglieder insbesondere den Monumentalroman »Zettel’s Traum« zu entschlüsseln suchten und auch vor Ort Studien betrieben. 1972 gründete Drews den »Bargfelder Boten«, quasi ein wissenschaftliches »Fanzine«, das sich bis heute mit Schmidts Werk befaßt. Er widmete sich dem Autor mit der ihm eigenen Leidenschaft, und es darf als eines seiner großen Verdienste gelten, dessen avantgardistisches Werk einer breiteren Öffentlichkeit und auch zahllosen Studenten – und damit der Wissenschaft – zugänglich gemacht zu haben.
Im Gegensatz zu Drews, der über viele Jahre persönlichen Umgang mit Schmidt pflegte, war Kempowski ein privater Kontakt nicht vergönnt gewesen. Einige Briefe, die er in den sechziger Jahren an Schmidt schrieb, ließ dieser unbeantwortet, sieht man einmal davon ab, daß er den Sonderdruck eines seiner Essays kommentarlos an Kempowski schickte. Trotzdem outete sich der Autor aus Nartum bei vielen Gelegenheiten als Schmidt-Verehrer und beschwor immer wieder seine geistige Nähe zu dem Eigenbrötler, so zum Beispiel im Juni 1979 in seinem Nachruf in der »Zeit«: »Arno Schmidt wohnte zwar nicht in meiner Nähe (…), aber er war mir der Nächste, er war mein Nachbar.«
Am 27. November 2001 sagte Kempowski im »alpha-Forum« des Bayerischen Rundfunks: »Ich habe mir von ihm das, was er in seinen Büchern ›Schnappschußtechnik‹ nannte, abgeschaut: Das hat mich interessiert, das hat mich beeinflußt. Ähnlich ist aber auch dieses merkwürdig abgeschlossene und klösterliche Leben, das er geführt hat.« Und an Drews schrieb er am 14. November 2006: »Wenn ich heut so daran denke, verband mich etwas mit ihm, das meiner Bindung zu Johnson ähnlich war. Eine Art Furcht / Liebe / Respekt. Daß ich auch ›dazu gehöre‹, stellt sich erst jetzt heraus.« Dazu zeichnete er die drei Namen mit verbindenden Linien zu einem Dreieck: oben »Schmidt«, links und rechts »Kempowski« und »Johnson«.
Wann und wo genau sich Drews und Kempowski kennenlernten, ist nicht mehr zu klären. Daß es Anfang der siebziger Jahre war, darin waren sich beide einig. So schrieb Drews in einem Beitrag zu »Erst-Begegnungen« mit Autoren über die seiner Meinung nach erste Zusammenkunft mit Walter Kempowski: »Es muß ein ganzer Trupp von Leuten gewesen sein, der da Anfang der siebziger Jahre bei ihm einfiel, als er noch bei Hanser war. Wir tafelten in der Halle seines Hauses in Nartum, und ich nahm ihn nur ungenau wahr, er war nur vage ein Erfolgsautor für mich, hatte noch kaum Kontur, erst später las ich den ›Block‹, sein erstes und eines seiner besten Bücher. Aus diesen lärmenden und leicht angetrunkenen Anfängen entwickelte sich die Wahrnehmung eines Werkes von – auf weite Strecken – scheinbar kurioser Biederkeit und Drögheit, und erst nach und nach lernte ich Walter Kempowskis Bücher lesen: Sie sind viel unheimlicher und hinterhältiger, als den meisten Kritikern bis heute aufgegangen ist. Damals aber, Anfang der siebziger Jahre, wuselte Kempowski für mich nur im Hintergrund einer großen Gesellschaft in seinem geräumigen Haus herum, klein und schmal, und alle andern wirkten neben ihm fast ungeschlacht und dröhnend selbstsicher.«
Kempowski dagegen verortete die erste Begegnung in München. So diktierte er einer Mitarbeiterin im Jahr 2005 zu dem Messingtäfelchen mit dem Namen des Freundes, einem der vielen, die bis heute die Regale im Turm des Kempowski-Hauses zieren: »Jörg Drews, der Liebe, gehört nun wirklich zu meinem engsten Freundeskreis und er war unzählige Male hier. Ich lernte ihn 1971 oder ’72 in München kennen. Damals trug er noch eine Beatle-Mähne, damals war er noch langhaarig. Und er machte, von mir bestaunt, zusammen mit Ludwig Harig die sonderbarsten Witze. Bis heute ist er mir treu geblieben, und ganz unauffällig sorgt er immer dafür, daß mein Name gefördert wird. Er ist also Freund und Wohltäter und auch allerdings Beichtiger, denn oft habe ich ihn angerufen und mich mit ihm über heikle Angelegenheiten besprochen.«
Das Treffen in München und der Besuch in Nartum – beides könnte sich so zugetragen haben. Dafür, daß sich der Kontakt nach der von Drews beschriebenen Begegnung in Kempowskis Haus – es wurde im Sommer 1974 bezugsfertig – intensivierte, spricht auch die Tatsache, daß vorher keine Eintragungen zu Drews in den Tagebüchern Kempowskis zu finden sind und der mutmaßlich erste Brief vom 28. März 1975 stammt. In ihm dankte Kempowski dem lieben Herrn Drews für dessen »Zeppelin-Informationen«. »In den großen Ferien«, schrieb er, »gehe ich mit dem Tonbandgerät auf die Reise. Ich will Altersheime abklappern nach Weltkrieg I-Veteranen. Daß ich Luftschiffer finden werde, ist unwahrscheinlich, und diese Lücke eben werde ich mit Hilfe Ihrer Literatur schließen können.«
Jörg Drews, der gern Pilot geworden wäre, hatte von Jugend an ein Faible für die Luftfahrt – wer sein Besprechungszimmer an der Universität Bielefeld betrat, konnte an einem Tisch mit zwei Lufthansa-Sitzen Platz nehmen. Seine Kenntnisse waren nahezu unerschöpflich, und offensichtlich hatte Kempowski diese Quelle, möglicherweise für ausgedehnte Recherchen zu seinem Roman »Aus großer Zeit«, angezapft. Später bot er Drews die Mitarbeit an verschiedenen Projekten an, so zum Beispiel an »Kempowskis Kuriositäten-Lexikon« (kurz »KKL«) sowie einem »Kalender«, beide wurden jedoch nicht realisiert. Erst bei der »Gast-Lektoren-Tätigkeit« kam es zu einer Kooperation. Kempowski schrieb am 19. September 1978: »Ich habe lange überlegt, wen ich dafür auswählen könnte (…). Nur Du bist mir eingefallen, vielleicht ein Zeichen für Dich, wie sehr ich Dich schätze.«
Drews nahm das Angebot an, traf sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in Nartum mit Kempowski und verfaßte nach diesen Arbeitsgesprächen Gutachten, die dem Gründer und Leiter des Münchner Knaus Verlags, Albrecht Knaus, zur Orientierung über die Vorhaben seines Autors dienten. 1983 begann auch die von Radio Bremen in Kempowskis Haus veranstaltete Reihe »Literatur im Kreienhoop«, bei der Drews ein gerngesehener Gast war. Zu dieser Zeit gehörte Kempowski bereits zu den vielgelesenen deutschen Autoren, Teile seiner Familiengeschichte waren von Eberhard Fechner verfilmt worden, und der Abschlußband der »Deutschen Chronik« mit dem Titel »Herzlich willkommen« stand kurz vor der Veröffentlichung.
Drews war seit 1973 Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts in Bielefeld. Er rezensierte für die »Süddeutsche Zeitung« und andere Printmedien, war Mitbegründer des »Bielefelder Colloquiums Neue Poesie«, verkehrte freundschaftlich mit zahlreichen Autorinnen und Autoren, kurz: war gut vernetzt und hatte sich als gewichtige Stimme in der deutschen Literaturlandschaft etabliert. Kempowski suchte seinen Rat, wenn literarische Vorhaben ins Stocken zu geraten drohten. Drews erkundigte sich regelmäßig nach dem Stand der Arbeiten. War ein neues Buch erschienen, verfaßte er in der Regel nicht nur eine Rezension, sondern schrieb dem Autor auch persönlich. So zum Tagebuch »Sirius«, das 1990 erschien: »ich habe mich sehr gefreut an dem buch, bei dem du eine schöne balance hältst von infragestellung deiner selbst und rechtbehaltenwollen, von haarsträubenden späßen und einem ernst, den du aber nicht zu lange durchzuhalten versuchst. manchmal hat man auch den eindruck, daß du gar ein ganz klein bißchen weise wirst. und das sage ich ohne spott & ironie!« (18. Dezember 1990) Doch Drews konnte auch Kritik anbringen, wie im Brief vom 22. Juni 1992 anläßlich des Romans »Mark und Bein«: »ich habe das buch als sehr unterhaltend empfunden, aber es hat nicht die pranke des löwen in seiner handschrift, das muß ich dir doch sagen. das erschütternde wird ein bißchen überlaufen oder verwischt durch das pläsierliche. pardon! da hatte doch der SIRIUS einen anderen biß!!!! und vom ECHOLOT verspreche ich mir höchstes und intensivstes.«
Immer war es der experimentelle, ja avantgardistische Ansatz, den Drews besonders schätzte; sobald Kempowski sich ins Fach des konventionellen Romanciers entfernte, konnte er eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen. Der Austausch intensivierte sich im Zusammenhang mit dem zehnbändigen »Echolot«, neben der »Deutschen Chronik « und den Tagebüchern eine weitere tragende Säule des Werks. Von Anfang an war Drews in die Entstehung involviert und vom Vorhaben und seiner Umsetzung begeistert. Kempowski schrieb ihm regelmäßig von den Versuchen, der Textmassen Herr zu werden, aber auch vom Ringen um die Form. Experimente zur Collage- und Montagetechnik, eingefügte Bilder und Zeitsprünge, die Sprechspur (ein Versuch, die Ebene der »Echolot"-Texte mit Notaten aus dem eigenen Tagebuch zu kontrastieren): Was in der Dichterwerkstatt in Nartum diskutiert wurde, erfuhr man auch in Bielefeld. Und Drews setzte sich mit den Ideen weitsichtig auseinander und gab Ratschläge, die der Autor zu schätzen wußte. Oft folgte er ihnen, wenn auch manchmal erst nach weiteren Experimenten.
Ende 1993 war es soweit: Die ersten vier Bände des »Echolots« zum Januar / Februar 1943 erschienen. Das »kollektive Tagebuch« fand in der Presse großen Zuspruch und wurde zu einem der aufsehenerregenden Bucherfolge der neunziger Jahre. Drews verfaßte in der »Süddeutschen Zeitung« (4. / 5. Dezember 1993) unter der Überschrift »Ein Meisterwerk wird besichtigt. ›Das Echolot‹: Walter Kempowskis literarische Jahrhundertcollage « eine der zentralen Rezensionen. Am 30. Dezember dankte Kempowski ihm in einem zweiseitigen Brief für »die gute Meinung«, die er von dem Buch habe. »Du warst ja von Anfang an mit dem Projekt vertraut, und ich vergesse nicht den guten Ratschlag, den Du mir gabst, im Hinblick auf die ›Sprechspur‹, die in der Tat das Ganze nur belastet hätte. In der Reihe der großen Kritiken über das Echolot hast Du das Wort ›Pietät‹ gebraucht, Du hast sie gespürt, die Verhaltenheit oder Scheu, die mich davon abhielt, allzu kraß neben TM [Thomas Mann] etwa Auschwitz [Eintragungen aus dem »Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 –1945« von Danuta Czech] zu setzen. Der Versuchung, womöglich Beiträge in Anekdotenlänge aneinanderzureihen, bin ich nicht erlegen, wie Du selbst schreibst. Kürzen war mir immer peinlich, das wär mir so vorgekommen, als hätte ich nachträglich den Toten den Mund zugehalten. Wir müssen uns auch mal ›Längen‹ aussetzen, wieso sollten wir nicht die Zeit dazu haben?« Der letzte Band des »Echolots« erschien 2005.
[…]Simone Neteler
SINN UND FORM 3/2019, S. 293-316, hier S. 293-296
Keplinger, David
- 3/2023 | Die Sprichwörter der Hölle. Gedichte
Kerr, Alfred
- 5/2017 | »Es ist eine sehr seltsame Gefühlsmischung, die Sie erwecken«. Briefwechsel mit Arthur Schnitzler 1896-1925. Mit einer Vorbemerkung von Elgin Helmstaedt, S. 581 Leseprobe
Kerr, Alfred
»Es ist eine sehr seltsame Gefühlsmischung, die Sie erwecken«. Briefwechsel mit Arthur Schnitzler 1896-1925
Vorbemerkung
Als 1984 der zweite Band der Briefe Arthur Schnitzlers erschien, hieß es im Vorwort: »Obwohl Schnitzler es fast immer ablehnt, eigene Werke zu interpretieren, gibt es dennoch Briefe, die über seine inhaltlichen und ästhetischen Intentionen einigen Aufschluß geben.« Unter den fünf Adressaten, die solche Schreiben erhielten, war der Kritiker Alfred Kerr. Dabei lagen den Herausgebern gerade einmal vier Briefe an diesen vor, von denen sie drei veröffentlichten.
Bis 2013 besaß das Alfred-Kerr-Archiv der Akademie der Künste nur Schnitzlers letztes Schreiben an Kerr von 1925. Der Großteil der restlichen Briefe galt jahrzehntelang als verschollen. Als Kerr 1933 mit seiner Familie aus Deutschland fliehen mußte, wurde der größte Teil seines Besitzes konfisziert, darunter auch die Schnitzler-Briefe. In einem Zwischenlager der Gestapo nahm eine literaturinteressierte, vielleicht auch Schnitzler verehrende Sekretärin die Briefe an sich. Nach dem Krieg wagte sie nicht, mit ihrem »Fund« an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie vererbte die wertvollen Autographen ihrem Neffen, der sie 2013 einem Auktionshaus anbot. Nach Absprache mit der Familie Kerrs, den rechtmäßigen Eigentümern der Briefe, konnte die Akademie ein Vorkaufsangebot aushandeln und die Manuskripte erwerben.
Die Kerr-Autographen wiederum werden seit 1938 in Cambridge betreut. Schnitzlers Haus in Wien, in dem die Familie auch nach seinem Tod 1931 wohnte, wurde beim deutschen Einmarsch 1938 beschlagnahmt und versiegelt. Auf Initiative eines gerade in der Stadt befindlichen Studenten der University of Cambridge wurde der Nachlaß mit Einverständnis der Familie und mit Hilfe der englischen Botschaft nach England gebracht. Die vorliegenden 49 Briefe bzw. Karten Schnitzlers und 42 Schriftstücke Kerrs, aus denen hier eine umfangreiche Auswahl abgedruckt wird, sind bis auf wenige Ausnahmen unveröffentlicht.
Der Briefwechsel zwischen Arthur Schnitzler und Alfred Kerr setzte 1896 ein. Beide waren sich zwei Jahre zuvor bei einer Geburtstagsfeier der Mutter von Adele Sandrock, Schnitzlers damaliger Freundin, vermutlich zum ersten Mal begegnet. Ein halbes Jahr später schrieb Kerr in einer Kritik, wie Schnitzler in seinem Tagebuch vom 4. Dezember 1894 vermerkte, »über die ›entzückenden Anatoldramen und ein schmerzliches poesievolles Stück Märchen‹«. Autor und Kritiker waren zu diesem Zeitpunkt etwa dreißig Jahre alt und standen kurz vor ihrem Durchbruch in der literarischen Welt. Kerr, 1867 als Alfred Kempner in Breslau geboren und in einer akkulturiert-jüdischen Weinhändlerfamilie aufgewachsen, war in Berlin bei dem bekannten Germanisten Erich Schmidt promoviert worden. 1893 erschien im »Magazin für Litteratur« seine erste Theaterkritik, ab 1895 verfaßte er wöchentlich »Berliner Briefe«, u. a. für die »Breslauer Zeitung«, die auch in Berlin gelesen wurde. Darin schrieb er über Literatur, Theater, Ausstellungen, Reisen und das Alltagsleben.
Schnitzler wurde 1862 in Wien in eine jüdische Ärztefamilie hineingeboren. Er studierte ebenfalls Medizin, arbeitete nach seiner Promotion zum Doktor med. bis 1888 im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (wo auch der Neurologe Sigmund Freud praktizierte) und wechselte dann als Assistent seines Vaters an die Allgemeine Poliklinik. Nach dessen Tod 1893 eröffnete er eine Privatpraxis. Er wollte literarisch tätig sein und sah diese vor allem als Mittel zum Zweck des Lebensunterhalts. Mit zunehmendem schriftstellerischem Erfolg reduzierte er den Praxisbetrieb, gab ihn aber nie ganz auf.
1891 schloß Schnitzler sich der literarischen Vereinigung »Jung-Wien« an, wo er Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr, Felix Salten, Gustav Schwarzkopf und Paul Goldmann kennenlernte – sowie den siebzehnjährigen Hugo von Hofmannsthal, der sich »Loris« nannte. Die Gruppe wandte sich vom Naturalismus ab und wurde zur wichtigsten literarischen Bewegung der österreichischen Moderne. Schnitzler ragte durch sein psychologisches Einfühlungsvermögen hervor, besonders in den frühen Texten verarbeitete er auch eigene Erlebnisse. Schon bald wurde er mit den »Anatol"-Szenen einem größeren Publikum bekannt. Seine vielbeachtete Novelle »Sterben« erschien 1894 in der »Neuen Deutschen Rundschau«, die aus der »Freien Bühne« hervorgegangen war. Deren Gründer Otto Brahm war auch Intendant des Deutschen Theaters Berlin und führte am 4. Februar 1896 Schnitzlers Schauspiel »Liebelei« erstmals in Deutschland auf, mit populären Darstellern wie Agnes Sorma, die im ersten Brief an Kerr erwähnt wird. Schnitzler reiste zu den Endproben an, ärgerte sich, verhandelte mit dem Regisseur, machte letzte Textänderungen, prüfte die Publikumsreaktionen bei der Premiere und feierte hinterher mit Theaterleuten und Journalisten, darunter Alfred Kerr.
Zu diesem Zeitpunkt hatten beide schon eine gewisse Bekanntheit erreicht. Drei Tage später, am 7. Februar, begann der sich über einen Zeitraum von 29 Jahren erstreckende Briefwechsel. Er setzt ein mit zwei der typischen kurzen Brieflein, die beide sich schrieben, wenn sie in derselben Stadt waren und ein Treffen vereinbaren wollten, und die kaum mehr als Ort und Zeit enthielten. Die Stadt war meist Berlin, der Wohnort Alfred Kerrs; manchmal aber auch Wien, wo Arthur Schnitzler lebte. Verabredungsbriefe könnte man sie nennen – und dazu auch die Briefe zählen, die beide sich schickten, wenn sie auf Reisen waren und sich unterwegs ein Treffen erhofften. Besonders viele dieser Verabredungsbriefe wurden 1900 gewechselt – im Vorfeld einer Alpenwanderung, die sie mit Paul Goldmann, Richard Beer-Hofmann und Leo Van-Jung unternahmen.
Im ersten Brieflein von 1896 schickte Kerr mit »ergebenstem Gruß« Terminvorschläge an den »Verehrte(n) Herr(n) Schnitzler«. Dieser antwortete noch am selben Tag aus seinem Hotel dem »Geehrte(n) Herr(n) Kerr« und unterzeichnete mit »Ihr ergebener Arth Schn«. Adressiert war der Brief an »Herrn Alfred Kerr / Schriftsteller«. Schwingt darin ein wenig Ironie mit? Im nächsten Brief spricht Schnitzler lieber vom »Verhältnis zwischen Autor und Kritiker«. In bezug auf Kerr ist mit der Bezeichnung »Schriftsteller« aber schon etwas Wesentliches gesagt. Der aufstrebende Theaterkritiker, der inzwischen auch für die »Neue Deutsche Rundschau« und die Wochenschrift »Die Nation« schrieb, hatte genau diesen Anspruch an sich. 1905, im Vorwort seiner Gesammelten Schriften »Das neue Drama«, sprach er es deutlich aus: »Der wahre Kritiker bleibt ein Dichter: ein Gestalter. (…) Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt: so daß sie noch auf Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind. Die Kritik, die als eine Dichtungsart anzusehen ist.«
In der 1917 erschienenen fünfbändigen Ausgabe seiner Schriften, »Die Welt im Drama«, bekräftigte Kerr seine Auffassung von der Kritik als vierter Kunstform neben Epik, Lyrik und Dramatik und erklärte sich selbst zum Schriftsteller. Aus den 48 (!) Paragraphen des Vorworts spricht, man kann es nicht anders sagen, leichter Größenwahn: »ihr fühlt, daß in der Entwicklung der Menschensprache hier ein Kilometerstein unverwechselbar leuchtet«. Und er sorgt auch für den Fall des ausbleibenden Erfolges vor: »Sei ein Jahrhundertschriftsteller und arbeite ständig auch an Zeitungen (…) die Zeit ist kaum dafür.«
Ende August 1896 besuchte Kerr Schnitzler in Wien. Die Briefanreden in dieser Phase bezeugen die enger werdende Beziehung: »Liebster Herr Schnitzler« und »Mein lieber Doctor Kerr« heißt es schon im Januar 1897. Die gegenseitige Anrede »Lieber Freund« führt Schnitzler Anfang Februar 1900 ein, sie blieb über alle Konflikte und Pausen hinweg bis zu den letzten Briefen. Geduzt haben beide sich nicht, das vermied Schnitzler aber auch bei langjährigen und engen Freunden wie Schwarzkopf und Hofmannsthal. Bei den ersten Verabredungsbriefen blieb es jedenfalls nicht. Schon Schnitzlers Schreiben vom 19. März 1896, also kurz nach dem ersten Treffen, ist länger, inhaltsreicher. Er bedankt sich für einen Artikel in der »Neuen Deutschen Rundschau« – mit Abkürzungen und Andeutungen, in einer das Gelesene und die entstehende Beziehung psychologisch deutenden Sprache. Zu dieser zweiten Kategorie kann man 23 Briefe zählen: 15 von Schnitzler und 8 von Kerr. Solche Beziehungsbriefe, wie ich sie nennen möchte, sind bis zu sieben Seiten lang. Und sie sind die entscheidenden: Es geht um die Freundschaft, um Gefühle und Befindlichkeiten, um das Schrei ben, um (meist sehr emotionale) Reaktionen auf Schnitzlers Stücke bzw. Kerrs Kritiken. Kerr bewunderte Schnitzlers frühe Werke. Dieser war angesichts seines sonst schwierigen Verhältnisses zur Kritik erfreut über die kundige Anteilnahme. Er wollte verstanden werden.
Schnitzlers Stück »Freiwild«, in dem der Duell-Kodex des österreichischen Militärs kritisiert wird, wurde am 3. November 1896 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Während seines Aufenthalts traf Schnitzler Kerr eine Woche lang täglich. Beide waren nicht nur bei der Premiere, sondern auch bei zahlreichen Besuchen, Treffen und Mahlzeiten zusammen, meist in größeren Runden wie bei Oscar Bie, dem Herausgeber der »Neuen Deutschen Rundschau«. Am 5. November notierte Schnitzler in seinem Tagebuch: »Bei Bie. Dort Kerr; von meinem Stück nicht befriedigt; ähnliche Ansichten wie ich.« Hier deutet sich ein Muster an, das in den Briefen häufig wiederkehrt. Kerr kritisiert Schnitzlers Texte, und der sich selbst gegenüber äußerst kritische Schnitzler stimmt zu. Einige Male versucht der Autor, bestimmte Motive und Figurenkonstellationen vorsichtig zu erklären; manchmal wirbt er geradezu um Verständnis. So kommt es zu den für Schnitzler so seltenen Aussagen darüber, wie er schreibt. 1904 war in dieser Hinsicht das ertragreichste Jahr. Über Entstehung und Aufbau seiner Dramen »Der einsame Weg« und »Der Schleier der Beatrice« – letzteres heute vergessen, von Schnitzler selbst aber geschätzt – gab der Verfasser ausführlich Auskunft. Privates hingegen wird selten besprochen. Wie Kerrs Leben in dieser Zeit verlief, läßt sich in der 2016 erschienenen Kerr-Biographie von Deborah Vietor–Engländer nachlesen.
Um 1905 war Kerr als Essayist beliebt und als Kritiker gefürchtet; sein Ansehen stand dem Schnitzlers nicht nach. Trotzdem schlich sich in ihre Beziehung ein Ungleichgewicht ein. Wenn Schnitzler sich vorsichtig gegen eine Einschätzung Kerrs wehrte, entstanden Pausen in der Korrespondenz, schien ein Abbruch des Kontakts zu drohen. Eine Frage des Selbstbewußtseins? Schnitzler schien es in die Wiege gelegt worden zu sein, Kerr mußte es sich wieder und wieder erkämpfen. Hatte Kerr von der Schriftstellerkarriere geträumt, um die er Schnitzler beneidete? Schaut man sich seine Besprechungen von dessen Dramen an, drängt sich die Vermutung auf, daß der Kritiker den Schriftsteller auf mehr oder weniger subtile Art in die Schranken weisen wollte. Kerr vergab an Schnitzler Plätze in einem von ihm selbst ausgerufenen Wettbewerb mit anderen Schriftstellern. Dabei verhielt sich Kerr ambivalent: Lob und Kritik verkehrten sich zuweilen in ihr Gegenteil. Ein über ein Jahr lang angekündigter Artikel über Hofmannsthal und Schnitzler, nach dem letzterer immer wieder fragte, erschien schließlich im Juni 1900 in der »Neuen Deutschen Rundschau«. Von den sieben Abschnitten des sechsseitigen Textes (wie fast immer durch römische Zahlen gegliedert, Kerrs Markenzeichen) befaßt sich nur der letzte auf einer halben Seite mit Schnitzler, alles Vorangegangene galt Hugo von Hofmannsthal. Daß dieser erste Teil auch noch »fast panegyrisch« ausfiel, entschuldigt der Verfasser schon vor Erscheinen gegenüber Schnitzler als »Sympathie ohne Herzlichkeit «. Der zunächst dürftig wirkende letzte Abschnitt von »Aus der Wiener Mappe« galt allerdings einem unveröffentlichten Text, dem skandalumwobenen und von der Zensur lange verhinderten »Reigen«. So war selbst diese halbe Heftseite eine Ermutigung, und Schnitzler reagierte entsprechend erfreut. In einem ausführlichen Artikel in der »Neuen Deutschen Rundschau«, der nach der Uraufführung von Schnitzlers Schauspiel »Der einsame Weg« 1904 erschien und die Premiere des »Schleiers der Beatrice« mit einbezog, urteilte Kerr hingegen: »Die Beatrice und dieses Schauspiel mit ihrem tiefen Sinn für etliche Beziehungen des Daseins (…) stehen in Deutschland doch ohne Mittelglied hinter den Lebensstücken von Gerhart Hauptmann.« Was als Lob gedacht war, traf Schnitzler hart. In seinem nächsten Brief spricht er ungewöhnlich ausführlich über seine Gestaltung der Figuren und begründet selbstempfundene Mängel mit eigenen Charakterschwächen. Was ihn wirklich verletzt hatte, vertraute er aber nur seinem Tagebuch an: »Kritik Kerr (N. D. Rsch.) Eins. Weg; sehr günstig, mich doch an empfdl. Stellen treffend. – Stellt mich nach Hauptmann (mit Bea. und E. Weg) – dann lang nichts. – Wozu die Location. – Ich glaube wohl dass Hauptm. mehr Künstler ist als ich; – ahne aber, daß ich für später mehr werde zu bedeuten haben. –"
1905 erntete Schnitzlers Freund Richard Beer-Hofmann in der »Neuen Rundschau« Kerrs überschwengliches Lob für »Der Graf von Charolais«. Das Stück, eine Bearbeitung, wird eigentlich zerpflückt, die Sprachkunst des Verfassers aber in den Himmel gehoben: Der Artikel endet mit »Ave! –Ave! – Ave!« Im vorletzten Absatz, als Fazit, spricht Kerr von seiner Erschütterung: »Seit Gerhart Hauptmanns Landung hat in Deutschland keiner solche Worte gesprochen. (…) man spürt die Nähe des Unbeschreiblichen; (…) Hier wirkt eine verborgene Macht (…). Unter den Österreichern, die heute die Dichtung ihres Landes machen, steht Beer-Hofmann gesondert da. Ist er frei von snobistischer Kultur, die sich bei Hofmannsthal im strenger Eklektischen äußert, bei Schnitzler im Lebemanngestus (…)?« Letzterer setzte sich in seinem Tagebuch ausführlich damit auseinander. Er spürte Neid und verachtete sich dafür. Von Kerr spricht er als dem »berufensten Kritiker«. Kurz zuvor, Anfang Januar 1905, sah Schnitzler sich genötigt, in einem langen Brief auf eine Bemerkung Kerrs zu reagieren, die ihn herabwürdigte. Er war als Schriftsteller und Arzt um ein Gutachten in einer Plagiatsaffäre um Kerrs Konkurrenten Siegfried Jacobsohn gebeten worden und hatte diesem bescheinigt, möglicherweise unabsichtlich abgeschrieben zu haben, was Kerr wiederum absurd fand. Seine öffentliche Zurechtweisung Schnitzlers war ein herber Einschnitt – die Freundschaft war an ihrem Tiefpunkt angelangt.
Ab diesem Zeitpunkt kam kein rechter Austausch mehr zustande. Mehr als sieben Jahre, von Anfang 1911 bis Mitte 1918, wechselten beide keine Briefe mehr. Es gab nur gelegentliche Meldungen. Als passend dafür erwiesen sich Ansichtskarten – neben den Verabredungs- und den Beziehungsbriefen die dritte Korrespondenzform. Der Text war dabei naturgemäß kurz, außer Datum, Anrede und Unterschrift meist nur ein Gruß, manchmal auch mit Bemerkungen von Mitreisenden. Ansichtskarten schrieben sich Kerr und Schnitzler von Anfang an, aber in der mittleren Phase ihrer Beziehung wurde die Kürze symptomatisch und von beiden auch als Überrest eines vormals intensiveren Kontakts wahrgenommen. So heißt es im Sommer 1910 außer Gruß und Unterschrift auf den Karten nur noch »hier unser Jahresbriefwechsel« (Kerr) bzw. »›Briefwechsel‹ Kerr – Schnitzler, Band 16« (Schnitzler).
Auch Kerrs Kritiken zu Schnitzlers Werken bzw. Aufführungen wurden seltener. 1910 stellte er in einer Besprechung der späten Uraufführung des »Anatol"-Zyklus fest: »Der Arthur ist längst ein Klassiker geworden.« Aber Klassiker langweilten ihn. Er wollte Neues sehen, er wollte Entwicklung. Seine vereinzelten Schnitzler-Kritiken nach 1911 haben die Eigenart, immer einen grundsätzlich würdigenden Satz zu enthalten, sich ansonsten aber über den einst verehrten Schriftsteller fast lustig zu machen. Als im Mai 1917 in Berlin ein Schnitzler-Abend im Theater in der Königgrätzer Straße stattfand, rezensierte ihn Kerr mit einem seiner bissig-humorvollen Gedichte. »Aus friedlichen, verschollenen Zeiten / ragt wie ein dämmerndes Symbol / die Eleganz der Innigkeiten / des sucherischen Anatol (…) Der Held ist wählerischer, zarter / beim Artur!! (…) In Arturs Welt, vom Stil betaut / lacht man nicht so erfrischend laut.«
Könnte das nachlassende Interesse Kerrs daran liegen, daß er den Zenit im Schaffen seines österreichischen Freundes erreicht sah und auf die kommenden Stücke nicht mehr sonderlich gespannt war? Tatsächlich sind sich die Theaterhistoriker heute weitgehend einig, daß der Aufführung des Dramas »Professor Bernhardi« 1912 in Deutschland – in Österreich blieb es bis 1918 verboten – keine großen Theatererfolge Schnitzlers mehr folgten. Kerr erklärte nach Schnitzlers Tod »Professor Bernhardi« und Hauptmanns »Die Weber« zu den einzigen zwei Zeitstücken »von dauernder Kraft« und »mit Dichtungswert «, die er kenne. Im Erstaufführungsjahr hatte er nicht darauf reagiert. Dabei hätte es passende Publikationsmöglichkeiten durchaus gegeben. Kerr schrieb seit 1901 nicht nur für den »Tag«, sondern gab von 1912 bis 1915 auch eine eigene Zeitung heraus, an der er vorher schon zwei Jahre intensiv mitgearbeitet hatte: den »PAN«. Schaut man sich an, welche Rolle Schnitzler in diesem Unternehmen spielt, muß man sagen: keine. Texte von ihm wurden nicht veröffentlicht; angebotene Texte über ihn lehnte Kerr ab. Auch als 1917 Kerrs Gesammelte Schriften erschienen, waren nur wenige Schnitzler-Kritiken enthalten. Sechs Texte, geschrieben zwischen 1905 und 1915, abgedruckt auf 25 Seiten, immerhin versammelt in Band II, »Der Ewigkeitszug«; Band IV trägt den Titel »Eintagsfliegen « … »Come here, good dog!« steht als Motto zwischen der Überschrift »Arthur Schnitzler« und den nachfolgend aufgeführten Kritiken. Kerrs Text zur »Komödie der Worte« von 1915 ziert der Untertitel »Schnitzlers achtzigster Geburtstag«, was den bei Erscheinen des Buches tatsächlich erst Fünfundfünfzigjährigen gekränkt haben dürfte. In sein Tagebuch schrieb Schnitzler am 13. Februar 1918: »Nm. [Nachmittags] in Kerr (Welt im Drama) alles über mich gelesen. Anfangs hatte er ein schönes, später noch ein achtungsvolles Verhältnis zu mir – aber eigentlich begann sein Abfall sofort nach der Liebelei. Im Ganzen bleibt er, bei aller Geckerei, ein famoser und wahrhaft origineller Kerl. –"
1918 wollte der inzwischen fünfzigjährige Kerr heiraten; seine zukünftige Frau Inge Thormählen war dreißig Jahre jünger als er. Mit dem schönen Anlaß der Verlobung versuchte Schnitzler die alte Freundschaft wiederaufleben zu lassen. Im Brief vom 5. Juli 1918 sprach er, dessen Ehe sich gerade aufzulösen begann, sogar von Seelenverwandtschaft. Zur achtjährigen Unterbrechung der Korrespondenz äußerte er sich vorsichtig umschreibend. Zwei Jahre später, im Mai 1920, unternahm Schnitzler einen letzten Versuch: Zur zweiten Hochzeit Kerrs mit Julia Weismann – die erste Frau war ein Vierteljahr nach der Hochzeit an der Spanischen Grippe gestorben, Kerr hatte nur knapp überlebt – gratulierte er und äußerte die Hoffnung, man möge sich doch einmal wiedersehen. Alfred Kerr reagierte nicht. Erst als fünf Jahre später ein Aphorismus von Schnitzler über Kritik mit dem erfundenen Titel »Schnitzler über Kerr« in verschiedenen deutschen Tageszeitungen erschien, schickte Kerr einen Dreizeiler. Die Antwort Schnitzlers, in der er sich gegen die Titel-Text-Collage und eine beigefügte Glosse der Redaktion verwahrt, ist sieben Seiten lang. Hier spricht er so deutlich wie in keinem anderen Brief auch einmal Kritik an Kerr aus. »Endlich!« möchte man als Leser ausrufen. Aber damit endet der Briefwechsel zwischen Schnitzler und Kerr endgültig.
Arthur Schnitzler starb am 21. Oktober 1931 in seiner Heimatstadt Wien an einer Hirnblutung. Alfred Kerr würdigte und beschrieb in mehreren Artikeln, u. a. im »Berliner Tageblatt« vom 22. Oktober und einem Rundfunkvortrag am 8. November 1931, den verstorbenen »adligen Freund«: »Menschlich war Schnitzler (…) nicht sehr überströmend. Immer etwas präokkupiert – beschäftigt mit der Arbeit, die er vorhatte. (…) Wenn Schnitzler herzlich wurde, war es noch immer eine verhaltne Herzlichkeit. Auch in seinen guten Jahren.« Er würdigte Schnitzler als »Erweiterer des Wissens von der Seele« und bestätigte ihm ein »verborgenes Kämpfertum«, ein »Kämpfertum mit Grazie«. Kerr verteidigte den als »Erotiker« verkannten Schriftsteller, den man immer wieder auf die »süßen Mädel aus der Vorstadt« habe reduzieren wollen. Schnitzler sei ein Dichter gewesen, »der in seiner Sprache die Entwicklung vorwärts bringen half«. Als höchstes Lob rückte Kerr ihn sogar in die Nähe seines Idols Henrik Ibsen – und mehr als das: »Der Mann aus Wien, Schüler Ibsens, kam in Punkten über das Nordphänomen hinaus. (…) Was von ihm bleibt, ist ein deutscher Besitz. Ueber die darin verborgne Vielfalt ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«
Arthur Schnitzlers Fazit steht in seinen (posthum erschienenen) »Aphorismen und Notaten«: »Allzuoft betont er, daß er nicht nur ein großer Kritiker, sondern auch ein größerer Dichter sei als die meisten derjenigen Autoren, über die er zu schreiben hat. Vielleicht hat er recht; aber er sollte das Urteil der Nachwelt überlassen.«Elgin Helmstaedt
SINN UND FORM 5/2017, S. 581-618, hier S. 581-586
Kershaw, Ian
- 4/2004 | Hinter dem Bildschirm. Wie das Fernsehen Geschichte herausstellt und trivialisiert
Kerski, Basil
- 1/1999 | Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt, S. 73 Leseprobe
Kerski, Basil
Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt
Basil Kerski: Das Begriffspaar »Sinn und Form« annonciert keineswegs kulturelle Unentschiedenheit oder ästhetische Wertneutralität. Welche programmatischen Vorstellungen liegen dem Titel Ihrer Zeitschrift zugrunde?
Sebastian Kleinschmidt: Titel sind Namen, und Namen sind nichts Zufälliges. Recht besehen sind sie schöpferische Formeln eigenen Wollens, des bewußten wie des unbewußten. Sie zeigen die Drehachse der Intention. Vor fünfzig Jahren hätten viele einer Programmformel mit Namen Sinn und Form kulturell zugestimmt. Heute sähe das schon anders aus, es gibt wieder starke Zweifel an so etwas wie Sinn schlechthin. Der Nihilismus ist neuerlich im Vormarsch - unvermeidliche Folge jeder säkularisierten und damit transzendenzlosen Kultur. Manche Leute halten es schon für hochgradigen Idealismus oder schlicht für Realitätsverkennung, überhaupt auf philosophischen Postulaten wie Sinn zu beharren. Das Resultat: Es gibt heutzutage weit weniger Einvernehmen über Dinge, die vermutlich sinnvoll, als über solche, die im Grunde sinnlos sind. Es herrscht Konsens in negativen Überzeugungen, nicht in positiven. Die Menschheit scheint mehr geeint in ihren Befürchtungen als in ihren Hoffnungen. Daß wir gänzlich erwartungslos wären, läßt sich nicht sagen, nur erwarten wir inzwischen wohl eher Verschlechterungen als Verbesserungen unserer Lage.
Keine sehr erfreuliche Tendenz, wie man zugeben wird. Es empfiehlt sich nicht, das geistig einfach mitzumachen. Aber Gott bewahre uns auch vorm Gegenteil, der Blauäugigkeit derer, die stets guten Mutes sind. Freilich wird man umgekehrt die heraufziehende Bewußtseinskrise, symptomatisch erkennbar am Verfall der Inhalte und der um sich greifenden Banalisierung, nicht dadurch überwinden, daß man, philosophisch oder ästhetisch, ad infinitum das Spiel der Verneinungen fortsetzt. Die Potentiale reiner Negativität sind erschöpft, die Dürftigkeiten ausschließlicher Destruktion offensichtlich. Auf diese Weise trägt man nur zur Verdüsterung des Horizonts und zur Ausweitung der Langenweile bei. Als denkende Wesen sind wir doch noch auf anderes aus, als in allgemeiner Desavouierung des Sinns zu enden. Vielleicht ist hier der geistige Grund einer Zeitschrift wie dieser. Jedermann steht unter dem Gebot, seinem Namen nachzuleben, auch wir. Wenn eine Zeitschrift Sinn und Form heißt, darf man von ihr erwarten, daß sie das Sinnproblem ernst nimmt und hier keine Blasphemie betreibt.
Kerski: Wie äußert sich diese Denkweise in der Zeitschrift? Können Sie Namen nennen, die für eine solche Geisteshaltung stehen?
Kleinschmidt: Ein wichtiger Autor in diesem Zusammenhang ist George Steiner, aber auch Hans-Georg Gadamer. Beide zählen zu denen, die philosophisch die Berechtigung der Sinnfrage klug und entschlossen verteidigen. Natürlich ist man inzwischen vorsichtiger in den Antworten, und weniger direkt. Entscheidend bleibt jedoch, die kulturelle Produktivität der Frage offenzuhalten. In der Gadamerschen Perspektive ist Sinn so etwas wie der Bezugs- und Richtungssinn unseres Verstehens - keineswegs eine teleologische Gedankenbewegung, die auf Ziele, die wir kennen, gerichtet ist und sich von ihnen her definiert. Ziel und Zukunft, in letzter Allgemeinheit, können wir nicht wissen, weder in puncto Geschichtsverlauf noch hinsichtlich unserer Lebensbahn. Das Morgen läßt sich nicht vorhersehen, sowenig wie der Traum der kommenden Nacht. Dieser Mangel an Evidenz ist für das Bewußtseinstier Mensch eine permanente Irritation, und sie treibt ihn an, grundsätzlich sprich philosophisch nach dem Sinn dessen zu fragen, was geschieht. Denn das, was wir mit diesem rätselvollen Wort Sinn nennen, liegt nicht offen zutage. Es verlangt schöpferische Interpretation.
Ursprünglich sollte die Zeitschrift übrigens »Maß und Wert« heißen, wie die von Thomas Mann gegründete, aber nicht lange bestehende Exilzeitschrift. Becher hat jedoch von Thomas Mann den Titel nicht freibekommen. Gott sei Dank, wird man aus heutigem Empfinden sagen - zu klassizistisch die Geste, zu normativ. Wir sind allergisch gegen alles, was nach Regel und Maßgabe klingt. Andererseits verdient es die normative Ästhetik nicht, einfach verdammt zu werden, denn die permissive, die derzeit in Kunstfragen offenbar das letztes Wort hat, ist längst auch zum Fluch geworden. Sie zerstört die ästhetische Urteilskraft von der Seite der Theorie her.
Kerski: Sinn und Form war und ist primär eine literarische Zeitschrift. Dennoch haben Sie das Gattungsspektrum erweitert, neben politischen und historischen sind auch philosophische und theologische Texte zu finden.
Kleinschmidt: Es gibt im westlichen Denken eine Art Bewußtseinsverengung aufs Diskursiv-Rationale. Das hat mit der Dominanz des analytisch ausgerichteten, auf Erkenntnisgewißheit zielenden cartesianischen Wissenschaftsideals zu tun. In diesem Reich überschreitet man nicht die Schattenlinie zur Metaphysik, und der Verstand gestattet weder Grundlosigkeit noch Transzendenz. Sinn und Form hat solchen Einschränkungen gegenüber sein schönes volles, sein klassisches Profil bewahren können, das sich von Prosa und Gedicht über das Gespräch bis eben hin zum philosophischen und theologischen Essay erstreckt. Wir versuchen der rationalistischen Austrocknung von Bewußtseinsdimensionen entgegenzuwirken. Je weniger Stockwerke das Bewußtseinshaus hat, aus dem heraus wir die Welt wahrnehmen, desto weniger Stockwerke hat die Welt, die uns vor Augen liegt. Man muß die Vertikale aktivieren, will man mehr sehen als bloß matters of fact und die Flächigkeit des Daseins. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo sagt: »Wir sind heutzutage alle mit der Tatsache vertraut, daß die Entzauberung der Welt auch zu einer radikalen Entzauberung der Idee der Entzauberung selbst geführt hat.« Das denkende Ich, mit Gottfried Benn zu sprechen, leidet nicht an Todesfällen, sondern am Bewußtsein. Dort, wo es die Dinge verstellt. Poetisches und religiöses Denken sind noch immer ein guter Weg ins Herz des Seienden.
Kerski: Die Geschichte Ihrer Zeitschrift spiegelt auch die Geschichte der DDR-Kulturpolitik wider. Von wem kam die Initiative zur Gründung von Sinn und Form, welche kulturpolitischen Ziele verbargen sich dahinter?
Kleinschmidt: Die Gründungsidee stammt von Johannes R. Becher, der kurz nach dem Krieg aus sowjetischem Exil nach Ostberlin zurückkehrte. Wie Sie wissen, stand er der Gruppe Ulbricht nahe, die alle wesentlichen Machtpositionen besetzte. Becher war derjenige, der die Hauptweichen für die Kulturpolitik in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, stellen sollte. Das Konzept von Sinn und Form fußte auf der Idee einer repräsentativen, auf höchstem Niveau stehenden Literaturzeitschrift, die einerseits Verständigungsorgan der sozialistischen Intelligenzia nach innen, andererseits kulturelles Aushängeschild des neuen Staates nach außen, also auch mit Blick auf die westlichen Zonen, die spätere Bundesrepublik, sein wollte.
In den zwölf Jahren NS-Diktatur waren die Deutschen von vielen geistigen Strömungen abgeschnitten, und es gab nach dem Krieg enormen Nachholbedarf, der auch durch Zeitschriftengründungen wie Sinn und Form befriedigt werden sollte. Notwendig war vor allem, sich über Lüge und Verblendung, Fanatismus und Verbrechen klarzuwerden. Aufklärung war gefragt. Becher gewann als Chefredakteur den parteilosen Dichter Peter Huchel, einen Mann der inneren Emigration. Schließlich sollte Sinn und Form kein Parteiorgan sein. Nach Meinung Bechers war sozialistische Kulturpolitik zwar grundsätzlich ideologisch ausgerichtet, aber nicht in sektiererischer Weise. Becher war Lukácsianer und insofern Gegner jeder Art von Proletkult.
Kerski: In den Anfangsjahren wurden in Sinn und Form nicht nur marxistische Schriftsteller gedruckt. Exil beziehungsweise klare Distanz zum Nationalsozialismus war aber ein entscheidendes Kriterium bei der Auswahl der Autoren. Aus heutiger Sicht ist interessant, daß Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine Zeitschrift mit gesamtdeutschem Anspruch war.
Kleinschmidt: Die deutsche Frage wurde von Stalin aus außenpolitischen Gründen bewußt offengehalten. Was natürlich nicht heißt, daß es in der DDR eine freie Diskussion über die Zukunft der beiden deutschen Staaten gegeben hätte. Das Offenhalten der deutsche Frage durch Ulbricht war die sowjetkonforme Strategie einer zur damaligen Zeit keineswegs kommoden Diktatur, das darf man nicht vergessen. Solange Ulbricht für die Wiedervereinigung votierte, war Wiedervereinigung auch Befehl. Auf die literarische Kultur wirkte sich diese Deutschlandpolitik zum Teil günstig aus. In der Philosophie allerdings, der harten Spitze der ganzen Bewußtseinspyramide, gingen die Freiräume gegen Null.
Kerski: Wie wurde Sinn und Form im Westen aufgenommen? Ein Teil der Auflage wurde ja gratis in den Westen verschickt.
Kleinschmidt: Das Echo auf Sinn und Form war im Westen von Anfang an stärker und lebhafter als im Osten. Das ist bis heute so geblieben, wenn man zum Beispiel an Besprechungen in Zeitungen und im Rundfunk denkt.
Kerski: Enzensberger behauptet, daß angesichts der kulturellen Monotonie und Verschlafenheit der frühen Wirtschaftswunderjahre unter Adenauer für ihn als jungen westdeutschen Schriftsteller Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle spielte.
Kleinschmidt: Gewiß doch, Sinn und Form in den fünfziger Jahren, das hieß Brecht, Eisler, Bloch, Lukács, Hans Mayer, Werner Krauss, Paul Rilla, Wolfgang Harich, Ernst Fischer, Georg Maurer, Feuchtwanger, Zweig, Hermlin, Bobrowski. Was Westdeutschland betrifft, würde ich diese Zeit allerdings nicht so abschätzig beurteilen. Denken Sie nur daran, daß an den Universitäten und in der Öffentlichkeit damals Gelehrte wie Jaspers, Adorno, Heidegger, Gadamer, Löwith, Georg Picht, Hellmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Robert Curtius oder Dolf Sternberger wirkten, daß Autoren wie Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Arno Schmidt oder Heinrich Böll, daß Kritiker wie Günter Blöcker oder Friedrich Sieburg publizierten.
Kerski: Drei Persönlichkeiten prägten in den Gründungsjahren Sinn und Form: Becher, Huchel und Brecht. Eine interessante, widersprüchliche Gestalt ist Johannes R. Becher. Aus großbürgerlichem Hause stammend, hat er sich schon in jungen Jahren zunächst als Sozialist, dann als Kommunist politisch engagiert. Seit dem Moskauer Exil war er eng mit Ulbricht verbunden. Obwohl Becher sich und sein Werk gänzlich in den Dienst der kommunistischen Ideologie stellte, finden seine frühen expressionistischen Gedichte weiterhin die Anerkennung von nichtmarxistischen Kritikern.
Kleinschmidt: Becher hat in den dreißiger Jahren mit dem Expressionismus gebrochen und den Übergang zum Neoklassizismus vollzogen. Mag er aus Sicht der Literaturkritik als expressionistischer Dichter bedeutend sein oder nicht, mir stehen hier Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Georg Trakl näher. Becher ist, bei aller Kunstfertigkeit, zu sehr Rhetoriker im Gedicht, zu sehr Pathetiker, nicht selten zu sehr Politiker. Dennoch hat er einige tiefe, liedhaft einfache und unvergeßliche Verse geschrieben, wie zum Beispiel »Deutschland, meine Trauer«. Hanns Eisler hat sie vertont, und Ernst Busch hat sie gesungen.
In der Stalinzeit war Becher sowohl als Dichter wie auch als Kulturpolitiker sehr gefragt. Ich glaube, zumindest nach dem, was ich gelesen und gehört habe, daß er alles andere als ein unerschrockener Mensch war. Sinn und Form hat 1990 ein Gespräch mit Lukács über Becher veröffentlicht, das 1967 in Budapest geführt wurde. Dort spricht Lukács von der Lord-Jim-Panik Bechers. Joseph Conrads »Lord Jim« ist die Geschichte des wiederholt in Extremsituationen auf Ehre und Furchtlosigkeit geprüften jungen englischen Schiffsoffiziers Jim, eines Träumers, der in einer imaginären Welt heroischer Taten lebt und im Augenblick der Bewährung versagt, einmal aus Panik, in die ihn seine an Künstlerschaft grenzende Gabe blitzschneller, vorwegnehmender Phantasie stürzte, einmal durch Zaudern. Becher war gleichfalls ein im Guten wie im Bösen höchst phantasiebegabter Mensch, der sich unausweichlich vor die Eigendynamik seiner Vorstellungskräfte gestellt sah, die je nach Situation entweder zur Euphorie oder zur Panik eskalierten. In beiden Fällen wird der Spielraum des Handelns falsch vermessen, im ersten wird er illusorisch überschritten, im zweiten angstvoll unterschritten. Becher geriet nun bei jederart Konflikt oder Gefahr auf der Stelle in so heillose Angst - nicht aus einfacher Feigheit, nicht aus demütigender, die Niederlage antizipierender Furchtsamkeit, sondern weil seine Phantasie ihm die möglichen Konsequenzen in den grellsten Farben zeigte -, daß er keinerlei Risiko einzugehen bereit war.
Nun muß man wissen, der psychische Grundstoff, aus dem Diktaturen gemacht sind, ist Angst, tiefsitzende Angst, und zu deren Wesen gehört, daß man sie sich und anderen nicht eingesteht. Und so wirkt ihr Gift um so stärker, nicht nur unter den Beherrschten, sondern auch unter den Herrschenden. Das hat Becher in der Hochphase des Stalinismus im Moskauer Exil überdeutlich erfahren. Nach Meinung von Lukács hat Becher nicht einmal die spärlichsten Freiräume zu durchschreiten gewagt, weil er stets vermied, mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen. Wer das aber nicht riskiert, weiß gar nicht, wo die Wand steht, und wird auch nie wissen, wie weit man gehen kann. Stets wird er zu früh haltmachen.
Kerski: Gibt es Zeugnisse, daß Becher seine Situation reflektiert hat?
Kleinschmidt: Ja, die gibt es. Wir haben 1988 in Sinn und Form einen für DDR-Verhältnisse äußerst kritischen und auch selbstkritischen Text Bechers über den Stalinismus aus dem Jahre 1956 veröffentlicht, was akademieintern zu einer scharfen Diskussion und zu Angriffen der Kulturabteilung des ZK führte. Becher beschreibt hier den Sozialismus als weltgeschichtliche Tragödie großen Stils, an tragischem Gehalt der antiken überlegen. Er spricht von den Verbrechen, der Heuchelei, von seiner Mitschuld, seinem Schweigen, seiner Lebenslüge. »Ich kann mich nicht darauf hinausreden, daß ich davon nichts gewußt hätte. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich davon nichts wissen wollte. Ich ahnte nicht nur, oh, ich wußte!« Er hat den Text 1957 aber nicht zum Druck freigegeben. So schlummerte er dreißig Jahre im Archiv. Ich habe einmal mit Gadamer über Becher gesprochen. Gadamer hatte 1946/47 während seiner Leipziger Rektoratsjahre mehrfach Gelegenheit, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Er sah, wie verzweifelt der Mann war, wie wenig Illusionen er sich letztlich über die barbarischen Züge des russischen Kommunismus machte. Doch er war ein schwacher Charakter. An Intelligenz hat es ihm nicht gefehlt, also auch nicht an der Fähigkeit zum Selbstbetrug.
Kerski: Der erste Chefredakteur der Zeitschrift war der Dichter Peter Huchel. Könnten Sie ihn kurz charakterisieren?
Kleinschmidt: Peter Huchel war ein Segen für Sinn und Form. Als Dichter ist er eine der großen Gestalten der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen Versen, sehr einsamen und melancholischen Chiffren der Natur - einer Art Existenzerhellung vor dunklem Grund -, der Melodik seiner Sprache, in seiner Poetologie der Metapher und des Klangs, dem dichterischen Selbstgespräch mit sich und seiner Zeit, dem poetischen Befragen der Geschichte, ist er von eindrucksvoller Präsenz. Den Test des Wiederlesens besteht er glänzend, jedenfalls mit seinen besten Sachen. Er war kein Essayist, hat aber neben dem literarischen auch den philosophischen Essay in Sinn und Form gepflegt, was in der deutschen Kulturtradition, im Gegensatz zur französischen, für Literaturzeitschriften nicht ganz selbstverständlich ist. Huchels erzwungener Rücktritt als Chefredakteur fällt politisch gesehen zusammen mit dem Mauerbau von 1961 und dem sich daran anschließenden Versuch einer Neudefinition der DDR als sozialistischer Nationalstaat. Damit war es in kultureller Hinsicht mit der gesamtdeutschen Perspektive zu Ende. Huchel lebte seit Herbst 1962 fast zehn Jahre lang gänzlich isoliert und unter Stasi-Observierung in Wilhelmshorst bei Berlin. 1971 durfte er die DDR verlassen und zog nach Süddeutschland. Er starb 1981.
Nebenbei bemerkt hat die Zeitschrift in Heft 5/1992 in einem achtzigseitigen Konvolut von Reden, Briefen, Protokollen, Vorlagen und Aktenvermerken der Jahre 1960 bis 1963, die wir im Archiv der Ostberliner Akademie der Künste und im Zentralen Parteiarchiv der SED fanden, den Fall Peter Huchel ausführlich dokumentiert. Die Quellen bezeugen Punkt für Punkt, wie man einem integren Mann auf schäbige Weise eine Arbeit aus den Händen schlug, an der sein Herz hing und für die er die ideale Begabung besaß. Wir haben uns, angeregt durch die Literaturabteilung der Akademie und aus Anlaß des 50. Jahrestages von Sinn und Form, übrigens dazu entschlossen, Peter Huchel als Gründungschefredakteur künftig im Impressum auszuweisen. Die Zeitschrift ist es sich schuldig. Huchel hat sie wie kein zweiter geprägt. Er hat den Stil begründet, das Erlesene, Distanzierte, in gewissem Sinne Unpolitische, die Balance zwischen Gedicht und Gedanken, den Ernst.
Kerski: Huchel konnte als Chef der Akademiezeitschrift nur dank des Schutzes von Bertolt Brecht überleben. Besonders nach 1953 erkennt man in Brechts Engagement für Sinn und Form dessen recht ambivalentes Verhältnis zum realsozialistischen Staatswesen.
Kleinschmidt: Brecht ist ein Autor, der der DDR gegenüber loyal war. Mancher behauptet, daß er am Lebensende innerlich den Bruch mit dem ostdeutschen Staat vollzogen hätte. Davon kann keine Rede sein. Brecht hat, bei aller Kritik an den Zuständen, aus quasi geschichtsphilosophischer Überzeugung für die DDR optiert. Er war ein origineller marxistischer Denker, ein sozialistischer Schriftsteller aus echtem Selbstdenken heraus, und das war immerhin selten. Brecht kannte die Schriften der Häretiker, und er kannte eine Menge Leute, die von der Partei verstoßen waren. In schwierigen kulturpolitischen Diskussionen hat er sich mehrfach, oft listenreich, an die Seite derer gestellt, die energisch für eine Ausweitung der Freiräume eintraten. Das war schon viel, und das stärkte auch Huchel und Sinn und Form den Rücken. Wiederholt setzte er sich, als Huchel in höchster Bedrängnis war und von niemandem mehr verteidigt wurde, wirkungsvoll für ihn ein. Brecht verstand sich bei alldem als strikter Marxist, als Lehrer des Kommunismus. Obwohl er die Machthaber als Gleichgesinnte ansah, hat er doch die Fehler im bürokratisch organisierten Sozialismus einigermaßen deutlich erkannt. Er ist ganz bewußt nicht ins sowjetische Exil gegangen, und auch eine Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei kam für ihn nicht in Frage. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, in die DDR zu gehen, waren wohl die Anfeindungen im Westen und natürlich die hervorragenden Arbeitsbedingungen in Ostberlin. Schließlich bot man ihm ein eigenes großes Theater.
Kerski: Auch nach der Absetzung Peter Huchels geriet Sinn und Form immer wieder in die Schußlinie der Parteiideologen.
Kleinschmidt: Es hat des öfteren Krach gegeben, mehr oder weniger schweren. Das hing mit bestimmten Texten zusammen. So haben wir zum Beispiel häufiger Arbeiten junger DDR-Autoren gedruckt, die von Verlagen abgelehnt worden waren. Wir versuchten immer wieder Texte zu veröffentlichen, von denen wir wußten, daß sie Grenzen überschritten. Wir haben Konflikte riskiert, weil wir die Erfahrung gemacht hatten, daß entscheidende Leute in der Akademie der Künste, die ja Sinn und Form herausgab, zu uns standen. Das ideologische Klima in der Akademie war in den siebziger und achtziger Jahren weniger frostig als in anderen zentralen Institutionen, was vielleicht damit zusammenhing, daß für die Obrigkeit Kunst und Literatur nicht länger als unmittelbar zur sozialistischen Machtausübung gehörende Bereiche angesehen wurden. Im Rahmen der DDR-Verhältnisse war die Akademie möglicherweise einer der freiesten Orte. Die Zeitschrift hatte das Privileg, für das, was sie druckte, kein Plazet einholen zu müssen. Sie brauchte, theoretisch betrachtet, niemanden fragen. Die Redaktion konnte in gewissem Sinne frei entscheiden. Es gab also für uns keine Zensur oder Vorzensur, allerdings, und das regelmäßig, eine nachträgliche Bewertung. Einschätzung nannte man das, sie wurde übrigens vorgenommen von der Abteilung Kultur im Zentralkomitee der SED, drei bis vier Seiten, Nummer für Nummer, und gelangte, wie wir nach der Wende erfuhren, direkt auf den Tisch des für Ideologie und Kultur zuständigen Politbüromitglieds Kurt Hager. Nach heiklen Beiträgen kam es dann mitunter zu Konflikten, nicht selten mußte sich der Chefredakteur vor dem Sekretariat des ZK verantworten. Den Redakteuren, sofern sie Mitglieder der SED waren, wurden gelegentlich Parteiverfahren angedroht. Mitte 1988, in der Gorbatschow-Zeit, nach Veröffentlichung des erwähnten stalinismuskritischen Becher-Textes, wurde sogar laut über das Verbot der Zeitschrift nachgedacht.
Im Vergleich zur DDR war Polen, ich sage das, weil Sie Pole sind, in seinen inneren Verhältnissen sicherlich freier. Mit der katholischen Kirche gab es immerhin eine große institutionalisierte alternative Ideologie im Lande. Auch in Ungarn war das geistige Leben freier, jedenfalls seit den siebziger Jahren. Andererseits muß man feststellen, daß es in den fünfziger Jahren in der DDR weniger stalinistisch hart zuging als in den osteuropäischen Nachbarstaaten, was mit der schon erwähnten offenen deutschen Frage zusammenhing. Die DDR war schon damals unter ständiger direkter Beobachtung des Westens. Man konnte sich also nicht jede Dummheit und auch nicht jede Härte leisten.
Kerski: Angesichts der Bewegungslosigkeit in der DDR wird oft vergessen, daß der erste große Arbeiterprotest des Sowjetblocks 1953 in der DDR stattfand.
Kleinschmidt: Die Ereignisse von 1953 waren für alle Beteiligten ein traumatisches Erlebnis, das einerseits der Bevölkerung, andererseits der Partei zeigte, wo die Grenzen der Freiheit lagen. Bei jedweder parteiinternen Diskussion über Liberalisierung tauchte fortan der 17. Juni 1953 als Menetekel auf. Das erklärt vielleicht auch die anhaltende Lähmung und geistige Bewegungslosigkeit der DDR bis hin zu ihrem schließlich für alle überraschenden Ende.
Kerski: In welcher Beziehung steht Sinn und Form heute zu Ostdeutschland? Wir sprachen bereits vom weiträumigen Blick Ihrer Zeitschrift auf Kunst und Literatur, über das Überschreiten von Grenzen. Mir fällt noch auf, daß im Gegensatz zu westdeutschen Zeitschriften Sinn und Form bei der Auswahl der Autoren nicht westfixiert ist, daß Stimmen aus Mittel- und Osteuropa stark präsent sind. Adam Krzemin´ski, ein genauer Beobachter der deutschen Öffentlichkeit, schrieb kürzlich: »Ich muß gestehen, daß ich die Beharrlichkeit und Skrupulosität bewundere, mit der Sinn und Form den Deutschen die geistigen Räume unseres europäischen Kontinents erschließt. Bei uns tut dies auf diese Art und Weise leider niemand. Wir haben keinen blassen Schimmer, wie die Tschechen, die Ungarn oder die Rumänen denken.« Ist Sinn und Form der intellektuelle Beitrag der untergegangenen DDR zur neuen gesamtdeutschen Kultur?
Kleinschmidt: Die Zeitschrift war zu DDR-Zeiten eine Insel und ist es in gewisser Weise auch heute wieder, freilich Insel in sehr unterschiedlichen Meeren. Nach der Wiedervereinigung haben wir viele Leser gerade im Osten verloren, leider. Das immer mehr verblassende DDR-Milieu ist in seiner geistigen und kulturellen Spezifik natürlich ohne die vielen offenen und verdeckten Bezüge auf linke ideologische Schablonen nicht zu denken. Davon hat sich Sinn und Form nach der Wende freizumachen gesucht. Außerdem haben wir uns mit den dunklen Seiten der DDR-Vergangenheit, einschließlich der der Geschichte der Akademie, auseinandergesetzt. Zugleich hat sich Sinn und Form philosophisch und natürlich auch politisch (soweit man das von einer im Grunde genommen unpolitischen Zeitschrift sagen kann) radikal geöffnet und druckt keineswegs ausschließlich linke Autoren, wie es früher Prinzip war. Das hat manche irritiert. Dabei geht es doch darum, die naive, ideologisch selbstgefällige Wahrheitsgewißheit in der Welt- und Geschichtsbetrachtung aufzugeben, um die Probleme unbefangen und so perspektivreich wie möglich zu sehen. Insofern kann man sagen, daß Sinn und Form keine Richtungszeitschrift ist. Es treffen hier also Standpunkte aufeinander, die sich sonst nicht ohne weiteres begegnen. Mit der alten DDR hat die Zeitschrift aus naheliegenden Gründen heute immer weniger zu tun, und sie unterscheidet sich wohl auch deutlich von dem, was im Westen das Landläufige ist.
Kerski: Mich hat die Intensität des intellektuellen Lebens in der DDR während der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung, die sich ja auch in vielen Zeitschriften- und Verlagsgründungen manifestierte, sehr beeindruckt. Mittlerweile beobachte ich im Osten Deutschlands eine gewisse geistige Immobilität, einen Mangel an Offenheit.
Kleinschmidt: Ich habe die Jahre der Wende als eine Ekstase des Lernens erlebt. Solche Umbrüche sind wie Gewitterblitze, die jäh die nächtliche Landschaft erhellen. Man sieht in großer Klarheit, was man nie zuvor gesehen hat. Inzwischen hat sich das Leben wieder eingetrübt. Das Hochgefühl von Transparenz und Vitalität, der Schwung des großen Aufbruchs, mental wie politisch, ist vorbei, erlegen dem Siegeszug der neuen Interessen und neuen Sorgen. Wir leben nun in der offenen Gesellschaft, doch nicht unbedingt in einer Gesellschaft der Offenheit. Naivität und Charme der Wendejahre sind verflogen. Das ist schade, doch in gewissem Sinne unvermeidlich. Umbruchszeiten sind ihrer Natur nach von kurzer Dauer. Auf Staat und Gesellschaft bezogen heißt dies, daß die Zeit, da Institutionen unmittelbar formbar waren, hinter uns liegt. Festigkeit tritt wieder an die Stelle von Formbarkeit. Das muß nicht Erstarrung bedeuten. So ist das mit den Rhythmen der Geschichte. Man kann nichts gegen sie machen. Man muß sie hinnehmen. Was ja nicht besagt, auf das Handeln zu verzichten.SINN UND FORM 1/1999
- 1/1999 | Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt
- 4/2013 | Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt, S. 73 Leseprobe
Kerski, Basil
Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann sind Sie Adam Zagajewski das erste Mal begegnet?
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Das muß Anfang der neunziger Jahre im Literarischen Colloquium am Wannsee gewesen sein.
KERSKI: Kannten Sie damals schon das Werk von Zagajewski?
KLEINSCHMIDT: Nein, leider nicht. Es war eine Zufallsbegegnung, aber sie mündete schon bald in eine fruchtbare Zusammenarbeit. 1994 erschienen Adams erste Gedichte in Sinn und Form und 1995, verteilt auf zwei Hefte, der umfangreiche Essay »Zwei Städte«, ein poetisch-philosophischer Versuch über die polnische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht immer weckt ja die Begegnung mit einem Autor die sofortige Neugier auf sein Werk. In meinem Elternhaus verkehrten viele Schriftsteller, ich habe sie schon als Kind kennengelernt, und in einigen Fällen führte das sogar dazu, daß ich ihre Bücher bis heute nicht gelesen habe. Meine Begegnung mit Adam hat sofort mein geistiges Interesse an seinen Sachen geweckt.
KERSKI: Haben Sie bei Ihrer ersten Begegnung gespürt, daß Sie einer Generation angehören? Hat das zu einem Gefühl der Nähe geführt?
KLEINSCHMIDT: Wir sind vom Alter her nur drei Jahre auseinander, das fällt nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch zunächst wurden mir eher die Unterschiede deutlich. Adam ist eben ein polnischer Intellektueller, und die polnischen Intellektuellen waren den DDR-Intellektuellen in mancher Hinsicht eine Epoche voraus. So gesehen schien mir Adam doch einer anderen Generation anzugehören.
KERSKI: Herr Zagajewski, wie haben Sie die erste Begegnung mit Sebastian Kleinschmidt erlebt? Sie, ein damals in Paris lebender, kosmopolitischer polnischer Dichter, und er, ein neugieriger Ostdeutscher, der gerade seine ersten Erfahrungen mit der freien Welt gesammelt hatte?
ADAM ZAGAJEWSKI: In Sebastian Kleinschmidt bin ich zum erstenmal jemandem aus der DDR begegnet, der gegenüber Phänomenen, die dort nicht präsent waren, eine besondere Neugier hatte. Diese edle Neugier spiegelt sich in Sinn und Form wider. Die Quelle unserer Freundschaft war nicht das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation. Das Gemeinsame war das Interesse an Religion und Theologie, das aber nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hatte. Beide hielten wir ein wenig Abstand zum Zeitgeist, beide waren wir ein wenig abseits der Mode.
KERSKI: Als mir Mitte der neunziger Jahre Sinn und Form in die Hände fiel, war ich angenehm überrascht vom starken mitteleuropäischen Profil der Zeitschrift: ein Periodikum auf der Suche nach verschütteten literarischen und philosophischen Traditionen in Europa, eine Redaktion, die in alle Himmelsrichtungen schaute, nicht nur zu den westlichen Kulturmetropolen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den östlichen Nachbarn war eine in der damaligen deutschen Kulturlandschaft eher selten anzutreffende Haltung. Herr Kleinschmidt, wie ist es nach 1989 – gegen den damaligen Trend in Ostdeutschland – zu dieser erstaunlichen Präsenz der mittel- und osteuropäischen Literatur in Sinn und Form gekommen?
KLEINSCHMIDT: Sinn und Form ist von 1949 bis 1989 philosophisch ganz auf den ja nicht nur unehrenhaften Pfaden der sozialistischen Idee und einer marxistisch verstandenen Kultur gewandelt, freilich mit größerer innerer Freiheit, mehr Phantasie, weniger Engstirnigkeit als vergleichbare Zeitschriften in der DDR. Zum offiziellen Vokabular wurde zwar Abstand gehalten, die geistige Zugehörigkeit zum kommunistischen Gedankenkreis aber nicht in Frage gestellt. Nach Jahren einer schleichenden Erosion erlebten wir dann 1989 quasi über Nacht und mit reißender Schnelle die institutionelle Implosion des ganzen staatssozialistischen Begriffsgebäudes. Das Besondere daran war: Hier begann eine Revolution einmal nicht mit der Illusion, sondern mit der Desillusion. Als die Illusion auf dem Tiefpunkt und die Desillusion auf dem Höhepunkt war, brach der Status quo in sich zusammen. Das Scheitern der Utopie, die Niederlage der Idee setzten eine gewaltige Erfahrung frei, übrigens eine Erfahrung, die uns einen gewissen Vorsprung vor den westdeutschen Generationsgenossen eintrug, denn die hatten das alles nicht am eigenen Leibe erlebt. Auf einmal stand die Erfahrungsfülle des Ostens gegen die Erfahrungsarmut des Westens. Das veränderte nicht nur unser Denken und unsere Sprache. Wir mußten uns gänzlich neu orientieren. Einen Mentor, der uns den rechten Weg gewiesen und das Ziel gesteckt hätte, gab es nicht. So gerieten wir in eine Art philosophische Unruhe, in eine schöpferische Verfassung. Und wer in schöpferischer Verfassung ist, hat ein untrügliches Gefühl dafür, wo der Geist weht und wo nicht. Also fingen wir an zu suchen, aber es war keineswegs so, daß wir wußten, wonach wir suchten. Erst als wir fündig geworden waren, wurde uns klar, was wir gesucht hatten. Das aber, was wir fanden, war nicht das, was im Westen gerade Erkenntniskonsens war.
KERSKI: Ich frage nach Sinn und Form, um jenen Geist einzufangen, der meiner Ansicht nach auch für das essayistische Werk von Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt prägend ist. Was die Attraktivität der Zeitschrift nach 1989 ausmacht, ist ja nicht nur das sichere Gespür für herausragende Autoren und Denker, sondern auch die im Westen verschollene Neugier auf das Metaphysische und Theologische, also eine Haltung, die in den neunziger Jahren in der alten Bundesrepublik unter Intellektuellen eher verpönt war. Metaphysik, religiöse Fragen, das scheint mir eine wichtige Verbindungslinie zwischen Ihnen beiden zu sein.
KLEINSCHMIDT: Ich komme aus einem evangelischen Pfarrhaus und habe die religiöse Sphäre schon als Kind kennengelernt. Mein Vater war Domprediger in Schwerin, Linkslutheraner und bekennender Sozialist. Durch ihn konnte ich erfahren, wie bestimmte Dinge, die für die meisten getrennt waren, doch zusammengehörten. Wer von Berufs wegen mit Sinnfragen konfrontiert wird – und als Chefredakteur einer Zeitschrift, die Sinn und Form heißt, wird man damit konfrontiert –, der kann der Theologie nicht aus dem Weg gehen, denn ohne Theologie kommt man hier nicht voran, wie immer man auch zu ihr stehen mag. Man kann sogar in ein produktives Verhältnis zur Theologie gelangen, wenn man gänzlich unreligiös ist – was ich von mir gar nicht sagen würde.
ZAGAJEWSKI: Für mich sind Sinn und Form und Sebastian Kleinschmidt nicht so leicht voneinander zu trennen. Sinn und Form ist für mich ein Haus, in dem ich zwar nicht wohne, aber es ist eins der wenigen Häuser in der Welt, die ich kenne. Es gibt heute – vielleicht besonders in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland – falsche Trennungen. Auf der einen Seite hat man das sogenannte fortschrittliche Lager und die linksliberale Meinung, mit ihrer ironischen Literatur, die überhaupt kein metaphysisches Interesse hat; und auf der anderen Seite stehen die sogenannten Rechten. Man weiß nie, was ›diese Rechten‹ denken. Sind sie nun getarnte Faschisten oder nicht? Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber sie spiegelt doch die Klischees gut wider. Sinn und Form repräsentiert meiner Ansicht nach einen Denkstil, der diese falsche Trennung zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch ›verdächtigen‹ Denken auf der anderen Seite aufhebt. Sie repräsentiert quasi die Mitte. Das ist großartig. Ich sehe hier ein Denken, das auf der Suche ist, das den Geheimnissen der Welt nachgeht, das zu keiner festen Form geronnen ist, das gewillt ist, klischeehafte Vorstellungen von geistigen Haltungen, geistiger Reizbarkeit abzuschaffen.
KERSKI: Herr Kleinschmidt, eine wichtige Inspirationsquelle für Sie ist das Werk von Hans-Georg Gadamer. Eine der ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Sie 1990 zu Gadamer nach Heidelberg. Ihr Gespräch mit ihm erschien 1991 in Sinn und Form. Kann man dieses Gespräch als programmatisch für die Aufbruchszeit Ihrer Zeitschrift nach der deutschen Vereinigung betrachten?
KLEINSCHMIDT: Adam sprach von der Mitte, um den geistigen Standort von Sinn und Form zu lokalisieren. Gadamer verkörpert für mich den Denktypus der offenen Mitte und des unkonventionellen Mittlers. Er ist ein Beispiel dafür, daß die Dialektik der mesotes, wie Aristoteles das nannte, nicht nur politisch vernünftiger, sondern auch geistig interessanter ist als die Extreme links und rechts davon. Immer gilt das nicht, aber in Gadamers Fall gilt es. In der Begegnung mit diesem außerordentlichen Mann habe ich oft genug erlebt, daß die Mitte, will sie anregend, fruchtbar und ausgleichend sein, die Berührung mit abweichenden, gegensätzlichen, ja gefährlichen Gedanken nicht scheuen darf. Dazu braucht es Souveränität, Toleranz, innere Freiheit, Liberalität und, wie an ihm zu sehen, philosophische Gelassenheit. Wenn dann auch noch Humor dazukommt, kann eigentlich nichts passieren. Sobald ich Gadamer lese, erfahre ich das Paradox der Zentrierung: mein Denken kommt in Bewegung, und ich selbst komme zur Ruhe. Ich werde in meine eigene Mitte gestoßen oder, besser, gelockt.
KERSKI: Ihre Faszination für Gadamer haben Sie in ihrem Essay »Gegenüberglück « beschrieben. Unter diesem Titel ist 2008 auch eine Sammlung Ihrer Essays und Gespräche bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Den Gadamer-Beitrag kann man nicht nur als Annäherung an die hermeneutische Philosophie, sondern auch an die Gattung des Essays lesen. Sie charakterisieren Gadamers Verstehenslehre als eine Philosophie der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, der Neugier auf anderes, des wechselseitigen Lernens im Gespräch. Gadamers unvergleichliche Art, Gespräche zu führen, sein Verknüpfen von Erzählen, Reflektieren, Anspielen und Vertiefen, von Ernst und Ironie, beschreiben Sie voller Bewunderung. Alle diese Elemente könnte man auch als schöne und unerläßliche Bestandteile einer Kunst des Essays ansehen.
[...]
SINN UND FORM 4/2013, S. 508-518
Kertész, Imre
- 2/1993 | Über die Unvergänglichkeit der Lager
- 4/1994 | Der Holocaust als Kultur
- 4/1995 | Meine Rede über das Jahrhundert
- 1/1997 | Das eigene Land
- 2/1998 | Meine einzige Identität
- 3/2000 | Gespräch mit Carola Hähnel und Philippe Mesnard
- 1/2001 | Hommage à Fejtö
- 6/2005 | Dossier K. - eine Ermittlung
- 4/2009 | Briefe an Eva Haldimann
- 3/2013 | Tagebuch 2001-2003
- 4/2016 | Der Tod lebt mit einem Vorgefühl von Abenteuer in mir. Aus dem Tagebuch 1995
- 1/2019 | Die eigene Mythologie schreiben. Tagebucheintragungen zum »Roman eines Schicksallosen« 1959 –1962
Kessel, Martin
- 6/2019 | »Versuchen wir, am Leben zu bleiben«. Briefe aus Berlin 1933– 44. Mit einer Vorbemerkung von Till Greite, S. 780 Leseprobe
Kessel, Martin
Der städtische Robinson und sein Dämon der Idylle. Eine Vorbemerkung zu Martin Kessel, »Versuchen wir, am Leben zu bleiben«. Briefe aus Berlin 1933-44. Mit einer Vorbemerkung von Till Greite
Man könne inmitten Berlins »als städtischer Robinson« wie in einer Wildnis leben: Als Martin Kessel diese aphoristische Bemerkung 1948 veröffentlichte, fand er damit das existentielle Bild für eine Daseinsform im Schutt, für das Leben in der untergegangenen Reichshauptstadt. Ein Schiffbruch zu Lande, eine beginnende, ein halbes Jahrhundert dauernde Insellage und die Fraglichkeit eines Überlebens im »unfreiwilligen Exil«, wie der Kritiker Friedrich Luft die Nachkriegszeit nannte – all das umfaßt die Robinsonade inmitten Berlins. Kessel prägt diese Denkfigur noch im Krieg, in der hier erstmals abgedruckten Briefauswahl aus den Jahren 1933 bis 1944, die mit dem Bild des Durchbruchs auf den städtischen »Meeresgrund« schließt, wie Kessel dieses Leben in einer Stadt am Nullpunkt später nannte. Werner Heldts malerische Stilleben haben jenes Lebensgefühl im Wrack der Stadt, das auch Kessel mit seinen Aphorismen und Essays umkreist, sinnfällig ins Bild gesetzt: Es gibt kaum Menschen in dieser ville morte, nur vereinzelt Kähne, eremitenhafte Scherbengänger im Schutt.
Kessel lieferte den geistigen Proviant für diesen Gang durch die Ruinen, eine Moralistik, die beides sein wollte: Vademecum gegen Verrohung und sokratischer Anstoß, das Erlebte nicht ad acta zu legen, wohl wissend, daß gerade die Flucht ins Vergessen allzumenschlich ist: »Wir tragen eine funkelnde Wildnis in uns, die Wildnis des Vergessens.« In der Katastrophenidyllik der stillgelegten Zentrale Berlin erspürte Kessel bereits das »vergletscherte Schweigen«, in das die Deutschen sich einsargten. Gleichwohl stellte er im Sinne Friedrich Nietzsches auch die Frage nach den Grenzen emotionaler Berühr- und Belastbarkeit: »Die rabiate Totalvernichtung dringt nicht mehr zum Herzen«, konstatiert er in seinem aphoristischen Kompendium »Gegengabe« (1960). Das Vergessen, so heißt es in einer Miniatur mit dem Titel »Sanatorium der Wildnis« (1970), sei nach traumatischen Erfahrungen nur durch eine »Kur des Stumpfsinns« zu erkaufen. Ein feinsinniger Autor wie Kessel wußte, daß die Hornhaut des Vergessens, jene mit dem Überleben oft einhergehende Desensibilisierung, Gift für alles Schöpferische ist, gerade für die Literatur. So heißt es über den schmerzhaften, jedoch notwendigen Rückweg zu den Quellen eigener Erfahrung: »Nicht vergessen darfst du, um gelebt zu haben.«
Ganz im Zeichen solcher Schadensaufbewahrung steht diese Aphoristik, die darin einen Gedanken Nietzsches aus seiner »Fröhlichen Wissenschaft« (1882) über die Tücken der Überlieferung aufgreift. Denn Kessel war sich, wie der letzte Brief dieser Auswahl zeigt, seiner Rolle als Hermes und Überlieferungsfigur ebenso bewußt wie seines Schicksals, daß er womöglich in Vergessenheit geraten sollte. Doch die Ströme der Überlieferung haben ihr eigenes Maß und so hinterließ dieser Wahrheitszeuge seine Deutungssplitter. Gerade auf sein Werk und dessen Stellung zwischen den Epochen mag insofern Nietzsches Wort zutreffen: »Die Vergangenheit ist vielleicht wesentlich noch unentdeckt!« Martin Kessel gehört hierbei zu jener von der Literaturgeschichte vernachlässigten Generation der um 1900 Geborenen, die von totalitären Erfahrungen besonders heimgesucht wurde und sich mitunter in ihre unheilvolle Zeugenschaft verstrickte. Es war eine verlorene Generation, eine, die der »Teufel geholt« hatte, wie Wolfgang Koeppen 1962 anläßlich seiner Rede zur Verleihung des Büchnerpreises bemerkte. Zu ihr zählten Peter Huchel, Koeppen selbst, Marie Luise Kaschnitz und Hermann Kesten; mit den beiden letzteren war Kessel freundschaftlich verbunden. Sein bekanntestes Buch ist der Roman »Herrn Brechers Fiasko« (1932), der für ihn selbst zu einem solchen wurde. Dessen Sujet hatte er als Phänomenologe des Pflasters, wie er in einem Brief an Siegfried Kracauer bekannte, »von den Straßen« Berlins gesammelt. Der Roman fiel ob seines unruhigen Geisteswitzes, seines strapaziösen Stils durch, der den Zug zur aphoristischen Pointe bereits erkennen ließ. Ein Stil, der es in Kauf nahm, Leseerwartungen auf die Probe zu stellen. Aber er wurde ihm auch zum gefährlichen politischen Desaster, wie der hier abgedruckte erste Brief nach der »Machtergreifung« von 1933 deutlich macht. Gerade ob seiner geistigen Wendigkeit wurde der Autor des Brechers, im Zeichen zunehmend gleichgeschalteter Kritik, als »noch jüdischer als ein Jude« diffamiert und abgelehnt. Daß Kessel dies überhaupt in einem Brief aufgriff, deutet auf seine parodistische Natur und seinen unabhängigen Geist hin. Seine ethische Haltung bestand darin, sich noch im Moment der Bedrängnis seine Freiheit zur Komik zu bewahren.
Kessel wurde 1924 mit einer Arbeit über Thomas Mann promoviert und war mithin das, was man einen poeta doctus nennt. Er war kein publikumswirksamer Schriftsteller, sondern einer, der in die Literatur hineinwirkte, den vor allem Kollegen schätzten, wie Briefe in seinem Nachlaß von Thomas Mann über Alfred Döblin bis Heimito von Doderer belegen. Das deutete sich schon in seinem ersten Gedichtband »Gebändigte Kurven" (1925) an, in dem die Großstadt als überwältigende Erscheinung durchs lyrische Ich fährt wie einst die Straßenbahn durch den Leib von Rilkes Brigge. Der Lyriker und Kritiker Oskar Loerke bemerkte 1927 in einer Besprechung dieses Bandes, daß Kessel die Großstadt nicht nur illustriere, sondern daß sie bei ihm regelrecht mitspreche. Mit ihm sei einer aufgetaucht, der den Poeschen »Mann der Masse« kenne, ein Autor, der die Stadt im Wort vollziehe. So einer dürfe kein »gebürtiger Berliner« sein, wie Loerke über den Autor schrieb, welcher aus der sächsischen Provinz nach Berlin gezogen war. So einer müsse, um seine scharfe Auffassungsgabe zu behalten, ein vertrauter Fremder, ein Außenseiter im Innenraum der Stadt bleiben. Damit traf Loerke einen wichtigen Punkt: Wir dürfen annehmen, daß Kessel seinerseits, in seinem Essay »Gogol und die Satire«, ein Stück Selbstbeschreibung mit der Aussage liefert, der satirische Exzentriker nach Gogol stehe niemals im Zentrum des Geschehens, sondern spreche von den Rändern her. Überdies scheint ein Gutteil von Kessels Figurenpersonal dessen berühmtem »Mantel" entstiegen zu sein. Der Satiriker-Moralist – das belegen alle Romane Kessels – lebt vom Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Er hat eine tiefe Ahnung von den komischen Ambivalenzen des Lebens und kennt seine eigene Veranlagung zur »Wollust der Angst«. Er entdeckt ein dämonisches Berlin, wie schon E. T. A. Hoffmann oder Walter Benjamin vor ihm, seine Alltagsidyllen sind vom Grauen durchzogen.
Spätestens mit der Eskalation des Krieges hat Kessel nicht nur etwas vom drohenden Gang zum Äußersten gespürt, sondern dies in Form einer Kassiberliteratur, einer Form des verdeckten Schreibens, wie Dolf Sternberger dies später nannte, auch zum Aus- druck gebracht. Eine fast burleske Anspielung findet sich im zweiten hier abgedruckten Brief an seine Frankfurter Freunde, die Eickemeyers, wo er über seinen Gedichtband »Erwachen und Wiedersehen« (1940) sagt, darin sei zwar manch »burschikoses«, aber ansonsten alles »die reinste natur«. Gerade die Naturlyrik war im Nationalsozialismus ein oft gewähltes allegorisches Mittel des verdeckten Schreibens. So heißt es im Gedicht »Romantischer Abend«, ein »blutiger Besen« gehe durch die Stadt, in der »Trauernde im Nebel ruhn« – eine mögliche Anspielung auf Pogrome und Deportationen. Und wie eine Flaschenpost an die Zukunft heißt es in der Coda: »Manches wird die Welt einst lesen / wenigen offenbart sich’s gleich.«
Der »teufel« sei bei ihm los gewesen, schreibt Kessel in dem Brief vom 28. März 1940, nachdem er von einem Mitarbeiter seines vormaligen Braunschweiger Verlags Vieweg denunziert worden war. Dort hatte er seinen an die Schauerromantik erinnernden Künstlerroman »Die Schwester des Don Quijote« sowie den Essayband »Romantische Liebhabereien « (beide 1938) veröffentlicht. In letzterem spricht er wieder von Nietzsche, dessen »Übermensch« von einer skrupellosen Kulturpolitik »fälschlicherweise zur Attrappe erhoben und ausgemünzt wurde«. Deutlicher kann man sich kaum gegen seine Indienstnahme durch den Nationalsozialismus verwahren. Aber den Ausschlag für die Denunziation beim Propagandaministerium gab womöglich etwas anderes, nämlich das Schlußgedicht der Sammlung »Erwachen und Wiedersehen« mit dem bezeichnenden Titel »Hohe Bereitschaft «, in dem auf riskante Weise der Aufruf zum Tyrannenmord angedeutet wird: »Bei soviel Opfern, soviel Blut / als Pfand, das im Gedächtnis ruht«. Den günstigen Augenblick – »ihn gilt’s nicht zu versäumen«. Es war wieder Loerke, der in einer Rezension mit seinem Geistesverwandten Kessel Zwiesprache hielt und dessen Sinn fürs »Zeitgefühl" lobte. Loerke, eine der wichtigsten Stimmen der inneren Emigration in Berlin, schrieb in seinem Gedicht »Der Steinpfad«: »Und meine Gegenwart ist Scham.« Daß es aber ausgerechnet der mit der Zensur des Bandes beauftragte Mann im Propagandaministerium war, den Kessel ironisch für »gar nicht übel« befand und der offensichtlich nicht viel Aufhebens machen wollte, hatte selbst eine satirische Note, die die Erwartung unterlief. Diese Wendung offenbart zugleich einen tiefernsten Zug, den der deutsch-britische Essayist und Lyriker Michael Hamburger nach dem Krieg auf den Begriff der »demons of conformism" brachte, auf die sich jede totalitäre oder autoritäre Herrschaft stützt und die im Falle des Nationalsozialismus auf vorauseilenden Gehorsam setzte. In diesem Falle jedoch, das ist die Ironie, wurde er von einer höheren Stelle abgefangen. Damit wird Kessels heikle Zeugenschaft um so deutlicher: Denn er wußte, wie Konformismen entstehen und was für Unheil sie gebären. Er sollte nach dem Krieg erleben, wie diese zum Argument der Selbstentlastung, zu Tarnkappen des Jedermann wurden.
Kessels Schilderung in dem Brief wirkt so, als befände er sich in einem Schelmenroman, und die bedrohliche Zeit könne ihm nicht wirklich etwas anhaben. Daß dem nicht so war, sondern daß er sich in einer Art Schutzmantel verbarg, deutet der spätere Essay »Vom Geist der Satire« (1947) an. Darin heißt es, die Haltung des Lächerlichen gehöre ins Clair-Obscur des Allzumenschlichen, nicht zuletzt in Zeiten existentieller Bedrängnis. So sprach für Kessel im Satirischen – in seiner an Helmuth Plessner erinnernden anthropologischen These – immer Angstvolles mit. Das satirische Bewußtsein, das sich im Grenzaffekt des Lächerlichen Luft verschafft, sei selbst Ausdruck einer Krise: Denn gerade in Grenzsituationen werde der Ernst abgewertet, um sich die existentiell zudring- liche Wirklichkeit buchstäblich vom Leibe zu halten. Der Mensch verstehe es, »lächerlich zu werden aus purer Angst«. Kessel, der durch einen Unfall nur ein Auge besaß, war somit als ein Versehrter in der Sphäre des Menschlichen ein überaus hellsichtiger Zeuge.
Der mutigste und weitblickendste Essay aus der NS-Zeit trägt den unscheinbaren Titel »Die Patenschaft der Vergangenheit« (1938), in ihm schreibt Kessel gegen den Gegenwartsopportunismus aus »Zynismus und Gewagtheit« an. Bemerkenswert ist, daß hier einer zugibt, ein »schlafloses Wesen« geworden zu sein angesichts der sich auftürmenden »Gebiete von Schuld und Gewissen«. So deutlich wie kaum je sonst benennt Kessel hier die Machenschaften des NS-Regimes und mahnt: »Jenes machiavellistische Widerspiel, das aus Diplomatie das Verbrechen heiligt, jene Forderungen von Opfern an Blut und Leben, jener Blick aufs Ganze über den Einzelnen weg – wie sollte dies zu verantworten sein und vor wem, wenn nicht vor der Instanz einer höheren und späteren Gerichtsbarkeit. « Wer sich fragt, wo das Gewissen der Literatur, ihre aufrichtige Zeugenschaft, zu finden gewesen sein mag, kann hier fündig werden. Für den aufmerksamen Leser wird bereits jene Kippfigur sichtbar, als die Kessel das Nachkriegsberlin sah: ein Ort, der immer wieder vom Idyllischen ins Schreckliche umschlägt. Wer also die Vergangenheit dem Vergessen überlasse, der begehe eine »Amputation« am Zeitsinn des Menschen und zugleich an dessen ethischem Vermögen. Wer hingegen sein inneres moralisches Empfinden vom Einspruch der Überlieferung berühren lasse, für den könne das »Vergangene als Widerstand« gegen die Zumutungen seiner Zeit einstehen. Es ging Kessel darum zu zeigen, daß die Einsicht in unsere Verstrickung in die Zeitläufte nicht ohne ethische Konsequenz bleiben darf.
An dieser Haltung scheint auch die Erfahrung des großen Luftangriffs im November 1943 nichts geändert zu haben, der weite Teile des Neuen wie des Alten Westens südlich des Tiergartens in ein Trümmerfeld verwandelte. Gleichwohl ist eine Gemütsverwandlung vom Satirischen zur tragischen Gefaßtheit merklich angesichts der das Fassungsvermögen sprengenden Zerstörungen. Auch Kessel stockt nun der Geisteswitz. Es scheint, als habe die sich in der Mitte der Stadt ausbreitende Leere seine Ahnungen furchtbar bestätigt. Diese »leere Zentrale«, die sich vor ihm als städtischem Robinson vom Fehrbelliner Platz bis Stadtmitte ausbreitete, war nur die manifeste Form eines locus terribilis, der ihm das zeitgenössische Berlin atmosphärisch schon zuvor gewesen war. Die pulsierenden »Konzentrationspunkte« der Stadt, die er in »Herrn Brechers Fiasko" noch beschrieben hatte, waren zu gespenstischen Kratern implodiert. Es war zudem eine Implosion des geistigen Berlin, verbrannte doch vor seinen Augen in Gestalt des Romanischen Cafés das »Haus der Literatur« aus Weimarer Tagen. So geht dieser Trümmerflaneur wie Nietzsches »toller Mensch« durch die Ruinen und versucht die grauenvolle Leere, an der seine Mitmenschen nur schweigend und wie anästhesiert vorbeischleichen, zu begreifen. In der Mitte herrsche Totenstille: »Menschen stehen herum, ziehen in nicht allzu dichten Strömen aneinander vorbei, es fällt kein Wort.« Ähnlich wie Felix Hartlaub und Friedo Lampe versuchte Kessel diese apathische Stimmung wenn nicht zu überwinden, so doch zum Ausdruck zu bringen. Der Luftkrieg hatte – mit einem Wort aus Karl Friedrich Borées Roman »Frühling 45« – eine gigantische »Vakuole« ins Herz der Stadt geschlagen. Kessel beschreibt ihn nun als ein Herausfallen aus allen Orientierungsachsen, mit dem das Erleben nicht mehr Schritt hält: »Ich weiß einfach nicht, wie ich das mitteilen soll«. Nicht zufällig, sondern aus innerer Not griff Kessel auf die kleine Form zurück, um wenigstens »einige Fäden in der Hand zu halten«, wie er in seinem Brief an seinen Freund Richard Gabel bekannte. So wurde der Aphorismus zum Sinnbild komprimiertester Erfahrung im Zeichen der Daseinsnot: »Wo jeder Tag der letzte sein kann, gewinnt der Augenblick eine unendliche Größe.«
Nach dem Krieg trat Kessel vor allem als Aphoristiker und Essayist in Erscheinung, abgesehen von dem Roman »Lydia Faude« (1965), den er noch in der NS-Zeit begonnen hatte und der ihm, in der Anlage zwischen den Epochen stehend, wieder zum Publikumsfiasko werden sollte. Von der Titelfigur heißt es darin, ganz in Sinne einer Allegorie Nachkriegsberlins, daß sie zwar Vergangenheit habe, »vielleicht mehr, als sie bewältigen kann, aber sie lebt nicht mit ihr, sie strebt von ihr fort. Sie lebt in bezug auf eine Art Fata morgana, es ist alles Wüste.« Als Aphoristiker genoß Kessel einen legendären Ruf in den Feuilletons. Er sei der »Eremit in Berlin«, schrieb ein Kritiker 1963 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, quasi ein Zarathustra von Wilmersdorf, der zu seiner Zeit und zu literarischen Gruppierungen auf Abstand ging. So gewann er als Außenseiter dem genius loci der Stadt auch im Nachkrieg Entscheidendes ab: Er brachte ihn in seinem Skizzenband »In Wirklichkeit aber« (1955) auf den »Dämon der Idylle«. In der unheimlich stillen Ruinenstadt lägen die »Konzentrationspunkte«, in Wiederaufnahme eines komplett gewandelten Ausdrucks aus dem Brecher-Roman, »weit auseinander« oder seien, »wie der Potsdamer Platz, durch politische Injektionen narkotisiert. Es ist also keine idyllische Stille, es ist eher eine, diabolisch und paradox, mit einer lautlosen Stimme begabt, die sagt: ›Ich sehe hier vieles, das nicht da ist, nicht mehr und noch nicht.'« Als einen Seher zwischen den Zeiten, in der Tradition Nietzsches, sah Kessel sich selbst, den im Schutt seine eigene »stillste Stunde«, Gewissensruf des Überlebenden, ereilte.
Kessel fand mit seinen Gedankensplittern somit auch die zeitgemäße Form für den Daseinszustand der Stadt. Für ihn sei Berlin noch Kosmos, befand ein Kritiker, »wie es bei Benjamin in der ›Berliner Kindheit‹ und bei Döblin im ›Alexanderplatz‹ Kosmos war«, nur eben in Form einer in Stücke gebrochenen Ordnung. Der »Überlebende«, bekannte Kessel einmal, sei dabei von »zweifelhafter Redlichkeit (…) gemessen am Schweigen der Opfer«. Doch wußte er, daß es ihm nicht erspart bleiben würde, seinen Weg im Ausdruck zu suchen, allein schon um für sich und Kommende »gelebt zu haben«.
SINN UND FORM 6/2019, S. 780-797, hier S. 780-784.
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Keun, Irmgard
- 1/2020 | »Ich sehne mich zwar nach Ruhe, aber ich ertrage sie nicht«. Zwei unbekannte Briefe an eine Freundin. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Meitzel, S. 5 Leseprobe
Keun, Irmgard
»Ich sehne mich zwar nach Ruhe, aber ich ertrage sie nicht.« Zwei unbekannte Briefe an eine Freundin. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Meitzel
Vorbemerkung
»Ist Münzenberg tot? Was ist mit Irmgard Keun?« Als sich Nelly und Heinrich Mann am 11. Januar 1941 besorgt bei Hermann Kesten nach dem Schicksal der beiden Freunde erkundigen, ist Willy Münzenberg nicht mehr am Leben, aber auch die zweite Frage beruhte auf mehr als einer angstvollen Vermutung. Bereits am 16. August 1940 hatte der »Daily Telegraph« berichtet: »Fraulein Irmgard Keun, the novelist, is stated to have taken her life at Amsterdam.«
Ein knappes Jahrzehnt zuvor war die junge, 1905 in Charlottenburg geborene Autorin mit den Romanen »Gilgi – eine von uns« (1931) und »Das kunstseidene Mädchen« (1932) auf Anhieb zur Bestsellerautorin geworden. In beiden Büchern porträtiert sie berufstätige neue Frauen, die unabhängig sein wollen und sich gegen Zurücksetzung, ungerechte Entlohnung und zudringliche Männer zur Wehr setzen. Sie stürzen sich in das bunte, berauschende Leben und wollen wie Doris, das kunstseidene Mädchen, »ein Glanz« werden. Aber nicht nur die zahlreichen Leser, durch die der Universitas-Verlag gutes Geld verdient, sind begeistert. Auch Kurt Tucholsky schreibt 1932 in der »Weltbühne« über die Autorin des Debütromans »Gilgi«: »Hier ist ein Talent (…), aus dieser Frau kann einmal etwas werden.«
Die so vielversprechend begonnene Karriere endet jedoch jäh: Keuns Werke, die das Gegenteil des fortan propagierten Frauenideals präsentieren, gelten den Nationalsozialisten als »Asphaltliteratur«. Zu den im Mai 1933 in Berlin verbrannten Büchern gehört auch »Das kunstseidene Mädchen«.
Doch selbst nachdem die Geheime Staatspolizei die gesamten Bestände ihrer Romane beim Verlag beschlagnahmt hat, fügt sich die gerade dreißigjährige Autorin nicht: Irmgard Keun meldet, da ihr aufgrund dieses Vorgehens erhebliche Einkommensverluste entstanden seien, gegenüber dem Landgericht Berlin Schadenersatzansprüche an. Erst als der entsprechende Antrag ebenso abgelehnt wird wie die für jede weitere Veröffentlichung unerläßliche Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, verläßt sie Deutschland im Frühjahr 1936 in Richtung Niederlande.
Bis 1938 erscheinen ihre unübersehbar gegen die Diktatur in ihrem Heimatland gerichteten Romane »Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften«, »Nach Mitternacht «, »D-Zug dritter Klasse« und »Kind aller Länder« in den Amsterdamer Exilverlagen Allert de Lange und Querido. Anders als die meisten ihrer exilierten Kollegen, auch als ihr zeitweiliger Lebensgefährte Joseph Roth, entscheidet sich Keun nicht für historische Stoffe. Sie kann den alltäglichen Nationalsozialismus aus eigenem Erleben beschreiben und seinem von der Propaganda verschleierten Kern nachspüren – bis hin zur Vorstellung einer Kunst aus »Blut und Boden«: Die neunzehnjährige Susanne in »Nach Mitternacht« (1937), die sich immer etwas naiv gibt, dabei aber stets aufmerksam beobachtet, möchte – wie Gilgi und Doris – viel lieber in einer großen Stadt leben als in ihrem lehmigen Moseldorf. Als sie aber zu ihrem Bedauern erkennt, daß man sich »heutzutage wegen der Weltanschauung und der Regierung« statt zu einer Metropole zu »dampfenden Erdschollen« hingezogen fühlen muß, läßt Keun die Hauptfigur ihres Romans zu dem erstaunlichen Schluß kommen: »Der Sinn der Erdschollen besteht darin, daß die Dichter sie besingen müssen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen und nachzudenken, was in den Städten los ist und mit den Menschen.«
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Mai 1940 wird Irmgard Keuns Lage in den Niederlanden zusehends prekärer. Nachdem sich die von Amsterdam aus unternommenen Versuche zerschlagen, noch ein Einreisevisum für ein weiteres Exilland zu bekommen, nimmt sie, wohl auch aus Angst um die weiterhin in Köln wohnenden Eltern, den unwahrscheinlichsten Ausweg und fährt 1940, ausgestattet mit gefälschten Papieren, nach Deutschland zurück. – Noch sechs Jahre später, im Sommer 1946, schreibt Erich Kästner an Hermann Kesten: »Von Irmgard Keun wird erzählt, daß sie umgekommen sein soll. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Es ist schon mancher totgesagt worden, der dann wieder auftauchte. Hoffen wir’s auch in ihrem Falle.« Zu diesem Zeitpunkt war die tot oder zumindest verschollen Geglaubte allerdings schon von Mitarbeitern des gerade gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunks in einer notdürftigen Behausung aufgefunden und zu Rundfunkarbeiten bewogen worden, die während der nächsten Jahre zu ihrer Existenzgrundlage werden sollten.
Die hier erstmals veröffentlichten Briefe fand ich an entlegener Stelle, als Teil einer Einsendung an das von Walter Kempowski initiierte und gepflegte »Archiv unveröffentlichter Biographien«, das heute vom Archiv der Akademie der Künste verwahrt wird. Bei den Schreiben handelt es sich um insgesamt zwölf handbeschriebene Blätter auf grünlichem Luftpost- oder Durchschlagpapier, dessen Wahl auf eine Sparsamkeit schließen lassen könnte, die Keun schon in früheren Jahren keineswegs fremd war: Selbst in einem 1934 geschriebenen Liebesbrief an Arnold Strauss begründet sie den Abschluß des Schreibens mit den Worten »Wenn ich noch einen Bogen nehme, muß ich Doppelporto zahlen, dann komm’ ich mit den Marken nicht aus.«
Ihre besondere Bedeutung erhalten die Briefe aus der Tatsache, daß sie einen Lebensabschnitt der Autorin beleuchten, aus dem sich so gut wie keine Zeugnisse erhalten haben. Auch an ihren Liebhaber Strauss wird Keun erst nach Kriegsende wieder schreiben. Ihre bisherigen Biographinnen greifen daher entweder auf Zeugnisse Dritter wie die Briefe ihres zeitweiligen Ehemanns Johannes Tralow zurück oder lassen die Jahre zwischen Mitte 1940 und 1945 weitgehend unbehandelt.
In der Rückschau hat die Autorin in einem Brief an Kesten vom 10. Oktober 1946 berichtet, sie sei 1940 »mit dem falschem Paß nach Deutschland gefahren«. Über die Zeit, in der die hier abgedruckten Briefe verfaßt wurden, schreibt sie: »Na, und da habe ich denn illegal gelebt und zeitweise illegal gearbeitet. Die ersten beiden Jahre waren am schlimmsten. Mir war alles dermaßen ekelhaft, daß ich schon garnicht mehr vorsichtig war. (…) Menschen, mit denen ich mich rückhaltlos hätte verständigen können, fand ich nicht. Manche schimpften wohl auf Hitler, aber siegen wollten sie doch, und fast alle waren besoffen von den Sondermeldungen und Fanfaren und Liedern und Beutewaren. Tröstlich waren meine Eltern, die unbeirrbar zu mir hielten.«
Die beiden Briefe sind nicht lange nach der Rückkehr der Schriftstellerin ins Deutsche Reich geschrieben. Irmgard Keuns Aussichten, daß ihr das »Abseits als sicherer Ort« (Peter Brückner) ein beschütztes Überleben ermöglichen würde, waren außerordentlich unsicher. Bis zur Befreiung blieb sie existentiell gefährdet. Dies – und das Wissen um die nationalsozialistische Postzensur – erklären den eigentümlich zurückhaltenden, fast verhohlenen Ton, der diese Briefe auszeichnet und den Shakespeare in seinem 66. Sonett beschreibt als »tongue-tied by authority«.
Matthias Meitzel
SINN UND FORM 1/2020, S. 5-12, hier S. 5-7
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- 5/1971 | Der maghrebinische Roman
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- 6/2010 | »Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie.« »Die Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate, S. 195 Leseprobe
Kienlechner, Sabina
»Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie«. Die »Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate
Die Verleihung des Nobelpreises 2009 an Herta Müller hat die Öffentlichkeit auf eine Gegend aufmerksam gemacht, von der bisher nur wenige etwas wußten: das rumänische Banat. Im Grenzgebiet zwischen Rumänien, Ungarn und Serbien gelegen, war dieser Raum seit dem 18. Jahrhundert von Deutschen besiedelt, hier war einst eine blühende bäuerliche Landschaft mit über einer viertel Million deutschsprachigen Einwohnern. Im zweiten Weltkrieg wurde diese Bevölkerung durch Deportation und Vertreibung stark reduziert, doch um 1950 herum lebten dort immer noch etwa 170000 Deutsche, es gab deutsche Schulen, deutsche Zeitungen, deutsche Theater, deutsche Verlage – und es gab eine rumäniendeutsche Literatur. In den siebziger und achtziger Jahren aber begannen die Banater Schwaben zu Zigtausenden auszuwandern, zumeist in die Bundesrepublik. Heute ist die Zahl der noch im Banat verbliebenen Deutschen verschwindend gering. Mit zu den Auswanderern gehörten die Schriftsteller; sie ließen sich im Westen nieder und verwandelten sich, so gut es ging, in bundesdeutsche Autoren. Die rumäniendeutsche Literatur schien nicht mehr zu existieren, um 1990 herum begann man, Nachrufe auf sie zu verfassen.
Auch die Tatsache, daß der Nobelpreis 2009 an eine rumäniendeutsche Autorin ging, hätte allein wohl nicht ausgereicht, das Phänomen wiederzubeleben. Doch im Hintergrund des Preises steht ein weit umfassenderes Ereignis, das die Geschichte dieser Literatur auf eine ebenso erschütternde wie erlösende Weise wieder aufscheinen läßt: die Öffnung der rumänischen Geheimdienstarchive. Bereits im Jahr 1999 war die CNSAS (Consiliul Nat¸ional pentru Studierea Arhivelor Securităt¸ii, eine Art rumänische Gauck-Behörde) gegründet worden, doch kam der Aufbau des Archivs nur schleppend und gegen diverse politische Widerstände in Gang. Im Jahr 2006 aber hieß es, die Übergabe der Akten an die CNSAS sei abgeschlossen. Etwa seit 2007 ist es für Betroffene, Journalisten und Forscher nicht mehr nur »theoretisch«, sondern tatsächlich möglich, Einsicht in die Akten zu nehmen. Angehörige des Instituts für südosteuropäische Forschung stießen im Frühjahr 2008 auf Akten, die der rumänische Geheimdienst über einigeMitglieder der »Aktionsgruppe Banat« angelegt hatte. Auch die übrigen Mitglieder sowie andere, ihnen nahestehende Schriftsteller begannen daraufhin, ihre Securitate-Akten anzufordern, und seitdem gelangen mehr und mehr Dossiers aus den Bukarester Archiven ans Tageslicht. Es scheint kaum einen rumäniendeutschen Schriftsteller zu geben, über den die Securitate nicht eine oder mehrere Akten geführt hat: Beobachtungsakten (dosar de problemă), Verfolgungsakten (dosar de urmărire informativă), Strafakten (dosar de urmărire penală) – und manchmal leider auch IM-Akten (dosar de ret¸ea). Den größten Raum nehmen die dosare de urmărire informativă (D.U.I.) ein, in denen die operativen Vorgänge zu den einzelnen Schriftstellern dokumentiert sind. Die Rubrik, der sie ungeachtet ihrer marxistischen Einstellung zugeordnet wurden, war: Deutsche Nationalisten und Faschisten. Die Frage, ob die Akten manipuliert wurden oder nicht, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt Hinweise darauf, daß Passagen herausgenommen wurden. Das vorhandene Material ist jedoch so umfangreich, daß es in jedem Fall aussagekräftig bleibt. Anders als die DDR-Akten sind die Kopien der rumänischen Akten kaum geschwärzt, auch die Namen blieben stehen. Eine Liste mit den Klarnamen der Informanten aber wurde von der CNSAS bisher nicht geliefert.
Die Aktionsgruppe Banat entstand in den frühen siebziger Jahren. Mit ihr begann eine etwa fünfzehn Jahre dauernde Periode, während der es ein paar Rumäniendeutschen – nicht etwa allen – trotz ihrer isolierten und bedrohlichen Lage gelang, eine hochklassige, moderne, kritische Literatur hervorzubringen. Das Verdienst gebührt tatsächlich einigen wenigen – denn das Gros hätte lieber eine ganz andere Literatur gehabt. Die damals sehr jungen Schriftsteller der Aktionsgruppe befanden sich von Anfang an in einer doppelten Opposition: zum einen gegen ihre deutschen Landsleute, zum anderen gegen Ceauşescus
Diktatur. Die beiden feindlichen Bereiche waren keineswegs sauber voneinander getrennt; und auch die jungen Schriftsteller selbst agierten nicht fehlerlos. Am Ende hatten sie gegen ihre Landsleute einen triumphalen Sieg errungen, während Ceauşescus Diktatur sie auf eine vernichtende Weise geschlagen hatte. Fast alle Gruppenmitglieder sahen sich gezwungen, schon Jahre vor dem Umsturz Rumänien zu verlassen. Nicht alle haben die Repressalien des Regimes überlebt. Nur wenige schafften es, weiterhin zu schreiben. Alle aber haben jahrzehntelang mit biographischen Unklarheiten und Widersprüchen, auch mit Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen leben müssen, die erst durch das Auftauchen der Akten ausgeräumt werden konnten. Die Aktenauszüge, die im folgenden wiedergegeben werden, sind aus dem Rumänischen übersetzt; sie können nicht mehr als einen ersten Eindruck vermitteln. Noch liegen bei weitem nicht alle Akten vor, noch sind keineswegs alle Spitzel enttarnt. Die Rekonstruktion der Geschichte hat gerade erst begonnen.
Als sich die Aktionsgruppe Banat 1972 bildete, waren ihre Mitglieder kaum zwanzig Jahre alt. Zum engeren Kreis gehörten: Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner, wobei Richard Wagner die Rolle eines Primus inter pares innehatte. Sie trafen sich an der Universität von Temeswar, wo sie Germanistik studieren wollten. Sie kamen aus den Dörfern der Banater Ebene, von den Höfen und Ländereien, die ihren Vorvätern einst gehörten, jedoch im Zuge der kommunistischen Enteignung verstaatlicht worden waren. Die bäuerliche Banater Minderheit hielt, wenngleich nun in jeder Hinsicht »grundlos«, unerschütterlich an ihrer Mentalität und den landsmannschaftlichen Traditionen, Kirchweihfesten, Heimatliedern, Trachten, Blaskapellen fest. Die Banater hatten es geschafft, über zwei Jahrhunderte hinweg alle »fremden« Einflüsse von sich fernzuhalten und durch und durch »deutsch« zu bleiben. Der Groll über Deportation, Enteignung und Demütigung, die ihnen nach dem Krieg von seiten der Russen widerfahren waren, half ihnen, ihre eigene Nazivergangenheit und den Dienst in der Waffen-SS, der die männlichen Banater in großer Zahl angehört hatten, zu verdrängen. Statt dessen pflegten sie mit Hingabe die Sekundärtugenden Ordnung, Sauberkeit, Pflichtgefühl, was dazu führte, daß sie sich den Rumänen, die ihrer Meinung nach diese Tugenden nicht besaßen, haushoch überlegen fühlten. Nur leider reichte ihr Überlegenheitsgefühl nicht aus, um sich auch gegen die rumänische Diktatur aufzulehnen. »Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt«, schreibt Herta Müller, »aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung.«
Die jungen Autoren lehnten sich auf gegen diese Welt; sie weigerten sich, in ihren Texten das Schicksal der deutschen Minderheit zu besingen und den donauschwäbischen Volksgeist zu preisen, wie es die Dichter der vorangegangenen Generationen getan hatten und noch immer taten. Sie wollten eine ganz andere, innovative Literatur schreiben: ebenfalls eine deutsche Literatur, doch eine, die modern war, zeitgemäß, und die mit der des Westens konkurrieren konnte. Sie waren die erste Generation, die im real existierenden Sozialismus aufgewachsen war, und wie ihre westlichen Altersgenossen glaubten sie an Marx und Marcuse, Brecht und Berlinguer, Janis Joplin und Che Guevara und an die Verwirklichung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Im Gegensatz zu ihren westlichen Altersgenossen freilich lebten sie in einem Land, in dem der Sozialismus bereits verwirklicht war, er hatte nur leider kein »menschliches Antlitz«. Doch auch darin schien sich eine Annäherung anzubahnen zwischen Ost und West. Seit Ceauşescu sich 1968 anläßlich des Prager Frühlings gegen die Sowjets gewendet und einen Freundschaftspakt mit Dubček unterzeichnet hatte, konnte man meinen, Rumänien befinde sich auf dem Weg zu einer dauerhaften Liberalisierung. Der Westen blickte voller Sympathien auf Bukarest. Es herrschte Tauwetter; die schlimme stalinistische Zeit schien vorüber.
Die jungen Schriftsteller setzten sich zusammen und formulierten ein Programm. Sie nahmen darin ästhetisch vorweg, worauf sie politisch hinarbeiten wollten: daß Ost und West eines Tages, vielleicht schon bald, dasselbe meinen könnten, wenn sie »Sozialismus« sagten. Sie gingen mit gutem Beispiel voran und vertraten mitten im Osten einen westlichen Marxismus. Sie bekannten sich zu Brecht und nahmen sich vor, ein »neues Realitätsbewußtsein« zu schaffen, »falsche Denkschemata« zu überwinden, kritisch zu sein, zu provozieren und »auf der Grenze zu gehen«. Ein Journalist, der über sie berichtete, gab ihnen den Namen »Aktionsgruppe Banat«, ein Begriff, der den Freunden wegen des Verwirrungspotentials, das er enthielt, gefiel.
Sie wußten, daß es in Rumänien auch im schönsten »Tauwetter« höchst riskant war, eine Gruppe, gar eine Gruppe mit politischen Ambitionen zu organisieren; aber eben darin wollten sie ihrer Zeit vorauseilen. Ihr vages Vorbild war die Wiener Gruppe, die in den fünfziger Jahren in Österreich mit Gemeinschaftslesungen, Textmontagen und surrealistischen Sketches die Öffentlichkeit provoziert hatte. Ähnliches im realsozialistischen Rumänien des Jahres 1972 zu veranstalten, war so tollkühn wie der Flug des Ikarus. Aber sie ließen sich durch nichts und niemanden davon abhalten. »Man hat die Freiheit, die man sich nimmt, dachten wir«, schrieb Richard Wagner Jahre später. »Was für unsere Umgebung unerhört war, war für uns nicht einmal ein Wagnis. Wir traten mit einem Ton der Selbstverständlichkeit auf, der sogar den Behörden die Sprache verschlug. Für eine Weile jedenfalls. Für eine Weile, in der sie uns argwöhnisch beobachteten.«
Die literarische Produktion der Gruppe erreichte erstaunlich schnell ein professionelles Niveau. Man schrieb Lyrik und kurze Prosa, witzige, vertrackte, skurrile Texte, verwandte die unterschiedlichsten Stile und Techniken und war doch unverkennbar. Die Gruppe wurde rasch über die Grenzen von Temeswar hinaus bekannt, bis hin ins ferne Bukarest, denn sie war einzig in ihrer Art. Entscheidend war, daß es in den deutschsprachigen Zeitungen Rumäniens Redakteure gab, die mit ihr sympathisierten und ihre Erzeugnisse druckten. Insbesondere galt dies für die Zeitschrift »Neue Literatur« (NL), die monatlich in Bukarest erschien. Die NL war ebenso erstaunlich wie das gesamte Phänomen der jungen rumäniendeutschen Dichtung, deren Motor sie war: eigentlich unterstand sie dem offiziellen rumänischen Schriftstellerverband, war aber längst »unterwandert« von kritischen und kundigen Redakteuren, meist selber Schriftstellern, die es irgendwie fertigbrachten, die »Ringmauern« der Zensur zu durchbrechen. Sie publizierten nicht nur die neue, kritische Literatur aus Siebenbürgen, dem Banat und Bukarest, sie veröffentlichten auch Werke aus der DDR, die dort nicht erscheinen durften.
Nach ihren Debüts auf den Schülerseiten des Lokalblatts »Neue Banater Zeitung«, die ihnen der Chefredakteur Nikolaus Berwanger einräumte, landeten die jungen Schriftsteller bald bei der NL. Sie stießen dort auf den Redakteur und Literaturkritiker Gerhardt Csejka, der sie nicht nur veröffentlichte und unterstützte, sondern im wahrsten Sinn des Wortes ihr Schicksalsgefährte wurde. Von ihm und (am Anfang) auch von dem Schriftsteller Paul Schuster bekamen sie entscheidende Tips und Orientierungshilfen, um sich mit der im Westen erscheinenden Literatur vertraut zu machen. Sie beschafften sie sich auf allen nur erdenklichen Wegen, sie lasen soviel sie konnten, bald kannten sie mehr Bücher, als die germanistische Fakultät ihnen zu bieten hatte, und sie gaben ihre Kenntnisse weiter an jene, die selbst noch nicht schrieben oder gerade erst damit begonnen hatten. Herta Müller, die erst einige Jahre später mit ihren Arbeiten an die Öffentlichkeit trat, sagte: »Ich glaube, ich wurde eigentlich ausgebildet von der Aktionsgruppe, und nicht etwa an der Universität.«[...]
SINN UND FORM 6/2010, S. 746-769
- 3/2014 | Der arme Spitzel. Die rumäniendeutschen Schriftsteller und das juristische Debakel der Securitate-Aufarbeitung, S. 195 Leseprobe
Kienlechner, Sabina
DER ARME SPITZEL Die rumäniendeutschen Schriftsteller und das juristische Debakel der Securitate-Aufarbeitung
Moral, Recht und Wahrheit
Auf die bekannte, sozusagen seit Menschengedenken gestellte Frage, wie Recht und Moral sich zueinander verhalten, erhält man heute meist verschwommene und ausweichende Antworten. Es heißt, Recht und Moral seien zwar nicht dasselbe, aber gewissermaßen ineinander »verschränkt«; sie würden sich »mehr oder minder stark überschneiden« oder gingen auseinander hervor bzw. bauten aufeinander auf. Daneben gibt es allerdings eine gewichtige (von Max Weber angeführte) Fraktion von Gelehrten, die die Auffassung vertritt, Recht und Moral seien unvereinbar.
Tatsächlich aber zeigen Recht und Moral eine Tendenz, sich umgekehrt proportional zueinander zu verhalten: wo das eine zunimmt, nimmt das andere ab, und umgekehrt. Daß dort, wo es kein Recht gibt, die Moral an Bedeutung gewinnt, liegt eigentlich auf der Hand. In einem Unrechtsstaat kann nur die Moral die Menschen davor retten, sich schuldig zu machen. Natürlich ist das nicht so einfach: Es bedarf einigen Muts und gehöriger Widerstandskraft, um sich gegen den Unrechtsstaat moralisch zu behaupten; denn dieser fordert ja in der Regel, daß man sich an seine unrechten Maximen und Praktiken hält.
Überraschender und widersinniger scheint der zweite Fall: nämlich daß dort, wo das Recht herrscht, die Moral tatsächlich an Bedeutung verliert. Zunächst ist zu beobachten, daß gerade in der rechtsstaatlich verfaßten Bundesrepublik der Moralskeptizismus im Laufe der Jahrzehnte ständig zugenommen hat. Spricht man heute über Moral, trifft man auf Achselzucken; einem Großteil der Menschen bedeutet sie nichts. Sie vertreten die Auffassung, die Gesellschaft komme sehr gut ohne Moral aus; es genüge, wenn alle sich an die Gesetze halten. Was einer darüber hinaus tut, ob er sich mehr oder weniger »moralisch« verhält, sei seine Sache. Für die Öffentlichkeit ist das relativ egal.
Sollte man also, zumindest für den Rechtsstaat, sagen: Moral ist Privatsache, in der Öffentlichkeit entscheidet das Recht? Nein: Der Umkehrschluß, daß man dort, wo die Rechtsprechung funktioniert, auf Moral verzichten könne, ist gewiß falsch. Es gibt unzählige Fälle nicht nur moralischen Unrechts, für die gar keine Rechtsgrundlage existiert. Wir müssen ohne Richter damit fertig werden, angewiesen auf unser spontanes Rechts- bzw. Unrechtsempfinden. In diesen Momenten wird uns meist bewußt, daß der Verzicht auf die Moral nicht nur nicht empfehlenswert, sondern gar nicht möglich ist. Denn Moral ist keine Privatsache, sondern – ähnlich wie die Sprache – eine öffentliche, omnipräsente Praxis, die das Zusammenleben konstituiert.
Gleichwohl müssen wir bei näherem Hinsehen jenen beipflichten, die sich für die Unvereinbarkeit von Recht und Moral aussprechen. Mit einer Präzisierung jedoch: Nicht Gesetz und Moral schließen einander aus, sondern Recht und Moral. Denn natürlich kann es unmoralische Gesetze geben, sie sollten tunlichst geändert werden. Das Prinzip der Rechtsprechung aber ist nicht die Moral, sondern allemal die Wahrheitsfindung. Wir würden uns vermutlich bedanken, wenn irgendein Gericht uns aufgrund von moralischen Sentenzen verurteilen würde, anstatt auf Beweisen und Tatbeständen zu bestehen. Wir wissen sehr gut: der Weg zur Gerechtigkeit führt allein über die Wahrheit, nicht über die Moral.
Es darf sogar als ein Zeichen von Moderne und Fortschritt gelten, daß unsere Gerichte auf die Implikation der Moral verzichten. Und wir könnten rundum zufrieden sein – wenn sich nicht gerade durch die Modernisierung ein anderes Übel eingeschlichen hätte: die Relativierung des Wahrheitsbegriffs. Daß Wahrheit ganz und gar relativ sei, ist eine Überzeugung, die heute in jedem Konflikt, jedem Disput, ja schon bei jedem Meinungsaustausch Anwendung findet. Es gilt als hoffnungslos naiv zu glauben, die eine unbezweifelbare Wahrheit könne jemals gefunden werden. Wahrheit ist vielmehr relativ zur Kultur, relativ zur Epoche, relativ zum Standort, und vor allem ist sie, dieser verbreiteten Auffassung zufolge, ihrem Wesen nach subjektiv. Objektivität, die per definitionem von allen anerkannt werden muß, läßt sich keineswegs immer und überall herstellen; aber selbst dort, wo sie tatsächlich hergestellt werden kann, ändert das nichts an der »Wahrheit« des subjektiven Erlebens, das ja nur den individuellen Bedingungen des einzelnen unterliegt. Nur muß dieses sich eben der Objektivität beugen.
Daraus könnte man nun schließen, daß dem einzelnen um so mehr Gerechtigkeit zuteil wird, je mehr man auf »seine« relative Wahrheit eingeht und sie in der Gesamtbeurteilung berücksichtigt; und vermutlich ist das in vielen zwischenmenschlichen Situationen auch richtig. Aber dort, wo die Belange öffentlich werden, wie etwa vor Gericht, wird dieses Konzept untauglich. Die Rechtsprechung kann sich einen Wahrheitsrelativismus nicht leisten. Sie operiert mit Begriffen wie Ermittlung, Befund, Sachverhalt, Tatbestand oder Tatsache und stützt sich auf eine einfache Korrespondenz von Aussage und Wirklichkeit – etwa in der Form: Die Behauptung »Es regnet« ist genau dann wahr, wenn es regnet. Und ob es tatsächlich regnet, muß eben ermittelt werden. Nicht nur der Wahrheits-, sondern auch der Wirklichkeitsbegriff ist also für die Rechtsprechung kein Problem. Wirklichkeit wird schlicht als gegeben angesehen. Dieser einfache Wahrheitsbegriff steht nun im glatten Widerspruch zur allenthalben behaupteten Relativität der Wahrheit. Er ist, bei Lichte besehen, dennoch der einzige, den wir akzeptieren, insbesondere wenn es um unser Recht geht. Wir wären wahrscheinlich entsetzt, wenn ein Gericht uns statt dessen nach einer komplizierten modernen Wahrheitstheorie beurteilen würde, etwa der Pragmatischen Theorie, der Konsenstheorie oder der Sprechakttheorie, die ohne Wirklichkeit auskommen. Denn wir wissen sehr gut: Der Weg zur Erkenntnis dessen, was tatsächlich ist, war oder sein wird, führt nur über die eindeutige, uns allen in gleicher Weise gegebene und verständliche Wirklichkeit (und nicht über Sprechakte oder Konsens oder pragmatische Überlegungen).
Kein Zweifel: Die Theorien eröffnen neue Aspekte und verschaffen uns ungeahnte Einsichten – sei es psychologischer, kultureller, historischer oder wissenschaftlicher Art. Wir sind von ihnen fasziniert und ziehen sie oft der platten, trivialen Wahrheit vor. Aber doch nur bis zu dem Augenblick, in dem es darauf ankommt, daß uns Recht widerfährt und unser Handeln richtig beurteilt wird: Dann wird uns schlagartig klar, daß die einfache, anhand der Wirklichkeit ermittelbare Wahrheit zu den selbstverständlichen, schlechthin unverzichtbaren Voraussetzungen unseres gesamten Daseins gehört. Und daß wir sie möglicherweise zu gering achten.
Persönlichkeitsrechte
Als der Literaturnobelpreis des Jahres 2009 der rumäniendeutschen Schriftstellerin Herta Müller zugesprochen wurde, erfüllte das ihre Kollegen und einstigen Mitstreiter von der »Aktionsgruppe Banat«, die mit ihr die schweren Jahre in der rumänischen Diktatur durchgestanden hatten, mit einer großen Hoffnung. Es schien, als böte sich damit eine einmalige Gelegenheit, fiel die Preisverleihung doch in denselben Zeitraum, in dem in Bukarest die CNSAS, die man als rumänische Gauck-Behörde bezeichnen könnte, die Geheimdienstakten aus der Ceauşescu-Ära zur Einsicht freigab. Vom ersten Moment an waren diese Akten und die darin enthaltenen Verfolgungsgeschichten ein Hauptthema bei diesem Nobelpreis; und es schien, als könnten in dem Licht, das nun von Herta Müller und ihrem Preis ausging, endlich auch die Täter von einst so unerbittlich bloßgestellt werden, wie sie es nach Meinung der Opfer verdienten. Das betraf neben den früheren rumänischen Securisten (die nach Ceauşescu Ende zu einem guten Teil als »Demokraten« recycelt worden waren) vor allem die Spitzel aus dem rumäniendeutschen Umkreis, von denen sich haufenweise Berichte und Denunziationen in den Akten fanden. Die allermeisten der Denunzianten leben inzwischen in Deutschland. »Sie sind Lehrer, Professoren, Beamte, Journalisten, Schauspieler«, schrieb Herta Müller im Sommer 2009. »Nie hat sie jemand behelligt. Die seit dem Fall der Mauer anhaltende Stasi-Debatte kann ihnen den Buckel runterrutschen. Sie sind alle deutsche Staatsbürger, aber für die deutschen Behörden undurchschaubar.« Die Schonzeit für die rumäniendeutschen Spitzel war allerdings mit der Bekanntgabe des Literaturnobelpreises erst einmal zu Ende. Aber ob sie dadurch für die deutschen Behörden durchschaubarer wurden, bleibt zweifelhaft.
Die Aufarbeitung, die zunächst zügig begann, wurde schon nach einem guten Jahr wieder unterbrochen. Noch bevor die Öffentlichkeit einen tieferen Einblick in die Vorfälle gewinnen konnte, landeten diese vor Gericht. Es stellte sich alsbald heraus, daß dies nicht der richtige Ort dafür ist. Denn was sich zunächst gut anhört - daß eine unabhängige Institution sich die strittigen und teils verbissen diskutierten Fälle genauer ansieht und die Wahrheit herausfindet –, kann von den deutschen Gerichten in dieser Sache nicht geleistet werden. Dafür ist die Beweislage zu kompliziert und zu undurchsichtig: die Akten sind in rumänischer Sprache, sie sind unvollständig und eng miteinander verflochten, sie handeln von dreißig bis vierzig Jahre zurückliegenden Ereignissen und beziehen sich auf ein Land, von dem man in Deutschland notorisch wenig weiß. Es bedürfte eines unverhältnismäßig hohen Aufwands, um die Lage zu klären. Hinzu kommt, daß die deutschen Gerichte den rumänischen Behörden offensichtlich nicht recht trauen und zögern, deren Auskünfte und Forschungsergebnisse als Beweismittel anzuerkennen. Tatsächlich scheinen sie nicht einmal den Securitate-Akten selbst zu trauen.
Unter diesen Umständen kann ein sachgerechtes Urteil kaum gefunden werden; ein Argument scheint so gut wie das andere, und die Anwälte können alles nur Mögliche behaupten. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, daß die Richter in diesem Fall sich für das Persönlichkeitsrecht entscheiden, das in unserer Gesellschaft in höchstem Ansehen steht und mit dem man sozusagen nichts falsch macht. Sie entscheiden damit zugunsten des als Spitzel Verdächtigten – der so den Verdacht zum Schweigen bringen kann, ohne daß mit letzter Sicherheit geklärt wurde, ob er zu Recht oder zu Unrecht besteht.
Das Nachsehen haben die Opfer, die hier die Beklagten sind: denn sie sind von den mit dem Urteil einhergehenden Äußerungsverboten und Publikationseinschränkungen in erster Linie betroffen. Es drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob nicht ihr Persönlichkeitsrecht hier letztlich auf der Strecke bleibt. Selbstverständlich haben sie den Wunsch, mit dem Ergebnis ihrer Studien an die Öffentlichkeit zu treten und diese wissen zu lassen, wen sie nach Lage der Akten der früheren Geheimdienst-Mitarbeit verdächtigen: Denn diese geheime Mitarbeit hatte wesentlich beigetragen zu den Verhaftungen, Gefängnisstrafen, Berufsverboten und Zersetzungen, denen sie einst unterworfen waren. Sie aber haben keine Möglichkeit, die an ihnen verübten Verbrechen vor Gericht einzuklagen; es ist einer jener Fälle, für die es keine rechtliche Grundlage gibt. Wenn ihnen nun untersagt wird, ihre Verfolgungsgeschichten zu veröffentlichen, beraubt man sie des einzigen Mittels, mit dem sie auf das ihnen geschehene Unrecht aufmerksam machen können.
Mildernde Umstände
Dem Münchner Gericht mußte klar sein, wie empfindlich sein Urteil die Aufarbeitungsbemühungen der rumäniendeutschen Schriftsteller treffen würde. Fast könnte man meinen, es wollte ihnen nahelegen, die Abrechnung mit den Spitzeln und Denunzianten am besten ganz bleiben zu lassen. Eine solche Botschaft entspräche jedenfalls einer Tendenz, die sich nicht nur bei Gerichten, sondern allgemein in der Öffentlichkeit beobachten läßt. Diese nämlich legt nicht selten eine merkwürdige Unsicherheit, ja Widersprüchlichkeit im Umgang mit Spitzeln an den Tag. Wiewohl sie auf Enttarnungen ehemaliger IMs regelmäßig mit einem Skandal reagiert, ist sie fast ebenso regelmäßig bereit, alle möglichen mildernden Umstände in der Beurteilung der Enttarnten geltend zu machen. In den seltenen Fällen, in denen ein Spitzel sich selbst enttarnt, kann er damit rechnen, nicht nur verständnisvoll angehört, sondern sogar gelobt und bewundert zu werden. Als der Dichter Werner Söllner […] sich 2009 auf einer Münchner Tagung als IM »Walter« zu erkennen gab (nach jahrzehntelangem Schweigen und kurz bevor die Sache von anderer Seite bekanntgegeben werden sollte), wurde er umgehend gebeten, aufs Podium zu steigen und sich neben die Veranstalter zu setzen. Dort erklärte er mit stockender Stimme, er sei damals noch so jung gewesen und habe sich der Securitate einfach nicht zu widersetzen gewußt. Die Zuhörer waren gerührt, sie zeigten Mitgefühl und Verständnis. Sie vergaßen, daß jene, die Söllner bespitzelt und die sich selbst nicht mit der Securitate eingelassen hatten, damals ebenso jung waren wie er.
Im Handumdrehen werden aus Tätern Opfer: ein mittlerweile bekanntes, aber stets noch ungeklärtes Phänomen. Es ist dazu nicht einmal notwendig, daß der Täter ein Geständnis ablegt; es reicht, daß seine Täterschaft nicht recht ins Bild paßt. Als im Oktober 2010 bekannt wurde, daß auch Oskar Pastior in den sechziger Jahren für die Securitate gespitzelt hatte, war die Bestürzung groß. Pastior war damals schon seit einigen Jahren tot. Auch er hatte in den Jahrzehnten nach seiner Ausreise aus Rumänien niemandem etwas von seiner IM-Tätigkeit erzählt. Momentweise schien es, als würde nun, nach der Entdeckung, die allgemeine Wertschätzung und Hochachtung, die man dem Büchner-Preisträger und neben Herta Müller berühmtesten rumäniendeutschen Dichter entgegenbrachte, in ihr glattes Gegenteil umschlagen. Doch auf einer Tagung, die 2012 zur Klärung eben dieses Problems veranstaltet wurde, war die versammelte Pastior-Gemeinde sich weitgehend einig darüber, daß es eigentlich gar keinen Grund zur Aufregung gäbe: Die wenigen Spitzel-Berichte, die Pastior verfaßt hat (nur sechs sind bisher gefunden worden), seien denkbar dürr und informationsarm; und generell sei die große Angst, unter der Pastior in Rumänien jahre- oder gar jahrzehntelang gelitten habe, bei der Beurteilung seiner Spitzel-Tätigkeit unbedingt zu berücksichtigen ("Versuchte Rekonstruktion «, Sonderband Text+Kritik, XII /12).
Nun ist das im Fall Oskar Pastiors sicher nicht ganz verkehrt: Er war durch seine fünfjährige Lagerhaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit schwer vorbelastet und mußte in den düsteren stalinistischen sechziger Jahren ständig mit Inhaftierung rechnen, sei es wegen seiner (verheimlichten) Homosexualität, sei es wegen seiner angeblich subversiven Gesinnung. Außerdem scheint es tatsächlich so, als habe er sich durch seine siebenjährige IM-Zeit lavieren können, ohne größere Schuld auf sich zu laden.
Gleichwohl führt die verbreitete Praxis der mildernden Umstände – die meist psychologisch begründet werden – uns in eine Lage, in der wir schließlich nicht mehr wissen, wie wir das Ausspionieren überhaupt beurteilen sollen. Muß denn jeder Spitzel persönlich überprüft werden, bevor wir sein Tun verurteilen? Müssen wir grundsätzlich seine Psyche, seine Biographie, seinen Charakter berücksichtigen? Müssen wir immer erst fragen, ob er irgendwann ein Trauma erlitten hat? Wohin führt das? Wo ist die Grenze? Einer ist traumatisiert, ein andrer blutjung, einer hatte eine schlimme Kindheit, dieser ist ein Trinker, jener ein Genie und deshalb nicht mit normalem Maß zu messen. Sollen wir sie alle entschuldigen?
Es liegt auf der Hand, daß das weder sinnvoll noch praktikabel ist. Intuitiv wissen wir, daß Bespitzelung grundsätzlich zu verurteilen ist und wir nur in seltenen, wohlbegründeten Fällen eine Ausnahme machen können. Aber nach welchen Kriterien gehen wir vor, wenn wir keine Ausnahme machen, wenn wir also den Normalfall beurteilen sollen? Was werfen wir Spitzeln eigentlich vor? Verrat, Unehrlichkeit, mangelnde Solidarität? Doppelgesichtigkeit? Oder nehmen wir ihnen übel, daß sie sich auf die Seite der Mächtigen schlagen? Tatsächlich stellt sich schnell heraus, daß der Normalfall beinahe noch schwerer zu begründen ist als der Ausnahmefall. Was sollen wir etwa von einem Spitzel oder Denunzianten halten, der von seinem Tun überzeugt ist und es politisch und ethisch für gerechtfertigt hält? Es hat unter den IMs in der DDR immer wieder solche gegeben, die behaupteten, ehrlich an die Staatsdoktrin geglaubt und sie gegen die »zersetzenden Elemente« verteidigt zu haben. Wenn wir jedoch bereit sind, solchen Überzeugungs- oder auch Verblendungstätern mit Nachsicht zu begegnen, müßten wir dann mit den überzeugten Denunzianten des Nazi-Regimes nicht ebenso verfahren? Dazu ist man jedoch heute im allgemeinen nicht mehr bereit; möglicherweise deshalb, weil das Ausspionieren und Denunzieren eines Nachbarn oder Kollegen bei den Nazis sehr viel öfter zu dessen Tod führte als in der DDR oder im Ceauşescu-Regime, wo »nur« Verhöre, Verhaftungen, Berufsverbote oder Ausweisung zu befürchten waren. Haben wir also Verrat und Denunziation nach der Schwere der Folgen zu bewerten, die sie bewirken? Sollen wir einen Spitzel danach beurteilen, welchen Schaden er angerichtet hat – und ist dann auch nur jener wirklich zu verurteilen, dem die Verursachung eines Schadens nachgewiesen werden kann?
Unsere Justiz scheint sich für diese Lösung entschieden zu haben. Theoretisch verfolgt sie strafrechtlich (nach § 241a StGB) solche »politischen Anzeigen oder Verdächtigungen«, die zu schweren Verstößen gegen die Menschenrechte führten. Aber solche Verstöße sind so gut wie nie nachzuweisen. In den seit 1989 gegen DDR-Denunzianten durchgeführten Verfahren wurde kein einziger strafrechtlich verurteilt. Alle anderen Verfahren sind zivilrechtlicher Art […], in denen ebenfalls keine politischen Denunzianten verurteilt werden, sondern nur ein fälschlich oder zumindest nicht beweiskräftig als Spitzel Beschuldigter um seine Persönlichkeitsrechte kämpfen darf. Es bleibt also nichts anderes als das moralische Urteil. Doch wie man sehen wird, ist es auch um dieses nicht gut bestellt.
Loyalität
Einer, der sich diesen Fragen literarisch und essayistisch immer wieder zugewandt hat, ist Bernhard Schlink. Schlink ist nicht nur ein weltweit bekannter Schriftsteller, sondern auch Professor für Öffentliches Recht und zudem Verfassungsrichter. Auch ihn interessiert der Verrat jedoch nicht in juristischer, sondern in menschlich-moralischer Hinsicht. Dabei spielt der politische Verrat für ihn offenbar keine gesonderte Rolle, er ist nicht grundsätzlich von anderen Fällen des Verrats zu unterscheiden, zum Beispiel dem eines Mannes an seiner Ehefrau. In einem Essay legt Schlink dar, daß Verrat dort geschieht, wo ein Loyalitätsverhältnis vorliegt. Die Loyalität ist sozusagen der moralische Wert, der im Verrat verletzt wird – und den wir deshalb auch als verletzend empfinden. Loyalität erscheint hier als ein elementarer, ja fundamental-psychologischer Wert; denn »unsere Loyalitäten konstituieren unsere Identität«, schreibt Schlink. Schwierig wird es dort, wo sich, wie heutzutage fast überall, verschiedene Loyalitäten in ein und demselben Menschen vereinen. Nicht, weil sich dadurch Konflikte ergeben können – das passiert zwar immer wieder, ist aber nicht notwendig der Fall –, sondern weil der Verrat nicht mehr als Verrat empfunden wird; denn die Identität ist gespalten. Als »Beleg« dafür, »daß die Beschäftigung mit Verrat im Kern eine Beschäftigung mit Loyalität und Identität ist«, führt Bernhard Schlink die Fälle der Schriftsteller Sascha Anderson und Knud Wollenberger an. Beide sind eklatante Beispiele für die loyale Gespaltenheit des modernen Menschen. Sie erinnern an jene Kapitäne oder Geschäftsleute, »von denen man gelegentlich lesen kann, die viel in der einen und viel in der anderen Stadt zu tun und hier wie dort eine Familie haben «, schreibt Bernhard Schlink. »Sie sind liebevolle Partner und engagierte Väter, erfüllen, weil nicht immer präsent, ihre Pflichten sogar besonders liebevoll (…). Sie empfinden sich als loyal. Schaden sie einer ihrer Frauen, einem ihrer Kinder? Geben sie nicht jeder der beiden Familien, was eine Familie (…) erwarten kann? So nahm auch Sascha Anderson einerseits am Leben und an den Arbeiten der Künstler- und Schriftstellerkollegen interessiert und engagiert Anteil und setzte andererseits die Staatssicherheit kundig ins Bild; so war Knud Wollenberger einerseits ein liebevoller Ehemann, andererseits ein verläßlicher Informant. Auch sie fanden, daß sie gaben, was die anderen brauchten, und niemandem schadeten, sondern sogar nützten, indem sie Sachverhalte, die die Staatssicherheit leicht hätte mißverstehen können, so übersetzten, daß sie keine falschen Reaktionen auslösen konnten.« ("Der willkommene Verrat«, hg. von Michael Schröter, Weilerswist 2007)
Mit den Beispielen von Anderson und Wollenberger gibt Schlink uns Gelegenheit, von der Opferseite zur Täterseite zu wechseln. Wir bekommen jedoch auch hier keine Kriterien dafür genannt, wie Täter moralisch zu beurteilen sind. Schlink legt uns vielmehr nahe, die Täter zu verstehen. Das fällt nicht schwer, solange wir der inneren Perspektive ihrer Loyalitäten und deren Implikationen folgen. Die Rekonstruktion der psychischen Vorgänge ergibt in den allermeisten Fällen ein schlüssiges Bild, das begreiflich macht, weshalb der Täter so gehandelt hat. Es ist sogar typisch für die »innere« Sicht des Vorgangs, daß er einer geradezu zwingenden Kausalität zu unterliegen scheint: als habe der Täter gar keine andere Wahl gehabt. Es scheint, als könne man ihn gar nicht verurteilen. Der ganze moralische Wertekatalog mit seinen Imperativen wirkt plötzlich steif und abstrakt, ja nahezu gewalttätig, wenn man versucht, ihn auf den konkreten Einzelfall anzuwenden. Offenbar prävaliert auch im Moralischen das Persönlichkeitsrecht, das sich naturgemäß auch auf die Identität und die sie konstituierenden Loyalitäten erstrecken muß.
Aber spielt Loyalität tatsächlich eine so fundamentale Rolle, wenn ein Mensch einen anderen verrät? Wir gehen üblicherweise doch von etwas ganz anderem aus: Wir nennen einen Spitzel auch dann einen Spitzel, und zwar in einem durchaus negativen Sinn, wenn er seinem Opfer gegenüber auch nicht einen Funken von Loyalität verspürt. Er muß sein Opfer weder achten noch mögen, kann es sogar gründlich verabscheuen: Wir finden es trotzdem nicht in Ordnung, wenn er es ausspioniert und seine Kenntnisse heimlich weitergibt, etwa an einen Geheimdienst. Umgekehrt nennen wir einen Menschen auch dann einen Spitzel, wenn er aus ehrlich empfundener Loyalität gegenüber dem Geheimdienst handelt: Er müßte trotzdem wissen, daß er sich niemals in dieser Weise über das Leben seiner Mitmenschen hinwegsetzen darf. Wir beziehen uns dabei nicht auf moralische Werte oder Imperative. Was wir verurteilen, ist die Handlung selbst, und zwar nicht wegen eines Wertes, den sie mißachtet, sondern ganz einfach wegen ihrer praktischen Unanständigkeit.
Tatsächlich ist der Umweg über die »Werte« eher hinderlich und verunsichernd. Die Moral ist ein unmittelbares, konstitutives Element unserer Daseinspraxis, wir müssen nicht erst zu ihr verpflichtet werden, etwa über Imperative oder innere Konditionierungen wie zum Beispiel Loyalität. Anders gesagt: Moral ist Teil der Normalität. Es ist für uns normal und selbstverständlich anzunehmen, daß unsere Mitmenschen uns nicht systematisch belügen, wenn wir mit ihnen zu tun haben, daß sie uns Informationen, die uns persönlich angehen, nicht absichtlich verschweigen, daß sie im unmittelbaren Umgang mit uns nicht strategisch vorgehen, daß sie uns in unserer Lebensplanung nicht hinterrücks behindern, uns nicht mutwillig in Gefahr bringen. Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Entscheidend ist, daß man dafür keine Loyalität benötigt, und man braucht auch sonst keinen besonderen Grund oder Anreiz, um sich so zu verhalten, wie wir es selbstverständlich erwarten.
Auch der Zustand der Psyche hat damit zunächst nichts zu tun. Man wird nicht dadurch zum Täter, daß man seelisch zu schwach, zu jung oder zu verängstigt ist, um die Regeln einhalten zu können. Die Regeln, von denen hier die Rede ist, sind keine Verhaltensnormen oder Ideale, nach denen sich der einzelne strecken und recken müßte; sie erfordern überhaupt keine besondere Anstrengung. Im Gegenteil, sie sind die Grundlage unseres Handelns, und wir wären ohne sie schlechthin orientierungslos. Es gibt natürlich Fälle solcher Orientierungslosigkeit, wenn der psychische Zustand eines Menschen so schwer beeinträchtigt ist, daß ihm auch die normale Lebenspraxis nicht mehr möglich ist. Aber das ist in der Regel nicht der Zustand, in dem unsere Spitzel sich befanden.
Im übrigen steht auch auf seiten der Opfer keineswegs die psychische Verletzung oder Schädigung im Vordergrund. Nicht daß der Spitzel sein Opfer enttäuscht oder verletzt hat, daß er die Freundschaft verraten, die Loyalität gebrochen, das Vertrauen mißbraucht hat, ist entscheidend. Wäre ihm nichts weiter vorzuwerfen als das, so würde das Ganze sich von einem privaten zwischenmenschlichen Konflikt kaum unterscheiden, und wir hätten keinen Grund, öffentlich darüber zu verhandeln oder gar eine Aufarbeitung anzustreben. Erst die Tatsache, daß sie systematisch und zersetzend in die praktische Lebensplanung ihrer Opfer eingreifen, macht die Spitzel zu Tätern. Das ist auch der Punkt, an dem sie sich von den Kapitänen oder Geschäftsleuten mit Familien in verschiedenen Städten unterscheiden. Während letztere, wenn auch mit Verstellung, Lüge und Betrug, ihre Opfer immerhin in der praktischen Lebensführung positiv unterstützen und um ihr Wohl besorgt sind, besteht das Geschäft der anderen darin, diese Lebensführung systematisch zu zerstören.
Damit zeichnet sich deutlich ab, was für die Ausübung einer Spitzel- bzw. IM-Tätigkeit erforderlich ist. Wir dürfen uns diese Tätigkeit keinesfalls als ein bloß verschrecktes Nachgeben vorstellen. Es reicht nicht aus, daß der Spitzel Angst hat, daß ihm gedroht wird, daß er verwirrt ist oder nicht weiß, wie er sich der Sache widersetzen soll: Er muß in jedem Fall eine Menge kriminelle Energie aufwenden, um seine Tätigkeit auszuüben und ins Werk zu setzen, und er muß diese Anstrengung nicht nur einmal, nicht nur anfänglich erbringen, sondern wieder und wieder: jedesmal, wenn er seinen Freund und Kollegen ausspioniert, ihm gezielte Fragen stellt, ihm verschweigt, daß seine Wohnung verwanzt ist, heimlich seine Manuskripte zur Securitate trägt, Notizen macht, Berichte schreibt … Er hat viel zu tun. Selbst wenn er aus irgendeinem Grund von seinem Tun überzeugt ist, muß ihm doch geradezu stündlich auffallen, wie sehr er damit den Regeln des normalen menschlichen Umgangs zuwiderhandelt.
Wahr ist, daß totalitäre Regime die normale, an den praktischen Lebensformen orientierte Moral zu untergraben suchen. Sie ist einer ihrer stärksten Gegenspieler, denn das unsichtbare Netz der traditionellen Lebensformen macht eine Gesellschaft autark. Die gewachsenen Strukturen zu zerstören ist nicht leicht. Ihretwegen müssen totalitäre Regime einen immensen, ständig wachsamen Unterdrückungsapparat unterhalten, ihretwegen müssen sie – ja, gerade sie – strikte Loyalität bei ihren Bürgern durchsetzen, meistens mit Gewalt. In einer demokratischen Welt ist es grundsätzlich jedem freigestellt, ob und wem gegenüber er loyal sein will, gleich welche bedeutsame Rolle die Loyalität für die sozialen Identitäten einnehmen mag. Für die Konstitution der Moral ist Loyalität nicht entscheidend.
Doch wir Demokraten drohen die Moral auf unsere eigene Weise auszuhebeln, indem wir sie auf den »inneren« Schauplatz der Psyche verlagern und sie damit privatisieren. Es ist ein verbreiteter Irrtum zu meinen, die Bedingungen der Moral müßten im »Inneren« des Individuums verankert sein. Die Moral ist ein durch und durch »äußeres« Geschehen, sie ist ebenso ein Gemeingut wie etwa die Sprache. Nur als gemeinsame Praxis hat sie überhaupt einen Sinn: eine »Privatmoral« ist ein ebensolches Unding wie eine Privatsprache. Und so wenig sich die Regeln der Sprache »in« uns konstituieren, so wenig finden wir dort die Kriterien für das, was zu tun richtig oder falsch ist.
Doch wiewohl die Moral ein »äußeres« Geschehen ist, hat sie keinerlei Ähnlichkeit mit einer Straßenverkehrsordnung oder sonst einem Kodex. Was moralisch richtig oder falsch ist, wird nicht durch Vorschriften oder Imperative bestimmt. Der moralisch Handelnde befindet sich eher in der Situation eines Schachspielers, der herausfinden muß, welcher Zug der richtige ist, oder eines Komponisten, der sich für einen Akkord entscheiden muß. Es gibt fast immer mehrere Möglichkeiten, niemand schreibt ihm vor, was zu tun ist: und doch fällt sofort auf, wenn er das Falsche tut.
Moral ist niemals etwas, das zum intendierten Handeln erst »hinzukommt« – so wenig wie die Schachregeln zum Schach, die Harmonielehre zur Musik oder die Grammatik zur Sprache hinzukommen. Wir könnten nicht sprechen, wenn uns nicht mit der Sprache selbst auch schon die Gegenwarts- und Vergangenheitsformen, die Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Wunschformen gegeben wären, und vieles mehr. Wir könnten nicht handeln, wenn nicht in jeder Handlung die Formen der Moral impliziert wären.
Die Regeln der Moral sind nicht dazu da, Grenzen zu setzen oder uns in die Schranken zu weisen – so wenig wie die Regeln der Sprache uns begrenzen oder beschränken. Im Gegenteil: sie strukturieren die Welt, sie schaffen die Wege, auf denen wir sie begehen und miteinander agieren können. Sie konstituieren die Normalität unseres gemeinsamen Daseins.
An dieser Normalität sollte jede Handlung gemessen werden – nicht an den inneren Konditionen der Individuen; denn diese bezeichnen nur den Sonderfall. Wenn wir uns daran nicht halten, laufen wir Gefahr, nicht mehr dieselbe Sprache zu sprechen und einander nicht mehr zu verstehen: Opfer und Täter, Justiz und Gesellschaft, Schriftsteller und Leser, der eine und der andere.
SINN UND FORM 3/2014, S. 307-319
- 3/2018 | Ingeborg, ein letztes Mal, S. 195 Leseprobe
Kienlechner, Sabina
Ingeborg, ein letztes Mal
I
Drei- oder sogar viermal in ihrem Leben kam Ingeborg Bachmann nach Rom, um hier eine Weile zu leben. Wir waren immer schon da: in den fünfziger Jahren, als sie Rom zu ihrer »Wahlheimat« machte (in Wahrheit aber kam und ging wie ein Zugvogel), dann 1960, als sie und Max Frisch sich hier als Paar niederließen (für etwa zwei Jahre), und schließlich von 1965 bis zu ihrem Tod 1973, als sie nicht mehr nur sporadisch, sondern »fest«, wie wir, als Ausländerin und Exterritoriale in Rom lebte.
In allen Perioden ihres römischen Lebens kam sie uns besuchen. Wir wohnten in einer etwas verblichenen Jugendstil-Villa am Rande der Stadt, umgeben von einem großen, verwilderten Garten mit Gipsstatuen darin: Wenn man um die hochgeschossenen Buchsbaumhecken bog, stand man plötzlich vor Paulina Borghese, Cäsar, den Dioskuren. Viele deutsche Schriftsteller und Dichter kamen zu uns, früher oder später waren fast alle mal in Rom oder lebten sogar eine Weile hier. Manche besuchten uns nur einmal, andere kamen häufig, oder man traf sich zu Spaziergängen in der Campagna. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, daß Jahrzehnte später jemand fragen würde: »Wer war Ingeborg Bachmann?«, wie Ina Hartwig in ihrer »Biographie in Bruchstücken« von 2017. Für uns war sie einfach Ingeborg, oder manchmal auch: die Bachmann. Ich möchte noch ein paar Bruchstücke hinzufügen und bei dieser Gelegenheit einige Passagen aus einem Brief wiedergeben, den meine Mutter Toni Kienlechner an Ingrid Bachér schrieb, nachdem Ingeborg Bachmann gestorben war. Und vielleicht gelingt es mir am Ende zu erklären, warum man in Rom so viel leichter leben – und auch leichter sterben konnte als zum Beispiel in Wien, Berlin oder Zürich.
II
Ich war damals, als Ingeborg uns die ersten Male besuchte, noch ein Kind, dann eine Jugendliche, und meine Erinnerung ist entsprechend anders und dürftiger als die der Erwachsenen, die mit ihr über wichtige Dinge sprachen. Aber ich hatte, weil ich nichts zu sagen hatte, viel Zeit, sie zu beobachten, und ihr Eindruck auf mich war nicht minder stark als der auf die Erwachsenen. Ich habe ihre Verwandlung im Laufe der Jahre genau registriert: daß sie erst akkurat so aussah, wie wir uns eine »deutsche Dichterin« vorstellten, mit schlichtem, braunfransigem Bubikopf, daß sie dann, während wir Kinder heranwuchsen, immer schicker, blonder und »italienischer« wurde, à la mode, zuweilen bunt wie ein Papagei, andere Male schwarzschillernd wie Patty Pravo. Ich habe bemerkt, daß sie ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch in vollkommener Aufmachung ihre Wohnung verließ, und immer seltener. Bei sich zu Hause, wo sie nur noch vertraute Personen und solche, die nichts zu sagen hatten, einließ, traf man sie nachlässig an, ungeschminkt, oft im Bett und immer verstört, fast panisch, aber hingebungsvoll freundlich und buchstäblich suchend nach Worten der Freundlichkeit. Mehrmals habe ich beobachtet, wie sie heiterer wurde, während meine Mutter an ihrem Bett saß und mit ihr sprach, wie sie nach einer Weile heraussprang, wegen eines kleinen »Whiskerl« für sich und den Besuch, Zigaretten lagen ohnehin auf dem Nachttisch. Dann, als sie wieder zu Leben gezogen war, wurde das Zusammensitzen aufgehoben. Die Ängste, die sie geplagt hatten, waren für diesmal vorüber.
Wenn sie uns besuchte, kam sie stets allein; auch in ihrer Zeit mit Max Frisch. Auch er besuchte uns gelegentlich, aber nie zusammen mit Ingeborg. Er kam, wenn sie verreist war, was häufig der Fall war. Ingeborg achtete sehr darauf, ihre Freunde und Bekannten zu separieren und sich nach Möglichkeit jedem gesondert zuzuwenden. Meine Schwester und ich beobachteten sie einmal unbemerkt, als wir sie zufällig über die Piazza di Spagna laufen sahen. Sie hatte eine auffällig schillernde, enge Hose an und schritt zielstrebig aus, die Haare waren streng nach hinten gekämmt zu einem hochsitzenden langen Zopf, der nicht ihrer war, und auch das Gesicht war merkwürdig verändert durch ein Paar künstlicher Wimpern, die ihr dickschwarz an den Augen klebten. Wir staunten. Das dort war unzweifelhaft Ingeborg, aber zugleich eine ganz andere Person als die, die wir kannten, bis hinein in ihre Bewegungen: Sonst bewegte sie sich eher zögerlich, mit kurzsichtiger Behutsamkeit, nichts Forsches oder Zielstrebiges schien ihr eigen. Es berührte uns merkwürdig, sie so verändert zu sehen, sie war offensichtlich eine Rollenspielerin, und in unserem noch halbkindlichen Alter kam uns das vor wie eine Unehrlichkeit, eine Art Betrug. Vielleicht stellten auch wir uns damals, ohne es recht zu begreifen, die Frage: Wer war Ingeborg Bachmann, wer war sie wirklich?
Wie naiv, ja töricht diese Frage tatsächlich war, zeigte sich in den Wochen, als sie im Sterben lag und ihre Freunde und Bekannten im Vorraum des Krankenhauszimmers unversehens zusammentrafen, etliche zum ersten Mal. Hier stellte sich heraus, daß sie für jeden eine andere war, und eine große Verwirrung erfaßte die besorgte Besucherschar. Es muß ihnen zumute gewesen sein wie nach einer Blendung, wenn die Augen sich langsam wieder an die Dunkelheit gewöhnen: dunkel war es, weil Ingeborg über jeden ihrer Schritte einen Schatten der Diskretion und Verschwiegenheit gelegt hatte; geblendet waren sie, weil sie jedem gegenübergetreten war, als sei er der einzige, Wichtigste, tatsächlich die einzig wichtige Begegnung in ihrer Welt. Das hat sie »hingekriegt«, und in dieser Antinomie der Beziehungen irrten ihre Freunde, Verwandten und Gefährten nach ihrem Tod herum, trafen sich, merkten, daß sie zu wenig und nur Widersprüchliches von ihr wußten, verstritten und verloren sich, teils für immer.
[…]
SINN UND FORM 3/2018, S. 308-319, hier S. 308-310
- 3/2020 | Deutschland Abendland, S. 195 Leseprobe
Kienlechner, Sabina
Deutschland Abendland
Tübingen, um 1825
Es heißt, er sei sehr gerne spazierengegangen, er war ein großer, kräftiger Mann und litt unter dem chronischen Mangel an Bewegung. Manchmal erbarmte sich jemand seiner und führte ihn hinaus aufs Feld vor die Tore der Stadt. Dort pflückte er Blumen, ganze Sträuße, zerriß sie sodann in kleine Stücke und steckte sie in die Hosentasche. Wenn man ihm griechische Verse vorlas, lachte er und sagte: »Das versteh ich nicht! Das ist Kalamattasprache.« Wenn man ihn fragte, wie er heiße, sagte er: »Killalusimeno. Oui, Eure Majestät.« Andere Male sagte er: »Buonarotti«, meistens aber: »Scardanelli, oder Scaliger Rosa oder so was.«
Nur »Hölderlin« wollte er nicht genannt werden, da wurde er rasend vor Wut. Auf Bestellung verfaßte er bereitwillig kleine Oden und Hymnen, im feinen antiken Versmaß, die er mit »Scardanelli« unterschrieb. Wenn jemand ihn um ein Gedicht bat, sagte er etwas wie: »Oui, Sie befehlen das« und: »Soll ich über Griechenland, Frühling, Zeitgeist?« Dann stellte er sich ans Schreibpult, schrieb fließend mit der Rechten die Verse nieder und klopfte mit der Linken den Takt auf das Holz. Er war noch immer ein unfehlbarer Metriker.
In Wahrheit beherrschte er auch die Kalamattasprache sehr gut, wahrscheinlich auch jetzt noch. Sein Leben lang hatte er sich mit kaum etwas anderem so intensiv beschäftigt wie mit dem Land der Griechen. Aber er selbst war nie in Griechenland gewesen. Für seinen »Hyperion« hatte er zwei englische Reisebeschreibungen gelesen und, so gut es ging, die seit 1770 immer wieder aufflakkernden Aufstände gegen die osmanische Herrschaft verfolgt. Sonst wußte er über die griechische Antike zwar sehr viel, über das moderne Griechenland aber vermutlich nur wenig; kein Wort über die Armut der Bevölkerung, den Analphabetismus, die Rückständigkeit des Landes. Das interessierte ihn auch gar nicht. Was ihn dagegen brennend interessierte: mit seiner Dichtung etwas ebenso vollendet Schönes zu schaffen, wie es den antiken griechischen Künstlern und Dichtern gelungen war. Und zwar ohne sie einfach nur nachzuahmen – darauf kam es an.
Das zu wollen, ja nur zu denken, war neu, kühn und über die Maßen schwierig. Es forderte die klügsten Köpfe der Zeit heraus. Denn es mußte tatsächlich eine vollkommen neue Denkungsart gefunden werden.
Rom, 1755
Es war etwa ein Menschenalter her, daß Johann Joachim Winckelmann den Deutschen die antiken griechischen Kunstwerke ans Herz gelegt hatte: aber nicht als etwas, das nur schön anzusehen war, sondern als das transzendentale Ereignis der Kunst schlechthin. Seine »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« waren wie ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch. Nicht nur führte Winckelmann seinen Landsleuten einen neuen, höchst plastischen, ja kunstlüsternen Blick auf die griechischen Werke vor, er erklärte ihnen auch, warum diese Kunst so vollkommen und absolut unübertrefflich war. Das liege nämlich an der Natur der Griechen und an dem »sanften und reinen Himmel« Griechenlands, wo die schönen jungen Leute an den Gestaden spielten und »nackend« in den Gymnasien ihre Leibesübungen trieben, ohne »pressende und klemmende Kleidung«, schon die Säuglinge trügen keine Windeln, keine Krankheiten zerstörten die schönen Körper, man studierte die Umrisse, die Wendungen der Körper, die Abdrücke der jungen Ringer im Sand. Es ist außerordentlich viel von Körpern die Rede in dieser Schrift. Winckelmanns Blicke gleiten über die »sanft gezogene Haut« und die »schwellenden Adern« der Marmorstatuen und dringen mühelos vor bis in die Tiefenschichten der gesunden Muskulatur.
Die Zeitgenossen staunten; dergleichen hatten sie noch nicht gelesen. Zwar war auch Winckelmann zeit seines Lebens niemals in Griechenland; aber seit 1755 lebte er in Rom. Daß die »griechischen« Skulpturen, die er dort studierte, in Wahrheit römische Kopien von verschollenen Werken waren, ahnte er nicht. Aber das war alles nicht wichtig: Winckelmann brauchte weder das reale Griechenland noch die griechischen Originale, und eigentlich auch nicht einmal das reale Rom. Egal wo er hinkam, überall war Griechenland. Dreizehn Jahre lang wirkte Winckelmann dergestalt in Rom und sandte von dort ein kunstvolles »Sendschreiben« nach dem anderen nach Deutschland. Auf eine zugleich autoritäre und wollüstige Art bearbeitete er die Zeitgenossen so lange, bis sie fast meinten, selbst alte Griechen zu sein.
Indes wurde ihnen alsbald klar, was die römischen »Sendschreiben« in Wahrheit bedeuteten. Winckelmann schrieb ja nicht einfach über die griechischen Kunstwerke, sondern, wie der Titel schon sagte, über deren Nachahmung. Und gleich auf den ersten Seiten war zu lesen: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« In einem ganz bestimmten Sinn war das verheerend. Um es in einem Bild auszudrücken: Dem Winckelmannschen Vulkanausbruch, der die deutschen Künstler, Dichter und Denker aus ihren Häusern getrieben hatte, folgte eine pyroklastische Wolke; und als sich Glut und Asche gelegt hatten, standen sie mitsamt ihrer Kunst versteinert da, für alle Zeit gebannt in die Pose der griechischen Antike.
Frankfurt, 1797
Einer, den das besonders störte, war Hölderlin. Er war nicht der einzige; aber von einer »Knechtschaft, womit wir uns verhalten gegen das Altertum« hatte außer ihm wohl noch keiner gesprochen. Für ihn nahm diese Knechtschaft geradezu dramatische Züge an. Das Problem war: Hölderlin war selbst ein hingebungsvoller Verehrer der griechischen Dichtung und Kunst, er ging förmlich darin auf und zweifelte keinen Augenblick an ihrer Vorbildlichkeit. Vom Prinzip der Nachahmung hielt er dennoch nichts. »Es scheint wirklich fast keine andere Wahl offen zu seyn«, schrieb er, als »erdrükt zu werden von Angenommenem, Positivem, oder, mit gewaltsamer Anmaßung, sich gegen alles erlernte, gegebene positive, als lebendige Kraft entgegenzusezen«. Eine solche gewaltsame Anmaßung aber war ihm nicht weniger zuwider als das Prinzip der Nachahmung. Dagegen sehnte er sich verzweifelt nach dem Eigenen, »Lebendigen« ("Ich fühle so tief, wie weit ich noch davon bin, es zu treffen, und dennoch ringt meine ganze Seele danach und es ergreift mich oft, daß ich weinen muß, wie ein Kind«, schreibt er an einen Freund), aber er hatte keine Ahnung, wie er sich gegen das Diktat der »griechischen Vortrefflichkeit« behaupten könnte ("Weißt Du mir einen guten Rat, so gieb mir ihn«).
Es dauerte Jahre, bis er eine Lösung fand. Sie zeichnete sich erst ab, als ihm klarwurde, daß das antike Griechenland ja längst untergegangen war. Diese Erkenntnis war weit weniger banal, als sie klingt, denn sie bedeutete, daß auch die Schönheit der Griechen untergegangen war; und das zu denken war alles andere als selbstverständlich. Selbstverständlich schien vielmehr, daß das Schöne als Ideal gar nicht untergehen konnte – so wenig, wie etwa auch das Gute, das Wahre, das Edle und, umgekehrt, das Böse, Verwerfliche nicht einfach irgendwann »untergingen« oder hinfällig wurden.
Ein zeitloses griechisches Schönheitsideal aber war nicht aufrechtzuerhalten, wenn man selbst eine lebendige, ursprüngliche Kunst hervorbringen wollte: In diesem Fall müßte die Kunst sich schon auf ihren eigenen Ursprung besinnen, und der war eben weder griechisch noch antik. »Ich habe lange daran laborirt«, schreibt Hölderlin, »und weiß nun, daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältnis und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen.« Mit anderen Worten: Lebendigkeit und künstlerisches Können waren die einzigen Konstanten, alles andere mußte sich wandeln.
Was aber bedeutete das? Es wurde Hölderlin schnell klar, daß es wenig Sinn hatte, als einzelner Künstler einen solchen Wandel vollziehen und etwas Eigenes, »Lebendiges« schaffen zu wollen. Solange die übrige Welt am griechischen Vorbild und am Prinzip der Nachahmung festhielt, würde man ihn schlicht nicht verstehen. Es galt vielmehr zu begreifen, daß die griechische Kunst selbst zwar sehr wohl lebendig war, daß aber ihre Nachahmung niemals lebendig sein konnte: eben weil sie nichts »Eigenes« war. Um eine ebenso lebendige Kunst hervorbringen zu können wie einst die Griechen, war es unbedingt notwendig, von der Nachahmung Abstand zu nehmen und sich auf das Eigene zu besinnen – selbst um den Preis, daß die eigene Kunst dann um vieles schlechter ausfiel als die der alten Griechen.
Dies ist der Moment, in dem Hölderlin beginnt, vom »Nationellen« und vom »Vaterländischen« zu sprechen. Damit war wohl etwas wie der Geist der jeweiligen Zeit gemeint. Die Griechen hatten es zu ihrer Zeit verstanden, das »Nationelle «, das heißt das eigene Sein und den eigenen Geist lebendig darzustellen; und darin waren sie noch immer vorbildlich. Die Kunst der Gegenwart aber mußte erst noch lernen, sich ihres Geistes und Seins bewußt zu werden, um die gleiche Lebendigkeit zu erreichen. Dazu war nicht weniger als eine »vaterländische Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen« notwendig. Eine Umkehr, um die »der Mensch« sich zwar bemühen, die er aber nicht erzwingen konnte. Es war ein schicksalhaftes Geschehen – das Geschehen eines suchenden, sich seiner selbst vergewissernden Geistes, das Hölderlin, da er nun mal ein Dichter war, in die Hand der Götter legte.
Damit hatte Hölderlin das leidige Prinzip der Nachahmung überwunden. Erstaunlich ist, daß er es nicht etwa durch irgendwelche Kunstregeln oder eine neue Methode überwand, sondern indem er das Problem ins Historische wendete. Hölderlin war nicht allein, vielmehr begann sich in jener Zeit ganz allgemein ein Geschichtsbewußtsein zu regen. Aber Hölderlin war doch der einzige Dichter, bei dem dieses Bewußtsein philosophische Qualitäten annahm. Denn er begriff, daß das Prinzip der Nachahmung naturgemäß ahistorisch war – und man ihm nur ebenfalls prinzipiell, durch ein Gesetz der Geschichte, beikommen konnte. Und daß dieses Gesetz sich vor allem um die Vergangenheit bemühen mußte (die anderen hatten, wenn sie historisch dachten, in der Regel nur an die Zukunft gedacht).
Es war die Geburt der Geschichtsphilosophie aus dem Geiste der Poetik. Hegel, der Hölderlin seit dem gemeinsamen Studium nahestand und auch jetzt, in seiner Frankfurter Zeit, nur ein paar Straßen weiter wohnte, gab dem Ganzen eine sehr anschauliche Gestalt, indem er sagte, es sei der Weltgeist, der sich da durch die Zeiten bewege. Er beschrieb den Weltgeist wie ein Individuum, das sich vom Kind über den Jüngling bis zum Mann entwickelt.
Nachdem die Bewegung des Weltgeists glücklich entdeckt war, stellte man fest: Er wandert von Osten nach Westen, von Asien nach Europa oder, wie man in Deutschland lieber sagte, ins Abendland. Dabei waren sich die Zeitgenossen eigentlich einig, daß von allen »Abendländern« Deutschland dasjenige war, in dem der Geist am hellsten leuchtete; dasjenige, das die größte Nähe und innere Verwandtschaft zum antiken hellenischen Geist besaß. Genau das hatten die Winckelmannschen Sendschreiben in ihrer Leidenschaftlichkeit doch bewiesen; und auch Hegel verkündete: »Wir (gemeint war: wir Deutschen) haben den höheren Beruf von der Natur erhalten, die Bewahrer dieses heiligen Feuers zu sein«.
Hölderlin verwandte für das deutsche Abendland einen eigenen Ausdruck, nämlich »Hesperien« (nach Hesperos, dem Abendstern). Hesperien, meinte Hölderlin, solle nun die neue »Kolonie« des Weltgeistes sein. In der Folgezeit schreibt er Gedichte mit Titeln wie »An die Deutschen«; »Deutscher Gesang«; »Der Tod fürs Vaterland«; »Stimme des Volkes«; »Germanien«; »Stutgard«; »Heidelberg«; »Die Heimath«; »Der Rhein«; »Der Main«; »Der Nekar«; »Am Quell der Donau« … Alles Gedichte in einer neuen »originellen Sangart, vaterländisch und natürlich« – aber gewiß keine platten National-Hymnen. Im Gegenteil, die hesperische Gegenwart ist dem Dichter zufolge durchaus »dürftig«, der Geist scheint hier noch nicht richtig angekommen, der Gott »waltet sprachlos und unbekannt«. Aber eben darin sieht Hölderlin seine Aufgabe – in stetiger dialektischer Auseinandersetzung mit dem griechischen Erbe ein neues »Reich der Kunst« zu etablieren. Er tat das in einem orakelnden, spruchartigen Weisheitston, und ihm war klar, daß er seinen Lesern damit einiges zumutete: »Sollten (…) einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders«.
Bis etwa 1820 war der Weltgeist unter der Federführung Hegels weitgehend zu sich selbst gekommen. Hegel verkündete die Lehre von seinem Berliner Katheder vor einem wachsenden Auditorium, unter dem sich zu seinem Erstaunen auch »Majores, Obristen, Geheime Räte« befanden. Der arme Hölderlin aber war zu dieser Zeit längst abgestürzt in den Wahnsinn. Doch er überlebte seinen Freund Hegel um zwölf Jahre und starb erst 1843, nachdem er 36 Jahre als Pflegefall verbracht hatte, körperlich gesund, aber geistig nur noch ein Zerrbild seiner selbst.
SINN UND FORM 3/2020, S. 293-306, hier S. 293-297
- 2/2021 | Die Mutter, das dritte Geschlecht, S. 195 Leseprobe
Kienlechner, Sabina
Die Mutter, das dritte Geschlecht
(...)
Die Menschen um sie herum, Arzt, Hebamme, Hebammenschülerin, Kindsvater und wer sonst noch dem Ereignis assistiert, erscheinen ihr ungewohnt plastisch, charaktervoller denn je, wie Titanen in ein Tun involviert, dessen taghelle Oberflächlichkeit ihr noch niemals aufgegangen war. Ihr eigener dunkler Blick ruht auf ihren geschäftigen Gesichtern: Wie aus tiefstem Meeresgrund blickt sie hinaus in das, was man Wirklichkeit nennt. Sie ist überzeugt, daß nie ein Strahl des menschlichen Geistes in diese physiologischen Tiefen vordrang oder jemals vordringen wird: aus denen aber doch soeben ein Mensch geboren werden soll. Alles, woran sie bisher geglaubt hatte, stürzt lautlos in sich zusammen, und vor Staunen wird der Frau ganz kalt. Nach einer Weile überläßt sich die Frau dem Schmerz; sie achtet nur noch darauf, ihre Atmung seinem rhythmischen Wellengang anzupassen und dem Geschehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Sie hat begriffen: Ihrem Körper, ihrem eigenen Körper geht es jetzt nicht mehr um sie, sondern nur noch um den Menschen in ihr. Es ist ein absolut einzigartiger Zustand: Niemals hätte sie sich vorstellen können, daß ihrem Körper je etwas anderes wichtiger sein könnte als der Erhalt ihrer selbst. Deutlich hat sie das Gefühl, daß nicht er es ist, der das alles in Bewegung gesetzt hat. Es ist das Organ, welches das Kind umschließt: Es ist in ihr, aber es gehört nicht zu ihr, es gehört zum Kind. Es arbeitet nur für das Kind. Unter Mißachtung sämtlicher Gesetze und anscheinend bereit, wenn nötig auch über Leichen zu gehen, nimmt und verwertet es alles, dessen es nur habhaft werden kann, für diesen einzigen Zweck. Nur der absoluten Entschlossenheit dieses Organs ist es zu verdanken, daß ihr Körper es geschehen läßt und sogar den Verstand aufgibt, der noch kleinlaut versucht, Einspruch zu erheben; wie eine lästige, nutzlose Hülle bleibt er zurück.
Mit grenzenlosem Staunen unterwirft sich die Frau. Ihr gehorsam pumpendes Herz füllt sich mit einer fast demütigen Hochachtung vor diesem Organ, das zu solch rücksichtsloser Mütterlichkeit fähig ist. Keine Menschenseele könnte je mit ihm konkurrieren. Die Evolution hat das Organ in ihren Körper verlegt oder dort belassen: eine Evolution, die bis ans äußerste gegangen ist, an den äußersten Rand einer stets noch naturimmanenten Widersprüchlichkeit. Sie ließ zu, daß der Mensch einen Menschenverstand entwickelte, mit dem er alles zu seinem Nutzen auslegt – dem Kind aber reservierte sie eine rein physiologische Mutter: als wolle sie die größten und elementarsten Aufgaben dem Menschenverstand lieber nicht anvertrauen.
Wenn das Kind geboren ist, hört das mütterliche Organ fast augenblicklich auf zu arbeiten; eine einzige Wehe noch für die Nachgeburt: und dann nichts mehr. Die Frau schlägt die Augen auf und betrachtet das Kind mit Neugier und Befremden. Keinen Augenblick hat sie das Gefühl, das Kind sei ein Stück von ihr. In der Somatotopie ihrer Großhirnrinde ist das Kind nicht repräsentiert. Es ist ein absolut eigenes Wesen.
Die Frau ist wieder Frau: ein ganz normaler Mensch. Nichts Mütterliches regt sich mehr in ihrer Tiefe. Es gehört zu den Eigenschaften des Gattungswesens Mensch, daß das biologisch Mütterliche auf die Tätigkeit der Gebärmutter beschränkt ist. Alles weitere muß erlernt werden, auch das Stillen. Während die Frau zuvor, in den Stunden der Geburt, sich schlechthin nicht zu den Geschehnissen verhalten konnte, ist sie jetzt wiederum in der Lage, sich schlechthin zu allem verhalten zu müssen. Für jeden weiteren Schritt, den sie tut, ist sie verantwortlich, bei jedem muß sie ihren Verstand zu Hilfe nehmen. Es ist nicht selbstverständlich, daß sie sich des Kindes annimmt. Es mag für sie außer Frage stehen, aus den verschiedensten Gründen: aber die Natur gebietet es ihr nicht. Nichts von der physiologischen Mutter ist auf die Frau übergegangen. Dafür aber auf das Kind: Das Kind hat die Natur dieser Mutter geerbt. Tatsächlich ist dies seine einzige Natur: denn vorerst gibt es nichts an dem Kind, das irgendwie anders als in physiologischen Termini beschrieben werden könnte. Was immer das Kind auch »mitbringen« mag ins Leben – es hat bisher keine weltliche Gestalt; keine Eigenschaften, keine Werte, keine Inhalte. Man sagt der Frau: das Kind erkenne seine Mutter, es kenne ihren Herzschlag, ihre Stimme ... Aber das ist ein Mißverständnis. Das Kind kennt ihren inneren, das heißt physiologischen Herzschlag, ihre physiologische Stimme. Es ist das physiologische Kind einer physiologischen Mutter.
Nichts aber kann darüber hinwegtäuschen, daß es von dieser Mutter nun entbunden ist. Die pumpende, rauschende Zuverlässigkeit der physiologischen Tiefe hat es vertauscht mit der Offenheit der Welt. Die Nähe, die zuvor in absoluter Weise gegeben war, muß nun von Augenblick zu Augenblick erst entdeckt und erobert werden. Jede Art der Begegnung ist völlig neu.
Der Frau ergeht es nicht viel anders: Auch für sie ist diese Begegnung völlig neu. Kein »Instinkt« ist ihr behilflich; im Gegenteil. Ihr »Instinkt« scheint sich partout an das halten zu wollen, was sie über Kindererziehung schon zu wissen glaubt: Angelesenes, Gehörtes, Zusammengereimtes, Gewähntes, Gewolltes und das, was Intuition und Liebe ihr vorgaukeln. Nichts von alldem läßt sich anwenden; es steht nur im Wege. Die Frau ist von dem Kind eine Welt weit entfernt, im buchstäblichen Sinn. Was immer sie wahrnimmt, ist vom Vorurteil des Weltlichen vereinnahmt.
Bestürzt stellt die Frau fest, daß sie auf die Präsenz des Kindes in keiner Weise vorbereitet ist. Der Schrei des Kindes vermag ihr nicht zu sagen, was das Kind »will«; das Kind will nichts; der Schrei besagt nur, daß bereits etwas schiefgelaufen ist. Die Frau muß darauf eingehen, sie muß ihr Verhalten ändern, muß Abhilfe schaffen, möglichst sofort – aber wie? Wie kann sie in die Welt des Kindes eindringen, die mit der Welt, die sie kennt, nichts zu tun hat? Sie kann ihre »Intuition« zu Hilfe nehmen, gewiß ... aber sie wird doch merken, wie sehr auch die Intuition an die Erfahrung des Weltlichen gebunden ist. Immer wieder fällt sie in die gewohnten Denkbahnen zurück, sie kann es gar nicht verhindern. Immer wieder ist sie versucht, das Kind zu interpretieren, als gälte es herauszufinden, was es eigentlich im Schilde führt, immer wieder beurteilt sie es nach dem Maßstab eines zwar noch sprachlosen, aber doch schon eigensinnigen Menschen; sie kann sich einfach nicht vorstellen, daß seine Existenz sich nicht nach irgendwelchen Normen richtet. Wieder und wieder ertappt sie sich dabei, dem Kind etwas beibringen zu wollen, mit den Mitteln der Domestikation. Ihre Augen blicken auf das Kind, aber sie haben nicht gelernt zu beobachten. Sie erkennen nichts.
Sie wird es nicht schaffen, ohne den Verstand zu Hilfe zu nehmen. Es ist eine durch und durch paradoxe Leistung, die ihm abverlangt wird: die Rückkehr zur totalen Präsenz. Der Verstand muß lernen zu verzichten, keine seiner gewohnten Hochleistungen ist hier gefragt. Statt dessen beginnt die Frau, sich auf das Nächste und Unmittelbarste zu konzentrieren, auf die tausend Handgriffe, die sie tut von morgens bis abends, auf die kurzen Wege, die sie geht, auf die Räume, die sie so selbstverständlich umgeben, sie hört die unendliche Folge der Töne und Geräusche, an denen ihr Ohr schon seit langem nicht mehr interessiert war, sie sieht die zahllosen unscheinbaren Gebrauchsgegenstände, die immer zur Hand sind. In einem kleinen Umkreis entfaltet sich die Welt auf eine längst vergessene Weise, sie gibt das Unbeachtete preis, sie zeigt ihr ganz und gar alltägliches Gesicht: als sei es ihr höchstes Gut. Mit einem Mal fühlt die Frau die Nähe ihres Kindes; sie hat es endlich gefunden. Ihre Blicke kreuzen sich, und sie sieht in seinen Augen die ersten Zeichen des Verstehens und erstmals ein Lächeln, das etwas zu sagen hat; es sagt: Wir sind zusammen in der Welt.SINN UND FORM 2/2021, S. 178-183, hier S. 180-183
Kiesel, Helmuth
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- 1/2019 | Die Kunst, das Unendliche hereinzubitten. Zur Poetik des literarischen Surrealismus, S. 509 Leseprobe
Killert, Gabriele Helen
Die Kunst, das Unendliche hereinzubitten. Zur Poetik des literarischen Surrealismus
Die surrealistische Revolution Mitte der zwanziger Jahre in Paris war vielleicht nicht die wichtigste, wohl aber eine der schönsten und unblutigsten aller historischen Revolten. Was ist passiert? Ein paar Priester wurden beschimpft, der Papst ein Hund genannt. Und ein paar Ausstellungsräume und Kinos gingen zu Bruch. Nicht eben viel, wenn man bedenkt, welche Zukunft das »Büro für surrealistische Forschung« über die Menschheit verhängt hatte: Enteignung des Bewußtseins, der Logik, des perfiden Wachzustandes. Und: schöpferischer Schlaf, Mystik, Magie, Hysterie und automatisches Schrei ben – für alle!
Wieder einmal zogen die Proletarier aller Länder nicht mit. Dafür strömte die Boheme aller Länder und Wolkenkuckucksheime in Paris zusammen, um André Breton bei der »Neueinteilung des Lebens« zur Hand zu gehen. So nahm die Bewegung ihren Lauf.
Bei uns kam sie allerdings nie so richtig an. Der literarische Surrealismus hatte in Deutschland erst spät, seit den vierziger Jahren, eine bescheidene, leise vor sich hin bröckelnde Bastion. Weithin unbekannte Namen wie K. O. Götz, Johannes Hübner, Joachim Uhlmann, Lothar Klünner wären zu nennen. Ein Grüppchen, so klein und anfangs gänzlich unsichtbar, daß der Übersetzer Friedhelm Kemp nach 1945 immerhin noch meinte, einen deutschen Surrealisten – Friedrich Umbran – erfinden zu müssen, um einer etwas tristen Nachkriegsanthologie etwas mehr Pep und Farbe zu verleihen: »Unter den süßen Schenkeln / Wenn die Galle der Gärten im Nebel schläft / Und die Teiche wie Bienen sich umsehen …« Mit seinem eigenen guten Namen wollte Kemp dafür lieber nicht geradestehen.
Der deutsche Geschmack hat es gern profund. Ein bißchen schwer, ruhig auch schwerverdaulich. Nur nicht zu leicht, dann wird es schnell frivol. Dadaismus ja. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Bei Dada fällt so viel Sprachschrott hinten raus, man merkt, wie fleißig da gearbeitet wurde. Das spricht das deutsche Handwerkergemüt an. Aber Surrealismus? Ziemlich französisch, ziemlich artistisch. Schön vielleicht, aber wozu das Ganze?
Mit solch obstruktiven Sinnfragen wird dem Surrealismus hierzulande das Leben schwergemacht. Betrachten wir zum Beispiel das Gedicht »Steinbläue über dem Dolchschatten« von Anfang der sechziger Jahre: »Weil das Fleisch mit / dem Knochen schläft / rollen Augen über den Tisch / tanzt löwenbeinig / der Tisch übers Meer / öffnet das Meer Fenster / über einem Meer von Gesichtern.«
Das Gedicht verfaßte der Berliner Lyriker Richard Anders, ein Mensch von sanfter Schale, aber rauhem Kern, wenn es darum ging, Breton und den Surrealismus vor der Welt zu verteidigen. Bis zu seinem Tod 2009 hielt er tapfer die Stellung als vermeintlich »letzter deutscher Surrealist«.
In dem kleinen Text werden Dinge behauptet, die nur schwer nachvollziehbar sind. Dieses Gedicht kann sich nicht ausweisen: weder als Sinngedicht noch als lyrisches Stimmungsgedicht. Erst recht nicht als engagiertes, dazu fehlt ihm der angemessen freudlose Ton. Es hat keine Chance, in ein Lesebuch der sechziger Jahre aufgenommen zu werden, neben Verse von Günter Kunert, Erich Fried oder Hans Magnus Enzensberger, denn wo sind hier die sechziger Jahre? Keine Chance, überhaupt in ein Lesebuch zu kommen, denn was soll man hier interpretieren? Es wirkt so leicht, so übermütig, als hätte es gar keine Arbeit gemacht.
Es ist eben ein surrealistisches Gedicht. Ein Stück magische Kunst, die »irgendwie erneut den Zauber zeugt, der sie selbst gezeugt hat«, wie André Breton in »L’art magique« (Magische Kunst) zu definieren versucht hat. Es handelt sich um die schwer faßliche Disziplin des somnambulen Arbeitens. »Der Dichter arbeitet «, ein Schild mit diesem Hinweis stand an der Tür des Surrealisten Robert Desnos, während er schlief und träumte. Die Ressourcen des Innern, des eigenen respektive kollektiven Unbewußten sprudeln zu lassen, darum ging es von Anfang an. Der Surrealismus ist vor allem »ein Zustand des Geistes«, dekretierte Antonin Artaud, der zeitweilige Bürochef der Bewegung. Will heißen, der Surrealist »besitzt keine Gefühle, die zu ihm selbst gehören, er bekennt sich zu keinem Gedanken. Sein Denken errichtet ihm keine Welt, der er vernünftig zustimmt. Er gibt die Hoffnung auf, den eigenen Geist zu treffen. Aber endlich ist er im Geist (…), und vor seinem Denken wiegt die Welt nicht schwer«.
Wie man in diesen Schwebezustand einer ungelenkten Rezeptivität gerät, der die poetische Energie des Unbewußten freisetzt, skizzierte André Breton nach Art einer Gebrauchsanweisung der écriture automatique, des primären jeu surréaliste. Man möge sich in einen quasi meditativen Zustand des Nichtwollens, der Gedankenleere und Absichtslosigkeit versetzen und schnell, ohne Plan und vorgefaßtes Thema drauflosschreiben. »Der erste Satz wird ganz von alleine kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem folgenden Satz geht; zweifellos gehört er unserer bewußten Tätigkeit und zugleich der anderen an, (…) gerade darin liegt zum großen Teil der Wert des surrealistischen Spiels.« Man solle sich dabei, betont Breton, ganz auf »die Unerschöpflichkeit dieses Raunens« verlassen. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, breche man bei einer zu einleuchtenden Zeile ab und setze hinter das suspekt erscheinende Wort irgendeinen beliebigen Buchstaben als Anfang des folgenden Wortes, um so die Willkür wiederherzustellen.
Ausgenommen die theoretischen Texte, wie etwa dieser aus dem ersten surrealistischen Manifest von 1924 – hier mußte zum Bedauern Bretons »in Formeln« statt in Zungen geredet werden –, verdanken wir dieser Technik einer blind agierenden sprachlichen Induktion die frühen Texte des Surrealismus. Entscheidend beim automatischen Schrei ben ist der Verzicht auf Kontrolle. »Denk-Diktat jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Reflexion« soll der Text sein. Das Karussell darf sozusagen nicht an der Kasse haltmachen. »Die magnetischen Felder«, Bretons erster, gemeinsam mit Philippe Soupault verfaßter, kanonisch surrealistischer Text – eine lyrisch dramatische Collage aus Kindheitserinnerungen und aggressiv getönten Ängsten, die die Lebenssituation der Freunde nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln –, entstand so in automatischer Schreibweise.
Soupault: Ein guter Rat: Gehen Sie in die Avenue du Bois und schenken
Sie einem Mieter dieser Häuser, deren entzückende Geschmacklosigkeit
unsere Leidenschaften erregt, ein bescheidenes Zehnsousstück.
Breton: Wir werden dann den Rückzug der toten Generäle erzwingen können
und ihnen von neuem die Schlachten liefern, die sie verloren haben.
Sonst müssen wir eine Fälschungsklage einreichen gegen die gerechtesten
Urteile der Welt, und das Palais de Justice ist naß.
Soupault: Ich bin dessen nicht so sicher wie Sie. Eine Straßenlaterne, die
ich liebe, hat mir zu verstehen gegeben, daß Generäle und Nonnen den
Verlust der geringsten Träume zu schätzen wissen …
Syntaktisch gesehen scheint die Welt auf den ersten Blick noch in Ordnung. Doch die formale Verknüpfung innerhalb des Textes durch Rede und Gegenrede, das Vertraute rhetorischer Figuren sind trügerisch. Was hier geschieht, gleicht dem Ins-Leere-Reden des Absurden Theaters, das mit Alfred Jarry und Apollinaire beginnt und sich bei Beckett bis zur Selbstauflösung, zum Paroxysmus des Absurden im Schweigen, radikalisiert hat. Die beiden glücklichen Verfasser staunten über den Elan, die Leichtigkeit und die »bemerkenswerte Auswahl derart guter Bilder, wie wir sie bei langer Vorbereitung unfähig gewesen wären hervorzubringen«.
Der assoziative Schwung, die Schubkraft der Bilder ermöglicht ungewöhnliche Konstellationen, wie die »Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch«, die wir dem Vorreiter und Spiritus rector des Surrealismus, Lautréamont, verdanken. Er sprach solchem Schöpfungsakt »konvulsivische Schönheit« zu, die Breton und sein Kreis nunmehr von jedem surrealistischen Akt verlangten. Man könnte hier an Schillers Begriff des Schönen denken als Freiheit in der Erscheinung«. Surrealismus bedeutet aber vor allem: Freiheit in actu. Was Friedrich Schlegel für die Ironie reklamiert – »sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg« –, gilt auch für die Praxis des jeu surréaliste. Niemand ist freier als der Surrealist, der sich der Willkür des Einfalls, dem Handstreich des Augenblicks überläßt. Dies ist jedenfalls sein Glaube und sein Credo.
(…)SINN UND FORM 1/2019, S. 106-115, hier S. 106-109
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- 3/2022 | Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg, S. 509 Leseprobe
Killert, Gabriele Helen
Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg
Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig gelesen. Muschg ist gleichsam der Schweiz-Korrespondent der Literatur, der uns über dieses eigenwillige Nachbarland auf dem laufenden hält. Seine Stimme hat als die eines reflektierten Intellektuellen Gewicht, sei es in entschiedener Opposition zu den Vereinfachern bei gewissen Zeitgeist-Themen (zuletzt etwa der sogenannten Cancel culture) oder als engagierter Streiter für ein aufgeklärtes, Konflikte tolerierendes »gastliches Europa«.
Neben dieser politisch-publizistischen Präsenz ist Adolf Muschg aber vor allem ein – auch jenseits der achtzig – unvermindert produktiver Erzähler. Beinah alle zwei Jahre überrascht er mit einem meist umfangreichen Roman, und es zeigt sich, daß er sich und seinen Lesern nichts nachgibt. Muschgs Erzählen war immer anspruchsvoll, immer hochgradig vielschichtig und mehrdeutig. Es richtete sich, wenn nicht an die happy few, so doch an eine literarisch gebildete Leserschaft. Es geht eigentlich stets ums Ganze. Um das Leben mit seinen unaufhebbaren Widersprüchen und Ambivalenzen. Um Abgründe, dunkle defizitäre Seiten hinter der bürgerlichen Fassade.
Bei einer Annäherung an Adolf Muschg nimmt man am besten den Umweg über die Hypochondrie. Sie ist eine große Produktivkraft in seinem Werk wie in der Literatur überhaupt. Immanuel Kant nannte sie die »Grillenkrankheit« und Hugo von Hofmannsthal spricht von den Qualen eines »Gespensterkampfes«. Man denke auch an Thomas Mann oder an Italo Svevo und seinen Helden Zeno Cosini, der ständig damit beschäftigt ist, seine letzte Zigarette zu rauchen, überhaupt mit einer gewissen Angstlust an die letzten Dinge denkt und mit Mitte dreißig bereits sein Ende erwartet. Von diesem bekennenden Hypochonder stammt der Satz: »Die Krankheit ist eine Überzeugung. Ich wurde mit dieser Überzeugung geboren.«
Wenn es so ist, daß die Themen sich ihren Autor suchen und nicht umgekehrt, dann hat es nach Svevo wohl niemanden mehr so erwischt, hat die Hypochondrie wohl kaum einen treueren literarischen Sachverständigen finden können als Adolf Muschg. Wie Svevo ist auch er ein passionierter Ironiker. Wie die Hypochondrie sich der Krankheit als Maske, so bedient er sich der Maske der Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen – das tertium comparationis liegt in der Dissimulation, in der Verstellungskunst. Unter einem Hypochonder versteht man für gewöhnlich jemanden, der sich Krankheiten einbildet. Ein eingebildetes Leiden. Sagen wir lieber: ein Leiden aufgrund von Einbildungskraft. Ein Druckgefühl in der Lendengegend, ein taubes Gefühl im Arm – das kann nur etwas Schlimmes sein. Der Hypochonder ist so durchdrungen vom Gefühl der Unhaltbarkeit des Lebens, daß er immer auf das Schlimmste gefaßt ist. Muschgs Figur Albisser zum Beispiel, der linksbourgeoise Jedermann der sechziger und siebziger Jahre und Protagonist des Romans »Albissers Grund« (1974), läßt nichts aus. Er ist von Kopf bis Fuß auf Schmerzen eingestellt, und von Kopf bis Fuß wird er auch untersucht. »Es brachte ihn jedesmal an den Rand einer Ohnmacht. Aber immer noch nicht an den Rand eines Befunds, obwohl sich ein Urologe einmal extra ein wenig ›Nierengries‹ einfallen ließ. Ein Stein wollte aber nicht draus werden. Erst, als nuklearmedizinische Praktiken aufkamen, gelang es, in der rechten Niere Albissers eine gewisse Unterleistung nachzuweisen. Von der lebte er eine Weile.«
Der Hypochonder »lebt« von seinen Symptomen wie der Kapitalist von seinen Schulden. Der Mensch mag sich eine »gewisse Unterleistung« infolge eines notorischen Leistungsdrucks, infolge zu hoch geschraubter Erwartungen und Ziele nicht eingestehen. Oder um es mit Muschg zu sagen, er kapituliert gleichsam vor einer »Über-Ich-Forderung« und flüchtet in die Krankheit, »die zugleich eine echte Zuflucht ist. Denn sie bringt die Schuld zum Schweigen, indem sie ein Organ für sie sprechen läßt, das zugleich die Not anzeigt und um Hilfe ruft.« (»Literatur als Therapie?«) Im Falle Albissers springt die Niere ein und entschuldigt ihn gewissermaßen. Dieser burleske Ironie-Ton des Romans ist eine reife Kulturleistung. Es hat den Autor, wie wir aus diversen Selbstzeugnissen wissen, einiges an leidvollen Erfahrungen gekostet, um diese Konversion in Komik leisten zu können. (»Cystoskopie, Gastroskopie, Bronchoskopie, Koloskopie waren eine Zeitlang beinahe mein tägliches Brot …«)
Der Schmerz ist also real, aber er ist auch ein Phantomschmerz. Denn da, wo er sitzt, sitzt nicht das Problem. Muschgs Protagonisten verhalten sich wie der Mann, der seinen verlorenen Hausschlüssel nachts vor der eigenen Haustür sucht, nicht weil er dort liegen könnte, sondern weil er dort Licht hat. Der Autor hat dieser Absurditätsmetapher in seinem Roman »Das Licht und der Schlüssel« manch fruchtbare Sinndeutung abgewonnen. Etwa die, daß wir »einander nicht unser wirkliches Leben (erzählen), sondern Geschichten, mit denen wir es besser zu ertragen glauben«.
Auch der hypochondrische Schmerz erzählt solche Geschichten. Der Druckschmerz, die Taubheit, die vorübergehende Lähmung, das Herzstechen. Tu etwas, laß dir etwas einfallen, sagt eine Instanz, die unerkannt bleiben möchte, zum Körper. Denn nur dieser, das sichtbare Leben und Leiden, wird in der sozialen Sphäre ernst genommen und gebührend beachtet in seiner ganzen theatralen Wandlungsfähigkeit. Der Hypochonder hat seit früher Kindheit gelernt: Wenn der Leistungs- und Erwartungsdruck zu groß wird, hilft nur die Flucht in die Krankheit. Im geschwächten Zustand wurde dem endlich umsorgten Kind die Zuneigung und Aufmerksamkeit zuteil, die ansonsten fehlte. Und so tummelt sich an den unschuldigen Organen des Hypochonders plötzlich das bunte Leben, das sonst so ängstlich eingesparte.
Damit sind wir beim Kern des Problems. Von diesem Verdacht, daß es ihnen an Leben fehlt, sind die sensiblen, introspektiv begabten Antihelden der Schweizer Literatur bis zur Tollheit durchdrungen. Das Lebensgefühl in diesem Land tendiert, will man der Literatur glauben, offenbar schon von Hause aus zum Hypochondrischen. Beinah seit die Schweiz existiert, gibt es den »Meister Niemand« – und Provinzialitätskomplex. Das bohrende Gefühl, sich gegen das Leben, indem man ihm ängstlich ausweicht, zu versündigen, lastet wie ein Atridenfluch auf dieser Literatur von Gottfried Keller bis Robert Walser, von Max Frisch bis Adolf Muschg. Wofür müssen sie so schwer büßen? Das fragen sich die Protagonisten unausgesetzt selber. *** Ein Hauch von Asche liegt in der Luft. Einen Geruch von »versäumtem Leben« will Zerutt, der Therapeut und Gegenspieler der Hauptfigur im Roman »Albissers Grund«, bei den Schweizern ausgemacht haben. Er selber versteht es auch nicht zu leben. Erst als er an der Kugel, die sein Klient auf ihn abfeuert, beinah krepiert, wachsen ihm übermenschliche Kräfte zu. In einer Besenkammer der Klinik, wo man ihn schon abgeschrieben hat, erfährt er so etwas wie eine Wiedergeburt. Mit der Hoffnung, daß es ihm endlich einmal gelingen möge zu leben, endet das Buch. Doch daraus wird nichts. Zerutt kehrt im übernächsten Roman zurück, als untoter Vampir ohne fühlbaren Puls, den drei Arztgattinnen mit ihrem Blut ernähren müssen. Dafür kann er gut erzählen und das Leben anderer bereichern und sogar verlängern.
Oft greift der Autor wie ein Notarzt – oder wie ein Zenmeister – beherzt ein und führt eine heftige Erschütterung herbei, damit Leben und Bewußtsein in seine Figuren zurückkehren. Er muß Gewalt anwenden. Nicht selten läßt er von der Schußwaffe Gebrauch machen, damit ein neurotisch Gehemmter endlich aus sich herauskann. Von Albisser heißt es, nachdem er dem Therapeuten einen Lungendurchschuß verpaßt hat: »Das war das Gesunde an Albissers Krankheit, (…) daß er sich mit dieser negativen Diagnose nicht zufriedengab. Er hat Glück gehabt, daß er auf Zerutt geschossen hat. Daß er es endlich fertiggebracht hat, auf jemand anders zu schießen.« Albisser hatte immer wieder leidvolle Erfahrungen mit Ärzten machen müssen. Sie laborieren herum, schneiden ihn auf sein Drängen hin auf und finden notorisch: nichts. Albisser will aber, daß da etwas ist. Der boshafte Zerutt konnte, als er Albisser auf den Grund schaute, aber auch nichts finden außer mangelhaftem Leben und Ersatzwirtschaft, was ihn teuer zu stehen kam.
Dieses »Nichts« ist ein schwerwiegender, ein unbekömmlicher Befund. Auch bei Italo Svevo spielt es eine tragende Rolle. Seinem Held Nitti, diesem inetto, sprich: Lebensuntauglichen in dem Roman »Ein Leben«, setzt es existentiell zu, wie schon sein sprechender Name bezeugt: Nichts, niente. Ihn und all die untragisch-traurigen, in der Masse verlorenen Romanfiguren des 19. Jahrhunderts graust es vor der Unendlichkeit dieses Nichts wie den Nachtwächter in den »Nachtwachen des Bonaventura«, einem Bravourstück vormoderner Literatur. Es liest sich wie das Krankenblatt des modernen Hypochonders mit seinen vagabundierenden Phantomschmerzen: »Da fliehen die Masken vorüber, die Empfindungen, eine verzerrter wie die andere … Schmerz, laß dir fest ins Auge schauen, warum erscheinst du mir! Auch er ist schon vorüber. Gebt mir einen Spiegel, ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke – es wird mir überdrüssig, nur immer eure wechselnden Gesichter anzuschauen. Wie? Steht kein Ich im Spiegel, wenn ich davor trete? (…) Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, (…) nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts, das ich sehe!«
Beinahe wie ein Echo auf Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« oder wie die vorweggenommene Vision Nietzsches vom »tollen Menschen« nach dem Tod Gottes klingt diese Passage. Wie das Protokoll einer gleichsam transzendentalen posttraumatischen Belastungsstörung. Den Nachtwächter graust es vor den Phantomen wie später in Guy de Maupassants Phantasmagorie »Le Horla« den Erzähler beim Blick in den Spiegel. Der Spiegel ist leer, sein Bild ist daraus verschwunden. Für eine narzißtische Gesellschaft kann es keine größere Kränkung geben. Daß der Himmel leer ist, kann sie gut verkraften. Aber das auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt füllt diese Leerstelle nicht aus, es erlebt sich als haltlos und defizitär. Dafür mag die Hypochondrie, dieses blinde Ausagieren der Angst vor der eigenen Nichtigkeit, ein Zeichen sein.
Der zappelnde Neurotiker Albisser ist auch heute noch repräsentativ für die abstiegsgefährdete bürgerliche Mitte. Er wollte sich und die Gesellschaft verändern. Doch dann: nichts. Die Revolution fand nicht statt. Nur dieses Hangeln von Symptom zu Symptom, diese Kunstanstrengung namens Neurose und das Schönerwohnen im Gerede. Muschg hat das Kollektiv-Ich in Albisser – und beileibe nicht nur in dieser Figur – gleichsam psychoanalysiert. Die Hypochondrie, so seine Expertise, ist ein schriller physischer Alarm, der eine Überanstrengung und narzißtische Kränkung anzeigt. Da ist etwas Heilloses, peinlich Ungenügendes, das doch im Innersten die Gesellschaft zusammenhält. Denn auch das schnelle tagespolitische Hüpfen von Thema zu Thema, von Skandal zu Skandal trägt – die Metapher drängt sich förmlich auf – auffallend hypochondrische Züge. Kein Thema, das nicht schon auf der Beschwerdeliste gestanden hätte, um nach kurzer Debatte von einer neuen Aufregung abgelöst zu werden, die genauso folgenlos bleibt. So kreuzen sich die Fluchtlinien in unseren Feuilletons, in den Talkshows, in Beziehungsgesprächen, im Parlament und konvergieren in der Suggestion der Zeitgenossen: Es wird wohl nichts Ernstes sein. Das Agenda-Karussell gesellschaftlicher Erregungsthemen oder die Winkelzüge der Symptomverschiebung als Surrogat libidinöser Wunscherfüllung – in beiden Fällen handelt es sich um Scheinbewegungen zum Zwecke der Beibehaltung eines etablierten Status quo.
Gegen die Hypochondrie ist kein Kraut gewachsen, es sei denn: die Ironie. Wenn die Hypochondrie das zugespitzte Empfinden für die Hinfälligkeit der Person ist, so ist die Ironie das luzide Wissen um die Hinfälligkeit aller Sätze und Setzungen, die Einsicht in die grundlegende Kontingenz und Unhaltbarkeit aller »abschließenden Vokabulare« (Richard Rorty). Die Ironie hat in einer säkularisierten Welt gleichsam den Blick von oben auf das irdische Treiben übernommen (um Jean Paul leicht abzuwandeln, der diese Rolle allgemein dem Humor zuerkannte). Sie verschafft sich einen Überblick und kommt zu dem Schluß: die Lage ist vielleicht hoffnungslos, aber nicht ernst. Mit dieser verläßlichen Grundskepsis ist das Erzählen bei Adolf Muschg imprägniert. Er sorgt dafür, daß alles Gesagte im Subtext unterwandert, jeder Spruch im Widerspruch gespiegelt wird. Vielleicht gerade weil er ein so eleganter, bis zur Redseligkeit eloquenter, geständnisinniger Erzähler ist, mißtraut er der Magie der Wörter, die gern so tun, als seien sie schon die Dinge selber; und läßt sich andererseits kaum eine Mehrdeutigkeit, kaum ein schillerndes Paradox entgehen, wo die Sprache selbst dies auf dem Wege begrifflicher Offenheit anbietet. Sätze können erst dann Wahrheit beanspruchen, wenn auch ihr Gegenteil wahr ist.
Die Literatur ist eine sehr ökonomische Angelegenheit. Sie braucht nicht Tausende Probanden, um etwas herauszufinden, was wir als signifikant oder wenigstens als evident bezeichnen. Es bedarf nur eines Autors, der das experimentum crucis mit sich selber anstellt. Für einen genuinen Schriftsteller kann das Leben nur dort wahrhaft glücken, wo es im Eigentlichen stattfindet: in seinem Schreiben. Seine dem Verdacht des Ungenügens und Mißlingens ausgesetzte Vita erleidet den Mangel nicht zuletzt infolge seiner Profession, die dem eigenen Leben alle Energie vampirhaft aussaugt und entzieht: das Thema des Künstlerromans von E.T.A. Hoffmann bis Thomas Mann, von Nabokov bis Adolf Muschg, dessen Novellen und Romane diese Dialektik zwischen Leben und Schreiben immer mitverhandeln.
[...]SINN UND FORM 3/2022, S. 406-418, hier S. 406-411
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Kirsch, Sarah
- 3/1976 | Gedichte
- 6/2013 | Im Spiegel. Poetische Konfession. Mit einer Vorbemerkung von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka, S. 583 Leseprobe
Kirsch, Sarah
IM SPIEGEL Poetische Konfession
Vorbemerkung
»Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden«, schreibt Sarah Kirsch in ihrer Chronik »Allerlei-Rauh«. Im Mai verstarb die 1935 im Harz geborene Dichterin mit 78 Jahren. Sowohl ihr vielfach ausgezeichnetes lyrisches Werk als auch ihre Prosaarbeiten sind vom unverwechselbaren »Sarah-Sound« (Peter Hacks) geprägt. 1965, an der Schwelle »zwischen nicht mehr und noch nicht«, entstand kurz vor Beginn ihres Lebens als freie Schriftstellerin ein kleiner, noch unveröffentlichter Text, ihre Abschlußarbeit am Leipziger Institut für Literatur Johannes R. Becher. Im vorgegebenen Rahmen einer »poetischen Konfession« stellt sich Kirsch den Ausgangsfragen ihrer Literatur. Der Text gibt Einblicke in die Werkstattüberlegungen einer jungen Dichterin, über deren Lyrik Heinz Czechowski – ebenfalls Absolvent des Instituts – im Rückblick sagte: »Sie war damals schon selbständig, naiv vielleicht, aber echt.« Aufgefunden wurde er kürzlich im Archiv des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, das sich – in Nachfolge der 1993 abgewickelten Einrichtung – der Förderung des literarischen Nachwuchses im vereinigten Deutschland widmet. Dort wird seit dem Frühjahr 2013 die Geschichte der institutionalisierten Schriftstellerausbildung in der DDR erforscht.
Gemeinsam mit ihrem Mann Rainer Kirsch nahm die 28jährige 1963 ihr Studium in Leipzig auf. Zuvor hatte sie in Halle (Saale) ein Biologiestudium absolviert, ihren Geburtsnamen Ingrid Hella Irmelinde Bernstein abgelegt und den Rufnamen Sarah gewählt, um ein Zeichen gegen den Antisemitismus in der eigenen Familie zu setzen. Durch ihre Heirat 1958 entstand der Name, unter dem sie erste Gedichte in Zeitschriften publizierte und später zu einer der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen wurde. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns verließ sie – mittlerweile geschieden – die DDR und zog 1977 mit ihrem Sohn zunächst nach West-Berlin und dann nach Schleswig-Holstein, wo ein weiteres ihrer Leben begann. In der kleinen Gemeinde Tielenhemme lebte sie bis zu ihrem Tode.
Sarah Kirsch kam auf Vorschlag des Deutschen Schriftstellerverbands ans Literaturinstitut, nachdem sie in Halle an der von Gerhard Wolf geleiteten »Arbeitsgemeinschaft junger Autoren« (AJA) teilgenommen hatte. Wolf war es auch, der ihre Gedichte Stephan Hermlin empfahl, als dieser im Dezember 1962 eine Lesung mit ausgewählten Nachwuchslyrikern in der Akademie der Künste plante. Die Veranstaltung, die in der Literaturlandschaft der DDR eine regelrechte »Lyrik-Welle« auslöste, zog zahlreiche weitere Lesungen und Veröffentlichungen nach sich.
Das Literaturinstitut Johannes R. Becher war in den sechziger Jahren durchaus renommiert, zumal die Bewerber einen Talentnachweis erbringen und Publikationserfahrung nachweisen mußten. Dennoch war das Studium, die letzte Stufe im vorgezeichneten Weg der staatlichen Autorenausbildung, unter den angehenden Schriftstellern umstritten. Schließlich erfüllte die auf SED-Beschluß gegründete und dem Ministerium für Kultur (MfK) unterstellte Einrichtung einen Auftrag der Partei. Laut Hochschulprogramm galt es, literarische Talente »zu sozialistischen Schriftstellern« auszubilden und darin zu schulen, »mit den Mitteln der Kunst die sozialistische Bewußtseinsbildung der Menschen zu unterstützen«. Dazu sollten die jungen Autoren eine an den Bedürfnissen des Arbeiter-und-Bauern-Staats orientierte, volksnahe und aufklärende Literatur hervorbringen, die nach den Maßgaben des sozialistischen Realismus unter Aussparung allzu abstrakter und moderner Elemente auf große Wirklichkeitsnähe setzte. Vor allem das Arbeitsleben und der sozialistische Alltag, mit dem Bitterfelder Programm 1959 zu Leitmotiven ausgerufen, sollten am Institut ihren Niederschlag finden, u. a. durch einen Fernstudiengang für schreibende Arbeiter und obligatorische Praktika, mit denen Studierende »ihre Kontakte mit der werktätigen Bevölkerung vertiefen « und ihre Darstellung an der Wirklichkeit schulen konnten.
Zu Kirschs Zeit umfaßte der Stundenplan zur »fachlichen Bildung« überwiegend theoretische Lehrveranstaltungen zu deutscher, sowjetischer und Weltliteratur, dazu Ästhetik, Kulturwissenschaft, Stilistik, Literaturkritik sowie der an allen DDR-Hochschulen zum Pflichtfach erhobene Marxismus-Leninismus. Der »künstlerischen Persönlichkeitsentwicklung « – der Begriff war in einem Entwurf des Gründungsstatuts im MfK mit einem handschriftlichen Fragezeichen versehen worden und verschwand dann vollständig – dienten »Schöpferische Seminare«, in denen die Arbeit an eigenen literarischen Texten in den Gattungen Lyrik, Prosa und Dramatik im Mittelpunkt stand. In diesen Veranstaltungen, deren Inhalte und Lehrverfahren nur bedingt kontrolliert werden konnten, ergaben sich Freiräume jenseits ideologischer Vorgaben. So etwa in den Prosaseminaren, die der ehemalige Wismutarbeiter und Institutsabsolvent Werner Bräunig leitete. Er galt als einer der Hoffnungsträger des Bitterfelder Weges, stand aber wegen seiner Parteinahme für Studierende in der Kritik. Sein »Rummelplatz«-Manuskript geriet 1965 auf dem 11. Plenum der SED ins Kreuzfeuer. Schließlich verließ er nach Eröffnung eines Parteiverfahrens »freiwillig« das Institut.
Die prägende Figur für Sarah Kirsch war jedoch der Dichter Georg Maurer, Dozent von 1955 bis 1970, an den sich Kirsch 1993 in einem Interview anläßlich der Verleihung des Peter-Huchel-Preises erinnerte: »Dieses Leipziger Institut war außerordentlich schön, weil Georg Maurer dort lehrte, das Lyrikseminar hielt. Er hatte die wunderbare Methode, sich unsere Gedichte anzusehen und uns dann, eine Woche später, alles zum gleichen Thema aus der Weltliteratur vorzulegen. Diese Bücher gab es im Literaturinstitut. Wenn wir Regengedichte hatten, oder wenn ein Spiegel drin vorkam, da hatte er dazu alles. Von der Droste bis zu William Carlos Williams. Dann hörten wir die wunderbaren Texte und hatten alles gelernt, indem wir unsere nämlich wegschmeißen konnten.« Bei Maurer, der sich in seinen Seminaren über die Kanonisierung hinwegsetzte und seine Schüler zu »Genauigkeit« verpflichtete, habe sie gelernt, »daß man nicht die großen ›philosophischen‹ Gedichte machen soll, wie das im Sozialismus üblich war, so etwas wie der späte Becher machte, soviel Verblasenes hat man ja selten gehört. Davon hat uns Maurer wenigstens abgehalten, das nachzuahmen. Er sagte, wir sollten lieber den kleinen Gegenstand nehmen.«
Für das Diplom reichte Sarah Kirsch im September 1965, wie in der Prüfungsordnung vorgesehen, eine künstlerische und eine theoretische Abschlußarbeit ein. Erstere bestand in dem mit Rainer Kirsch geschriebenen Gedichtband »Gespräch mit dem Saurier«, der ebenso bereits vorlag wie die Reportage »Berlin-Sonnenseite«, die das Paar 1964 zum »Deutschlandtreffen der Jugend« in Ost-Berlin verfaßt hatte, und die in der Anthologie »mitternachtstrolleybus« erschienenen Nachdichtungen aus dem Russischen. Für ihre theoretische Arbeit wählte Sarah Kirsch die freiere Form der »Poetischen Konfession«, die den Studierenden als Alternative zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit möglich war.
So kritisch wie gewitzt befaßt sich Sarah Kirsch darin mit der Tauglichkeit des sozialistischen Realismus und dem Stellenwert der Lyrik im Vergleich zur Prosa. Nicht zufällig trägt ihre poetische Selbstbetrachtung den Titel »Im Spiegel«. Die Ich-Erzählerin rückt ihren Schreibtisch vor den Spiegel, um den eigenen Arbeitsprozeß zu betrachten und sich mit dem Motiv des Spiegels auseinanderzusetzen: Er erzeugt einerseits einen Widerschein, andererseits eine Brechung der Wirklichkeit – bezeichnenderweise hat der in ihrem Text vorkommende Spiegel einen Sprung. Damit erhalten ihre Reflexionen den Charakter eines Metadiskurses über die Frage, was Lyrik vermag, was sie sein kann und möglicherweise nicht sein darf. Der Spiegel wird damit bereits 1965 zum Zentrum von Kirschs Poetik – Günter Kunert wies 1985 im Nachwort zu ihrem Gedichtband »Landwege« auf die besondere Stellung dieses Motivs hin. Die sozialistische Realität und wohl auch die Vorgaben des sozialistischen Realismus scheint die Autorin hier nicht allzu ernst zu nehmen, taucht doch in der zunächst ganz realistischen Situationsbeschreibung ein Drachentöter aus der Artussage auf. Wie in ihrer Lyrik nutzt sie auch hier Märchenmotive zur ironischen Brechung der Wirklichkeit: Lanzelot trägt Bluejeans, hat das Drachentöten aufgegeben und ist in einem Forschungsinstitut angestellt.
Der Ritter, dem Kirsch in späteren Jahren ein eigenes Gedicht widmet, entpuppt sich als ebenso geistreicher wie streitbarer Gesprächspartner der mit ihrer Kunst hadernden Ich-Erzählerin. So entspinnt sich ein doppelbödiger Dialog über poetologische Positionen, dessen ernsthafte Argumentation ständig unterlaufen wird – von ironischen Wendungen und Pointen im typischen Sarah-Sound, unter Einbeziehung von Schlüsselbegriffen wie Grunderlebnis oder Selbstkritik. Ersterer stammt von Anna Seghers und bezeichnet eine Art Initiationserlebnis, das jeder Künstler benötige, um sein Talent an eine Aufgabe zu binden. Für Sarah Kirsch bestand diese Erfahrung nicht zuletzt in der Zugehörigkeit zu einer Lyrikergeneration, die auf dem Wert der eigenen Erfahrung bestand und sich von den »alten Genossen«, den »alten Männer(n)« abgrenzte, so wie ihre Mitstreiter Rainer Kirsch, Wolf Biermann und Volker Braun, die sich nicht auf vorgefertigte ideologische oder ästhetische Positionen einließen, sondern auf »Vorläufigem« beharrten. »Wir waren merkwürdigerweise fast alle vom Jahrgang 1935«, erinnerte sich Sarah Kirsch 1993, »und wir hatten einen gewissen Hochmut. Der blühte, und den brauchten wir auch, um uns gegen die Parteidichter behaupten zu können.«
Demgegenüber kann Selbstkritik als Grundhaltung des engagierten Sozialisten verstanden werden, der sich hinsichtlich seines Auftrags stets kritisch zu hinterfragen hat (was selbstverständlich auch als Synonym für Selbstzensur verstanden werden kann). Doch die scheinbare Ernsthaftigkeit wird durch andere Assoziationen unterminiert – etwa wenn das Segherssche Grunderlebnis mit dem Blick in ein Whiskyglas in Verbindung gebracht wird. Die »doppelte Brechung«, die durch den Glasboden im Spiegel entsteht, kommt einer Selbstbehauptung, einem Beharren auf der eigenen Wahrnehmung gleich: Nur gebrochen ist die Wirklichkeit darstellbar. Die Äußerung zur Selbstkritik ist von so enervierter Flapsigkeit, daß man darüber lachen muß.
Lanzelot fordert von ihren Texten weniger Selbstbespiegelung und tut Gegenstände wie Liebe und Kummer als »Damengeschwätz« ab, wo es doch allerorten »nach Napalm und Atompilzen« rieche. Dahinter ist wohl ein Seitenhieb auf jene Lyrikerkollegen zu vermuten, die Kirschs frühen Gedichten »Mädchenhaftigkeit« oder »Baby-Talk« (Adolf Endler) unterstellten oder, wie Georg Maurer in seinem Prüfungsgutachten, betonten, sie verstehe es, »Vorgänge in der intimen fraulichen Sphäre ebenso ehrlich wie zart auszusprechen«.
Sarah Kirsch setzt dagegen ihr zweites poetologisches Grundverfahren ein, die Verkleinerung, wodurch die Welt im Spiegel ihrer Gedichte »ein bißchen kleiner als in Wirklichkeit « erscheint: Es sind »die trippelnden Vögel, Menschen, struppige Hunde, ein sanfter Garten, der vornehme Verkäufer, ein Fisch«. Es sind die scheinbar nebensächlichen Dinge, die in Kirschs Gedichten große Wirkung entfalten, weil sie Kontraste setzen und die Fallhöhe des Großen und Ganzen verdeutlichen. Auch ihr vermeintlich naiver Tonfall folgt diesem Prinzip der Verkleinerung, die einfache, aber doppelbödige Sprache eröffnet ihr auf unerwartete Weise den Spielraum zur Brechung aller Erwartungen.
So auch in ihrem Gedicht »Kleine Adresse« von 1964, dem erst die Vögel zur vielgeforderten »Welthaltigkeit« verhelfen: als Flug- oder Reisemotiv, das sich antithetisch oder auch spiegelbildlich zu den Grenzen der politischen Welt verhält und »eine ungeheure Sehnsucht nach außen« zum Ausdruck bringt. »Aufstehn möchte ich, fortgehn und sehn, / ach, wär ich Vogel, Fluß oder Eisenbahn, / besichtigen möchte ich den Umbruch der Welt.« Die »Kleine Adresse« ist denn auch eine der wenigen frühen Arbeiten, die Kirsch in ihrer »Poetischen Konfession« noch gelten läßt. Die meisten verwirft sie, sie zweifelt am Erreichten, sucht Rat bei ihren literarischen Vorbildern und spürt den Druck erster Erfolge. Eben dreißig geworden, sorgt sie sich »ein wenig um die Schönheit und sehr um die Leistung«.
Am Ende der »Poetischen Konfession« trinkt Lanzelot den letzten Whisky und verläßt seine Gesprächspartnerin. »Nieder mit dem Gefälligen!« ruft er ihr noch zu. Die Autorin bleibt »etwas klüger als zuvor und unzufrieden« zurück. Doch trotz aller Unwägbarkeiten »zwischen nicht mehr und noch nicht« spricht sie sich noch einmal Mut zu: »Mach weiter«, ermahnt sie sich mit der ihr eigenen Zähigkeit – jener »Zähigkeit, mit der sie Niederlagen überdauert, ihr Recht im Sichnichtverlieren« behauptet, wie Peter Hacks Jahre später schreibt: »›Ich möchte‹, so fühlt Sarah, ›die Welt lieben; sie ist nicht liebenswürdig, weder zu mir, noch als solche. (…) Sie werden mich ein wenig flennen oder ein wenig aufmotzen oder ein wenig kichern hören, aber kleinkriegen, das werden sie mich nicht. So, Sie finden mich schnurrig? Sie glauben, nur Katzen schnurrten, die Guten; sie vergessen die Tiger.‹«
Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka
[...]
SINN UND FORM 6/2013, S. 848-855
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Kisch, Egon Erwin
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Kisielewski, Stefan
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- 4/2004 | Elegie in sieben Sachen - Auf Uwe Johnson
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- 6/2012 | Gespräch mit Tilla Fuchs über Céline
Klässner, Bärbel
- 6/2005 | Fließtexte, Gedichte
Klaue, Magnus
- 3/2020 | Dazwischentretend. Sexus und Reim bei Karl Kraus und Else Lasker-Schüler, S. 370 Leseprobe
Klaue, Magnus
Dazwischentretend. Sexus und Reim bei Karl Kraus und Else Lasker-Schüler
Poetik des Fremdgehens
»Frau« und »Mann« sind im Werk von Else Lasker-Schüler Schimpfworte. In »Mein Herz«, dem 1912 veröffentlichten »Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen«, wird die Geste, mit der sich Frauen und Männer zu »Frauen« und »Männern« machen, zur Erniedrigung, durch die die Menschen sich selbst und einander um die ihnen innewohnende Souveränität, in der Metaphorik Lasker-Schülers: um ihre Königlichkeit betrügen. Lasker-Schülers Werk reagiert auf diesen wechselseitigen Betrug weder mit einer Mythenkritik, die jedes Bild auf sein Klischee, jeden Charakter auf seine Maske, jeden Schein auf einen Betrug reduziert, um die Wirklichkeit als restlos falsche zu entlarven, noch mit einer Gender-Ästhetik, die das witzlos ironische Herumhantieren in der Sphäre bloßen Scheins – der Stereotype und Rollenbilder – mit ästhetischem Ausdruck verwechselt. Vielmehr ist ihr Werk bis in die Zeit des Exils getragen von einer enthusiastischen Bejahung des Scheins, der über die Wirklichkeit nicht hinwegtäuscht, sondern sie mitträgt; der den Menschen nicht Sand in die Augen streut, sondern ihren Blick klarer macht; der sie nicht um ihr Glück betrügt, sondern selbst zur Erfahrung von Glück wird.
Der Betrug, durch den sich Frauen und Männer im gesellschaftlichen Umgang zu »Frauen« und »Männern« erniedrigen, wird in »Mein Herz« durch eine Art potenzierten Betrug, durch eine zweite Verzauberung beantwortet, mit der die Menschen in der einverständigen wechselseitigen Verführung den gesellschaftlichen Zauber zu bannen und abzuwerfen suchen. Diese entzaubernde Verzauberung, die Bejahung des Scheins im Namen einer Menschheit, die ihn als Täuschung nicht mehr nötig hätte, ist ein Grundimpuls von Lasker-Schülers Ästhetik. Das Ich von »Mein Herz« erinnert und imaginiert in einem der an »Herwarth« (Lasker-Schülers Spielname für Herwarth Walden) gerichteten Briefe einen früheren gemeinsamen Besuch im Café Kempinski am Berliner Kurfürstendamm: »Ich trank aus Deinem Glas Rotwein und Du machtest mir Komplimente meiner schmalen Fußgelenke wegen. Und versprachst mir seidene Strümpfe zu kaufen und eine seidene Feder für meinen Strohhut. Du hast so emsig süß zu mir gesprochen, namentlich wie ich mich genierte, noch etwas von der Auswahl der Konfitüren zu wählen. Und ich vergaß wirklich, daß ich Deine Frau war und machte mich über Deinen Drachen lustig, über ihre finstere Stirn. Aber ich werde nie Dein stutziges Gesicht vergessen; da wußte ich, daß Du schon öfters mit kleinen Mädchen bei Kempinski soupiert hattest, die Deine Frau ihrer fanatischen Galiläerstirn wegen verspotteten. Das hatte Dich immer wieder von den Leckermäulern abgebracht, denn Du wurdest barsch und unmutig zu mir, weil ich Deine ›Frau‹ beleidigt hatte.«
»Mein Herz« betreibt schon allein deshalb nicht einfach eine Dekonstruktion des bürgerlichen Liebesbegriffs, weil das Spiel darin ein positives Verfahren ist, das einlösen soll, was der Begriff und die mit ihm bezeichnete gesellschaftliche Praxis beschränken und neutralisieren. Die »süße« Sprache, von der (und die) das Ich spricht, meint eine intime Kommunikation, die sich auf eine Treue beruft, welche der gesellschaftlich akzeptierten Treue entgegensteht und im Widerstand gegen sie an Stärke zu gewinnen trachtet. Solche Treue folgt dem gemeinsamen Spiel und dessen Regeln statt Gesetzen, die dem Spiel äußerlich, ihm immer nur verordnet sind. Die Intimität, die diese Treue stiftet, beruht auf einer Abfolge geregelter Gesten und konventioneller Gefühle (Komplimente, Geschenke, das Sich-Genieren), die, indem sie ihren Zweck in sich selbst haben, die herrschende Konvention bannen. Darauf beruht die anästhetische Wirkung dieser Ästhetik: Indem er sich als wirklicher denn die Wirklichkeit setzt, sänftigt der ästhetische Schein deren Unmittelbarkeit und hebt ihre Formbarkeit in den Blick, die im Alltag vergessen wird; Konsequenz dieser Erinnerung ist das Vergessen des Drucks der Wirklichkeit im ästhetischen Spiel. Diese Treue und Intimität sind der vertraglich beschlossenen Treue und der ihr entsprechenden trüben Zweisamkeit entgegengesetzt. Das Sich-Betrügen um den Betrug verewigt nicht den falschen Schein, sondern schafft eine neue Wirklichkeit, die innerhalb der herrschenden existiert und zugleich gegen sie steht. Indem die Partnerin des Spiels »wirklich« vergißt, daß sie seine Frau ist, indem sie seine »Frau« beleidigt und sich über seinen »Drachen« lustig macht, weigert sie sich, das Urteil der Realität als letztes Wort über sich und ihre Liebe zu dulden, die erst dort wirklich wird, wo das »Verheiratetsein« nicht nur kurzzeitig vergessen ist, sondern buchstäblich verschwindet: »Sehnsucht nach Kempinski« habe sie, schreibt die Erzählerin, weil »wir beide dort so unverheiratet sind«. Daß Mann und Frau, als »Mann« und »Frau« bornierte Rollenträger ihrer selbst, wieder unverheiratet sind, statt sich nur so zu fühlen, daß sie den Bann der Ehe lösen können, ohne zu zerstören, was sie verbindet, wird möglich, indem jeder sich selbst mit dem anderen betrügt. Das Ich macht sich zum »Drachen«, den es mit dem Liebhaber hintergeht, der sich seinerseits zum gehörnten Ehemann macht, indem er sich seiner Frau als Liebhaber schenkt. Einander zu hintergehen, indem man miteinander eine Affäre beginnt, die die soziale Beziehung auflöst, wird wie in einer parodistischen Kontrafaktur von Kants »Metaphysik der Sitten« als wahrhafte Treue geadelt: Weil jede Liebe ein illegitimes Verhältnis ist, muß, wer einander treu sein will, miteinander fremdgehen.
Nichts wäre daher falscher, als in der Selbstdarstellung der Erzählerin als Mädchen, das sich mit Rotwein, Geschenken und »süßer« Sprache verführen läßt, nur ein weiteres problematisches Rollenbild auszumachen. Der Text beschreibt das Miteinander-Fremdgehen im Gegenteil als Selbstherrlichkeit des weiblichen Ich: »Bin weder in dem Lokal Deine Verehrerin, noch Deine Kameradin, noch Deine Angetraute. Du bist dort mein Liebhaber, erster Liebhaber, und ich fühlte wohl in den beiden Malen, wo wir dort saßen, daß auch in Dir verborgen wie in allen Männern das Talent zum Bonvivant steckt; aber ich auch nicht alleine die Dichterin und die Tino von Bagdad bin, nicht nur der Prinz von Theben, zu guterletzt nicht nur als Jussuf der Egypter existiert habe, sondern ich auch ein ganz kleines Mädchen sein kann, das zum ersten Mal von einem Herrn zu Kempinski zum Abendbrot mitgenommen wird und Geschmack an Kaviar und Ente mit Mirabellen findet, sich aber noch schüttelt entsetzt vor der Schnecke in der geöffneten Muschel.«
Ein ganz kleines Mädchen sein zu können, ist etwas anderes, als es sein zu müssen: Als Fähigkeit widerspricht es dem vermeintlichen Schicksal des Geschlechts, das nur erlitten werden kann. Deshalb steht das Ich genau in dem Moment, wo es ein ganz kleines Mädchen sein kann, dem Mann, der es als Bonvivant verführt, nicht mehr zur Seite, ist weder »Verehrerin« noch »Kameradin« noch »Angetraute«, sondern erhebt sich zur Selbstherrlichkeit, indem es ihn zu ihrem "ersten Liebhaber« macht. Die Metaphorik der Szene (das Entsetzen vor der Schnecke in der geöffneten Muschel) exponiert die sexuelle Polarität, die ins ästhetische Spiel übertragene »Geschlechterspannung« (Reimut Reiche) als Voraussetzung für die Souveränität der Geschlechter. Ästhetischer Schein, Mode, Spiel und Koketterie, die den Sexus, dessen Stilisierungen sie sind, reflektieren und dadurch überschreiten, werden zu Formen freier Selbstentäußerung. In diesem Sinn enthält die Bejahung des Scheins, wie sie sich in der für Lasker-Schülers Werk charakteristischen Idolatrie, dem Verliebtsein ins eigene Bild und das der anderen als verlebendigende Kraft, ausdrückt ("Ich sterbe am Leben und atme im Bilde wieder auf«, heißt es in »Mein Herz«), eine Spitze gegen die protestantische Bilderfeindlichkeit einer Frauenbewegung, die im Bild, im Rollenspiel und im Klischee immer nur Beschränkungen statt Herausforderungen erkennt. Daß die Regel, die Spielteilnehmer sich selbst geben, am Ende doch dem Gesetz zum Opfer fällt, das das Spiel begrenzt, hat seinen Grund nicht darin, daß der männliche Part im weiblichen Gegenüber nur Bilder und Rollen wahrnehmen würde, sondern gerade umgekehrt darin, daß er immer nur der Realität, aber nie den Bildern, nie dem Spiel die Treue hält.
»Stutzig«, »barsch« und »unmutig«, also bieder, phantasielos und kleinkariert, fällt der Mann, der kein Bonvivant sein will, obwohl er es könnte, von der Wirklichkeit des Spiels wieder zurück in die Welt, wie sie ist. Weil er in dieser Welt »schon öfters mit kleinen Mädchen bei Kempinski soupiert« hat, die seine Frau »ihrer fanatischen Galiläerstirn wegen verspotteten«, und weil er »seine Frau« gegen solchen Spott stets verteidigte, nimmt er ihr nun – als der anderen, die sie sein will, um nicht immer nur sie selbst zu sein – sogar die Selbstverspottung übel. Die »Galiläerstirn«, Emblem einer mythischen Vergangenheit, die zur sozialen Realität im Widerspruch steht, wird im Munde der anderen »kleinen Mädchen« von der Auszeichnung, für die sie in Lasker-Schülers Werk steht, zum Stigma. Indem der Mann diese Verkehrung nur zurückspiegelt und damit verdoppelt, schlägt er den ästhetischen Pakt aus, den die Erzählerin ihm anbietet, und besiegelt seine Kumpanei mit der Realität. Nicht daß er das »Mädchen« verführen will, ist die Kränkung, mit der er das Spiel zerstört, sondern daß er es nicht will und sich eben darum auch selbst nicht verführen läßt. Während die Figur der »Mama« als begeisterte Kolportage-Leserin in Lasker-Schülers Werk die in der Passivität verkapselte Sehnsucht nach einer »süßen« Welt vertritt und der »Papa«, der seine Fertigkeiten als Architekt in stets nutzlosen, aber immer lustigen Unternehmungen vergeudet, seine Autorität nicht durch Verbote, sondern durch frohe Selbstverschwendung erringt, ist es kennzeichnend für den »Mann«, immer nur sein zu wollen, was er ist, und sich gegenüber jeglicher Herausforderung »unmutig« zu zeigen – ein Wort, das sowohl Unfreundlichkeit wie Mutlosigkeit meint und damit festhält, daß es keinen Mut ohne Freundlichkeit gibt.
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Klein, Fritz
- 3/1968 | Streitgespräch mit Friedrich Dieckmann. Anmerkungen zu Klaus Schröter, »Eideshelfer« Thomas Manns
Klein, Georg
- 6/1993 | Nicht mehr Ost - noch nicht West
- 2/2013 | Niedersachse auf Zeit. Dankrede zur Verleihung des Niedersächsischen Staatspreises 2012
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Klein, Olaf Georg
- 6/1993 | Nicht mehr Ost - noch nicht West
Klein, Wolfgang
- 4/1988 | Nachdenken über Spanien 1937
- 3/1989 | Ungebundene Menschlichkeit
- 6/1996 | Vorbemerkung zu Heinrich Mann, Félix Bertaux / Briefe
Kleinschmidt, Sebastian
- 4/1980 | Ästhetik der Erinnerung
- 2/1984 | Diskussion der Kultur - Kultur der Diskussion
- 3/1985 | Georg Lukács und die Wertabstufungen in der Kunst
- 2/1989 | Gespräch mit Ingo Arnold und Reiner Bredemeyer
- 4/1989 | Kulturzeitschrift als Idee
- 3/1991 | Gespräch mit Hans-Georg Gadamer
- 1/1999 | Gespräch mit Basil Kerski, S. 73 Leseprobe
Kerski, Basil
Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt
Basil Kerski: Das Begriffspaar »Sinn und Form« annonciert keineswegs kulturelle Unentschiedenheit oder ästhetische Wertneutralität. Welche programmatischen Vorstellungen liegen dem Titel Ihrer Zeitschrift zugrunde?
Sebastian Kleinschmidt: Titel sind Namen, und Namen sind nichts Zufälliges. Recht besehen sind sie schöpferische Formeln eigenen Wollens, des bewußten wie des unbewußten. Sie zeigen die Drehachse der Intention. Vor fünfzig Jahren hätten viele einer Programmformel mit Namen Sinn und Form kulturell zugestimmt. Heute sähe das schon anders aus, es gibt wieder starke Zweifel an so etwas wie Sinn schlechthin. Der Nihilismus ist neuerlich im Vormarsch - unvermeidliche Folge jeder säkularisierten und damit transzendenzlosen Kultur. Manche Leute halten es schon für hochgradigen Idealismus oder schlicht für Realitätsverkennung, überhaupt auf philosophischen Postulaten wie Sinn zu beharren. Das Resultat: Es gibt heutzutage weit weniger Einvernehmen über Dinge, die vermutlich sinnvoll, als über solche, die im Grunde sinnlos sind. Es herrscht Konsens in negativen Überzeugungen, nicht in positiven. Die Menschheit scheint mehr geeint in ihren Befürchtungen als in ihren Hoffnungen. Daß wir gänzlich erwartungslos wären, läßt sich nicht sagen, nur erwarten wir inzwischen wohl eher Verschlechterungen als Verbesserungen unserer Lage.
Keine sehr erfreuliche Tendenz, wie man zugeben wird. Es empfiehlt sich nicht, das geistig einfach mitzumachen. Aber Gott bewahre uns auch vorm Gegenteil, der Blauäugigkeit derer, die stets guten Mutes sind. Freilich wird man umgekehrt die heraufziehende Bewußtseinskrise, symptomatisch erkennbar am Verfall der Inhalte und der um sich greifenden Banalisierung, nicht dadurch überwinden, daß man, philosophisch oder ästhetisch, ad infinitum das Spiel der Verneinungen fortsetzt. Die Potentiale reiner Negativität sind erschöpft, die Dürftigkeiten ausschließlicher Destruktion offensichtlich. Auf diese Weise trägt man nur zur Verdüsterung des Horizonts und zur Ausweitung der Langenweile bei. Als denkende Wesen sind wir doch noch auf anderes aus, als in allgemeiner Desavouierung des Sinns zu enden. Vielleicht ist hier der geistige Grund einer Zeitschrift wie dieser. Jedermann steht unter dem Gebot, seinem Namen nachzuleben, auch wir. Wenn eine Zeitschrift Sinn und Form heißt, darf man von ihr erwarten, daß sie das Sinnproblem ernst nimmt und hier keine Blasphemie betreibt.
Kerski: Wie äußert sich diese Denkweise in der Zeitschrift? Können Sie Namen nennen, die für eine solche Geisteshaltung stehen?
Kleinschmidt: Ein wichtiger Autor in diesem Zusammenhang ist George Steiner, aber auch Hans-Georg Gadamer. Beide zählen zu denen, die philosophisch die Berechtigung der Sinnfrage klug und entschlossen verteidigen. Natürlich ist man inzwischen vorsichtiger in den Antworten, und weniger direkt. Entscheidend bleibt jedoch, die kulturelle Produktivität der Frage offenzuhalten. In der Gadamerschen Perspektive ist Sinn so etwas wie der Bezugs- und Richtungssinn unseres Verstehens - keineswegs eine teleologische Gedankenbewegung, die auf Ziele, die wir kennen, gerichtet ist und sich von ihnen her definiert. Ziel und Zukunft, in letzter Allgemeinheit, können wir nicht wissen, weder in puncto Geschichtsverlauf noch hinsichtlich unserer Lebensbahn. Das Morgen läßt sich nicht vorhersehen, sowenig wie der Traum der kommenden Nacht. Dieser Mangel an Evidenz ist für das Bewußtseinstier Mensch eine permanente Irritation, und sie treibt ihn an, grundsätzlich sprich philosophisch nach dem Sinn dessen zu fragen, was geschieht. Denn das, was wir mit diesem rätselvollen Wort Sinn nennen, liegt nicht offen zutage. Es verlangt schöpferische Interpretation.
Ursprünglich sollte die Zeitschrift übrigens »Maß und Wert« heißen, wie die von Thomas Mann gegründete, aber nicht lange bestehende Exilzeitschrift. Becher hat jedoch von Thomas Mann den Titel nicht freibekommen. Gott sei Dank, wird man aus heutigem Empfinden sagen - zu klassizistisch die Geste, zu normativ. Wir sind allergisch gegen alles, was nach Regel und Maßgabe klingt. Andererseits verdient es die normative Ästhetik nicht, einfach verdammt zu werden, denn die permissive, die derzeit in Kunstfragen offenbar das letztes Wort hat, ist längst auch zum Fluch geworden. Sie zerstört die ästhetische Urteilskraft von der Seite der Theorie her.
Kerski: Sinn und Form war und ist primär eine literarische Zeitschrift. Dennoch haben Sie das Gattungsspektrum erweitert, neben politischen und historischen sind auch philosophische und theologische Texte zu finden.
Kleinschmidt: Es gibt im westlichen Denken eine Art Bewußtseinsverengung aufs Diskursiv-Rationale. Das hat mit der Dominanz des analytisch ausgerichteten, auf Erkenntnisgewißheit zielenden cartesianischen Wissenschaftsideals zu tun. In diesem Reich überschreitet man nicht die Schattenlinie zur Metaphysik, und der Verstand gestattet weder Grundlosigkeit noch Transzendenz. Sinn und Form hat solchen Einschränkungen gegenüber sein schönes volles, sein klassisches Profil bewahren können, das sich von Prosa und Gedicht über das Gespräch bis eben hin zum philosophischen und theologischen Essay erstreckt. Wir versuchen der rationalistischen Austrocknung von Bewußtseinsdimensionen entgegenzuwirken. Je weniger Stockwerke das Bewußtseinshaus hat, aus dem heraus wir die Welt wahrnehmen, desto weniger Stockwerke hat die Welt, die uns vor Augen liegt. Man muß die Vertikale aktivieren, will man mehr sehen als bloß matters of fact und die Flächigkeit des Daseins. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo sagt: »Wir sind heutzutage alle mit der Tatsache vertraut, daß die Entzauberung der Welt auch zu einer radikalen Entzauberung der Idee der Entzauberung selbst geführt hat.« Das denkende Ich, mit Gottfried Benn zu sprechen, leidet nicht an Todesfällen, sondern am Bewußtsein. Dort, wo es die Dinge verstellt. Poetisches und religiöses Denken sind noch immer ein guter Weg ins Herz des Seienden.
Kerski: Die Geschichte Ihrer Zeitschrift spiegelt auch die Geschichte der DDR-Kulturpolitik wider. Von wem kam die Initiative zur Gründung von Sinn und Form, welche kulturpolitischen Ziele verbargen sich dahinter?
Kleinschmidt: Die Gründungsidee stammt von Johannes R. Becher, der kurz nach dem Krieg aus sowjetischem Exil nach Ostberlin zurückkehrte. Wie Sie wissen, stand er der Gruppe Ulbricht nahe, die alle wesentlichen Machtpositionen besetzte. Becher war derjenige, der die Hauptweichen für die Kulturpolitik in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, stellen sollte. Das Konzept von Sinn und Form fußte auf der Idee einer repräsentativen, auf höchstem Niveau stehenden Literaturzeitschrift, die einerseits Verständigungsorgan der sozialistischen Intelligenzia nach innen, andererseits kulturelles Aushängeschild des neuen Staates nach außen, also auch mit Blick auf die westlichen Zonen, die spätere Bundesrepublik, sein wollte.
In den zwölf Jahren NS-Diktatur waren die Deutschen von vielen geistigen Strömungen abgeschnitten, und es gab nach dem Krieg enormen Nachholbedarf, der auch durch Zeitschriftengründungen wie Sinn und Form befriedigt werden sollte. Notwendig war vor allem, sich über Lüge und Verblendung, Fanatismus und Verbrechen klarzuwerden. Aufklärung war gefragt. Becher gewann als Chefredakteur den parteilosen Dichter Peter Huchel, einen Mann der inneren Emigration. Schließlich sollte Sinn und Form kein Parteiorgan sein. Nach Meinung Bechers war sozialistische Kulturpolitik zwar grundsätzlich ideologisch ausgerichtet, aber nicht in sektiererischer Weise. Becher war Lukácsianer und insofern Gegner jeder Art von Proletkult.
Kerski: In den Anfangsjahren wurden in Sinn und Form nicht nur marxistische Schriftsteller gedruckt. Exil beziehungsweise klare Distanz zum Nationalsozialismus war aber ein entscheidendes Kriterium bei der Auswahl der Autoren. Aus heutiger Sicht ist interessant, daß Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine Zeitschrift mit gesamtdeutschem Anspruch war.
Kleinschmidt: Die deutsche Frage wurde von Stalin aus außenpolitischen Gründen bewußt offengehalten. Was natürlich nicht heißt, daß es in der DDR eine freie Diskussion über die Zukunft der beiden deutschen Staaten gegeben hätte. Das Offenhalten der deutsche Frage durch Ulbricht war die sowjetkonforme Strategie einer zur damaligen Zeit keineswegs kommoden Diktatur, das darf man nicht vergessen. Solange Ulbricht für die Wiedervereinigung votierte, war Wiedervereinigung auch Befehl. Auf die literarische Kultur wirkte sich diese Deutschlandpolitik zum Teil günstig aus. In der Philosophie allerdings, der harten Spitze der ganzen Bewußtseinspyramide, gingen die Freiräume gegen Null.
Kerski: Wie wurde Sinn und Form im Westen aufgenommen? Ein Teil der Auflage wurde ja gratis in den Westen verschickt.
Kleinschmidt: Das Echo auf Sinn und Form war im Westen von Anfang an stärker und lebhafter als im Osten. Das ist bis heute so geblieben, wenn man zum Beispiel an Besprechungen in Zeitungen und im Rundfunk denkt.
Kerski: Enzensberger behauptet, daß angesichts der kulturellen Monotonie und Verschlafenheit der frühen Wirtschaftswunderjahre unter Adenauer für ihn als jungen westdeutschen Schriftsteller Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle spielte.
Kleinschmidt: Gewiß doch, Sinn und Form in den fünfziger Jahren, das hieß Brecht, Eisler, Bloch, Lukács, Hans Mayer, Werner Krauss, Paul Rilla, Wolfgang Harich, Ernst Fischer, Georg Maurer, Feuchtwanger, Zweig, Hermlin, Bobrowski. Was Westdeutschland betrifft, würde ich diese Zeit allerdings nicht so abschätzig beurteilen. Denken Sie nur daran, daß an den Universitäten und in der Öffentlichkeit damals Gelehrte wie Jaspers, Adorno, Heidegger, Gadamer, Löwith, Georg Picht, Hellmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Robert Curtius oder Dolf Sternberger wirkten, daß Autoren wie Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Arno Schmidt oder Heinrich Böll, daß Kritiker wie Günter Blöcker oder Friedrich Sieburg publizierten.
Kerski: Drei Persönlichkeiten prägten in den Gründungsjahren Sinn und Form: Becher, Huchel und Brecht. Eine interessante, widersprüchliche Gestalt ist Johannes R. Becher. Aus großbürgerlichem Hause stammend, hat er sich schon in jungen Jahren zunächst als Sozialist, dann als Kommunist politisch engagiert. Seit dem Moskauer Exil war er eng mit Ulbricht verbunden. Obwohl Becher sich und sein Werk gänzlich in den Dienst der kommunistischen Ideologie stellte, finden seine frühen expressionistischen Gedichte weiterhin die Anerkennung von nichtmarxistischen Kritikern.
Kleinschmidt: Becher hat in den dreißiger Jahren mit dem Expressionismus gebrochen und den Übergang zum Neoklassizismus vollzogen. Mag er aus Sicht der Literaturkritik als expressionistischer Dichter bedeutend sein oder nicht, mir stehen hier Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Georg Trakl näher. Becher ist, bei aller Kunstfertigkeit, zu sehr Rhetoriker im Gedicht, zu sehr Pathetiker, nicht selten zu sehr Politiker. Dennoch hat er einige tiefe, liedhaft einfache und unvergeßliche Verse geschrieben, wie zum Beispiel »Deutschland, meine Trauer«. Hanns Eisler hat sie vertont, und Ernst Busch hat sie gesungen.
In der Stalinzeit war Becher sowohl als Dichter wie auch als Kulturpolitiker sehr gefragt. Ich glaube, zumindest nach dem, was ich gelesen und gehört habe, daß er alles andere als ein unerschrockener Mensch war. Sinn und Form hat 1990 ein Gespräch mit Lukács über Becher veröffentlicht, das 1967 in Budapest geführt wurde. Dort spricht Lukács von der Lord-Jim-Panik Bechers. Joseph Conrads »Lord Jim« ist die Geschichte des wiederholt in Extremsituationen auf Ehre und Furchtlosigkeit geprüften jungen englischen Schiffsoffiziers Jim, eines Träumers, der in einer imaginären Welt heroischer Taten lebt und im Augenblick der Bewährung versagt, einmal aus Panik, in die ihn seine an Künstlerschaft grenzende Gabe blitzschneller, vorwegnehmender Phantasie stürzte, einmal durch Zaudern. Becher war gleichfalls ein im Guten wie im Bösen höchst phantasiebegabter Mensch, der sich unausweichlich vor die Eigendynamik seiner Vorstellungskräfte gestellt sah, die je nach Situation entweder zur Euphorie oder zur Panik eskalierten. In beiden Fällen wird der Spielraum des Handelns falsch vermessen, im ersten wird er illusorisch überschritten, im zweiten angstvoll unterschritten. Becher geriet nun bei jederart Konflikt oder Gefahr auf der Stelle in so heillose Angst - nicht aus einfacher Feigheit, nicht aus demütigender, die Niederlage antizipierender Furchtsamkeit, sondern weil seine Phantasie ihm die möglichen Konsequenzen in den grellsten Farben zeigte -, daß er keinerlei Risiko einzugehen bereit war.
Nun muß man wissen, der psychische Grundstoff, aus dem Diktaturen gemacht sind, ist Angst, tiefsitzende Angst, und zu deren Wesen gehört, daß man sie sich und anderen nicht eingesteht. Und so wirkt ihr Gift um so stärker, nicht nur unter den Beherrschten, sondern auch unter den Herrschenden. Das hat Becher in der Hochphase des Stalinismus im Moskauer Exil überdeutlich erfahren. Nach Meinung von Lukács hat Becher nicht einmal die spärlichsten Freiräume zu durchschreiten gewagt, weil er stets vermied, mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen. Wer das aber nicht riskiert, weiß gar nicht, wo die Wand steht, und wird auch nie wissen, wie weit man gehen kann. Stets wird er zu früh haltmachen.
Kerski: Gibt es Zeugnisse, daß Becher seine Situation reflektiert hat?
Kleinschmidt: Ja, die gibt es. Wir haben 1988 in Sinn und Form einen für DDR-Verhältnisse äußerst kritischen und auch selbstkritischen Text Bechers über den Stalinismus aus dem Jahre 1956 veröffentlicht, was akademieintern zu einer scharfen Diskussion und zu Angriffen der Kulturabteilung des ZK führte. Becher beschreibt hier den Sozialismus als weltgeschichtliche Tragödie großen Stils, an tragischem Gehalt der antiken überlegen. Er spricht von den Verbrechen, der Heuchelei, von seiner Mitschuld, seinem Schweigen, seiner Lebenslüge. »Ich kann mich nicht darauf hinausreden, daß ich davon nichts gewußt hätte. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich davon nichts wissen wollte. Ich ahnte nicht nur, oh, ich wußte!« Er hat den Text 1957 aber nicht zum Druck freigegeben. So schlummerte er dreißig Jahre im Archiv. Ich habe einmal mit Gadamer über Becher gesprochen. Gadamer hatte 1946/47 während seiner Leipziger Rektoratsjahre mehrfach Gelegenheit, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Er sah, wie verzweifelt der Mann war, wie wenig Illusionen er sich letztlich über die barbarischen Züge des russischen Kommunismus machte. Doch er war ein schwacher Charakter. An Intelligenz hat es ihm nicht gefehlt, also auch nicht an der Fähigkeit zum Selbstbetrug.
Kerski: Der erste Chefredakteur der Zeitschrift war der Dichter Peter Huchel. Könnten Sie ihn kurz charakterisieren?
Kleinschmidt: Peter Huchel war ein Segen für Sinn und Form. Als Dichter ist er eine der großen Gestalten der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen Versen, sehr einsamen und melancholischen Chiffren der Natur - einer Art Existenzerhellung vor dunklem Grund -, der Melodik seiner Sprache, in seiner Poetologie der Metapher und des Klangs, dem dichterischen Selbstgespräch mit sich und seiner Zeit, dem poetischen Befragen der Geschichte, ist er von eindrucksvoller Präsenz. Den Test des Wiederlesens besteht er glänzend, jedenfalls mit seinen besten Sachen. Er war kein Essayist, hat aber neben dem literarischen auch den philosophischen Essay in Sinn und Form gepflegt, was in der deutschen Kulturtradition, im Gegensatz zur französischen, für Literaturzeitschriften nicht ganz selbstverständlich ist. Huchels erzwungener Rücktritt als Chefredakteur fällt politisch gesehen zusammen mit dem Mauerbau von 1961 und dem sich daran anschließenden Versuch einer Neudefinition der DDR als sozialistischer Nationalstaat. Damit war es in kultureller Hinsicht mit der gesamtdeutschen Perspektive zu Ende. Huchel lebte seit Herbst 1962 fast zehn Jahre lang gänzlich isoliert und unter Stasi-Observierung in Wilhelmshorst bei Berlin. 1971 durfte er die DDR verlassen und zog nach Süddeutschland. Er starb 1981.
Nebenbei bemerkt hat die Zeitschrift in Heft 5/1992 in einem achtzigseitigen Konvolut von Reden, Briefen, Protokollen, Vorlagen und Aktenvermerken der Jahre 1960 bis 1963, die wir im Archiv der Ostberliner Akademie der Künste und im Zentralen Parteiarchiv der SED fanden, den Fall Peter Huchel ausführlich dokumentiert. Die Quellen bezeugen Punkt für Punkt, wie man einem integren Mann auf schäbige Weise eine Arbeit aus den Händen schlug, an der sein Herz hing und für die er die ideale Begabung besaß. Wir haben uns, angeregt durch die Literaturabteilung der Akademie und aus Anlaß des 50. Jahrestages von Sinn und Form, übrigens dazu entschlossen, Peter Huchel als Gründungschefredakteur künftig im Impressum auszuweisen. Die Zeitschrift ist es sich schuldig. Huchel hat sie wie kein zweiter geprägt. Er hat den Stil begründet, das Erlesene, Distanzierte, in gewissem Sinne Unpolitische, die Balance zwischen Gedicht und Gedanken, den Ernst.
Kerski: Huchel konnte als Chef der Akademiezeitschrift nur dank des Schutzes von Bertolt Brecht überleben. Besonders nach 1953 erkennt man in Brechts Engagement für Sinn und Form dessen recht ambivalentes Verhältnis zum realsozialistischen Staatswesen.
Kleinschmidt: Brecht ist ein Autor, der der DDR gegenüber loyal war. Mancher behauptet, daß er am Lebensende innerlich den Bruch mit dem ostdeutschen Staat vollzogen hätte. Davon kann keine Rede sein. Brecht hat, bei aller Kritik an den Zuständen, aus quasi geschichtsphilosophischer Überzeugung für die DDR optiert. Er war ein origineller marxistischer Denker, ein sozialistischer Schriftsteller aus echtem Selbstdenken heraus, und das war immerhin selten. Brecht kannte die Schriften der Häretiker, und er kannte eine Menge Leute, die von der Partei verstoßen waren. In schwierigen kulturpolitischen Diskussionen hat er sich mehrfach, oft listenreich, an die Seite derer gestellt, die energisch für eine Ausweitung der Freiräume eintraten. Das war schon viel, und das stärkte auch Huchel und Sinn und Form den Rücken. Wiederholt setzte er sich, als Huchel in höchster Bedrängnis war und von niemandem mehr verteidigt wurde, wirkungsvoll für ihn ein. Brecht verstand sich bei alldem als strikter Marxist, als Lehrer des Kommunismus. Obwohl er die Machthaber als Gleichgesinnte ansah, hat er doch die Fehler im bürokratisch organisierten Sozialismus einigermaßen deutlich erkannt. Er ist ganz bewußt nicht ins sowjetische Exil gegangen, und auch eine Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei kam für ihn nicht in Frage. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, in die DDR zu gehen, waren wohl die Anfeindungen im Westen und natürlich die hervorragenden Arbeitsbedingungen in Ostberlin. Schließlich bot man ihm ein eigenes großes Theater.
Kerski: Auch nach der Absetzung Peter Huchels geriet Sinn und Form immer wieder in die Schußlinie der Parteiideologen.
Kleinschmidt: Es hat des öfteren Krach gegeben, mehr oder weniger schweren. Das hing mit bestimmten Texten zusammen. So haben wir zum Beispiel häufiger Arbeiten junger DDR-Autoren gedruckt, die von Verlagen abgelehnt worden waren. Wir versuchten immer wieder Texte zu veröffentlichen, von denen wir wußten, daß sie Grenzen überschritten. Wir haben Konflikte riskiert, weil wir die Erfahrung gemacht hatten, daß entscheidende Leute in der Akademie der Künste, die ja Sinn und Form herausgab, zu uns standen. Das ideologische Klima in der Akademie war in den siebziger und achtziger Jahren weniger frostig als in anderen zentralen Institutionen, was vielleicht damit zusammenhing, daß für die Obrigkeit Kunst und Literatur nicht länger als unmittelbar zur sozialistischen Machtausübung gehörende Bereiche angesehen wurden. Im Rahmen der DDR-Verhältnisse war die Akademie möglicherweise einer der freiesten Orte. Die Zeitschrift hatte das Privileg, für das, was sie druckte, kein Plazet einholen zu müssen. Sie brauchte, theoretisch betrachtet, niemanden fragen. Die Redaktion konnte in gewissem Sinne frei entscheiden. Es gab also für uns keine Zensur oder Vorzensur, allerdings, und das regelmäßig, eine nachträgliche Bewertung. Einschätzung nannte man das, sie wurde übrigens vorgenommen von der Abteilung Kultur im Zentralkomitee der SED, drei bis vier Seiten, Nummer für Nummer, und gelangte, wie wir nach der Wende erfuhren, direkt auf den Tisch des für Ideologie und Kultur zuständigen Politbüromitglieds Kurt Hager. Nach heiklen Beiträgen kam es dann mitunter zu Konflikten, nicht selten mußte sich der Chefredakteur vor dem Sekretariat des ZK verantworten. Den Redakteuren, sofern sie Mitglieder der SED waren, wurden gelegentlich Parteiverfahren angedroht. Mitte 1988, in der Gorbatschow-Zeit, nach Veröffentlichung des erwähnten stalinismuskritischen Becher-Textes, wurde sogar laut über das Verbot der Zeitschrift nachgedacht.
Im Vergleich zur DDR war Polen, ich sage das, weil Sie Pole sind, in seinen inneren Verhältnissen sicherlich freier. Mit der katholischen Kirche gab es immerhin eine große institutionalisierte alternative Ideologie im Lande. Auch in Ungarn war das geistige Leben freier, jedenfalls seit den siebziger Jahren. Andererseits muß man feststellen, daß es in den fünfziger Jahren in der DDR weniger stalinistisch hart zuging als in den osteuropäischen Nachbarstaaten, was mit der schon erwähnten offenen deutschen Frage zusammenhing. Die DDR war schon damals unter ständiger direkter Beobachtung des Westens. Man konnte sich also nicht jede Dummheit und auch nicht jede Härte leisten.
Kerski: Angesichts der Bewegungslosigkeit in der DDR wird oft vergessen, daß der erste große Arbeiterprotest des Sowjetblocks 1953 in der DDR stattfand.
Kleinschmidt: Die Ereignisse von 1953 waren für alle Beteiligten ein traumatisches Erlebnis, das einerseits der Bevölkerung, andererseits der Partei zeigte, wo die Grenzen der Freiheit lagen. Bei jedweder parteiinternen Diskussion über Liberalisierung tauchte fortan der 17. Juni 1953 als Menetekel auf. Das erklärt vielleicht auch die anhaltende Lähmung und geistige Bewegungslosigkeit der DDR bis hin zu ihrem schließlich für alle überraschenden Ende.
Kerski: In welcher Beziehung steht Sinn und Form heute zu Ostdeutschland? Wir sprachen bereits vom weiträumigen Blick Ihrer Zeitschrift auf Kunst und Literatur, über das Überschreiten von Grenzen. Mir fällt noch auf, daß im Gegensatz zu westdeutschen Zeitschriften Sinn und Form bei der Auswahl der Autoren nicht westfixiert ist, daß Stimmen aus Mittel- und Osteuropa stark präsent sind. Adam Krzemin´ski, ein genauer Beobachter der deutschen Öffentlichkeit, schrieb kürzlich: »Ich muß gestehen, daß ich die Beharrlichkeit und Skrupulosität bewundere, mit der Sinn und Form den Deutschen die geistigen Räume unseres europäischen Kontinents erschließt. Bei uns tut dies auf diese Art und Weise leider niemand. Wir haben keinen blassen Schimmer, wie die Tschechen, die Ungarn oder die Rumänen denken.« Ist Sinn und Form der intellektuelle Beitrag der untergegangenen DDR zur neuen gesamtdeutschen Kultur?
Kleinschmidt: Die Zeitschrift war zu DDR-Zeiten eine Insel und ist es in gewisser Weise auch heute wieder, freilich Insel in sehr unterschiedlichen Meeren. Nach der Wiedervereinigung haben wir viele Leser gerade im Osten verloren, leider. Das immer mehr verblassende DDR-Milieu ist in seiner geistigen und kulturellen Spezifik natürlich ohne die vielen offenen und verdeckten Bezüge auf linke ideologische Schablonen nicht zu denken. Davon hat sich Sinn und Form nach der Wende freizumachen gesucht. Außerdem haben wir uns mit den dunklen Seiten der DDR-Vergangenheit, einschließlich der der Geschichte der Akademie, auseinandergesetzt. Zugleich hat sich Sinn und Form philosophisch und natürlich auch politisch (soweit man das von einer im Grunde genommen unpolitischen Zeitschrift sagen kann) radikal geöffnet und druckt keineswegs ausschließlich linke Autoren, wie es früher Prinzip war. Das hat manche irritiert. Dabei geht es doch darum, die naive, ideologisch selbstgefällige Wahrheitsgewißheit in der Welt- und Geschichtsbetrachtung aufzugeben, um die Probleme unbefangen und so perspektivreich wie möglich zu sehen. Insofern kann man sagen, daß Sinn und Form keine Richtungszeitschrift ist. Es treffen hier also Standpunkte aufeinander, die sich sonst nicht ohne weiteres begegnen. Mit der alten DDR hat die Zeitschrift aus naheliegenden Gründen heute immer weniger zu tun, und sie unterscheidet sich wohl auch deutlich von dem, was im Westen das Landläufige ist.
Kerski: Mich hat die Intensität des intellektuellen Lebens in der DDR während der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung, die sich ja auch in vielen Zeitschriften- und Verlagsgründungen manifestierte, sehr beeindruckt. Mittlerweile beobachte ich im Osten Deutschlands eine gewisse geistige Immobilität, einen Mangel an Offenheit.
Kleinschmidt: Ich habe die Jahre der Wende als eine Ekstase des Lernens erlebt. Solche Umbrüche sind wie Gewitterblitze, die jäh die nächtliche Landschaft erhellen. Man sieht in großer Klarheit, was man nie zuvor gesehen hat. Inzwischen hat sich das Leben wieder eingetrübt. Das Hochgefühl von Transparenz und Vitalität, der Schwung des großen Aufbruchs, mental wie politisch, ist vorbei, erlegen dem Siegeszug der neuen Interessen und neuen Sorgen. Wir leben nun in der offenen Gesellschaft, doch nicht unbedingt in einer Gesellschaft der Offenheit. Naivität und Charme der Wendejahre sind verflogen. Das ist schade, doch in gewissem Sinne unvermeidlich. Umbruchszeiten sind ihrer Natur nach von kurzer Dauer. Auf Staat und Gesellschaft bezogen heißt dies, daß die Zeit, da Institutionen unmittelbar formbar waren, hinter uns liegt. Festigkeit tritt wieder an die Stelle von Formbarkeit. Das muß nicht Erstarrung bedeuten. So ist das mit den Rhythmen der Geschichte. Man kann nichts gegen sie machen. Man muß sie hinnehmen. Was ja nicht besagt, auf das Handeln zu verzichten. - 1/1999 | Gespräch mit Basil Kerski
- 6/1999 | Pathosallergie und Ironiekonjunktur
- 6/2001 | Weil die meisten Menschen etwas Merkwürdiges haben
- 2/2002 | Gewißheit der Ungewißheit. Hartmut Langes Poetik der Irritation
- 2/2003 | Innere Sprache, inneres Kind. Laudatio zum Anna- Seghers-Preis auf Lutz Seiler
- 2/2004 | Briefwechsel Erhart Kästner und Gerhard Nebel. Vorbemerkung Sebastian Kleinschmidt
- 6/2006 | Gespräch mit Daniel Kehlmann
- 2/2010 | Sechzig Jahre Sinn und Form, S. 73 Leseprobe
Kleinschmidt, Sebastian
Sechzig Jahre SINN UND FORM
Was das Erreichen des sechzigsten Jahres im Leben eines Menschen bedeutet, kann man in etwa sagen. Auch ich könnte es, bin ich doch aller Voraussicht nach der letzte Leiter von Sinn und Form, der älter als die Zeitschrift ist. Aber nehmen wir Brecht, den Schutzherrn ihres ersten Dezenniums. Er wurde zwar nicht sechzig, aber er hatte Ideen dafür. In dem letzten Gespräch, das Caspar Neher mit ihm führte und von dem er im zweiten Brecht-Sonderheft 1957 berichtet, sprach Brecht von seinen Plänen für das Alter: »Wenn wir sechzig sind, haben wir allerhand hinter uns, da wollen wir manches sein lassen, was wir jetzt noch zu tun haben. Dann wollen wir uns wieder, wie in unserer Jugend, an Gesprächen delektieren, zu denen man leider jetzt viel zu wenig kommt. Es wird an der Zeit sein, sich zurückzuziehen.«
Oder nehmen wir den römischen Kaiser Hadrian, wie ihn Marguerite Yourcenar in ihrem Roman »Ich zähmte die Wölfin« wieder zum Leben erweckt hat, jene Marguerite Yourcenar, mit deren Essay »Träume und Schicksale« das Jubiläumsheft zum 60. Jahrestag von Sinn und Form eröffnet. In diesem wunderbaren Roman, der aus einem dreihundert Seiten langen fiktiven Brief besteht, den Hadrian an seinen Adoptivenkel, den späteren Kaiser Marc Aurel, schreibt, ist gleich zu Beginn von einem Arztbesuch die Rede, von Herzwassersucht, geschwollenen Beinen und vom Ringen nach Luft. Hermogenes, der Arzt, glaubt Hadrian, seinen Patienten, »mit Redensarten trösten zu sollen, zu nichtssagend, als daß sie den Leichtgläubigsten täuschen könnten«. Obwohl Hadrian diese Art von Betrug verabscheut, verzeiht er dem ergebenen Diener den Versuch, ihm seinen baldigen Tod zu verheimlichen. Natürlich wissen beide: die gesetzte Grenze überschreitet niemand. Hadrian schreibt dem Enkel: »Ich bin ein Mann von sechzig Jahren.« Und dann folgen eindrucksvolle Reflexionen über das Näherrücken des Todes: »Es bedeutet nichts, wenn wir uns sagen, daß unsere Tage gezählt sind, denn so war es von je und so ist es noch heute für alles, was atmet. Je mehr aber die Krankheit fortschreitet, je mehr verringert sich die Ungewißheit über Ort, Zeit und Todesart, die uns das Ziel verbirgt, dem wir unablässig entgegengehn. … Wie der Reisende, der das Inselmeer durchschifft, die Uferlinie im Abenddunst aufleuchten sieht, sehe ich allmählich den Umriß meines Todes Gestalt annehmen. Schon gleichen manche Gebiete meines Lebens den ausgeräumten Sälen des zu großen Palastes, den der verarmte Besitzer nicht mehr ganz bewohnt.«
Hadrian führt seinem Enkel vor Augen, welchen Lieblingsbeschäftigungen er schon lange nicht mehr nachgeht, er jagt nicht mehr, er reitet nicht mehr, er schwimmt nicht mehr. Dann kommt er auf die Nächte zu sprechen: »Von den Freuden, die ich allmählich misse, ist der Schlaf eine der herrlichsten und dabei einfachsten. Ein Mann, der auf seinem weichen Kissen nur wenig und unruhig schläft, hat volle Muße, über diese Wohltat nachzusinnen.«
Womit wir beim Thema wären, dem zweifachen des heutigen Abends, dem sechzigsten Jahrestag von Sinn und Form und der Metaphysik der Schlaflosigkeit.
Nachdem wir hörten, was das Erreichen des sechzigsten Jahres für einen Menschen bedeutet oder bedeuten kann, haben wir nun zu fragen, was das Erreichen des sechzigsten Jahres für eine Zeitschrift bedeutet. Das ist schwer zu sagen, und zwar deshalb, weil man das Durchschnittsalter von Zeitschriften nicht kennt und ihre Lebensfristen nicht abschätzen kann. Vom Menschen sagt der Psalmist: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.« Vor dem Hintergrund dieser Fristen markieren wir die Lebensstufen des Menschen, nämlich Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Uralter.
Aber wie alt ein literarisches Periodikum werden kann, wissen wir eben nicht, jedenfalls nicht, solange es erscheint. Natürlich gilt auch hier, was überall gilt: die Dinge kommen und gehen. Selbst viele der besten und berühmtesten Literaturzeitschriften sind nicht alt geworden. Nehmen wir Schillers »Horen«, zwei Jahre, Wielands »Teutscher Merkur«, sechzehn Jahre, Schlegels »Athenäum«, zwei Jahre, Kleists »Berliner Abendblätter«, zwei Jahre, Jaspers’
»Wandlung«, vier Jahre, Bubers »Kreatur«, vier Jahre, Thomas Manns »Maß und Wert«, vier Jahre, Alfred Anderschs »Texte und Zeichen«, drei Jahre, Enzensbergers »Transatlantik«, dreizehn Jahre. Aber einige Periodika sind alt geworden, ein paar sogar sehr alt. Bohrers und Scheels »Merkur « erscheint seit 1947, Michael Krügers »Akzente« seit 1954, »Die Neue Rundschau « des S. Fischer Verlags seit 1890. Und in den Niederlanden gibt es »De Gids«, zu deutsch der Leitfaden, der seit 1837 erscheint.
Die Gründe für diese extrem unterschiedliche Lebensdauer von Literaturzeitschriften sind vielfältig, Geldmangel, Redakteursmangel, Lesermangel, Ideenmangel, Lustlosigkeit. Zeitschriften sterben also entweder an finanzieller oder an personeller oder an geistiger Erschöpfung. Aber es gibt noch andere Ursachen. Zum Beispiel Währungsreformen und Generationswechsel. Nicht zu vergessen Revolutionen. Nichts ist für eine Zeitschrift so gefährlich wie ein plötzlicher geschichtlicher Umbruch. Ich weiß, wovon ich rede.
Auch Sinn und Form, die nun sechzig Jahre alt gewordene Zeitschrift der Akademie der Künste, hat einen Epochensturz erlebt. Die meisten Zeitschriften überleben ihn nicht, weil sie zusammen mit dem Ancien régime, der über Nacht schal gewordenen alten Welt, untergehen.
Wer sich heute der Revolution von vor zwanzig Jahren erinnert, einer Revolution, die nicht nur das Ende des kommunistischen Zeitalters bedeutete, sondern auch den Weg freimachte für die Wiedervereinigung des zweigeteilten Deutschland, der muß immer wieder darüber staunen, daß dies alles friedlich und ohne jene Schrecken vonstatten ging, die üblicherweise mit Revolutionen, mit der Leidenschaft ekstatischer Massen, ihrem Haß, ihrer kollektiven Gewalt, ihrer geistigen Bedenkenlosigkeit verbunden sind. Wo gab es je so einsichtsvolle, sanftmütige, disziplinierte und höfliche Revolutionäre? Und wo gab es je einen so demutsvollen und geräuschlosen Abgang von Staaten, ein so ergebenes Sich-Fügen ins geschichtliche Abtreten, ein derartiges In-sich-Zusammensinken von Macht? Und vergessen wir nicht, diese Macht war kein nur ins Agitieren, Propagieren und Dekretieren verliebter Orden gutgläubiger Parteisekretäre, das war ein waffenstarrendes Regime, das alle Kommandohöhen der Gesellschaft besetzt hielt und niemandem gestattete, es zur Rede zu stellen.
Besonders prekär war die Lage hinsichtlich der geistigen Produktion. Wer sagt, im Kommunismus herrschte die Lüge, sagt nicht die Unwahrheit. Aber wie abgedroschen klingt das. Wer aber liest, was Erwin Strittmatter in seinem Tagebuch unter dem Datum 8. April 1978 notierte, wird die ganze Heillosigkeit der Verhältnisse wieder vor sich sehen: »Der Roman (gemeint ist ›Wundertäter III‹ – S. K.) ist abgegeben, aber ich gehe umher wie ein Mörder, der bangt, daß man seine Tat bald entdecken wird. Kann es soweit kommen, daß ein Mensch fürchtet, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er aufschreibt, was er in seiner Umgebung und in seiner Gesellschaft, in der er lebt, durchschaute und erkannte? Das ist so, weil ich bereits in der zweiten Diktatur lebe und weil in beiden Diktaturen (auch in der zweiten, von der ich etwas erhoffte) nach dem Grundsatz gehandelt wird: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, und wer uns kritisiert, ist ein Abgesandter des Feindes. Ob Rechts-, ob Links-Diktatur, in beiden wird der Geist vergewaltigt. In der einen wird der anderen vorgeworfen, dass sie den Menschengeist knechtet, und umgekehrt. Wie kann ein denkender Mensch das gutheißen? Er heißt es nicht gut, doch allmählich bildet sich in ihm das Gefühl heraus, ein Ketzer, ein Verbrecher zu sein. Er ist allein, und derer, die der Diktatur lobsingen, sind viele.«
Es versteht sich, daß ein solcher Eintrag in der DDR nirgendwo hätte erscheinen können, auch nicht in Sinn und Form, jedenfalls nicht vor dem Herbst 1989. Daß wir des gewaltlosen Endes dieses Staates ansichtig werden durften auf der Bühne der Geschichte, einer Bühne, auf der es normalerweise ohne Blut und Tränen nicht abzugehen pflegt, ist ein Glück. Und ein geistiges Glück zudem, gerade auch wenn man weiß, daß der Geist nicht nur in Diktaturen unter Druck geraten kann.
Hegel, unser größter Geschichtsdenker, hat gesagt, die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr. Wie wohltuend, daß er hier einmal irrte.
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SINN UND FORM 2/2010, S. 273-275
- 2/2011 | Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz, S. 73 Leseprobe
Kleinschmidt, Sebastian
Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Matthias Weichelt
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der anthropologischen Medizin. Was haben wir uns darunter vorzustellen?
DIETER JANZ: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was medizinische Anthropologie bzw. anthropologische Medizin ist, aber versuchen wir es. Die drei Stücke, die Viktor von Weizsäcker 1927 für die »Kreatur« verfaßt hat, nämlich »Der Arzt und der Kranke«, »Die Schmerzen« und »Krankengeschichte«, nannte er Stücke einer medizinischen Anthropologie. Und dort sagt er, das Urphänomen der medizinischen Anthropologie und der Hauptgegenstand ihres Wissens sei der kranke Mensch, der eine Not hat, der der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft. Und dieser Ursprungssituation sollte das Verhältnis von Krankheit und Medizin entsprechen. Die Medizin, wie sie gelehrt wird, ist eine Medizin, die sich mehr einem Etwas zuwendet als einem Jemand. Dieses Gewichtsverhältnis zu ändern, das heißt die Beziehung zwischen Arzt und Krankem menschlich ernst zu nehmen, ist die Absicht einer anthropologischen Medizin. Bis hierhin ist das alles sehr einfach. Der nächste Schritt, der nächste Gedanke ist, sich zu fragen, was unterscheidet den kranken Menschen der anthropologischen Medizin vom Patienten der Schulmedizin? Antwort: daß man ihn als Objekt begreift, das ein Subjekt enthält, und daß der Arzt dieses Subjekt anerkennt. Und nun beginnt ein Gespräch. Die Anamnese aus der Schulmedizin gilt natürlich auch in der anthropologischen Medizin. Aber hier wird sie zum Gespräch, in der Schulmedizin ist es eine Erhebung. Eine Erhebung von Tatsachen nach einem gewissen Schema, zuerst Familiengeschichte, also Auflistung der Krankheiten der Eltern und Geschwister, dann der Kinderkrankheiten, der Geschlechtskrankheiten und anderer Leiden, schließlich der Operationen, während in der anthropologischen Medizin der Arzt fragt: Wo fehlt es? Oder, was fehlt Ihnen? Und dann aufmerksam lauscht. Das Lauschen ist eine außerordentlich bedeutsame ärztliche Handlung, auch weil sie alle möglichen Nebentöne mithört. Und das, was der Kranke sagt, führt hin auf den Weg zur Heilung, denn er ist es doch, der gesund werden will. Hinzu kommt, daß der Patient mehr von der Krankheit weiß als der Arzt, Dinge weiß, die sich erst im Gespräch erschließen. Und so beginnt der Arzt mit den einfachen, im gewissen Sinne klassischen Fragen: wo, wann, was und warum? Also wo. Wo spüren Sie etwas? Das geht erst mal auf die Anatomie zu, wobei die objektive Anatomie eine andere ist als die subjektive, das muß man im Auge haben. Dann das Wann. Wann ist das passiert, wann haben Sie das zuerst wahrgenommen, wann spüren Sie das, wann tritt das auf? Dieses Wann meint mehr als nur die Zeitangabe, es zielt auf den Kontext der Situation, in der die Symptome sich zuerst und dann immer wieder zeigten. Dann geht es zum Was, zur Art der Beschwerde. Mechthilde Kütemeyer, eine befreundete Ärztin, hat mir mal erzählt, daß man aus der Heftigkeit, mit der der Kranke seine Schmerzen schildert, auf die Dramatik des Traumas schließen kann. Also auch Nuancen spielen eine Rolle. Und schließlich kommt die letzte Frage, die Frage nach dem Warum. Im schulmedizinischen Verständnis ist das eine Frage nach der Ursache, im anthropologischen aber eine nach dem Sinn. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Empirisch gibt es darauf ganz bezeichnende Antworten. Zum Beispiel eine solche: Das müssen Sie doch wissen. Das ist oft ein Hinweis darauf, daß der Kranke nicht mitmacht bei der Ursachenfindung, er bietet das Symptom, und der Arzt soll damit umgehen. Aber so geht das in der anthropologischen Medizin eben nicht. Und nun fragt der Arzt: Was meinen Sie denn, wo das herkommt? Und es ist erstaunlich, was da so herauskommt. Zunächst die Spitzen: Daß man überhaupt so was gefragt wird. Dann die Scheu zu sagen, was man sich selber dabei gedacht hat. Das sind aber Abwehrversuche, die man überwinden muß als Frager. Damit darf man sich nicht zufriedengeben, sondern muß weiter insistieren, und zwar in einer Weise, die es dem anderen erlaubt, ungeniert auch dumme Sachen zu sagen. Und die dummen Sachen sind oft die, die helfen, einen Weg zu finden. Das gilt auch für organische Krankheiten. Es kommt vor, daß sich hier eine psychoneurotische Konstellation anschultert. Zum Beispiel bei Kranken mit einer Multiplen Sklerose oder mit Gelenkrheumatismus. Wenn man fragt, wo das ihrer Meinung nach herkommt, kann einem gleich ein ganzes Familiendrama erzählt werden. Wenn man die Biographik bei chronischen Krankheiten studiert, muß man die erste Schicht wegnehmen, um zu einer tieferen zu gelangen. Zuerst kommen etwa Aggressionen gegen einzelne Familienmitglieder zur Sprache, deren Berechtigung zweifelhaft ist. Und erst dann erscheint vielleicht etwas von Bedeutung, das man in Pathogenese und Therapie einbeziehen sollte. Also das ist die Frage nach dem Warum. So fein sind die Unterschiede zwischen Schulmedizin und anthropologischer Medizin. Das philosophische Gerüst – besser die ärztliche Einstellung – dahinter ist entscheidend. Das gilt besonders für die Sinnfrage. Die kann ja nur gestellt werden, wenn der Arzt eine Vorstellung hat, was der Sinn sein könnte, und wenn der Kranke bereit ist, mitzudenken. Man braucht ja vom Sinn nicht gleich eine umfassende Vorstellung zu haben. Es muß sich einem auch nicht alles sofort erschließen. Weizsäcker benutzt für den Begriff Sinn oft den der Bestimmung. Er fragt, welche Bestimmung hat eine Krankheit in einem Leben. Und man kann, ja, man muß unterscheiden zwischen einer vorletzten und einer letzten Bestimmung. Ich weiß gar nicht, wo diese Unterscheidung herkommt. Vielleicht wissen Sie es.
KLEINSCHMIDT: Nicht auf Anhieb, aber es leuchtet natürlich ein. Man muß ja nur auf die Sprache hören. Wir haben doch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, und von da ist es nur ein Katzensprung zurück zu den vorletzten. Und so kommt man darauf. Und schon öffnet sich ein neuer Raum.
JANZ: Und wenn man einen Sinn dafür hat, daß es das Vorletzte und Letzte gibt, ist man viel freier, auch danach zu fragen. Das ist doch das Merkwürdige, daß die letzten Dinge auf die vorletzten abfärben. Philosophisch gesehen ein interessantes Phänomen. Deswegen ist die anthropologische Medizin für den nachdenklichen Arzt so anziehend.
KLEINSCHMIDT: Genaugenommen sprechen Sie ja jetzt über Formen der kooperativen Diagnostik zwischen Arzt und Patient. Und da sollte man die Hermeneutik ins Spiel bringen, und zwar in ihrer Gadamerschen Form. Hans Georg Gadamer hat sein langes Gelehrtenleben lang immer wieder neue Auslegungen dessen gegeben, was Hermeneutik ist. Und eine davon lautet, daß der hermeneutische Zugang zu einem Text – im Falle der Krankheit müßte man sagen zum Text der Erkrankung – darin besteht, ihn als Antwort zu verstehen, und zwar als Antwort auf eine Frage, die man noch nicht kennt. Das Gespräch bestünde dann darin, vom Antwortcharakter des Textes zur Rückgewinnung der verborgenen Frage zu gelangen.
JANZ: Ja, das ist ganz richtig. Das muß auch hier der Zugang sein, nämlich auszugehen von der festen, auf Erfahrung gegründeten Zuversicht, daß hinter der Krankheit ein verborgener Sinn liegt, den der Kranke nicht unmittelbar weiß und den auch der Arzt nicht weiß, und in diesem gemeinsamen Erforschen, in diesem gemeinsamen Erkennen sich am Ende einig zu werden, worin dieser Sinn besteht. Das ist übrigens etwas, was man auch in der Psychotherapie erfährt, daß nämlich nur die Deutung wirkt, die dem Patienten einleuchtet.
KLEINSCHMIDT: Man müßte nicht einmal sagen, daß die Deutung stimmt, es genügte festzustellen, daß sie wirkt.
JANZ: Das ist der Schlüssel in der Medizin. Das Wirksame ist das Wahre. Entscheidend ist zu verstehen, daß Krankheit immer in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist und daß die ihr zugrundeliegenden Konflikte und Spannungen verborgen sind. Will man sie ans Licht bringen, muß man in die Biographie des Kranken einsteigen. Aus der biographischen Einbettung der Krankheit ergibt sich, daß der Mensch ein zeitgebundenes Wesen hat. Auch Krankheit hat daran teil. Zeitgebundenheit der Krankheit bedeutet, daß durch die Behandlung keine Restitution des vor der Krankheit herrschenden Zustandes erfolgt, daß Heilung nicht heißt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit.
KLEINSCHMIDT: Im Gegensatz zum Fußball, wo die Trainer immer sagen: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Natürlich, der Vergleich hinkt ein wenig …
JANZ: Ja, ja. Und es ist ungeheuer wichtig, das ernst zu nehmen, daß der Mensch nach der Krankheit nicht der Mensch vor der Krankheit ist, nicht sein kann. Auch wenn er selber meint, es zu sein.
KLEINSCHMIDT: Also keine Wiederherstellung. Es gibt zwar Gesundung, aber Heilung ist keine Rückkehr zum vorigen Zustand.
JANZ: Es gibt sie nicht, die Restitutio ad integrum. Gesundung ist keine Wiederherstellung.
KLEINSCHMIDT: Da der laienhafte Patient ja mitsprechen darf in der anthropologischen Medizin, würde ich sagen, daß in der Gesundung doch ein Moment der Wiederherstellung steckt. Da muß man gar nicht das Bild der Reparatur bemühen. Jede Erkrankung wirft den Menschen aus der Bahn, und jede Genesung führt ihn in die Bahn zurück. Das ist eine Art Wiederherstellung. Aber natürlich nur eine auf Zeit. Als ich vorhin bei Ihrer Formel »nach der Krankheit ist nicht vor der Krankheit« zum Kontrast auf die Fußball-Formel »nach dem Spiel ist vor dem Spiel« verwies, merkte ich erst hinterher, daß dies, übertragen auf unser Gebiet, in einem anderen Sinne doch stimmt. Denn niemand kann nach einer Heilung sicher sein, daß er fortan nicht wieder krank wird. Insofern gilt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit. Die nächste Herausforderung wartet schon auf uns.
JANZ: Aber doch mit einer Erfahrung hinter uns.
MATTHIAS WEICHELT: Vielleicht muß man den Gedanken der Wiederherstellung ein bißchen genauer fassen. Natürlich geht es darum, daß der Mensch wieder mit sich ins reine kommt, daß er nicht mehr sagt, mir fehlt etwas. Nur muß man die Entwicklung dabei mitdenken. Der Mensch, der eine Krankheit durchgemacht hat und von ihr genesen ist, ist nicht mehr derselbe, der er ohne diese physische und geistige Erfahrung war. Er ist ein anderer geworden, und trotzdem wieder bei sich.
JANZ: Ja, so ist es. Und noch mehr. Man erlebt sich wieder neu. Diese Krankheit hatte man ja vorher nicht gehabt. Um es noch von einem anderen Punkt aus zu zeigen: Der Umgang mit einer Krankheit sollte darauf gerichtet sein, dahinterzukommen, was jemanden krank gemacht hat. Das bedeutet für Arzt wie Patient, die Wahrheit der Krankheit zu finden. Weizsäcker sagt: Jede Krankheit ist eine Krise der Wahrheit und eine Anerbietung von Wahrheit. Wird man wieder gesund, hat man sich also mit dieser neu errungenen Wahrheit restituiert. Und noch ein Gedanke. Nämlich die Frage, was wird dieser Mensch? Und zwar sowohl in der Krankheit wie in der Gesundheit. Der Mensch ist immer auf dem Weg. Auf dem Weg zu seiner Bestimmung.
KLEINSCHMIDT: Das berühmte »Werde, der du bist«. Ein Paradox, deswegen ist es ja so schön.
JANZ: Ich hatte jetzt mehr an die Beziehung von Krankheit und Gesundheit gedacht. Ich würde sagen, der Mensch ist immer auf dem Weg hin zur Gesundheit oder weg von der Gesundheit. Er ist immer auf dem Weg hin zu seiner Bestimmung oder weg von seiner Bestimmung. Das meint Weizsäcker.
KLEINSCHMIDT: Ja, das gibt zu denken.
JANZ: Das führt zur Frage des Gesundheitsbegriffs. Für Freud ist die Genußfähigkeit das Leitbild von Gesundheit. Für die Schulmedizin ist es die Leistungsfähigkeit, für die Sozialmedizin die Arbeitsfähigkeit. Das sind alles mehr oder weniger Fremdbestimmungen. Weizsäcker versucht davon wegzukommen, er sagt einmal, Krankheit sei genauso eine Art von Menschlichkeit wie Gesundheit. Gemeint ist, sich menschlich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können.
WEICHELT: Das ist doch eine sehr positive Grundsicht von Krankheit.
JANZ: Ja, ich finde es auch positiv, und zwar im Sinne eines ernsten Zurüstens auf Leben, Lebendigkeit, Entwicklung, und am Ende auf den Tod.
WEICHELT: Das ist das Gegenteil dessen, was heutzutage als erstrebenswert gilt, nämlich das Leben verlängern, immer älter werden, vor allen Dingen den Tod hinausschieben.
KLEINSCHMIDT: Sie haben von der Wahrheit gesprochen, Herr Janz. Und Sie haben gesagt: Wahr ist, was wirksam ist. Man könnte auch sagen: wirksam ist nur die Deutung, über die sich Arzt und Patient im Laufe der Gespräche einig werden. Aber sind denn Wahrheit und Deutung immer heilungsfördernd? Es kann doch auch eine Wahrheit festgestellt werden, die keine Aussicht auf Gesundung eröffnet.
JANZ: Ja, es gibt Krankheiten, die nicht heilen. Franz Rosenzweigs Krankheit, das war so eine. Er litt an einer amyotrophen Lateralsklerose, einer unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung des motorischen Nervensystems. Und daran ist er auch zugrunde gegangen.
KLEINSCHMIDT: Nein, nein, das meinte ich nicht. Sie haben einmal vom Wahrheitsexhibitionismus in der heutigen Ärzteschaft gesprochen, während früher das Gegenteilige galt, nämlich extreme Wahrheitsscheu. Die Scheu bezog sich aufs Mitteilen, nichts aufs Erkennen. Der Arzt wußte mehr und hat es dem Patienten nicht gesagt. Wie steht es mit der Offenheit des Arztes, wenn die Wahrheit bitter und nichts als bitter für den Kranken ist?
JANZ: Wahrheit ist doch eine bipersonale Beziehung. Der Arzt muß zwischen sich und dem Kranken immer wieder neu die Situation von Frage und Antwort herstellen, von Weiterfragen und Weiterantworten. Und dann zeigt sich, daß sich beide um die Krankheit bemühen, aber das können sie nur, indem sie an das Verborgene herankommen. Und das, was verborgen ist, ist die Wahrheit über diese Krankheit. Natürlich ist das eine absolut ideale Vorstellung, die wir uns jetzt machen, denn wir haben noch nicht vom Widerstand gesprochen, der in jedem Patienten steckt und der schon in dem Satz erscheint: Ich komme zu Ihnen, weil ich gesund werden will. Der Arzt, der weiß, was auf ihn zukommt, müßte das Gespräch eigentlich so beginnen: Wissen Sie, was Sie damit sagen? Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, was gesund ist? Aber so geht das natürlich nicht. Es kommt darauf an, das Angemessene zu tun, und zwar in jeder Situation. Und das Gespräch ist nicht immer das Angemessene. Nehmen wir einen Mann mit Bandscheibenvorfall, der über die Notaufnahme in die Klinik kommt. Er ist vollkommen krumm und steif und hat wahnsinnige Schmerzen. Hier ist unmittelbare Hilfe gefordert. In diesem Zustand beginnt man kein Arzt-Patienten-Gespräch.
WEICHELT: Wie kamen Sie eigentlich zu dem Entschluß, Medizin zu studieren?
JANZ: Ich hatte einen Mitschüler, der zu Hause ein kleines Laboratorium besaß und chemische Experimente machte. Das hat mich beeindruckt. Und der war entschlossen, Medizin zu studieren. Außerdem hatte ich mit siebzehn gehört, daß man sich melden könne, wenn man auf der Pépinière in Berlin Medizin studieren wolle. Die Pépinière war eine Pflanzstätte für Militärärzte, dort konnte man umsonst studieren. Man wäre, wenn man genommen worden wäre, Fähnrich geworden und hätte sich festlegen müssen, auf zehn oder zwanzig Jahre beim Militär zu bleiben. Mein damaliger Pfadfinderführer, er war vier oder fünf Jahre älter als ich, war Medizinstudent beim Militär. Der ist noch im Krieg Militärarzt geworden. Und der hat mir in gewisser Hinsicht Eindruck gemacht. Mir gefiel er in Uniform. Ich wußte nicht, ob ich je eine so eindrucksvolle Gestalt würde abgeben können. Ich habe mich nicht so gutaussehend, nicht so kerzengerade gewachsen gesehen. Im übrigen fragt man sich, was kommt denn überhaupt in Frage. Es kam eigentlich nur in Frage: entweder Lehrer oder Richter oder Pfarrer oder eben Arzt. Was gab es denn sonst?
WEICHELT: Journalist?
JANZ: Nein, das kam nicht in Frage. Mein Vater war Pfarrer, er hat es ungern gesehen, wenn ich Zeitung las. Er fand das Deutsch, das in der Zeitung geschrieben wurde, nicht besonders förderlich für den Stil. Er hat gesagt, wenn du in der Schule einen Aufsatz zu schreiben hast, lies einige Tage vorher keine Zeitung. Mit der Vorstellung, Pfarrer zu werden, hatte ich auch gespielt. Vor der Aufgabe zu stehen, jeden Sonntag für eine halbe oder dreiviertel Stunde etwas Wesentliches, Bedeutsames und Lebenswichtiges zu sagen – und das schien mir immer das Wesen des Pfarrerberufs zu sein –, hatte etwas absolut Herausforderndes. Ich erinnere mich, daß ich mit siebzehn einmal gesagt habe: Eigentlich müßte man entweder Pfarrer oder Sturzkampfflieger werden. Ich meinte, die Berufswahl sei eigentlich eine Mutprobe. Und Pfarrer zu werden in dieser Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, das erforderte ja Mut. Man mußte das Christentum verteidigen. Feigheit war da nicht gefragt. Als ich sagte, ich weiß nicht, ob Medizin oder Theologie, fragte mein Vetter, er war Theologe, was stellst du dir denn vor unter Theologie? Darauf ich: Unter Theologie stelle ich mir etwas sehr Abenteuerliches vor. Darauf er: Na, dann studier mal lieber Medizin.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre beruflichen Anfänge?
JANZ: Meine erste Stelle nach dem Krieg war in Heidelberg. Ich hatte mich bei dem Neurologen Paul Vogel vorgestellt. Ihn hatte Alexander Mitscherlich mir empfohlen als den einzigen klinisch wirksamen Schüler Viktor von Weizsäckers. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Professor Vogel, da er nicht in der Klinik war, zu Hause besucht. Das war eine unmögliche Sache. Ich habe geklingelt, er öffnete mir. Ich sagte: Entschuldigen Sie, darf ich mich Ihnen vorstellen? Herr Mitscherlich hat mir gesagt, ich solle mich an Sie wenden. Ich möchte gerne bei Ihnen arbeiten. – Da kommen Sie jetzt zu mir nach Hause? sagte Vogel und drückte die Tür zu. Und da, so hat er es später erzählt bei der kleinen Rede, die er anläßlich meiner Habilitation gehalten hat, hätte ich meinen Fuß in die Tür gestellt und gesagt: Herr Professor, geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit, daß ich mich schriftlich vorstelle. – Na, das können Sie ja machen. Ich habe ihm also geschrieben. Bald darauf kriegte ich eine Postkarte: Sie können am 1. Februar bei mir eintreten. Das war natürlich eine unbezahlte Stelle. So wurde ich also Volontär bei Paul Vogel. Das war schon was.
WEICHELT: Hatte man da schon eine gewisse Verantwortung?
JANZ: Der Stationsarzt, den ich damals hatte, war ein Ukrainer, der schon im Krieg bei Vogel war, ein kluger und auch guter Arzt. Bei dem machte man zunächst einmal die Visiten mit. Man guckte zu, wie der andere untersuchte, und schrieb die Krankengeschichte auf. Kamen neue Patienten, schrieb man die nächste Krankengeschichte. Dann untersuchte man selbst, und so kam man hinein und war sehr bald ein Helfer des Stationsarztes. So ein Stationsarzt hatte vielleicht noch zwei solche Volontäre, so war man zu dritt. Und hatte eine Station von 24 Betten. Das war die Struktur. Das Haus hatte vier solcher Stationen. Diese 24 Betten standen alle in je einem Saal. Und so hatte ich jahrelang die Möglichkeit zu sehen, wie die Patienten miteinander umgehen, wie die Schwestern mit den Patienten umgehen, wie die Ärzte mit den Patienten umgehen. Das sieht man ja bei 24 Betten – wenn man seinen Tisch in der Mitte dieses langen Bettentraktes hat –, und man kann seine Beobachtungen machen. Alle passen auf. Dennoch ist es enorm diskret. Als wären unsichtbare Vorhänge zwischen den Betten. Aber es passiert natürlich viel. Der eine bekommt Besuch, der andere nicht. Der eine weint, der andere lacht, alle diese Dinge. Man bekam viel mehr Lebensäußerungen mit als heute in den Krankenzimmern. Heute hat ein Krankenzimmer zwei oder drei Betten. Dann ist man da diese fünf oder zehn oder fünfzehn Minuten in einer im Grunde künstlichen Atmosphäre, denn alle wissen, jetzt ist der Arzt da. Aber seien Sie mal mit 24 Menschen zusammen und das über mehrere Stunden.
WEICHELT: Das ist schon eine Art Gemeinschaft, die sich auch irgendwie organisieren und disziplinieren muß.
JANZ: Nun sind zwar nicht alle bettlägerig, aber viele. Es ist ein gemeinsamer Raum und ein wechselseitiges Aufeinander-Rücksicht-Nehmen. Oder eben nicht Rücksicht nehmen. Beides hat Folgen für die Diagnose, für die Behandlung, für den Umgang. Ich sage dieses Weizsäckersche Wort Umgang, weil es alles einbezieht, Diagnose, Therapie, Gespräch, Verhalten usw. Nach sechs Wochen hat Paul Vogel zu mir gesagt, er möchte, daß ich mich für das Sommersemester auf ein Referat über eine Vorlesung von Weizsäcker »Über die ärztliche Grundhaltung« vorbereite. Sechs Wochen hatte ich Zeit. Und habe dieses Referat gehalten, das war 1946. Ich besitze den Text noch. Er wurde vor einer Weile abgedruckt, zusammen mit der Vorlesung von Weizsäcker. Und dann, nach diesem Referat, mit dem Vogel offenbar zufrieden war, sagte er: Gut, machen Sie so weiter. Versuchen Sie sich einzulesen und einzuarbeiten. Ich möchte zwei Jahre nichts Schriftliches von Ihnen sehen.
WEICHELT: Das war keine Empfehlung, sondern eine Anweisung.
JANZ: Eine Anweisung, ja. Das heißt, zwei Jahre haben Sie Zeit.
WEICHELT: Aber Sie sollten nicht untätig sein.
JANZ: Nein, nein. Mit nichts Schriftliches war gemeint: keine wissenschaftliche Arbeit. Gemeint war: Machen Sie so weiter. Lernen Sie Neurologie. Untersuchen Sie. Benutzen Sie die Bibliothek. Wir hatten eine ganz gute Bibliothek in der Klinik, den ganzen Freud. Der war auch über die Nazijahre da, die große blaue Ausgabe. Da habe ich vieles – ich will nicht sagen alles – gelesen. Das war neben dem Handbuch für Neurologie eine Grundnahrung für mich, das kann ich schon sagen. Aber die Sache mit den zwei Jahren nichts Schriftliches von Ihnen hören, das ging ja nach zwei Seiten.
WEICHELT: Man wird freigestellt, aber auf ein Ziel hin.
JANZ: So ist es. Und so habe ich es auch empfunden. Ich habe es als Glücksfall angesehen, zwei Jahre lang nur studieren zu können.
WEICHELT: Ohne das sofort verwerten zu müssen.
JANZ: Ja, genau. Ohne es unmittelbar auswerten zu müssen. Das gehört für mich zu den beeindruckenden pädagogischen Leistungen von Paul Vogel. Ich erinnere mich noch an etwas, das dazu paßt. Als Weizsäcker elf Jahre später starb, hat Vogel mich morgens in sein Dienstzimmerchen gerufen und gesagt: Nehmen Sie Platz. Herr von Weizsäcker ist heute nacht gestorben. Das war die Mitteilung, die er mir gemacht hat. Ich habe dazu nichts sagen können außer: Ja, was wird denn nun aus seinem ganzen Werk? Da sagte er: Das muß erst mal alles in die Katakomben.
WEICHELT: Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.
JANZ: Ja, das hatte wieder etwas Kryptisches. Ich habe mir wirklich oft Gedanken darüber gemacht. Na gut, ich wußte, daß man jetzt nicht viel darüber redete, daß man zusah, ob das gärt, ob sich das von selbst bewegt. Aber woran merke ich das? Wo muß ich hinschauen? Wo muß ich hinhören? Nichts darüber. Katakomben – da weiß keiner, wie und wann das wieder rauskommt. Aber man weiß, daß es rauskommt. Das war auch wieder so ein Rat.
WEICHELT: Die normale Reaktion wäre zu sagen: Jetzt ist er gestorben. Wir müssen uns um das Werk kümmern. Wir müssen Editionen machen. Aber Vogel sagte das Gegenteil. Hat Ihnen das eingeleuchtet?
JANZ: Das hat mir sehr eingeleuchtet. Einerseits ist es entlastend, andererseits nimmt es einen in die Pflicht. Man bestimmt den Zeitpunkt mit, wann es hochgeholt wird – wie es dann auch geschah.
WEICHELT: Man muß eine Sache erst mal loslassen und sie sich dann wieder zu eigen machen, ganz im Goetheschen Sinne: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Aus dem Bild der Katakombe spricht ja auch die Überzeugung vom hohen geistigen Wert des Weizsäckerschen Werks.
JANZ: Katakomben sind Orte zeremonieller Bewahrung. Was hier lagert, gewinnt spirituelle Existenz.
WEICHELT: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen als Arzt?
JANZ: Ich erzähle Ihnen eine symptomatische Begebenheit. Es ist Ausgang Winter. Zwei uns bekannte Männer im mittleren Lebensalter kamen verletzt aus dem Skiurlaub. Der eine hatte sich den Arm gebrochen, der andere hatte einen bandagierten Fuß. Und in beiden Fällen habe ich gefragt, wie das passiert ist. Ach, sagt der eine, ich bin zu schnell den Hang hinuntergefahren, plötzlich bin ich gestürzt. – Warum sind Sie denn so schnell gefahren? – Ja, es war schon Abend, und die anderen waren alle schon unten. – Wer waren denn die andern? – Mein Sohn und seine Freundin und noch ein paar andere. – Ach, Sie waren mit dem Sohn zusammen? Wie alt ist der denn? – Der ist jetzt fünfzehn. – Kann der gut Ski laufen? – Er kann jetzt besser Ski laufen als ich. Der war sofort unten. – Sind Sie zusammen losgefahren? – Ja, es war schon spät und da sind wir sofort los, und kaum hatte ich mich besonnen, war er schon unten. Ja, und dann bin ich halt gestürzt. – Wollten Sie ihm denn hinterher? – Na klar doch. So. Das ist die eine Geschichte. Die andere war ganz ähnlich. Gut. Das war jetzt die Anamnese. Aber was man braucht, ist die Souveränität, nichts für Zufall zu halten. Daß der geschiente Arm und das bandagierte Bein nicht von ungefähr kommen.
WEICHELT: Ist es eine Entscheidung, zu sagen, wir halten nichts für Zufall, oder ist es eine Überzeugung? Ist es eine philosophische oder eine therapeutische Frage? Oder ist es Erfahrung?
JANZ: Es ist eine aus der Überzeugung entwickelte Erfahrung und eine aus der Erfahrung entwickelte Überzeugung.
WEICHELT: Mir scheint, es geht hier nicht nur um interessante, sondern auch um rätselhafte Zusammenhänge, das hat ja fast schon etwas Künstlerisches.
JANZ: So ist es. Das ist genau der richtige Begriff. Es ist das Verhältnis zum Rätsel, was zu dieser Art von Fragen führt. Es gibt ja Rätsel, die man nicht lösen kann, und es gibt Rätsel, die man lösen kann. Die Lust ist ein künstlerisches Moment. Die Lust an der Enträtselung, die Lust am Finden von Zusammenhängen, da fängt es an, und das geht natürlich weit über den Verstand und die Empirie hinaus. Am Anfang steht immer die Frage: Warum ist dieser Mensch krank und warum wird er nicht wieder gesund? Darauf muß man neugierig sein. Und um zu Antworten zu kommen, braucht man eine Begabung zum Assoziativen. Eine Begabung des Verbindens. Das Befriedigende daran ist dieses Spiel von Neugier und Finden.
WEICHELT: Heißt dieses Finden nicht in gewissem Grade auch, daß die gefundene Wahrheit nicht mehr die einzige ist, sondern nur die Ihnen gemäße?
JANZ: Nein, nein, nur die Methode ist die mir gemäße. Die Wahrheit ist die dem Patienten gemäße. Ich habe es oft erlebt, daß Väter sich mit ihren Söhnen messen. Und zwar immer dann, wenn die Söhne an ihnen vorbeizogen, und die Väter, die noch jung sein wollten, ihre Söhne in die Schranken zu verweisen suchten. Und das geht irgendwann schief. Dann muß man diese Erfahrung zu einer Erkenntnis machen, und zwar verbunden mit dem entsprechenden Genuß, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Und einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel den erwähnten Skiunfall, zu einer Erkenntnis zu machen, das ist schon das Medizinische, das Therapeutische. Mit Paul Vogel war übrigens jede Visite reizvoll. Es gab viele neurologisch interessante Fälle. Zum Beispiel folgende Geschichte: Vogel unterhält sich mit einem Patienten, weil er mit der Symptomatik nicht ganz klarkommt. Er läßt ihn aufstehen, ein paar Schritte gehen, wieder zurückkommen, auf dem einen Bein stehen, auf dem anderen Bein stehen usw. Dann unterhält er sich einen Moment mit ihm. Dann läßt er ihn wieder ins Bett gehen. Vogel geht zum nächsten Patienten. Am Ende der Visite treffen wir uns draußen auf dem Gang, und da sagt er zum Stationsarzt: Sie, hören Sie mal, der da im dritten Bett hinten, den ich habe gehen lassen, das ist doch eine Geschichte. Erzählen Sie mir die mal bei der nächsten Visite. Da hat man genau gewußt, was er wollte, wenn man das hörte. So wurde man mit dem Auftrag entlassen, die Geschichte rauszukriegen. Das heißt also, Vogel wollte, daß man sich mit dem Patienten hinsetzt und ins Gespräch kommt. Um rauszukriegen, was für eine Geschichte hinter der Krankheit steckt. Vogel hat auch ein Seminar mit Medizinstudenten über Krankheiten als literarische Gattung gemacht, also Leidensformen, Krankheitsformen, Genesungsformen in Analogie zu literarischen Formen.
WEICHELT: Darf ich noch mal auf die Frage nach dem Zufall zu sprechen kommen? Es ist doch ein starker Hang in der Weizsäckerschen Medizin, allem Geschehen einen Sinn zuzuordnen, in allem, was passiert, einen Sinn zu entdecken. Das ist ja fast ein theologischer, religiöser, ja, künstlerischer Grundzug dieser Medizin. Sie sagten: Souveränität heißt, nichts für Zufall zu halten. Also alles in einen übergeordneten Rahmen zu stellen, in eine Lebensgeschichte einzubetten, und jeden Beinbruch, jede Angina, alles was einem passiert, zum Teil der Lebensgeschichte zu machen.
JANZ: Warum sagen Sie machen? Wenn es doch ein Teil ist?
WEICHELT: Machen sage ich, weil ich glaube, daß es vom Patienten her ein aktiver Vorgang ist. Was Kranksein für den einzelnen heißt, muß er selber herausfinden. Er muß selber verstehen, was dahintersteckt. Und deswegen ist es so – das meinte ich mit künstlerischem Grundzug –, daß jeder aufgerufen ist, seine eigene Lebensgeschichte, seine eigene Lebenserzählung zu entwerfen und alles, was ihm auf dem Lebensweg begegnet, zum Teil dieser Geschichte zu machen.
JANZ: Was Sie sagen, entspricht auch einer Grundvoraussetzung der anthropologischen Medizin, daß nämlich der Patient seine Krankheit nicht nur erfährt, sondern auch macht. Wenn es so ist, dann ist es doch sinnvoll, den Teil, den er dazu beiträgt, herauszubekommen, schon im Sinne der Prävention, daß sich das nicht wiederholt. Den Zufall können wir uns hierbei gar nicht leisten. Sie vielleicht können sich den Zufall leisten, weil Sie nicht wie ich von Berufs wegen mit der Frage befaßt sind, wo kommt das her. Sie können zu dem verunglückten Skifahrer sagen: das war Zufall. Wenn Sie aber Orthopäde sind oder Unfallchirurg, und der Mann kommt zu Ihnen und sagt: Verflixt noch mal, das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin doch schon ein alter Knopp. Als Arzt muß ich doch sehen, daß dieser Mensch unruhig ist und wissen möchte, wo die Sache herkommt. Und so mache ich mich ans Erkennen, ans gemeinsame Erkennen im Gespräch, und ich werde es auch hinnehmen, wenn ich zu keinem Ergebnis komme. Denn es ist selbstverständlich so, daß man in einer großen Zahl von Fällen nicht weiterkommt. Und trotzdem hat man den Versuch gemacht, ein paar Schritte ist man gegangen auf diesem Weg, es war aber nichts zu finden. Und doch würde ich sagen, daß auch in einem solchen Fall nicht der Zufall regierte. Das ist ein methodisches Axiom. Davon muß ich ausgehen. Wenn ich es nicht tue, bevorzuge ich den einen Patienten und benachteilige den andern. Ich sehe auch gar keinen Grund, warum ich als Arzt dem Zufall soviel Gewicht geben sollte. Das würde mich nur dazu verleiten, die eigenen Denkdefizite und damit die des Patienten zu einer objektiv begründeten Erkenntnisschranke zu erklären, und das scheint mir philosophisch nicht richtig zu sein. Es gibt doch gute Beispiele, nehmen wir die Fettsucht. Es wird ja überall besprochen, daß die Männer zu dick oder die Frauen zu dick sind und daß das bedenklich ist. Wo fängt die Fettsucht an? Von wo an ist es eine Krankheit? Wir wissen, daß hier ein Fehlverhalten eine Rolle spielt. Anfänglich gehen diese Leute nicht zum Arzt, weil sie wissen, daß sie ihr Verhalten zwar ändern sollen, aber nicht ändern können. Nun ist ganz klar: wenn so jemand zum Arzt kommt, müßte der ihm nicht bloß eine Diät verordnen oder ihm sagen, iß nur die Hälfte, sondern er müßte an die Quellen seines Fehlverhaltens herankommen, die möglicherweise in einem Umfeld liegen, für das er nichts kann, das er auch nicht ändern kann, es sei denn, er geht da heraus. Es liegt auch zum Teil an einer Unterentwicklung des ästhetischen Bewußtseins. Man kann sich am Beispiel der Fettsucht gut klarmachen, was ein Arzt, wenn er tatsächlich gebeten wird zu helfen, eigentlich tun müßte. Er müßte als erstes sagen: Wollen Sie wirklich? Das müßte die Grundfrage sein. Und meistens kommen beim Patienten dann die Zweifel.
KLEINSCHMIDT: Er könnte auf die Frage doch antworten: Wenn ich hinterher so gut aussehe wie Sie, Herr Doktor, ja, dann will ich.
JANZ: Da würde ich sofort einsteigen. Auf eine solche Bemerkung würde ich sagen: Legen Sie Wert darauf, gut auszusehen? Wie ist denn das bei Ihnen zu Hause? Laufen Sie da nackt herum? Vor wem genieren Sie sich, vor wem nicht? Das Genieren würde ich ansprechen, ich würde ihn auch im Genieren bestärken. Das meinte ich mit dem Ästhetischen.
KLEINSCHMIDT: Sie sollten uns noch erzählen, wie Sie zu Ihrem Spezialgebiet, zur Epileptologie, gekommen sind.
JANZ: Nachdem die zwei Lehrjahre, in denen Vogel »nichts Schriftliches« von mir sehen wollte, herum waren, holte er mich 1948 zu einem intimen pädagogischen Gespräch in sein Zimmerchen und sagte: Ich meine, Sie könnten sich jetzt mal mit etwas Wissenschaftlichem beschäftigen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, sich um Epilepsie zu kümmern. Es ist einfach so, daß das, was die Patienten von ihrer Krankheit wahrnehmen, nicht in den Lehrbüchern steht. Und was in den Lehrbüchern steht, sich nicht mit dem deckt, was die Patienten berichten. Wenn wir sie fragen, was sie von ihren Anfällen merken, vor allem was sie merken, wenn ein Anfall kommt, dann berichten sie oft erstaunliche Dinge. Vogel hat mich also auf die epileptische Aura verwiesen, auf die Sinneswahrnehmungen vor dem Anfall. Darum sollte ich mich kümmern, und zwar mit der Begründung, daß er die Aura für einen Schlüssel halte zum Verständnis sowohl der Patienten wie des Wesens von Epilepsie. Das war der Einstieg. In den Lehrbüchern steht, es gibt optische, es gibt akustische, es gibt vestibuläre, den Gleichgewichtssinn betreffende Auren. Und so hat man die Selbsterfahrung der Patienten wie die komplexe Natur ihrer Wahrnehmung immer in irgendeine vorgefertigte Schublade geschoben. Das hat Vogel nicht gemocht. Und ich fand das natürlich toll, daß es so einen Chef gibt, der sich freimacht von vorgefaßten Lehrbuchmeinungen. Ich meine, wenn das ein Philosoph gewesen wäre, von dem verlangt man so was geradezu. Aber ein Mediziner, ein Klinikchef – da habe ich die richtige Wahl getroffen. Der läßt einen selber marschieren. Und wenn was rauskommt, ist es gut. Und wenn nichts rauskommt, auch gut. Das hat man selbst zu verantworten.
WEICHELT: Und kam dann was raus?
JANZ: Ich denke schon. Um auf die Frage einzugehen, mußte ich erst mal in Erfahrung bringen, was Epilepsie ist und was nicht. Nach zwanzig Jahren Befragung, Beobachtung und Behandlung kam dann ein Buch darüber heraus, das dreißig Jahre später unverändert wieder aufgelegt wurde. Aus dem Dickicht, wie es mir anfänglich aus der Fachliteratur entgegenkam, ist so mit Hilfe der Patienten allmählich eine überschaubare Landschaft geworden, mitteilbar gegliedert, lehrbar – mit dem Ergebnis: Die Epilepsie gibt es nicht, es gibt eine Vielfalt von Epilepsien, jede von eigener Art, unterschieden nach Selbsterfahrung und Symptomatik, diagnostischem Zugang und therapeutischem Umgang.
WEICHELT: Und sind Sie mit der epileptischen Aura weitergekommen?
JANZ: Nein, nicht ganz. Das Ordnungsgeschäft hat diese Frage in den Hintergrund gedrängt. Ich hatte jedoch in besagtem Buch auf das wortreich Unbeschreibliche in der Aura von Patienten mit temporaler (Schläfenlappen-)Epilepsie hingewiesen. Daraus hat sich ein interdisziplinäres Projekt entwickelt, das zu einem klinisch und hirnlokalisatorisch nützlichen Unterscheidungskriterium geführt hat, das sich mit technischen Methoden durchaus messen kann. Auf seine ursprüngliche Frage hat Paul Vogel sich dann selbst am Beispiel der Aura von Dostojewski eine großartige Antwort gegeben in seinem Aufsatz »Zur Selbstwahrnehmung von Epilepsie. Der Fall Dostojewski«.
KLEINSCHMIDT: War Ihnen Dostojewski ein guter geistiger Partner bei der Erforschung von Epilepsie?
JANZ: O ja, das kann man wohl sagen.
KLEINSCHMIDT: Erzählen Sie bitte.
GABRIELE JANZ: Darf ich anfangen? Interessant an Dostojewski ist, daß er mehrere Krankheiten hatte, Atembeschwerden, Kreislaufbeschwerden, auch ein Lungenemphysem. Wegen seiner epileptischen Anfälle ist ihm gesagt worden: Sie dürfen nicht mehr schreiben. Er stand vor der Entscheidung: Bleibe ich Dichter oder werde ich gesund. Das ist nicht nur bei Dostojewski ein interessantes Problem, auch bei Rilke. Lou Andreas-Salomé empfahl Rilke, zu Gebsattel zu gehen, dem berühmten Viktor Emil von Gebsattel, und das hat er nicht gemacht. Er hat gesagt, wenn ich dorthin gehe, werde ich psychoanalysiert. In einem Brief an Gebsattel schreibt er am 24. Januar 1912: »Vielleicht sind gewisse meiner neulich ausgesprochenen Bedenken sehr übertrieben; so viel, wie ich meine, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und – fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.« Und so war das auch bei Dostojewski. Er hat jedenfalls weitergeschrieben und weitergeschrieben. Seine Frau hat gemerkt, wenn etwas im Anzug war, er war dann besonders im Streß. Er litt ja eindeutig an Epilepsie.
DIETER JANZ: Dostojewskis Frau hat einen Anfallskalender geführt, mit Hunderten von Anfällen, alle mit Datum verzeichnet. Aber er hat sich nicht behandeln lassen. Als sie einmal in Genf waren, bekam er eines Abends eine furchtbare Atemnot und mußte unbedingt in Behandlung. Und so ist er nachts noch raus auf die Straße zu einem Arzt, der ihm irgendwas gegeben hat. Und der Arzt hat ihn natürlich befragt. Dostojewski sah sich gezwungen, ihm zu erzählen, daß er häufig epileptische Anfälle bekommt. Der Arzt sagte: Das können wir jetzt nicht besprechen, es ist viel zu spät, aber kommen Sie morgen bitte wieder. Keine Rede davon, daß Dostojewski noch einmal kam. Seine Atembeschwerden waren vorbei. Auch in Berlin ist er deswegen einmal zu Gespräch mit Dieter Janz 197 einem berühmten Internisten gegangen. Im Wartezimmer hat er noch ein paar Mitpatienten gefragt, was muß man denn bezahlen? Fünf Minuten war er bei ihm drin – diese Fünfminuten-Medizin gab es offenbar schon zu Dostojewskis Zeiten. Der Arzt klopft ihn ab und sagt: Sie müssen zur Kur nach Bad Ems. Ich habe da einen Kollegen, dem schreibe ich. Richten Sie ihm Grüße von mir aus. Er gab ihm die Adresse von dem Kollegen. Dostojewski ist nicht nur einmal, er ist dreimal nach Bad Ems gefahren. Alles nur Erdenkliche hat er dort gemacht, sogar Kaiser Wilhelm getroffen. Aber für seine Epilepsie hat er nichts gemacht. Nichts! Ich habe mal einen Vortrag darüber gehalten. Da beschreibe ich seine Epilepsie in Sibirien. Sie wissen ja, er war verbannt und wollte wieder nach Petersburg, wollte wieder schreiben. Er hatte ja Berufsverbot, er durfte aus politischen Gründen nicht schreiben. Und immer wieder fragt er sich, wie erreiche ich nur, daß ich hier wegkomme. Schließlich konsultiert er einen Arzt, und der sagt ihm, er habe eine genuine Epilepsie. Und da protestiert er. Genuine Epilepsie! Ihm kam es darauf an, daß ihm bescheinigt wird, seine Epilepsie sei durch die Qualen seiner Haft entstanden. Auf der Rückreise nach Petersburg konsultiert er erneut einen Arzt, weil er wieder Anfälle hat. Und der sagt ihm, er müsse aufhören zu schreiben, das wäre das einzig Richtige. Das muß man sich mal vorstellen: Ein aus der Verbannung entlassener junger Mann kommt wieder zurück in die Gesellschaft. Was er geschrieben hat, ist noch nicht bekannt. Und er geht zu einem Arzt und sagt, er hätte immer epileptische Anfälle unter diesen Bedingungen. Der Arzt fragt, was sind Sie denn von Beruf? – Ich bin Schriftsteller. – Wann schreiben Sie denn? – Immer nachts. – Dann hören Sie damit auf. Und seither hat Dostojewski keine Ärzte mehr deswegen konsultiert.
GABRIELE JANZ: Meine Frage an Sie beide ist: Was denken Sie, warum hat dieser Arzt ihm verboten zu schreiben?
WEICHELT: Spontan würde ich sagen, daß Schreiben eine Art Verausgabung ist, die zur Erschöpfung führt und einen so schwächt, daß man krank wird.
GABRIELE JANZ: Aber Verausgabung und Schwächung können in jedem Beruf passieren.
WEICHELT: Ja, gut, wenn Dostojewski 100-m-Läufer gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich immer wieder versucht, 100-m-Läufe zu machen.
GABRIELE JANZ: Würden Sie das auch so sehen?
KLEINSCHMIDT: Ich kann die Frage nicht beantworten, es wäre reine Hochstapelei, wenn ich es täte, denn ich weiß zu wenig über Epilepsie. Platonisch betrachtet könnte man vielleicht sagen: Im geistigen Universum war eine Stelle unbesetzt, nämlich die, daß einer die Epilepsie von innen schildert, und zwar ein Schriftsteller, ein Sprachmeister, ein Denker. Dostojewski ist gleichsam der Phänomenologe dieser Krankheit. So gesehen durfte er nicht aufhören zu schreiben. Diese Stelle im Kosmos durfte nicht unbesetzt bleiben. Und Dostojewski wollte sie um jeden Preis besetzen, selbst wenn er dabei draufgegangen wäre.
GABRIELE JANZ: Ich glaube, daß Dostojewski mit Herzblut geschrieben hat. Wenn man das ohne Hilfe und ohne psychotherapeutische Begleitung tut, setzt man sich unglaublich aus. Man ist äußerst verletzbar und vollkommen ungeschützt. Und das ist es, was bei Dichtern und Schriftstellern generell der Fall ist. Das haben die Ärzte nicht bedacht. Sie haben nur gedacht, daß es besser für Dostojewski sei, wenn er überhaupt nicht schriebe. Dann könnte er ein ruhiges Leben führen.
KLEINSCHMIDT: Dann wäre er an etwas anderem erkrankt. Alle künstlerische Produktion speist sich aus seelischen Spannungen, die im Leben nicht auflösbar sind. Schreiben ist eine Art ständiges Gespräch zwischen Ich und Welt, um die rumorenden Dinge zum Ausgleich zu bringen. Das muß man natürlich von Fall zu Fall betrachten. Fest steht nur eins: Wenn man einen genuinen Autor am Schreiben hindert, wird er ganz gewiß krank, davon bin ich überzeugt. Und leider wird er umgekehrt oft auch vom Schreiben krank, denn das Schreiben ist ein Opfergang. Schreiben verzehrt das Leben.
DIETER JANZ: Jetzt sagen Sie es. Das ist bei Dostojewski so gewesen. Und Dostojewski hat tatsächlich diesen Opfergang angetreten, er hat das Opfer auf sich genommen. Denn es kam ihm wirklich darauf an, das hat er oft ausgedrückt, sein Volk, seine Nation geistig zu re-novieren, mit einem religiösen Impetus zu befeuern und geradezu zu heiligen. Er war wie besessen davon. Das ist das, was sowohl Westler wie Kommunisten an ihm nicht verstanden haben. Es klang christlich, aber es war national.
WEICHELT: Von der Epilepsie gibt es auch im »Idioten« eindrucksvolle Schilderungen. Fürst Myschkin ist ja quasi eine Jesusfigur, die Epilepsie hat bei ihm Züge von heiliger Ekstase. Was haben Sie von Dostojewski über die Krankheit gelernt? JANZ: Das Epileptologische im engeren Sinne hat mich stark interessiert, weil es fabelhaft beschrieben ist, in einer Weise, wie man es kaum oder nie von einem Patienten beschrieben bekommt. Ich habe ja 1969 mein Opus magnum, »Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie«, drei Lehrern gewidmet, meinem klinischen Lehrer, meinem wissenschaftlichen Lehrer und meinen Patienten.
WEICHELT: Also Vogel, Weizsäcker und …
JANZ: Dostojewski. Weil er wirklich als Patient unglaublich ausführlich, genau und überzeugend war, und weil seine Beschreibung der Epilepsiegestalten in seinem Werk zusammengenommen eine im Weizsäckerschen Sinne ideale Krankengeschichte ausmacht.
KLEINSCHMIDT: Herr Janz, Sie sind jetzt über neunzig Jahre alt. Ich bin so naiv zu glauben, daß das Alter auch Vorzüge hat. Zum Beispiel den Vorzug zunehmender Freiheit.
JANZ: Absolut, und zwar in großem Maße. Es erweitern sich die Räume in Richtungen, die man sich immer gewünscht hat. Natürlich treten auch Mängel ein. Für mich besonders der Mangel, daß keine Patienten mehr zu mir kommen. Die neuen Freiheiten sind nicht so sehr die des ausgiebigen Reisens und auch nicht des späten Aufstehens, denn längeres Schlafen ist im Grunde verlorene Zeit. Oft denke ich mir: Mein Gott, was habe ich für einen Reichtum an Möglichkeiten. Ich kann lesen, wonach mir der Sinn steht, habe Zeit, mit Menschen zu sprechen, Freunde zu besuchen und Freunde zu empfangen, habe Muße, mein Archiv zu ordnen, Editionen zu planen und zu realisieren, mich an unserem Garten zu erfreuen, einen guten Wein zu trinken, ich fahre dann und wann zu einer Tagung, halte hin und wieder einen Vortrag, gelegentlich ein Seminar mit Studenten hier in meinem Haus, und pflege im übrigen die behagliche Geselligkeit. Obgleich im Hintergrund stets der Gedanke steht, hätte ich nur die Freiheit der vielen Möglichkeiten und müßte nicht auch etwas Bestimmtes tun, weil es von irgendwoher von mir verlangt wird, bekäme ich ein schales Gefühl von diesem Reichtum. Wenn man aufhört, im Beruf zu stehen, und wenn man ein solches Alter erreicht hat wie ich, hat man zunehmend das Gefühl, man überlebt andere. Und es kommt vor, daß man sich fragt, wie man das rechtfertigen will. Und gerechtfertigt ist es ja nur, wenn man etwas Sinnvolles damit anstellt.
KLEINSCHMIDT: Nun gut, es gibt die Pflichten, auch die familiären Pflichten, die lassen wir jetzt mal beiseite, das ist ja selbstverständlich. Man tut sie übrigens gern. Sie sind der Grundstock des Sinnvollen, obwohl es, wie jeder weiß, auch sinnlose Pflichten gibt. Was wäre denn generell das Sinnvolle, sagen wir in der geistigen Beschäftigung? Daß man sich anregen läßt durch Bücher und Gespräche und auf diese Weise versucht eine produktive Existenz zu haben, daß man versucht, auch bei nachlassenden Kräften ein schöpferischer Mensch zu bleiben? Oder ist es mehr etwas Thematisches, nach dem Motto, vor zehn Jahren habe ich mich noch für dies und das interessiert, jetzt interessiert mich was ganz anderes. Was bedeuten würde, daß das Alter selbst neue, ihm gemäße Themen anbietet. Und daß sich je nach Lebensstufe neue Wahlverwandtschaften bilden, auch im Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt.
JANZ: Produktiv bleiben ist ein guter Begriff, aber es muß nicht schriftstellerisch gemeint sein. Ich beneide im Augenblick meine Frau, die hier in der Kirchengemeinde in einem Kreis mitmacht, wo sie zu Geburtstagen ältere Leute besuchen und Gespräche mit ihnen führen. Und dann kommt sie zurück und erzählt mir davon. Wir haben Jahrzehnte in Nikolassee gewohnt, ohne irgendeine Notiz zu nehmen von den Menschen um uns herum, und das ändert sich jetzt, und ich werde auch mit einbezogen, und das ist schön. Und es bietet auch neue Möglichkeiten für mich, produktiv zu sein. Da sind ja Menschen, die krank werden, abbauen, man bekommt einerseits einen gewissen Spiegel vorgehalten, andererseits kann man aus seiner langen ärztlichen Erfahrung einiges freundschaftlich zum Gespräch beitragen.
KLEINSCHMIDT: Mir gefällt, was Sie sagen. Ich hatte im stillen gerade gedacht, daß Sie ein zur Freundschaft begabter Mensch sind. Und auch begabt zur Freundschaft mit sich selbst. Das merkt man ja. Das heißt ja nicht, daß Sie nicht gelegentlich auch Selbstzweifel haben, aber es heißt, daß Sie alles in allem mit sich auf gutem Fuße stehen.
JANZ: Ja, das ist richtig, auch was die Selbstzweifel betrifft. Ich vermittle diesen Eindruck, das weiß ich. Meine Mutter hat mich immer als Sonntagskind bezeichnet.
KLEINSCHMIDT: Und Sie sind eins?
JANZ: Ich glaube, ich bin eins. Mit der Freundschaft, da haben Sie ganz recht. Mein eigentlicher Urfreund ist vor acht Jahren gestorben. Wir hatten eine sehr enge Beziehung und gehörten über Jahrzehnte zu einem Kreis von Freunden. Einer davon war übrigens Wolfgang Frommel, der Stefan-George-Bewunderer und Gründer der Zeitschrift »Castrum Peregrini«. Dieser Kreis war maßstabsetzend, nicht nur in Sachen Freundschaft, auch was Gespräch und Geselligkeit betrifft. Ich habe mich immer daran zu halten versucht, auch Jüngeren gegenüber. Wenn ich auf meine alten Tage mit Studenten ein häusliches Seminar mache, fragen die mich hinterher, warum machen Sie das eigentlich? Die verstehen das zunächst gar nicht. Oder sie wundern sich. Und dann freuen sie sich. Und daran merke ich, daß es richtig ist, was ich tue. Ich bin erstaunt, daß es nicht mehr Ältere tun. Sich in Beziehung setzen zu Jüngeren und mit ihnen ins Gespräch kommen, ich weiß, daß ich das kann, und das würde ich auch gerne fortsetzen.
KLEINSCHMIDT: Das versteht man ja gut. Es ist auch nicht nur Selbstloses dabei. Ich bin nicht so alt wie Sie, aber weiß natürlich auch schon, daß das eigene Lebensgefühl austrocknet, wenn man nur mit Gleichaltrigen verkehrt. Man erlebt gar nicht mehr, zu welchen Sachen man eigentlich noch in der Lage ist. Aber wenn man mit Jüngeren in einem guten, offenen Verhältnis steht, dann entlocken sie einem Dinge, von denen man gar nicht ahnte, daß man die draufhat. Und so regen nicht nur die Jungen die Alten, sondern gelegentlich auch Gespräch mit Dieter Janz 201 die Alten die Jungen an, so daß auch sie Dinge sagen, die ihnen unter ihresgleichen nicht eingefallen wären. Die Existenz der Menschheit in Generationen, die Gleichzeitigkeit der Lebensalter, ist etwas sehr Schönes und Wertvolles, eine Konstruktion, die ihren Schöpfer ehrt. Leider kommen ihre produktiven Seiten unter dem allgemeinen Zeitdruck viel zu wenig zum Zuge.
WEICHELT: Als Sie von den Freiheiten des Alters sprachen, Herr Janz, habe ich als Gegenmodell an diejenigen denken müssen, die immer sagen, es gibt nichts Gutes am Alter. Alles, was man Gutes über das Alter sagt, ist Lüge. Das Alter – das sind Lasten, Trübsal und das Ende. Mich hat überrascht, daß Sie nicht von der Gesundheit gesprochen haben. Die ist doch bei vielen alten Menschen das Beherrschende.
JANZ: Das belastet mich etwas, daß Sie mich jetzt als Modell nehmen. Aber ich bin ja nicht allein, bei mir muß man meine Frau mit dazunehmen. Allgemein gesprochen: Dieses Lebensmodell, mit jemandem zusammen zu leben, auch wenn es privat öfters mal knirscht, aber eben zusammen zu sein und vor allem zusammen zu bleiben, also zu seiner Wahl zu stehen, das geht nur, wenn man, wie vorhin gesagt, mit sich selbst befreundet ist und bleiben will. Die Psychoanalyse sieht darin vielleicht ein Bezähmen der Angst des Scheiterns durch gewaltsame Positivität. Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Man ist doch irgendwie geeicht auf ein gelingendes Leben. Man hat es schon als Kind erlebt, daß das Gelingen mehr Freude macht als das Mißlingen, und deshalb will man kein Scheitern. Aber es gibt so viele Fallen. Die Welt der Reize, erotische, sexuelle, jederzeit neu und lebendig, stets wirksam, von der Jugend bis ins hohe Alter, immer wieder wird man in die Lage versetzt, damit umzugehen und damit fertig zu werden. Das ist eine der Konstanten des Lebens. Und wenn es in den alten Kirchenliedern heißt, man soll Versuchungen widerstehen, dann weiß ich schon, wovon die Rede ist.
WEICHELT: Die ja auch ihren Sinn haben als belebendes Element.
JANZ: Ja, natürlich haben sie das. Aber je mehr einer erlebt, desto mehr wird er auch bedroht. Belebung und Bedrohung sind sich da sehr nah.
WEICHELT: Alles andere wäre ja reine Abschottung, Kasteiung und auch eine Form von Lebensschwäche.
KLEINSCHMIDT: Wir wollen nicht hoffen, daß Belebung und Bedrohung immer Hand in Hand gehen, sondern daß es auch Momente von Belebung gibt, die nicht bedrohlich sind. Oder? Ich habe im stillen gerade gedacht, aha, und wenn man dem Heiligen Geist begegnet? Das belebt doch, nicht wahr? Und ist das auch eine Bedrohung? Da könnten Sie natürlich antworten, allerdings, das wäre auch eine Bedrohung, und was für eine. So gesehen würde ich Ihnen zustimmen. Ich finde Ihre Formel sehr anregend. Es gibt einen Text von Botho Strauß, der heißt »Theorie der Drohung«. Da geht es um drohen, bedrohen, bedroht werden und bedroht sein. Das ist keine Theorie, sondern eine Erzählung. Und Sie haben uns jetzt eine »Theorie der Belebung« vorgeschlagen, der geradewegs eine »Theorie der Bedrohung« entspricht. Sie sind ein Freund dialektischer Pointen.
JANZ: Nun ja, einen ganz so ausschließlichen Charakter hat das vielleicht nicht, jedenfalls nicht in meiner Biographie. Und doch. Wenn es da ist, das Belebende, das Entflammende, geht es auch in Richtung des Bedrohlichen. Das ist so. Alles in Anspruch nehmen, sich von allem in Anspruch nehmen lassen, kann bedrohlich werden.
KLEINSCHMIDT: Es gibt das schöne Wort von Freud »die Seele altert nicht«. Würden Sie das auch so sehen?
JANZ: Ja, das ist sehr gut. Auch da gibt es viele schöne stellvertretende Erfahrungen, etwa wenn ich an meine Enkel denke. Das ist gegenseitig. Der eine, der verabschiedete sich heute morgen und sagte, also du weißt ja, wir brauchen uns.
KLEINSCHMIDT: Wie echte Schiffskameraden. Sie sind ja Marinesoldat gewesen.
JANZ: Ja, es hat dieses Flair des Umarmens. Die älteste Enkelin ist zwanzig. Sie ist ein sensibles und sympathisches Wesen, sehr sublimiert in ihrer ganzen Lebensart. Auf der anderen Seite sehr sportlich, sehr ehrgeizig. Für mich ist sie äußerst anziehend. Und mit ihr habe ich, wie soll ich sagen, so was wie eine poetische Beziehung. Ich sage ihr, sie solle mir doch mal Gedichte schicken, ein oder zwei von einem italienischen Dichter, den sie liebe. Und dann hat sie mir Gedichte geschickt, wunderschöne Sachen. Ich habe mühsam eine Übersetzung gemacht. Die habe ich ihr geschickt und dazu gesagt, nun schreib mir mal, wie du das übersetzen würdest. Sie ist zweisprachig. Da hat sie eine Übersetzung gemacht, die viel besser war als meine, sehr viel besser, das habe ich ihr auch gesagt. So was macht mich glücklich. Denn da ist keine Bedrohung dabei. Das sind eben, würde ich sagen, poetische Beziehungen.
KLEINSCHMIDT: Das ist eine sehr gute Konkretisierung. Die Kategorie des Belebenden hat jetzt eine erste Unterabteilung bekommen, die poetischen Belebungen, die sind nicht bedrohlich. Erotische sind bedrohlich. Auch philosophische können bedrohlich sein, oder? Ich weiß nicht, ob man mit neunzig noch mal seine Philosophie wechselt. Halten Sie so was für möglich?
JANZ: Ich glaube es nicht. Ich glaube nur, daß man seine Philosophie im Alter besser durchschaut.
KLEINSCHMIDT: Es gibt einen Satz von Ernst Jünger, der sinngemäß lautet: Keiner stirbt, bevor er nicht seine Aufgabe erfüllt hat. Ich könnte also auf die Frage, warum Sie so alt geworden und dabei so frohgemut und lebensverbunden geblieben sind, antworten: weil Sie weiterhin eine Aufgabe haben, die Sie gerne erfüllen, die Sie nicht als Last empfinden, die Sie nicht loslassen. Obwohl Sie inzwischen vieles losgelassen haben, Patienten, Assistenten, Studenten, Vorlesungen, Seminare, Vorträge – das Loslassenkönnen gehört ja zur Freiheit. Es gibt viele Menschen, die das nicht können und darüber unglücklich werden, denn loslassen müssen sie ja doch irgendwann. Das ist schon eine große Fähigkeit, nicht nur im Beruf, auch im Leben. In der Biographie eines jeden gibt es das Kapitel Trennungen, und Trennungen sind meist ein erzwungenes Loslassen, ein hartes, schmerzhaftes. Beim freiwilligen Loslassen kommt es auf den Zeitpunkt an, nicht zu früh, nicht zu spät. Man kann gewiß leichter loslassen, wenn man das Gefühl hat, daß die einem anvertraute Sache in gute Hände übergeht. Sein Verbundenheitsgefühl kann man ja nicht einfach abwerfen wie einen abgetragenen Mantel, wenn man sich Jahrzehnte engagiert hat. Und das wäre auch kein gutes Loslassen, wenn man sagt: Nach mir die Sintflut!
WEICHELT: Wenn man Jüngers Satz zum ersten Mal hört, erschrickt man ein wenig, weil er etwas von Schicksalsergebenheit hat. Aber vielleicht kann man ihn auch so verstehen, daß man die Aufgaben als selbstgestellte begreift, anders gesagt, daß man sich immer wieder selbst Aufgaben stellen muß. Und erst wenn das aufhört, ist es mit dem Leben vorbei.
JANZ: Jetzt haben wir die Frage, wie man die Unsterblichkeit erlangt, beantwortet. Es ist ganz einfach: Man muß sich selbst Aufgaben stellen. Schön wäre es ja. In Wahrheit ist es so, daß die Aufgaben auf einen zukommen. Und wann das endet, liegt nicht in unserem Beschluß.
SINN UND FORM 2/2011, S. 184-204
- 3/2011 | Bleistift - Brücke nach Hause. Ingo Arnolds Graphitzeichnungen
- 4/2011 | Ubi amor, ibi oculus. Der heimliche Dritte in der Prosa von Angela Krauß
- 4/2013 | Logbuch. Letzter Eintrag, S. 73 Leseprobe
Kleinschmidt, Sebastian
LOGBUCH. LETZTER EINTRAG
Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen Schiffes, um im Auftrag eines ehrwürdigen Reeders, der Berliner Akademie der Künste, dafür zu wirken, daß nicht Stürme und nicht Flauten, nicht Untiefen und nicht Klippen dem schönen Segler die Fahrt nehmen, dann geht einem in dem Moment, wo man abmustert, weil es Zeit geworden ist, daß Jüngere das Ruder übernehmen, so manches durch den Kopf. Der Wechsel der Epochen, das Schiff und seine Kapitäne, ihr nautisches Geschick, die Besatzungen, aber auch das Personal der Werften und der Reederei. Nicht zu vergessen das Entscheidende, die Schriften der Autoren, das eigentliche Frachtgut, und die unbekannten Leser, für die es bestimmt ist und die es alle zwei Monate in Empfang nehmen. All denen, die mit Herz und Verstand dafür gearbeitet und gestritten haben, daß Sinn und Form seit fünfundsechzig Jahren seetüchtig ist, sei vielmals gedankt.
Das wichtigste, was Segelschiffe brauchen, ist Wind. Doch gerade der läßt sich nicht kommandieren. Man muß ihn aufspüren. Aufmerksamkeit und Umsicht, Ausdauer und Geduld sind gefragt, variable Routen, bewegliche Rahen, stabile Takelage. Und noch einiges mehr. Der Wind – Seeleute wissen das – weht, wo er will. Es ist wie mit dem Geist. In diesem Sinne sind alle Fahrensmänner Theologen.
Die Fahrten, die Fährnisse – das ist eine lange Erzählung. Zu lang für dieses kleine Wort des Abschieds. Doch eins noch will ich sagen: Es war ein großes Abenteuer, das Abenteuer meines Lebens.
SINN UND FORM 4/2013, S. 621
- 4/2013 | Ins Offene. Musikalität und Sakralität in den Gedichten Christian Lehnerts
- 4/2013 | Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Basil Kerski und Adam Zagajewski, S. 73 Leseprobe
Kleinschmidt, Sebastian
Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Basil Kerski und Adam Zagajewski
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann sind Sie Adam Zagajewski das erste Mal begegnet?
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Das muß Anfang der neunziger Jahre im Literarischen Colloquium am Wannsee gewesen sein.
KERSKI: Kannten Sie damals schon das Werk von Zagajewski?
KLEINSCHMIDT: Nein, leider nicht. Es war eine Zufallsbegegnung, aber sie mündete schon bald in eine fruchtbare Zusammenarbeit. 1994 erschienen Adams erste Gedichte in Sinn und Form und 1995, verteilt auf zwei Hefte, der umfangreiche Essay »Zwei Städte«, ein poetisch-philosophischer Versuch über die polnische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht immer weckt ja die Begegnung mit einem Autor die sofortige Neugier auf sein Werk. In meinem Elternhaus verkehrten viele Schriftsteller, ich habe sie schon als Kind kennengelernt, und in einigen Fällen führte das sogar dazu, daß ich ihre Bücher bis heute nicht gelesen habe. Meine Begegnung mit Adam hat sofort mein geistiges Interesse an seinen Sachen geweckt.
KERSKI: Haben Sie bei Ihrer ersten Begegnung gespürt, daß Sie einer Generation angehören? Hat das zu einem Gefühl der Nähe geführt?
KLEINSCHMIDT: Wir sind vom Alter her nur drei Jahre auseinander, das fällt nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch zunächst wurden mir eher die Unterschiede deutlich. Adam ist eben ein polnischer Intellektueller, und die polnischen Intellektuellen waren den DDR-Intellektuellen in mancher Hinsicht eine Epoche voraus. So gesehen schien mir Adam doch einer anderen Generation anzugehören.
KERSKI: Herr Zagajewski, wie haben Sie die erste Begegnung mit Sebastian Kleinschmidt erlebt? Sie, ein damals in Paris lebender, kosmopolitischer polnischer Dichter, und er, ein neugieriger Ostdeutscher, der gerade seine ersten Erfahrungen mit der freien Welt gesammelt hatte?
ADAM ZAGAJEWSKI: In Sebastian Kleinschmidt bin ich zum erstenmal jemandem aus der DDR begegnet, der gegenüber Phänomenen, die dort nicht präsent waren, eine besondere Neugier hatte. Diese edle Neugier spiegelt sich in Sinn und Form wider. Die Quelle unserer Freundschaft war nicht das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation. Das Gemeinsame war das Interesse an Religion und Theologie, das aber nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hatte. Beide hielten wir ein wenig Abstand zum Zeitgeist, beide waren wir ein wenig abseits der Mode.
KERSKI: Als mir Mitte der neunziger Jahre Sinn und Form in die Hände fiel, war ich angenehm überrascht vom starken mitteleuropäischen Profil der Zeitschrift: ein Periodikum auf der Suche nach verschütteten literarischen und philosophischen Traditionen in Europa, eine Redaktion, die in alle Himmelsrichtungen schaute, nicht nur zu den westlichen Kulturmetropolen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den östlichen Nachbarn war eine in der damaligen deutschen Kulturlandschaft eher selten anzutreffende Haltung. Herr Kleinschmidt, wie ist es nach 1989 – gegen den damaligen Trend in Ostdeutschland – zu dieser erstaunlichen Präsenz der mittel- und osteuropäischen Literatur in Sinn und Form gekommen?
KLEINSCHMIDT: Sinn und Form ist von 1949 bis 1989 philosophisch ganz auf den ja nicht nur unehrenhaften Pfaden der sozialistischen Idee und einer marxistisch verstandenen Kultur gewandelt, freilich mit größerer innerer Freiheit, mehr Phantasie, weniger Engstirnigkeit als vergleichbare Zeitschriften in der DDR. Zum offiziellen Vokabular wurde zwar Abstand gehalten, die geistige Zugehörigkeit zum kommunistischen Gedankenkreis aber nicht in Frage gestellt. Nach Jahren einer schleichenden Erosion erlebten wir dann 1989 quasi über Nacht und mit reißender Schnelle die institutionelle Implosion des ganzen staatssozialistischen Begriffsgebäudes. Das Besondere daran war: Hier begann eine Revolution einmal nicht mit der Illusion, sondern mit der Desillusion. Als die Illusion auf dem Tiefpunkt und die Desillusion auf dem Höhepunkt war, brach der Status quo in sich zusammen. Das Scheitern der Utopie, die Niederlage der Idee setzten eine gewaltige Erfahrung frei, übrigens eine Erfahrung, die uns einen gewissen Vorsprung vor den westdeutschen Generationsgenossen eintrug, denn die hatten das alles nicht am eigenen Leibe erlebt. Auf einmal stand die Erfahrungsfülle des Ostens gegen die Erfahrungsarmut des Westens. Das veränderte nicht nur unser Denken und unsere Sprache. Wir mußten uns gänzlich neu orientieren. Einen Mentor, der uns den rechten Weg gewiesen und das Ziel gesteckt hätte, gab es nicht. So gerieten wir in eine Art philosophische Unruhe, in eine schöpferische Verfassung. Und wer in schöpferischer Verfassung ist, hat ein untrügliches Gefühl dafür, wo der Geist weht und wo nicht. Also fingen wir an zu suchen, aber es war keineswegs so, daß wir wußten, wonach wir suchten. Erst als wir fündig geworden waren, wurde uns klar, was wir gesucht hatten. Das aber, was wir fanden, war nicht das, was im Westen gerade Erkenntniskonsens war.
KERSKI: Ich frage nach Sinn und Form, um jenen Geist einzufangen, der meiner Ansicht nach auch für das essayistische Werk von Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt prägend ist. Was die Attraktivität der Zeitschrift nach 1989 ausmacht, ist ja nicht nur das sichere Gespür für herausragende Autoren und Denker, sondern auch die im Westen verschollene Neugier auf das Metaphysische und Theologische, also eine Haltung, die in den neunziger Jahren in der alten Bundesrepublik unter Intellektuellen eher verpönt war. Metaphysik, religiöse Fragen, das scheint mir eine wichtige Verbindungslinie zwischen Ihnen beiden zu sein.
KLEINSCHMIDT: Ich komme aus einem evangelischen Pfarrhaus und habe die religiöse Sphäre schon als Kind kennengelernt. Mein Vater war Domprediger in Schwerin, Linkslutheraner und bekennender Sozialist. Durch ihn konnte ich erfahren, wie bestimmte Dinge, die für die meisten getrennt waren, doch zusammengehörten. Wer von Berufs wegen mit Sinnfragen konfrontiert wird – und als Chefredakteur einer Zeitschrift, die Sinn und Form heißt, wird man damit konfrontiert –, der kann der Theologie nicht aus dem Weg gehen, denn ohne Theologie kommt man hier nicht voran, wie immer man auch zu ihr stehen mag. Man kann sogar in ein produktives Verhältnis zur Theologie gelangen, wenn man gänzlich unreligiös ist – was ich von mir gar nicht sagen würde.
ZAGAJEWSKI: Für mich sind Sinn und Form und Sebastian Kleinschmidt nicht so leicht voneinander zu trennen. Sinn und Form ist für mich ein Haus, in dem ich zwar nicht wohne, aber es ist eins der wenigen Häuser in der Welt, die ich kenne. Es gibt heute – vielleicht besonders in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland – falsche Trennungen. Auf der einen Seite hat man das sogenannte fortschrittliche Lager und die linksliberale Meinung, mit ihrer ironischen Literatur, die überhaupt kein metaphysisches Interesse hat; und auf der anderen Seite stehen die sogenannten Rechten. Man weiß nie, was ›diese Rechten‹ denken. Sind sie nun getarnte Faschisten oder nicht? Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber sie spiegelt doch die Klischees gut wider. Sinn und Form repräsentiert meiner Ansicht nach einen Denkstil, der diese falsche Trennung zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch ›verdächtigen‹ Denken auf der anderen Seite aufhebt. Sie repräsentiert quasi die Mitte. Das ist großartig. Ich sehe hier ein Denken, das auf der Suche ist, das den Geheimnissen der Welt nachgeht, das zu keiner festen Form geronnen ist, das gewillt ist, klischeehafte Vorstellungen von geistigen Haltungen, geistiger Reizbarkeit abzuschaffen.
KERSKI: Herr Kleinschmidt, eine wichtige Inspirationsquelle für Sie ist das Werk von Hans-Georg Gadamer. Eine der ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Sie 1990 zu Gadamer nach Heidelberg. Ihr Gespräch mit ihm erschien 1991 in Sinn und Form. Kann man dieses Gespräch als programmatisch für die Aufbruchszeit Ihrer Zeitschrift nach der deutschen Vereinigung betrachten?
KLEINSCHMIDT: Adam sprach von der Mitte, um den geistigen Standort von Sinn und Form zu lokalisieren. Gadamer verkörpert für mich den Denktypus der offenen Mitte und des unkonventionellen Mittlers. Er ist ein Beispiel dafür, daß die Dialektik der mesotes, wie Aristoteles das nannte, nicht nur politisch vernünftiger, sondern auch geistig interessanter ist als die Extreme links und rechts davon. Immer gilt das nicht, aber in Gadamers Fall gilt es. In der Begegnung mit diesem außerordentlichen Mann habe ich oft genug erlebt, daß die Mitte, will sie anregend, fruchtbar und ausgleichend sein, die Berührung mit abweichenden, gegensätzlichen, ja gefährlichen Gedanken nicht scheuen darf. Dazu braucht es Souveränität, Toleranz, innere Freiheit, Liberalität und, wie an ihm zu sehen, philosophische Gelassenheit. Wenn dann auch noch Humor dazukommt, kann eigentlich nichts passieren. Sobald ich Gadamer lese, erfahre ich das Paradox der Zentrierung: mein Denken kommt in Bewegung, und ich selbst komme zur Ruhe. Ich werde in meine eigene Mitte gestoßen oder, besser, gelockt.
KERSKI: Ihre Faszination für Gadamer haben Sie in ihrem Essay »Gegenüberglück « beschrieben. Unter diesem Titel ist 2008 auch eine Sammlung Ihrer Essays und Gespräche bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Den Gadamer-Beitrag kann man nicht nur als Annäherung an die hermeneutische Philosophie, sondern auch an die Gattung des Essays lesen. Sie charakterisieren Gadamers Verstehenslehre als eine Philosophie der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, der Neugier auf anderes, des wechselseitigen Lernens im Gespräch. Gadamers unvergleichliche Art, Gespräche zu führen, sein Verknüpfen von Erzählen, Reflektieren, Anspielen und Vertiefen, von Ernst und Ironie, beschreiben Sie voller Bewunderung. Alle diese Elemente könnte man auch als schöne und unerläßliche Bestandteile einer Kunst des Essays ansehen.
[...]
SINN UND FORM 4/2013, S. 508-518
- 2/2014 | Der Pfeil des Lebens und der Pfeil der Werke. Laudatio zum Günter-Eich-Preis auf Jürgen Becker, S. 73 Leseprobe
Kleinschmidt, Sebastian
DER PFEIL DES LEBENS UND DER PFEIL DER WERKE Laudatio zum Günter-Eich-Preis auf Jürgen Becker
Der polnische Dichter Adam Zagajewski hat vor vielen Jahren ein langes, wehmütiges Gedicht mit dem Titel »Elektrische Elegie« geschrieben. Es beginnt so:
___Leb wohl, deutsches Radio mit dem grünen Auge,
___du schwere Kiste, zusammengesetzt – fast –
___aus Körper und Seele (deine Lampen glühten
___lachsfarben, rosig, wie das tiefe Ich
___bei Bergson).
______Durch den dicken Stoffbezug über dem
___Lautsprecher (mein Ohr preßte sich an dich wie ans
___Gitter des Beichtstuhls) hatte einst Mussolini
______________________________geflüstert,
___Hitler geschrien, Stalin etwas ruhig erklärt,
___Bierut gezischt, Gomulka ohne Ende geredet.
___Dennoch wirft dir niemand Verrat vor, Radio,
___nein, deine einzige Sünde war der unbedingte
___Gehorsam, die zärtliche Treue zu den Megaherzen:
___Wer kam, wurde gehört, wer sendete –
___empfangen.
Zagajewskis Großvater war Germanist, er besaß einen Rundfunkapparat. Von diesem deutschen Erbstück erzählen die Verse.
Auch Jürgen Becker könnte vom Radiohören erzählen, ebenso elegisch, ebenso erinnerungstreu. Und er hat 2003 in »Schnee in den Ardennen« davon erzählt: »Jetzt sind es vier Jahrzehnte her, daß ich die beiden Kammern bezog, die früher der Heuboden waren. Manchmal drehte ich abends am Radio, ein kleiner cremefarbener Philips, eines der ersten Nachkriegsgeräte. Einmal blieb ich im Bereich der Langwelle, wo sonst keine Sender zu empfangen waren, an einer weiblichen Stimme hängen, die Zahlen aufsagte, in unregelmäßiger Reihenfolge, vorwärts und rückwärts, zwischen eins und zehn. Es war eine merkwürdig tonlose Stimme, die mechanisch, fast maschinenhaft in einem gleichbleibenden Rhythmus sprach. Auffallend war, daß sie die Zahl fünf mit einem eingefügten e artikulierte: fünnef. Irgendwann brach die Stimme ab, und man hörte nur noch das kaum merkliche Rauschen des Nichts, das am Ende der Skala beginnt. Mehrere Abende lang, in der Stunde vor Mitternacht, wartete ich auf die geheimnishafte Stimme, die sich nicht regelmäßig meldete; dann wohnte ich wieder woanders und dachte nicht mehr daran.«Ist das nicht auch eine elektrische Elegie? Nur diesmal in erzählender Prosa, doch nicht weniger poetisch.
Der Rundfunk, gab Jürgen Becker einmal zu Protokoll, habe ihn seit Kindertagen begleitet, zuerst als Problem in der Ehe seiner Eltern. Seine Mutter war lebensfroh, hörte gern Musik und wünschte sich immer ein Radio. Sein Vater, ein unmusikalischer Mensch, konnte damit nicht viel anfangen. Er erzählte ihm eine Anekdote aus den zwanziger Jahren: Im Haus der Schwiegereltern, in dem seine Eltern wohnten, war es üblich, daß man abends zusammensaß und plauderte. Als der Schwiegervater sich ein Radiogerät zulegte, hörten die Gespräche auf. Plötzlich saß alles um den Apparat herum, die Sendungen waren damals noch schwer zu verstehen. Keiner durfte in der Kaffeetasse rühren, weil das Krach machte. Für seinen Vater sei diese Erfahrung ein Schock gewesen: das Ende der Gespräche.
Das hätte auch eine Urszene in Jürgen Beckers Biographie sein können. In seinem Buch »Im Radio das Meer« steht der Satz: »Seine Kindheit war eine Schule des Schweigens. Vielleicht, sagt er, ist das der Grund, warum er nie habe richtig erzählen können.« Aber könnte man nicht in der Schule des Schweigens auch eine Schule des Hörens sehen? Was wir aus Beckers Werk kennen, das Klangkino der Sprache, die akustische Landschaft, den Hall und Schall der Geschehnisse, Facetten aus der Geschichte der Geräusche, Stille und Sprechen, die Vielstimmigkeit, in uns und außer uns, Stimmen aus der Ferne, Stimmen, die sich widersprechen, den schönen Vers »die Richtung des Windes entscheidet, / welchen Geräuschfilm die Nacht durchs Zimmer zieht«, all das war, ehe es durch die Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre eine Bestätigung fand, bereits den Erlebnissen des Kindes inskribiert, es war, bevor es Einzug hielt in Jürgen Beckers Schreiben, zu einer sein Bewußtsein prägenden Selbsterfahrung geworden.
Und das nicht nur auf die Familie bezogen. Im Interview erzählte er, daß er als kleiner Junge intensiv das Kriegsgeschehen verfolgte. Es kamen ständig Sondermeldungen mit den Siegen der Wehrmacht. Das Radio lieferte ihm die Kriegsberichterstattung. Da gab es Berichte von der Front mit Kampfgeräuschen, heulenden Stukas, die er fasziniert hörte. Zugleich hatten sie den »Drahtfunk«, der über den Telefonanschluß lief. Der für Thüringen zuständige Sender informierte dort über die Luftlage; sie erfuhren also, wo ein feindlicher Bomberverband im Anflug war. Der Drahtfunk, erinnert er sich, »war geisterhaftes Radio. Man hörte erst ein merkwürdiges tickendes Geräusch und dann die monotone Stimme der Sprecherin. Natürlich habe ich auch die sogenannten Feindsender entdeckt. Als ich eines Abends am Radio spielte, fand ich sogar zwei dieser Sender: BBC London und Radio Luxemburg. Da bekam man Meldungen mit, die man im großdeutschen Rundfunk nicht hören konnte. Ich konnte diese Sender nur heimlich hören, mein Vater durfte es nicht erfahren. Mein Vater hörte aber auch heimlich, was ich wiederum nicht wissen durfte […] Mein Verhältnis zum Radio ist früh durch Geheimnisse und Verbotenes bestimmt worden.«
Die Welt des Hörspiels tat sich damals für den Heranwachsenden noch nicht auf. Das geschah erst nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre, als er wieder in Köln war. Jetzt kam es auch zur Begegnung mit den Hörspielen von Günter Eich. Zu einem Gedenkbuch für ihn hat Jürgen Becker 1973 ein Gedächtnisgedicht beigesteuert. Es vergegenwärtigt eine Frühstücksszene in der Westberliner Akademie der Künste. Zeilen aus Eichs Versen und Satzfragmente aus dem Gespräch mit ihm durchziehen den Text. Das Gedicht offenbart Respekt und Distanz und auch etwas von dem, was Sibylle Cramer später ein Gegenprogramm genannt hat.
Vom Hörspiel war in dem Gedicht nicht die Rede. An anderer Stelle aber hat sich Becker auch zum Radioautor Eich geäußert: »Wenn ich von Günter Eich gelernt habe, welche Kraft der Imagination dem Hörspiel eigen sein kann, dann habe ich zugleich gelernt, daß es nicht unbedingt nötig ist, dem Hörspiel eine Szene, eine unsichtbare Bühne einzurichten, sondern es allein im sprachlichen Vorgang entstehen zu lassen.« Auch hier Respekt und Distanz, auch hier ein Stück Gegenprogramm.
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SINN UND FORM 2/2014, S. 256-264, hier S. 256-258
- 6/2014 | Im Osten der Länder. Laudatio auf Lutz Seiler zum Uwe-Johnson-Preis
- 5/2015 | Der Zirkelschlag des Gedichts. Laudatio auf Adam Zagajewski zum Heinrich-Mann-Preis
- 4/2017 | Atem und Aura des nächtlichen Himmels. Laudatio auf Jochen Winter
- 1/2018 | Vom Unheil des Erkennens. Hartmut Langes erster Novellenband
- 6/2019 | Gänse im Traum
- 1/2022 | Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit, S. 73 Leseprobe
Kleinschmidt, Sebastian
Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit
[…]
Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich spreche von der heraufziehenden Klimakrise, vom drohenden Versiegen des Golfstroms, von starken Stürmen, langen Dürren, großen Überflutungen, vom Auftauen der Permafrostböden, vom Schmelzen des polaren Eises und dem alptraumhaften Ansteigen des Meeresspiegels. Hier gewinnen die Voraussagen – nicht von Sehern, sondern aus der Forschung (der Schriftsteller Ulrich Horstmann nennt sie »das verhängnisorientierte wissenschaftliche Hochrechnungswesen«) – inzwischen tatsächlich den Charakter apokalyptischer Prophezeiungen. Und werden an manchen Orten schon Wirklichkeit und Wahrheit. Ende Juni 2021 wurden in der Ortschaft Lytton in der westkanadischen Provinz British Columbia sage und schreibe 49,6 Grad Celsius im Schatten gemessen. Drei Tage später wurde das Dorf von einer Feuerwalze überrollt. Die Einwohner mußten fliehen, Hals über Kopf. So gut wie alles, was sie besaßen, wurde ein Raub der Flammen. Komplett verkohlte Häuserreihen und Straßenzüge, der Ort zu neunzig Prozent zerstört.Und drei Wochen darauf das Gegenstück in Deutschland. Zwei Tage Starkregen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Wassermassen haben zwei kleine Flüsse, die Ahr und die Erft, in rasender Geschwindigkeit auf Rekordpegel ansteigen lassen, zum Überlaufen gebracht und zu gewaltigen Überschwemmungen und Erdrutschen geführt, die besonders die Orte Ahrweiler und Erftstadt schwer in Mitleidenschaft gezogen haben. Mehr als hundertachtzig Tote, verseuchter Schlamm, weithin ruinierte Häuser, Straßen, Bahngleise, Brücken, Strom- und Gasleitungen, Fabriken und Krankenhäuser sind die Folge. Nicht wenige, die in Kanada das Feuerinferno durchmachten, werden gedacht haben, daß das die Anfänge hyperletaler Hitzewellen sind. Und nicht wenige, die in Deutschland das Wasserinferno erlitten, werden gedacht haben, daß so moderne Sintfluten aussehen. Und daß das eine wie das andere ein Zeichen dafür ist, daß unser Aufenthalt auf Erden ein tragisches Ende nehmen könnte.
Apokalypse heißt Enthüllung, Offenbarung. Was offenbart sich hier? Der Dichter und Theologe Johann Gottfried Herder hat einmal in einem hochfliegenden Wort vom Menschen als dem ersten Freigelassenen der Schöpfung gesprochen. Heute erst zeigt der Satz seinen diabolischen Doppelsinn. Der Freigelassene der Schöpfung, der aus ihr Herausgetretene, der nicht mehr an sie Gebundene. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, entpuppt sich als Parasit der Erde, als Irrläufer der Evolution. Und die Erde schickt sich an, ihn abzuwerfen.
Wir kennen alle die berühmten Verse aus Bertolt Brechts Exilgedicht »An die Nachgeborenen«, geschrieben zwischen 1934 und 38 im dänischen Svendborg: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Natur als Gegenstand der Poesie, so die politische Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird. Und nun scheint es so zu kommen, daß gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird, ein Unheil, das nicht durch die Natur selbst, sondern durch menschliche Einwirkung auf sie mitverursacht ist. Gespräche über Bäume werden immer öfter zu Gesprächen über brennende Bäume. Auf griechischen Inseln werden dieser Tage Kirchenglocken geläutet, um Menschen zu evakuieren. Im Nu wird dort ein Sommerwald zu Winterwald – nur ohne Schnee und Kälte. Statt dessen Asche und verbrannte Erde.
Augenscheinlich befindet sich der Metabolismus zwischen Mensch und Natur an einem schicksalhaften Wendepunkt. Wir leben mehr und mehr in der gleichsam mythischen Befürchtung, daß es mit der Duldsamkeit der Natur zu Ende geht, daß uns Wetter und Himmel dafür strafen werden, daß wir im Aussaugen, Verschmutzen und Vermüllen, im Versiegeln und Vergiften, im Bebauen und Besiedeln der Erde, kurz im herrschsüchtigen Industrialismus der Massenzivilisation zu weit gegangen sind.
In der heutigen Wirtschaft, so Klaus Michael Meyer-Abich, der 2018 verstorbene Naturphilosoph, tun die Menschen so, als seien sie irgendwann als interplanetarische Eroberer auf die Erde hinabgeschwebt, um es sich dort eine Zeitlang möglichst gutgehen zu lassen, und als könnten sie, wenn nichts mehr zu holen ist, auf demselben Wege wieder verschwinden.
Flucht nach vorn, könnte man das nennen, und Milliardäre wie Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk sind im Begriff, sie exklusiv anzutreten. Damit sind wir mittendrin im Sorgenzentrum der Gegenwart. Hat das 20. Jahrhundert – in Gestalt von Hitlerismus und Stalinismus – das Grundvertrauen in die menschliche Zivilisation erschüttert, droht das 21. Jahrhundert auch noch das Grundvertrauen in die Natur zu zerstören.
Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, daß ein neues Erdzeitalter begonnen hat, das Anthropozän, und daß bestimmte Reaktionen der Natur erstmals eine Folge menschlicher Rückwirkungen auf sie sind. All diese Dinge und besonders die Erderwärmung und was aus ihr folgt machen mehr und mehr Angst. Ist sie berechtigt? Ich fürchte – nüchtern betrachtet und ohne die Maske der Kassandra anzulegen –, ja.
Über Angst wird ungern gesprochen, denn sie scheint, da mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, den Menschen zu lähmen und zu erniedrigen. Die Leute denken, Angst sei etwas für Feiglinge. Doch dem ist nicht so. Es gibt auch einen Mut zur Angst. Angst ist keine Störung, sie wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umgebung geweckt, sie ist eine instinktive Form der Wahrnehmung von akuter und von künftiger Gefahr. Und so stellt sich – wir sind ja hier unter dem Dach der Kirche – die Frage: Sollte man sie, die Angst, nicht zum Angelpunkt einer dem Ernst der Lage angemessenen Spiritualität machen? Von Gottesdiensten, die das Bewußtsein der Bedrohung schärfen? Denn ohne Angst, ohne das Vor- und Mitwissen der Angst, ohne ihre Nähe zur Wahrheit sind wir, um an ein Wort des Philosophen Günther Anders zu erinnern, »apokalypseblind«. Doch höre ich schon den Einspruch der Theologen, Angst dürfe niemals die Grundlage des Glaubens sein. Christen bauen auf Hoffnung, auf Vertrauen in Gott als Fundament der Hoffnung, und sei es am Ende die Hoffnung verzweifelt Hoffender.
Doch vergessen wir nicht, daß die alte, vertraute christliche Hoffnung nicht mit der diesseitigen Apokalyptik verbunden war, sondern mit der biblischen. In der Heiligen Schrift gibt es mindestens zwei davon, im Alten Testament das Buch Daniel und im Neuen Testament die Offenbarung des Johannes. In beiden artikulieren sich nicht nur bildmächtige Gesichte göttlich beorderter Schrecken zum einbrechenden Ende der bisherigen Welt, des alten Äon, sondern auch Gesichte einer messianischen Rettung, einer neuen Welt, des neuen Äon. Die Johannesoffenbarung, geschrieben in der Zeit römischer Christenverfolgung, endet mit der Vision des himmlischen Jerusalem, das Buch Daniel, dessen Geschehnisse sich während der babylonischen Gefangenschaft der Juden ereignen, endet mit der Vision des aus den Wolken herniederschwebenden Menschensohns und der Vorhersage, daß die Gerechten des Volkes Israel aus den Gräbern auferstehen werden zu ewigem Leben.
»Der Zweck dieser Literatur«, so der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide ganz unpathetisch, »ist zweifach: Trost zu spenden über das Elend heute – mittels der Belehrung über das Unheil von morgen, dem das Heil von übermorgen unverzüglich folgen muß.«
Was aber wenn – wie in der säkularen Apokalyptik – keine Rettung, kein Heil von übermorgen verheißen wird? Wenn folglich die Erwartung dunkler Fatalität jeden Versuch, auf religiöse Weise an neue Anfänge zu glauben, unausführbar macht? Gleichsam das Kreuz ohne Auferstehung, Karfreitag ohne Ostersonntag. Dann stünden wir an einem Punkt, wo es nirgendwo transzendenzverbürgte Hoffnung mehr gäbe. Und wo allein die Angst der irdischen Wesen bliebe.
Im Umgang mit Angst sind uns drei Reaktionen vertraut, ja wohlvertraut, verkleinern, vergrößern oder bannen. Angst verdrängen macht blind für Gefahr. Angst schüren macht zittern bei Gefahr. Angst bannen macht stark in Gefahr. Ins Politische gewendet: Angst ignorieren führt zu Illusionismus. Angst schüren zu Machiavellismus. Angst bannen zu Wachsein und Besonnenheit.
Das »führt zu« gilt auch andersherum: Ignoranten – nach dem Motto, dieser Kelch wird schon an uns vorübergehen – drängen auf Angstvergessen; Machiavellisten – nach dem Motto des Namensgebers »Angst ist die solideste Grundlage, um andere für sich einzunehmen« – drängen auf Angstschüren; Wache und Besonnene – ganz ohne Motto – drängen auf Angstbannen.
Als Gebot der praktischen Vernunft bleibt nur das Dritte, die Mitte zwischen den Extremen, nämlich das kluge, pragmatische Bannen der Angst. Ansonsten wird sie uns in ihren Bann schlagen. Soll heißen, daß wir uns von ihr überwältigen lassen. Wir müssen in unserer Lage Angst sowohl respektieren als auch bezwingen. Nicht nur um der Schreckensspirale des Prognosen-Alarmismus zu widerstehen, sondern auch dem Doom Scrolling. Doom, englisch, steht für Untergang, Scrolling für das Verschieben von Bildausschnitten auf den Displays unserer Smartphones. Doom Scrolling ist der obsessive Drang, unentwegt düstere, ja dystopische Nachrichten im Netz zu konsumieren. Es befeuert das, was man inzwischen weltweit Climate Anxiety, Klima-Angst, nennt. Doch auch dem Gegenteil, der wenig ratsamen Gelassenheit, gilt es zu trotzen, der Vogel-Strauß-Mentalität. Der Dichter Hanns Cibulka, der nicht aufs Warten setzen wollte, schrieb schon Anfang 2000: »Obwohl die Temperaturen nur langsam steigen, fühlen wir bis in die Fingerspitzen die Bedrohung. In allen Dingen wächst verdeckt die Angst.« Aber wie und mit welchen Mitteln will man sich dem unheilschwangeren Ganzen, von dem wir schon seit drei Jahrzehnten wissen, überhaupt entgegenstellen? Jetzt spreche ich nicht von Aktivismus, nicht von Politik, nicht von Wissenschaft, nicht von Maßnahmen der sogenannten Klimarettung wie der Reduzierung des anthropogenen Anteils am CO2-Gehalt der Atmosphäre und der daran geknüpften Hoffnung, den Treibhauseffekt und damit die Erderwärmung zu stoppen. Die Angst, die tückische, sagt uns ja gerade: Das Drama ist nicht aufzuhalten, was auch immer wir dagegen unternehmen. Die Gewichte, die zu stemmen wären, sind zu groß. Kaum daß es uns gelingen werde, den Lauf der Dinge zu verzögern, von Richtungsumkehr nicht zu reden. Der alles andere als apokalypseblinde Rudolf Bahro meinte einmal: »Es ist, als wollten wir uns mit Tonnen Blei an den Füßen aus einem Schiffbruch retten.«
Hier stellt sich nun erneut die Gottesfrage, eine Frage, von der so viele dachten, daß sie längst hinter uns liege. Sie geht übrigens auch Agnostiker und Atheisten etwas an. Selbst wenn wir nichts von der Angst wüßten, eines wissen wir: Angst lehrt beten. Auch diejenigen, die zuvor noch nie gebetet haben. Und nicht nur das. Beten ist auch ein wirksames Mittel dagegen. Die Angst drückt von außen nach innen, das Gebet löst von innen nach außen. Ohne Beten kein Bannen. Das gilt auch für das Singen. Von Augustinus stammt der Satz: »Wer singt, betet doppelt.« Der Psalm 107 spricht von jenen, »die dann zum Herrn riefen in ihrer Not, und er errettete sie aus ihren Ängsten«.
Diese Ansicht wird natürlich nicht von allen geteilt, zum Beispiel nicht von Bertrand Russell, dem britischen Mathematiker und Philosophen. Der Nobelpreisträger hat in seiner Schrift »Warum ich kein Christ bin« von 1927 kurz und bündig erklärt: »Was die Religion betrifft, bin ich der gleichen Ansicht wie Lukrez. Ich halte sie für ein aus der Angst geborenes Übel und eine Quelle unsäglichen Leids für die Menschheit.« In seinem Buch »Eroberung des Glücks« von 1930 hat er jenseits des Glaubens ein eigenes Programm der Angstbekämpfung entworfen, das ganz auf Rationalisierung setzt.
Es geht in etwa so: Wenn Unheil drohe, sei es ratsam, sich ernsthaft und bedacht zu überlegen, was im schlimmsten Falle eintreten könnte. Hat man sich das möglicherweise bevorstehende Mißgeschick genau ausgemalt, dann suche man nach triftigen Gründen, aus denen es alles in allem doch nicht gar so furchtbar sei. Solche Gründe gebe es immer, da selbst im allerschlimmsten Falle nichts, was uns persönlich geschehe, irgendeine kosmische Auswirkung habe. Sobald man eine Zeitlang den schlimmsten Ausgang in Ruhe überdacht habe und mit aufrichtiger Überzeugung zu dem Schluß gekommen sei, daß er schließlich doch nicht von so ungeheurer Bedeutung ist, werde man finden, daß die Selbstquälerei in ganz erstaunlichem Grade nachlasse.
Wohl dem, möchte man dem großen Gelehrten zurufen, bei dem es funktioniert! Allerdings war dies nicht einmal bei ihm selbst der Fall. Wie Russell in seiner Autobiographie erzählt, erlebte er verschiedentlich Angstzustände, die er durch kein intellektuelles Verfahren beheben konnte. Auch war es bei ihm nicht die Angst vorm Klimawandel, sondern vor erblichem Wahnsinn und vor Depressionen.
SINN UND FORM 1/2022, S. 44-56, hier S. 49-54
Klemm, Eberhard
- 5/1964 | Bemerkungen zur Zwölftontechnik bei Eisler und Schönberg
- 3/1987 | »Ich pfeife auf diesen Frühling«
Klemm, Eberhardt
- 5/1964 | Bemerkungen zur Zwölftontechnik bei Eisler und Schönberg
Kliche, Dieter
Klimke, Christoph
- 2/2019 | Eisblaue Seen. Gedichte
Kloepfer, Albrecht
- 5/1998 | Nützen oder erfreuen? Bertolt Brecht - poetischer und politischer Auftrag
Klopfenstein, Eduard
- 1/2000 | Renshi - Idee und Gestalt
Klotz, Volker
- 2/1991 | Was war anders, besser? Rückblick auf Eigenarten der DDR-Kultur
Kluge, Alexander
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- 5/1993 | Eine Wirkung über den Tag hinaus
Klunker, Heinz
- 5/2006 | Gespräch mit Hans Mayer (1991)
Knauf, Erich
- 4/2014 | Der unbekannte Zille. Mit einer Nachbemerkung von Wolfang Eckert, S. 437 Leseprobe
Knauf, Erich
DER UNBEKANNTE ZILLE
In der ersten Schwarz-Weiß-Ausstellung der Berliner Sezession 1901 war Zille mit einigen seiner besten Arbeiten vertreten. Er war damals noch im graphischen Gewerbe beschäftigt, Kunst war für ihn kein Broterwerb. Das Honorar, das der »Simplicissimus« und die »Jugend« – die ersten Zeitschriften, die ihn erkannten und schätzten – zahlten, wurde von Zille gern mitgenommen, denn seine »außerdienstliche« Tätigkeit hatte sich bis dahin im Haushaltsplan der Familie nur als Ausgabenposten bemerkbar gemacht.
Die Ausstellung wurde sehr beachtet. Viele, die sonst kaum in eine Bilderausstellung zu bringen waren, wurden von den Zillebildern und der öffentlichen Diskussion, die um diese Blätter entstanden war, angezogen. Das Aufsehen war so groß, daß unter den Mitausstellern neidische Gruppen entstanden, die sich gegen das Eindringliche und seine Lithographenarbeiten auflehnten. Vorher war ihnen der Zille als ulkiger Kauz erschienen, dem man stundenlang zuhören konnte, wenn er beim Bier in seiner ungeschminkten Weise von der Welt der armen Leute erzählte, die den meisten ja so fremd war wie ein ferner Planet. Jetzt aber fiel ihnen plötzlich ein, daß Zille und seine Zeichnungen »nichts mit Kunst zu tun« hatten. Sie besannen sich wieder auf ihre »reinen Grundsätze«, und sie sorgten dafür, daß der entrüstete Ausspruch eines älteren Herrn, der sich mit Schaudern von den Zille-Bildern abgewandt hatte, kolportiert wurde: »Der Kerl nimmt einem ja die ganze Lebensfreude!« Es war nicht schwer, einen solchen Ausspruch zu einem geflügelten Wort zu machen, galt doch bis weit hinein in die Kreise Linksstehender die Ansicht, Kunst habe nicht das Häßliche und Kranke darzustellen, sondern das Bedürfnis nach festlichem Lichterglanz zu erfüllen!
Max Liebermann war es, der sich lebhaft für Zille eingesetzt hatte. In einem Vorwort, das er später zu einem Zille-Buch des Carl-Reissner-Verlages, Dresden, schrieb, hat Liebermann sein Interesse für die Kunst Zilles mit ausgezeichneten Worten begründet. Gescheiter als hundert Maler seiner Zeit, ein Bahnbrecher nicht nur im Formal-Ästhetischen, erkannte Liebermann in Zille den Meister, einen Meister ganz im Sinne jener großen Kunstepochen, in denen die Künstler aus dem Handwerk hervorgingen und ihr Schaffen in einer stetigen Übereinstimmung mit dem Dasein und Empfinden des Volkes steigerten – oft über sich selbst und ihren handwerklichen Horizont hinaus. »Sie sind viel mehr als ein Humorist«, schrieb Liebermann an Zille, »Sie haben Humor«. Ein Wort, das charakteristisch für Max Liebermann ist, das eben nicht nur durch geistvolle Formulierungen überrascht, sondern das auch das Wesen Heinrich Zilles mit einem sicheren Strich umreißt, ein Porträt in einem Zuge.
Auch die zwei anderen Größen der Sezession, Lovis Corinth und Max Slevogt, waren mit Zille befreundet. Edvard Munch und Strindberg, Richard Dehmel, die Bildhauer Gaul und Krauss – Dichter, Maler, Kunsthändler, es war eine lebendige Gesellschaft, in die Zille hineingeraten war. Bei den meisten kam die Berühmtheit erst später, und der Mangel an Mammon sorgte für eine gewisse Gleichheit. Wer etwas im Portemonnaie hatte, wurde zum Futtermeister. Es waren schöne kameradschaftliche Zeiten, erregende und anregende Stunden, die unwiederbringlich dahin sind. Die Epoche der motorisierten Empfindungen hat sie überfahren und totgequetscht.
Eine Erinnerung aus diesen Tagen ist erhalten geblieben, in Marmor verewigt. Der Bildhauer Krauss hat sich den Spaß geleistet, seinen Bierfreund Zille als Modell für die Büste des Edlen Wedigo von Plotho zu nehmen, und so geschah es, daß der an allerhöchster Stelle dreimal verfemte Zille einen Ehrenplatz unter den Hohenzollern und ihren treuen Bannerträgern bekam, in der marmornen Ahnengalerie der Siegesallee im Tiergarten zu Berlin.
Dieser Ulk kennzeichnet den Zillekreis von damals. Die Leute hatten, was heute so rar ist, Humor. Und Humor ist oft, eben weil die anderen so vernagelt und darauf auch noch stolz sind, gleichzusetzen mit Rebellentum.
Zille hätte nicht in diese toll gemischte Kolonne gepaßt, wenn er ein Banause gewesen wäre, der sich etwas auf diesen »Umgang« eingebildet hätte. Er kam sich wahrhaftig nicht als Künstler vor, nicht einmal als einer, der sich in dem Glanz sonnen darf, den andere verbreiten. Zille blieb Lithograph, Arbeiter.
Die dreißig besten Jahre seines Lebens brachte er bei der Lithographischen Gesellschaft zu. Tag für Tag gab er seine Arbeitskraft voll her – für eine Tätigkeit, die auch im besten Falle doch eben nur reproduktiver Natur war. Die Firma hatte erst ihre Werkstatt am Dönhoffplatz, im Zentrum Berlins, gegenüber dem alten Abgeordnetenhaus. Von seinem Fensterplatz aus konnte Zille auf das bunte Marktleben herunterblicken. Die Geflügelstände, die Blumenverkäuferinnen und die Gemüseweiber, das lebhafte Kommen und Gehen der Käuferinnen und die herumstehenden Arbeitslosen interessierten ihn mehr als die Herren Minister und Abgeordneten, die – meist in großer Aufmachung – vor dem Parlament vorfuhren und sich und andere glauben machen wollten, daß sie tatsächlich die politischen Geschicke ihres Volkes leiteten. Zille nahm diese Art von Politik nie sehr ernst. Er sah nur allzu deutlich, wohin der Karren rollte. Auch später, als neue und größere Parlamentshäuser gebaut worden waren, als das Parteiengemisch bunter und die Reden hitziger wurden, blieb Zille bei seiner ironischen Skepsis politischen Dingen gegenüber. Ob Bismarck ging oder »gegangen wurde«, ob der junge Kaiser die militärische Rüstung Deutschlands bis zur akuten Kriegsgefahr steigerte, ob die radikale oder gemäßigte Richtung in der Arbeiterbewegung zum Durchbruch kam – Zille hielt auf einen gewissen Abstand, der es ihm freilich auch ermöglichte, leidenschaftslos und auf gute Sicht gestützt, den Ereignissen bis auf den Grund zu sehen. Was ihn vor allem interessierte, waren die Ergebnisse der Politik, die Wirkung auf die Menschen, und da mußte er zu der Feststellung kommen, daß der fünfte Stand, also sein Bezirk, nicht berührt wurde, was auch geschehen mochte. Der politisch aktive Arbeiter blieb stets außerhalb von Zilles Gesichtsfeld. Zille übersah ihn, weil er sich selbst nicht zur politischen Aktivität aufschwingen konnte. Er hatte darin durchaus die Wesenszüge des deutschen Kleinbürgers erkannt, der aus der Politik ausgeschaltet war und erst drei Jahrzehnte später noch einmal den letzten Versuch machte, ein Wort in politischen Machtfragen mitzureden.
Bei der Photographischen Gesellschaft wurden besonders die Reproduktionen großer Kunstwerke hergestellt. Die Paradestücke der Gemäldegalerien kamen in verhältnismäßig originalgetreuen und billigen Wiedergaben »ins Volk«. Heute sind diese Reproduktionen natürlich längst als veraltet beiseite geschoben, aber damals verlangte die photographische Vervielfältigung eine große handwerkliche Geschicklichkeit und ein feines Gefühl für das »gewisse Etwas«, das keiner erlernen kann, wenn er es im Keime nicht bereits mitbringt. Zille konnte hier sein Können einsetzen. Die Inhaber der Photographischen Gesellschaft schätzten ihn als tüchtige Kraft. Das schloß aber nicht aus, daß sie sich über seine Beschäftigung nach Feierabend äußerten: Er hätte es doch nicht nötig, bis in die Nacht hinein noch für sich zu arbeiten, er hätte doch sein Brot. Es gefiel ihnen wohl nicht, daß einer ihrer Arbeiter mit Zeichnungen hervortrat, in Zeitschriften, deren Mitarbeiter wegen Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung auf der Anklagebank saßen.
Zille ließ sich aber nicht abhalten, seine künstlerischen Arbeiten fortzusetzen. Er sah, wie die Inhaber der Firma Villenbesitzer wurden in Charlottenburg, wohin auch die Werkstatt verlegt wurde, durch Grundstücksspekulationen mehr verdienten als ein begabter Arbeiter. Und dann mußte er daran denken, daß die Angestellten immer noch auf die bescheidenen Eigenhäuser warteten, die ihnen versprochen worden waren. Zille erlebte die Erfüllung dieser Träume nicht mehr, er wurde gekündigt. Der Schlag traf ihn unerwartet und hart. Von seinen Zeichnungen für Witzblätter hielt er wenig. Davon konnte er nach seiner Meinung nicht leben. Würde es ihm gelingen, wieder eine Arbeitsstelle zu finden? Ein Arbeiter über Fünfundvierzig ist schon zu alt. Die jüngeren Kräfte stoßen nach, wollen auch »mal ran«, und sie haben Chancen, denn sie sind billiger. Ein Achtzigjähriger ist das ideale Aufsichtsratsmitglied, aber ein fünfzigjähriger Arbeiter gehört auf den Schuttabladeplatz.
»Zwei Tage lang lag ich auf der alten Pritsche und stierte die Stubendecke an. Was nun?«
Seiner Frau wagte er es gar nicht zu erzählen, daß er die Kündigung in der Tasche hatte, das Freibillet ins graue Nichts.
Dazu hatte er sich nun abgerackert und geplagt! Er mußte an die Arbeitslosen denken, die auf den Straßen und Plätzen herumstanden und von jedem Schutzmann schief angesehen wurden, an die Arbeitslosen, die Unter den Linden und in den Anlagen auf den Bänken nächtigten, bis sie der Frost jagte oder die »Polente« kam und die Schläfer kopfüber von den Bänken warf.
Die Gesellschaft müsse sich umstellen, hatte der Prokurist zu ihm gesagt, als er die Kündigung ausgesprochen hatte. Eine solche Umstellung fängt eben stets bei den Arbeitern an. Wie, wenn sich nun die Arbeiter einmal umstellten, was dann? Aber damit hat es noch lange Weile. Die Kollegen waren froh, daß die Kündigung nicht sie betroffen hatte. Es war ihnen unbehaglich gewesen, als der eine seinen Werkplatz verlassen mußte.
»Kann dir die Hand nicht geben, derweil ich eben lad’« – das ist die alte Geschichte. Solange sich jeder selbst der Nächste ist, wird das auch immer so sein. Und Zille konnte sich von dieser Schuld nicht freisprechen.
Wie hieß doch der Kollege, der in seiner Verzweiflung Zyankali nehmen wollte? In einem Loch von Kellerwohnung hauste er. Die Rente war zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Kopf hoch, Junge! Aber wer draußen steht, hat ja immer gut reden; hier drinnen, wo das alte Herz so einsam und wie von ferne pocht, ist jeder Mensch allein. Es gibt keine größere Einsamkeit als die Arbeitslosigkeit.
Die Hand hatte ihm der Prokurist zum Abschied geben wollen! Aber da hatte Zille seine Hände angesehen, er hatte sie der Gewohnheit folgend schon hinreichen wollen, seine Hände hatte er angeschaut, mit denen er gearbeitet hatte, seit er sie gebrauchen konnte, und dreißig Jahre davon für die Leute, die ihn jetzt aufs Pflaster setzten! Er hatte dann seine Hände auf dem Rücken verschränkt und dem Prokuristen gesagt: »Nee, sie sind dreckig«. Und der hatte sich nun sein Teil denken können. […]
SINN UND FORM 4/2014 S. 437-463, hier S. 437-440
Knepler, Georg
Knipowitsch, Jewgenija
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Knobloch, Heinz
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- 1/1982 | Der Dichter ist ein Mensch
- 4/1985 | Meine liebste Mathilde
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Knoche, Michael
- 1/2023 | Ein Werk aus lauter Hörbüchern. Über Ralph Dutli
Knopf, Jan
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Knott, Marie Luise
- 2/2021 | Lala-fafa-yamying-tutu. Zur Jesus-Trilogie von J. M. Coetzee
- 6/2022 | Über Befangenheiten, S. 277 Leseprobe
Knott, Marie Luise
Über Befangenheiten
In den letzten Jahren stand viel bislang kaum Hinterfragtes auf dem Prüfstand. Auch Hannah Arendt ist in die Kritik geraten. Einige Stimmen kritisierten ihre Ausführungen zum Kolonialismus in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Schließlich waren die Indigenen auch in Afrika keineswegs geschichtslos. Andere Stimmen fragten, wie es sein könne, daß die jüdische Denkerin, die Diskriminierung und Verfolgung am eigenen Leibe erfahren hatte, 1959 in ihrem Essay »Reflections on Little Rock« die gesetzlich erzwungene Integration von schwarzen Schülern mit dem Argument ablehnte, dies sei »um keinen Deut besser als die gesetzlich erzwungene Rassentrennung «. Arendt, kritisierte beispielsweise die Soziologin Kathryn T. Gines, habe sich den Kopf »weißer Mütter« zerbrochen, während sie schwarzen Müttern bloße Aufstiegswünsche für ihre Kinder unterstellte.
In vielen der Kritiken schwingt gleichwohl Trauer, bisweilen auch Verletztheit mit. Die Lage sei »schmerzlich einfach«, liest man bei Priya Basil, Arendt sei trotz ihrer großartigen Theorien nun mal »rassistisch«. Verstärkt wurden die jüngsten Auseinandersetzungen durch das Auftauchen eines Briefes an den Schriftsteller Ralph Waldo Ellison, in dem Arendt erklärte, daß sie beim Schreiben ihres Essays die nackte Gewalt der Diskriminierung und die körperliche Angst der Schwarzen nicht begriffen habe. Was genau wollte sie damit sagen? Ich bin keine Spezialistin für amerikanische Geschichte. Doch da ich selbst den umstrittenen Little-Rock-Text 1986 erstmals auf Deutsch veröffentlicht hatte, fühlte ich mich in gewisser Weise doppelt in die Pflicht genommen – durch die scharfe Kritik an Arendt und meine eigene einstige Herausgeberschaft. So verfaßte ich einen längeren Essay, der sich den Hintergründen und vor allem den Folgen des Textes und des Briefes noch einmal widmete. Dabei weiß ich, daß ich nichts weiß – und schon gar nicht weiß ich, wie es sich anfühlte, 1957 als schwarze Jugendliche umgeben von »Lyncht sie«- Rufen eine bis dahin »reinweiße« Schule zu betreten. Oder 1962 als erster schwarzer Student über einen weißen Unicampus zu laufen. Oder – wie Arendt – 1920 in Königsberg als Jüdin Beschimpfungen ausgesetzt zu sein.
Wie gerne wüßte man, um sich den verschiedenen Positionen offen nähern zu können, ein Mittel, das gegen beide Verführungen immunisiert – gegen den Impuls der Verteidigung wie gegen den des Angriffs, die beide verhindern, daß man sich Arendts Stimme, den Stimmen ihrer Kritikerinnen und Kritiker und vor allem der Sache selbst vorurteilsfrei zuwendet. So sehr jeder Essay eine Entdeckungsreise ins Unbekannte sein will: Wir alle tragen unsere Geschichte und unsere Geschichten in uns; man ist nie ganz frei. Es gibt keine Immunisierung. Und so sehr wir uns wünschen, beim Schrei ben eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die eigenen und fremden Befangenheiten zu entwickeln – man merkt, wie schwer man sich tut, sich all jenen Aspekten in Arendts Werk auszusetzen, die gedanklich ungemütlich sind. Es ist zum Verzweifeln.
Unter den vielen kontroversen Fragen findet sich die, ob Arendt in ihrem Little-Rock- Essay tatsächlich, wie es der Rassismusvorwurf nahelegt, die Schwarzen als Schwarze abgewertet hat. War das N-Wort, das auch Ellison und James Baldwin damals (allerdings im Unterschied zu Arendt durchaus kritisch) verwandten und für das sie heute angegriffen wird, Ausdruck ihrer rassistischen Grundhaltung? Oder vielleicht – auch – ein sprachliches Überbleibsel? Schließlich wäscht sich die Sprache ältere Ausdrücke, die der Wirklichkeit nicht mehr angemessen sind, nicht immer rechtzeitig aus.
Je länger ich mich in die Fragen hineinlas, desto deutlicher wurde, daß die Auseinandersetzung mit der ganzen Angelegenheit tatsächlich »schmerzlich« komplex ist und gerade, was als »einfach« angesehen wird, das Nachdenken nur weiter verkompliziert. Gibt es in Arendts Werk tatsächlich, wie ihr vorgeworfen wird, keine »bleibenden Spuren« von schwarzen oder indigenen Sichtweisen?
Mit jedem Begriff, der nicht befragt wird, erhält sich in der Sprache auch das dazugehörige Denken, wie man an der Prägung »negro problem« – »Schwarzenproblem« – erkennen kann. Auch Arendt verwandte sie damals. Unhinterfragt, wie es aussieht. In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung war der Begriff in vieler Munde. Baldwin war nicht der einzige, der ihn kritisierte: Die Schwarzen seien weder Engel noch Teufel, sondern Einzelwesen, betonte er 1964 in einem Interview mit François Bondy. Jedes Reden vom »Schwarzenproblem« subsumiere Menschen aufgrund von Hautfarben unter monolithische Begriffe und zerstöre die Vielfalt der Lebenswirklichkeiten und Hoffnungen, einzig um einer Abstraktion willen. Auf einer anderen Ebene argumentierte Arendt ähnlich wie Baldwin, ohne jedoch den Begriff selbst anzuzweifeln. Tatsächlich war das, was damals das »Schwarzenproblem « hieß, ihrem Urteil nach weniger das Problem der Schwarzen oder gar das der Weißen mit den Schwarzen. Das Problem, das sie sah, hatten, oder richtiger, hätten die Weißen eigentlich mit sich selbst haben müssen, wenn es politisch mit rechten Dingen zugegangen wäre. Über hundert Jahre hatte der Staat den Schwarzen im Süden des Landes die ihnen verfassungsmäßig zugesicherte rechtliche Gleichheit verwehrt: Die Bürgerrechte, das Wahlrecht und das Recht zu heiraten, wen man will, waren in Arendts Augen Menschenrechte. Und Rechte gewähren Freiheit. Doch die (weißen) Liberalen engagierten sich lieber dafür, daß schwarze Schüler weiße Schulen besuchten, statt sich laut und deutlich für die Abschaffung der Heiratsgesetze und deren oft brutale Folge, die Lynchjustiz, einzusetzen.
Bei Ellison, Baldwin und vielen anderen hatte Arendt damals erfahren können, was es heißt, »ohne Anerkennung und ohne realen Status zu leben«. Daß jeder Schwarze jeden Tag sein Menschsein einem Feuer menschlicher Grausamkeit entreißen mußte, das ihn zu vernichten trachtete – für dieses enormes Leid hatte der Text »Little Rock« kein Wort übrig, wie er auch mit keiner Silbe erwähnte, welche Hoffnungen die Schwarzen mit dem erzwungenen Schulbesuch für die Zukunft ihrer Kinder verbanden. Schwieg Arendt aus »Gefühlskälte « oder aus anderen Gründen? Glaubte sie etwa, man müsse, um in der Sache politisch klar zu denken, sich die Gefühle verbieten, die ihren »liberalen Freunden« den Kopf vernebelten?
Ein anderer Punkt, der viel Kritik ausgelöst hat, betrifft Arendts Trennung zwischen Politischem und Sozialem und ihre scheinbare »Mißachtung des Sozialen«. Es ist uns als Bürgerinnen und Bürgern europäischer Staaten selbstverständlich, daß Sozialpolitik ein wesentlicher Bestandteil politischen Denkens und Handelns ist, und so neigen Arendts Verteidiger oft genug dazu, die Mißachtung des Sozialen und die Vernachlässigung des institutionellen Rassismus in ihrem Denken zu übergehen, statt sich damit auseinanderzusetzen. Wir sind mit der Vorstellung aufgewachsen, daß Sozialpolitik dazu da ist, strukturelle Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten zu lindern, welche die Politik verursacht hat; entsprechend geht uns Arendts Verdacht, daß Sozialpolitik lediglich beschwichtigt, was die Politik nicht ändern will, massiv gegen den Strich. Ein Dilemma.
Als weiße Überheblichkeit gilt auch jene Aussage aus der Vorbemerkung zu »Little Rock«, unterdrückte Minderheiten seien nicht gerade die besten Berater, wenn es um die Priorität politischer Rechte gehe, und es gebe viele Fälle, in denen sie es vorzögen, für soziale Chancengleichheit statt für grundlegende menschliche oder politische Rechte zu kämpfen. – Man erschrickt, wenn man das liest, auch heute noch. Aus dem Zusammenhang gerissen erscheint der Satz so, als wolle eine Weiße den Schwarzen sagen, sie wüßten nicht, was gut für sie sei. Der Soziologe Melvin Tumin polemisierte entsprechend: »Ihr armen, unaufgeklärten Schwarzen (…), wie könnt ihr nur so mißgeleitet sein, zu glauben, daß Arbeit und Schule wichtiger sind als das Recht auf Mischehe.«
Tatsächlich macht der Ton die Musik. Dennoch sollte man nicht übersehen, daß im Satz über die »unterdrückten Minderheiten« auch die eigenen Erinnerungen mitschwingen; schließlich war auch die »unterdrückte Minderheit« der Juden nicht unbedingt ein Vorkämpfer für politische Rechte gewesen. In dem Satz klingt zudem ein zentrales Motiv ihres Werkes an: Das Recht, Rechte zu haben, ist das elementare und universale Menschenrecht. Der Ton aber deutet vielleicht noch auf etwas anderes hin: Es gab Momente, da konnte Arendt sich nicht ersparen, über Dinge zu reden, über die sie vielleicht lieber nicht sprechen wollte, weil sie allzu bitter und bedrängend waren. Rührte ihr polemischer Ton aus solch einem inneren Schreibhemmnis? Offensichtlich hatte sie sich, als sie das Foto des schwarzen Mädchen sah, das in Little Rock durch das Spalier des weißen Mobs laufen mußte, an den Antisemitismus in Deutschland erinnert gefühlt und deswegen beschlossen, über etwas öffentlich zu reden, worüber sie eigentlich öffentlich nicht reden wollte. Ein solches Gefühl war Arendt nicht unbekannt. Ähnlich wie ihr Little-Rock-Text, der bei vielen ihrer Freunde erwartbar starke Ablehnung erregte, hatte auch ihr Artikel »Zionism Reconsidered « 1946 heftigen Widerstand hervorgerufen und die Gefühle nicht zuletzt ihrer zionistischen Freunde verletzt, was sie bestimmt nicht wollte, wie sie ihrem Verleger mitgeteilt hatte (»They are the kind of people I never wanted to hurt«). In all diesen Fällen standen ihrer Meinung nach grundlegende Rechte auf dem Spiel, die in den Debatten einfach übergangen wurden: 1946 die Rechte der Araber in einem künftigen israelischen Staat, 1957 die Bürgerrechte der Schwarzen und das Recht zu heiraten, wen man will.
Wo historische Texte, aus dem Zusammenhang gerissen, als oder wie heutige Positionen gelesen werden, verschwindet die Tatsache, daß alle Gedanken von einer konkreten Person zu einer konkreten Zeit gedacht werden und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Aspekte in die jeweilige Gegenwart hineinragen, während andere Aspekte möglicherweise veraltet erscheinen. Texte nach eigenen Vorstellungen »abzuklopfen« ist eine ebensolche Falle wie blinde Verteidigung. Wo heute die historische Einbettung übergangen wird, ja, wo Historie enthistorisiert wird, verschwindet das Wissen, daß jedes Urteil ein vorläufiges ist, entstanden, oder besser gesagt, gebildet, gemacht aus konkreten Konstellationen, Schreibanlässen, Werkzusammenhängen, Gesprächen und Zeitgenossenschaften. Wo das in Vergessenheit gerät, werden Zitate isoliert in die Welt gesetzt. Sätze und Teilurteile werden verabsolutiert, »ontologisiert«, ja dogmatisiert.
Die Wahrheit hat ein ständig wechselndes Gesicht, zitierte Arendt einmal Franz Kafka, und ständig müsse neu um sie gestritten werden. »Little Rock« ist inzwischen Geschichte; und wenn es überhaupt eine Lehre aus dieser Geschichte gibt, dann wohl die, wie schwer es uns auch heute fällt, bei der Betrachtung der Causa Arendt die »subjektive Privatbedingung« des eigenen Meinens zu hinterfragen.
SINN UND FORM 6/2022, S. 852-855
Kobán, Ilse
- 3/2004 | Der dritte Akt. Briefwechsel zur Inszenierung von alban Bergs Oper »Lulu« an der Komischen Oper Berlin. Vorbemerkung Ilse Kobán
- 5/2008 | Warten darauf, daß es wieder Leben wird, S. 593 Leseprobe
Kobán, Ilse
Warten darauf, dass es wieder Leben wird. Zum Briefwechsel Carl Ebert und Gertie Ebert
»So berühmt sind wir ja nicht, daß unsere Briefe einmal veröffentlicht werden u.wer sie sonst etwa findet, der soll ruhig daraus ersehen können, daß wir uns ganz u. vorbehaltlos mit Körper und Seele liebten, davon nichts dominierte, aber auch nichts in einer verlogenen und verbogenen Bürgermoral zurückgesetzt wurde«, schreibt Carl Ebert 1935 an seine Frau Gertie. Und ebendies wird der Leser aus den hier abgedruckten Briefen ersehen, und er wird Einblick erhalten in die Lebensumstände und existentiellen Nöte eines emigrierten deutschen Künstlers und seiner Familie nach 1933.
Unberühmt war Ebert damals indes keineswegs. Aber wem ist er heute noch ein Begriff? Es gibt eine Biographie (1999), auf englisch, von seinem Sohn Peter, Abhandlungen in Publikationen über das Darmstädter Theater, das Musiktheater der zwanziger Jahre, das Charlottenburger Opernhaus, über sein Exil in der Schweiz sowie Artikel in Programmheften, Jahrbüchern und Lexika. Das ist alles über einen Mann, der das Musiktheater des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflußt hat und den Walter Felsenstein als den »Nestor all unserer Bemühungen um das Theater« würdigte. Der aber seiner Frau schrieb, sie solle die Angaben für das »Who is who?« für ihn machen: »weil es mich ankotzt, soviel über mich zu lesen und zu beglaubigen«.
Geboren wird Ebert am 22. Februar 1887 in Berlin. Seine Mutter, die irischamerikanische Musikstudentin Mary Collins, erbittet sich aus Angst vor ihrer Familie von ihrer Freundin Eileen Lawless die Erlaubnis, dem unehelichen Kind deren Namen geben zu dürfen, und verläßt Deutschland. Der Vater, Graf Anton Potulicky, damals im Auswärtigen Amt angestellt, gibt das Kind in Pflege zu seinen Pensions-Wirtsleuten Marie und Wilhelm Ebert, die ihn als Siebenjährigen adoptieren. Aus Charles Lawless wird Charles Ebert. Mit siebzehn erfährt er, daß »Onkel Anton« sein Vater ist. Seinen Vornamen deutscht er zu Beginn des ersten Weltkriegs ein. Er absolviert eine Banklehre, erhält einen Freiplatz an der Berliner Max-Reinhardt-Schule und wird als Zweiundzwanzigjähriger am Deutschen Theater engagiert. Drei Jahre später heiratet er Lucie (auch Cissy und Cess genannt) Friederike Splisgart. Die Ehe wird 1923 geschieden. Nach einem Jahr Kriegsdienst ist Ebert sieben Jahre Schauspieler in Frankfurt am Main und Mitbegründer einer Schauspielschule. Hier lernt er Gertrude Eck kennen, die er 1924 heiratet. Es folgen Engagements am Schauspielhaus Berlin, die Generalintendanz und Künstlerische Leitung für Oper und Schauspiel in Darmstadt und 1931 Intendanz und Künstlerische Leitung der Städtischen Oper Berlin. Den ersten großen Erfolg feiert er mit Verdis »Macbeth«, Bühnenbild Caspar Neher, musikalische Leitung Fritz Stiedry. Für Stiedry sind die anderthalb Jahre mit Ebert die schönste Zeit seines Lebens. Und Ebert bekennt: »Ich war immer dem Schicksal dankbar, daß ich F. St. In Berlin vorfand, als ich den gewagten Schritt von Darmstadt in die Metropolis 1931 unternahm. Ich wußte, daß ich mit meiner Zukunft spielte, als ich bei Übernahme der Berliner Intendanz darauf bestand mit Verdis Macbeth zu beginnen, und vielleicht wäre es wirklich die von vielen vorausgesagte Katastrophe geworden, wenn wir nicht ein so unglaublich glückliches Dreigespann hätten bilden können wie es die Zusammenarbeit mit F. St. und C. Neher zustandebrachte. Aus dieser Zusammenarbeit erwuchs eine so glückliche, seltene Freundschaft in geistiger und künstlerischer Beziehung, die mir jene Jahre noch heute als entscheidenden Wendepunkt in meiner Lebensarbeit bedeuten. Brecht und Weill traten noch hinzu zu helfen, daß eine wirkliche Revolution der alten Oper in Aussicht stand, und wir waren voll von den Ideen. Der Nazisturm fegte alles weg.«
Eine sehr viel längere und künstlerisch zutiefst beglückende Zusammenarbeit verbindet Ebert mit Fritz Busch. Beider Namen sind untrennbar mit dem Glyndebourne Festival und der Mozart-Interpretation verknüpft. Der Operndirektor der Sächsischen Staatstheater und Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatskapelle gibt sein Berlin-Debüt im September 1932 in Eberts »Maskenball«-Inszenierung mit dem Bühnenbild von Caspar Neher. Im März 1933 werden nach einem von den Nazis provozierten Vorstellungskrawall in der Semperoper Busch und Generalintendant Alfred Reucker ihrer Ämter enthoben. Busch verläßt Dresden am 11. März 1933, um nie mehr zurückzukehren. Er trifft sich noch am gleichen Tag in Berlin mit Ebert, dessen Städtische Oper ebenfalls am 11.März von der SA besetzt worden war. Er erhält die Mitteilung:
„Sehr geehrter Herr Professor!
Als kommissarischer Leiter und nationalsozialistisches Aufsichtsratsmitglied der Städtische Oper A. G. enthebe ich Sie mit sofortiger Wirkung Ihres Dienstes.
Das Betreten des Hauses ist Ihnen nicht mehr gestattet.
Matschuck“
Am 13. März erhält Ebert die offizielle Entlassung durch Oberbürgermeister Heinrich Sahm, der zugleich Vorsitzender des Aufsichtsrats der Städtischen Oper A. G. ist. Am selben Tag werden er und Busch zu Hermann Göring bestellt. »Bis Ruhe eingekehrt sei«, sollen sie Urlaub nehmen. Danach werde eine »Reorganisation« des Berliner Opernwesens erfolgen. Sie lehnen ab. Aber ein Gastspiel in Argentinien, die Temporada, steht an. Die Nationalsozialistische Betriebszelle der Städtischen Oper A.G.wendet sich in einer »Entschließung « gegen ein Gastspiel der Städtischen Oper in Buenos Aires »unter der Spielleitung des Herrn Karl Ebert«. Dabei werden zum ersten Mal »Entlassungs-Gründe« genannt:
„I) Herr Karl Ebert hat durch die Mitunterzeichnung des berüchtigten Hölzbriefes, womit er sich für einen Mordbrenner einsetzte, eine politisch-bolschewistisch tendierende Haltung eingenommen.
II) Herr Karl Ebert hat ferner mit den durch ihn aufgeführten und von ihm besonders liebevoll inscenierten Jüdischen Machwerken (Bürgschaft und Schmied von Gent), weiter durch seine Holländerinscenierung sowie durch die Auswahl seiner Mitarbeiter für seine Bohème und Troubadourinscenierungen bewiesen, daß er auch künstlerisch absolut bolschewistisch tendiert.
Wir erklären als deutsche Nationalsozialisten: Ein solcher Mann darf nie mehr in führender Stellung über deutsche Künstler gesetzt werden und darf nicht als Repräsentant deutscher Kunstbelange im Auslande, vor allem nicht als Inscenator von Richard Wagners Werken zugelassen werden.
Wir richten daher an die im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit genannten amtlichen Stellen die dringende Bitte, öffentlich abzurücken. Heil Hitler! Die Amtswalter der N. S. Betriebszelle Städtische Oper A. G.
gez. Wiedemer, Zellenobmann und Gustavus, Zellenschriftwart.“
Dagegen hat der Aufsichtsrat gegen Eberts »Reise und Regieführung bei der Deutschen Stagione in Buenos Aires keine Einwendungen«. Man weiß, daß eine Absage von Ebert und Busch das Ende der deutschen Gastspiele in Argentinien bedeuten würde.
Am 15. März 1933 wird die Leitung der Städtischen Oper abgesetzt. Rudolf Bing, der Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros, der Komponist und Dirigent Berthold Goldschmidt in seiner Funktion als musikalischer Assistent, der Kapellmeister Fritz Stiedry und andere, darunter der Korrepetitor Kurt Sanderling, werden entlassen.
Ebert fährt zunächst nach Italien zu einem Arbeitsurlaub, den Sahm gegenüber dem Auswärtigen Amt damit begründete, daß er die »kulturpolitische Bedeutung der Berufung von Herrn Professor Ebert als Regisseur für die Festspiele in Florenz im Mai d. J. durchaus« teile. Gertie zieht mit den beiden Töchtern zu ihren Eltern nach Frankfurt am Main.
Auf Florenz folgt vom 1. Juli bis zum 10. September das Gastspiel in Buenos Aires, über das offiziell verlautbart wird: »Dank der tatkräftigen Unterstützung durch den Reichskommissar für Bühnenkunst, Hans Hinkel, ist es gelungen, ein erstklassiges deutsches Opernensemble zusammenzustellen.« Die Briefe der Eberts vermitteln ein anderes Bild. Gertie berichtet Eberts erster Frau Cess, die mit dem Dirigenten Hans Oppenheim verheiratet ist: »Carl ist soweit ganz zufrieden, nachdem er sich damit abgefunden hat, daß an irgendeine Art von schöpferischer Arbeit, von persönlichem künstlerischen Glaubensbekenntnis hier unter den gegebenen Umständen einfach nicht zu denken ist. Die Mitglieder sind nett, willig u. entgegenkommend, soweit man das von ›Prominenten‹ überhaupt erwarten kann, aber diese festgefahrene, unentrinnbare Routine der Leute – die alle ihre Partie hundertmal ›an allen großen Bühnen der Welt‹ gesungen haben! – ist Carl so schrecklich, daß sie ihn förmlich lähmt. Und dann das Problem: Wagner, für das der Regisseur in jedem einzelnen Fall nur in wochenlanger intensiver Probenarbeit einen Weg finden kann, und für das Carl wohl immer nur einen Ausweg finden wird. Hier muß er Meistersinger, Parsifal und Tristan in etwa 14 Tagen herausbringen! Lohnt es da, überhaupt erst mit ›Auffassung‹ anzufangen? […] Komisch, daß uns heute die Arbeit dort [in Florenz], unter der Carl damals stöhnte, im Vergleich zu den hiesigen Möglichkeiten in rosigstem Licht und als hochkünstlerisch in Erinnerung ist. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, es wird wieder einen Aufstieg geben, wenn wir jetzt auch eine bittere, harte Zeit durchmachen und Carl seine schöne Kraft verkaufen und verhandeln muß, damit wir leben können.«
Und in einem langen Brief an Gustav Hartung schreibt sie u.a.: »Mir hat mal jemand gesagt: ›Ein Gutes hat dieses Buenos neben vielem Unangenehmem: das Schiff, das einen wieder wegbringt!‹ Diese Charakterisierung ist zwar lieblos und ungerecht, aber ich persönlich finde was Wahres dran! Die Stadtmenschen: ein phlegmatisches, luxussüchtiges Volk, das neben tiefster Armut und elendsten Existenzen, die in Zeitungspapier gewickelt mit Säcken auf dem Kopf in dreckigen Ecken übernachten, gleichgültig nur ein Ziel kennt: möglichst viel und rasch Geld verdienen. Das Klima macht einen müde und krank, lähmt die Aktivität, wahrscheinlich wegen des hohen Feuchtigkeitsgehalts. Ich glaube, daß Klemperer nur aus Verzweiflung 52 Proben für Figaro gemacht hat. Carl und Busch kämpfen heldenmütig, kommen doch nicht von früh bis nachts aus dem Theater heraus, was bei den hiesigen Arbeitsbedingungen, bei der allgemeinen Lahmheit und Unzuverlässigkeit keine Kleinigkeit ist. Carl hat sich in sein Schicksal gefunden und seine Begriffe von ›Regie‹ in die Koffer verpackt, die wir erst in Europa wieder brauchen.«
Ebert selbst wird gegenüber Hans Oppenheim noch deutlicher: »Es kotzt mich an zu denken, daß ich nun in alle Zukunft wohlbemerkt: bestenfalls! – als Reiseregisseur herumgereicht werden soll, um ähnlich tief deprimierende Ergebnisse wie hier zu ›zeitigen‹! Aber meine finanziellen Verpflichtungen sind so groß, daß ich nach jeder sicheren Einnahme greifen muß … Hier wird die Möglichkeit erörtert, Busch und mir auch die nächstjährige deutsche Temporada zu übertragen (denn wir haben Riesenerfolge mit unseren Aufführungen, die szenisch unter-provinziell, solistisch mit wenigen Ausnahmen mittelmäßig und nur musikalisch durch Busch erstklassig und herrlich sind.) Aber auch diese Pläne ergeben noch nichts Greifbares, und so werden wir wahrscheinlich am 19. Sept. diesen Kontinent verlassen, ohne zu wissen, wo wir leben und wo ich arbeiten werde.«
Zurückgekehrt begibt sich Carl auf die »Suche nach Arbeit«. Durch Gustav Hartung – er ist als Generalintendant in Darmstadt zurückgetreten, weil er es ablehnte, »Entlassungen nach der Parteidoktrin auszusprechen und die Spielplanbildung ihr zu unterstellen« (visionär ist seine Ansprache im Schweizer Rundfunk im April 1933: »Die Zurückgeholten werden die verlassenen Arbeitsstätten als Trümmerfeld wiederfinden«), und jetzt Spielleiter in Zürich – kann Ebert am dortigen Schauspielhaus wieder in seinen »alten« Beruf. Er hofft damit die Zeit zu überbrücken, bis seine Ansprüche in Berlin reguliert sind oder er wieder als Regisseur arbeiten kann.
Gertie zieht im November 1933 mit den Kindern nach Cureglia, bei Lugano, was möglich ist, weil ihre Eltern die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen. Jetzt muß alles brieflich beredet werden – vom zutiefst Privaten, den alltäglichen Sorgen um Kinder, Haus, bis hin zu den beruflichen Problemen. Zwischen 25. Oktober 1933 und 5. September 1934 – dem hier in Rede stehenden Zeitraum – schreibt Gertie 55 Briefe an Carl und er 51 Briefe an sie, zudem zahlreiche Karten und Telegramme. Die Korrespondenz besteht aus über tausend, zumeist handschriftlichen Stücken.
Erschöpft und deprimiert erwägt Ebert auch eine Rückkehr nach Deutschland – worüber Busch »nur lacht« – und bittet Gertie am 2. Februar 1934, über Hinkel (durch einen Vertrauensmann) die Lage zu sondieren: »Du weißt ja, wie zwiespältig ich diese Dinge ansehe, aber vielleicht ist das wirklich ein Weg, der mir immer noch meine eigene Haltung frei gibt?!« Zugleich bittet er sie, seinen dringenden Brief an Mr. Christie nach Glyndebourne zu schicken, denn er befürchtet, die deutschen Behörden könnten weitere Engagements in Buenos Aires verhindern.
Der Kontakt mit John Christie wird über Fritz Busch hergestellt, dessen Bruder Adolf mit seinem Quartett in England gastiert. Auf seinem herrschaftlichen Landsitz in Glyndebourne hatte Christie für seine Frau, die australische Sängerin Audrey Mildmay, einen Anbau als Opernhaus errichten lassen, das er 1934 mit »Don Giovanni« und »Walküre« eröffnen will. Doch für dieses Wagnis findet sich kein Dirigent. Auch der angesprochene Busch ist skeptisch. Aber da das Teatro Colón in Buenos Aires ankündigt, die Saison 1934 aus finanziellen Gründen zu verkürzen, sagt er zu. Auf seine Empfehlung wendet sich Christie an Ebert, der jedoch die Briefe nicht beantwortet, weil er glaubt, es mit einem Phantasten (»Papa Christie und seine singing Lady«) zu tun zu haben. Mitte Februar treffen Busch und Ebert sich schließlich in Lausanne; anschließend reist Ebert nach Glyndebourne. Er und Busch einigen sich mit Christie und übernehmen die künstlerische Leitung der Glyndebourner Festspiele, die noch heute jeden Sommer stattfinden. Zur Eröffnung im Mai 1934 sind mit »Le Nozze di Figaro« und »Così fan tutte« zwölf Vorstellungen vorgesehen. Allein für den »Figaro« hat Busch vierundzwanzig Orchesterproben angesetzt! Aber man spielt vor fast leerem Haus. Christie verliert 10000 Pfund.
Gertie kümmert sich derweil von Cureglia aus auch um das Geschäftliche. Sie sammelt Kritiken, kümmert sich um Dokumente und Arbeitsmaterial; sie hält Carl auf dem laufenden über die Lebensumstände und Schicksale emigrierter oder in Deutschland gebliebener Kollegen und führt die umfangreiche Korrespondenz. Aber: »Ich fühle mich wieder ganz nebbich, arm und gehemmt – wie immer, wenn du mich allein läßt! Es bleibt doch immer eine Egmont-Klärchen Beziehung zwischen uns, der Welt gehörst Du, der am Tisch sitzt mit den Großen und zwischen den Taten rasch mal einkehrt in sein bürgerliches Nestchen Cureglia, den schnatternden geliebten Einwohnern Glanz und Licht zu bringen und an Hand der großen Dinge staunend u. lauschend sitzen wir um Dich herum und hören Deine Erzählungen! Stimmt es nicht?? Ich bin glücklich dabei; nur manchmal kommt die Besinnung, die Angst über mich: müßte er nicht eine ganz andere Frau haben?? Eine große, bedeutende, wie er selbst?? Aber dann tröste ich mich: Egmont hat Klärchen gewählt, er wird wissen, was er tut!« Sie ist dankbar für das »unendliche Wohlsein, das einem hier geschenkt wird«, aber auch deprimiert über das »Vegetieren und Warten darauf, daß es wieder Leben wird«. Es sind Sorgen um die Eltern, die noch in Deutschland sind, um »schwindende Kohlenvorräte, die nur noch zwei Tage reichen«, und immer wieder Klagen über bedrückende Geldnöte.
Nach Zwischenstopp in Cureglia reist Ebert im Sommer 1934 mit dem Zug und dann per Schiff zur zweiten Temporada, um »bei den Indianern zu schuften«. Nach seinen Erfahrungen im Vorjahr ist er skeptisch, ist doch die Inszenierung von »Così fan tutte«, »Tristan und Isolde«, »Walküre«, »Verkaufte Braut«, »Arabella« und »Fliegendem Holländer« ein kaum vorstellbares Pensum. Ihn »fröstelt in jeder Beziehung«.
In Anbetracht der unberechenbaren Postzustellung numerieren die Eheleute von jetzt an ihre Briefe. Ebert schreibt vorwiegend nachts, der Tag ist den aufreibenden Proben vorbehalten. So ist der Brief No. 17 B. A. [Buenos Aires] Montag 13. Aug. 34 nachts »nach 3 heftigen Arabella-Proben von ½ 12 vorm. bis 12° nachts mit Essenspausen« geschrieben. Die argentinischen Zeitungen berichten positiv und der »Völkische Beobachter« spricht von »einem ganz gewichtigen Erfolg für die deutsche Kunst«. Busch und Ebert werden genausowenig genannt wie der Bühnenbildner Teo Otto. Eberts Resümee dieser aufreibenden Monate ist deprimierend: Man hat keinen Pfennig sparen können. Dann geht es nach Rio de Janeiro, wo er, wieder mit Busch am Pult, die »Walküre« inszeniert. Aber Gertie kann ihn nach einigem finanziellen Jonglieren besuchen. Damit endet der erste und umfangreiche Teil der Korrespondenz, der in diesem und dem folgenden Heft abgedruckt wird.
Hier nun kurz die folgenden Stationen der Eberts. In der Schweiz bereitet sich Carl auf die zweite Glyndebourne Season 1935 vor. Es gibt Koordinationsprobleme, da er zum gleichzeitig stattfindenden Maggio Musicale Fiorentino eingeladen wurde und Neuinszenierungen für die dritte Temporada in Buenos Aires anstehen. Von der Schauspielerei in Basel fühlt er sich »aufgefressen«, denn in sieben Wochen muß er vier große Rollen spielen. Aber am 3. Dezember 1934 berichtet er Hans Oppenheim von einer Anfrage, »die Einrichtung und Organisation einer Theaterschule zu übernehmen mit dem Ziel eines völligen Neuaufbaus des gesamten Theaterwesens in dem noch auf diesem Gebiet unbeackerten, jungen Land. Das reizt mich natürlich ungeheuer, vielleicht auch deswegen, weil ich damit wieder an eine gänzlich andere Ecke der Windrose geschmissen würde! Ich habe mich verpflichtet, das Land nicht zu nennen … Ungeheuer spaßhaft ist an all diesen Anfragen und Projekten, daß ich immer mal ausgerechnet als Exponent des deutschen Theaters angesprochen werde.«
Das Land ist die Türkei, die vielen deutschen Künstlern und Wissenschaftlern Asyl gewährt. Ebert erhält von Präsident Atatürk den Auftrag, eine Theaterschule und ein Staatstheater aufzubauen. Bis 1938 ist er jeweils zwei bis drei Monate jährlich an der Schule tätig.
Der Haushalt in Cureglia hat sich inzwischen vergrößert. Im Januar 1935 wurde Michael geboren, und Gerties Eltern sind samt Auto »Maxe« übergesiedelt. Carl arbeitet wie ein »Berserker«, um Basel, Zürich, Glyndebourne, Florenz und Buenos Aires zu bewältigen. 1936 inszeniert er in Wien an der Staatsoper und am Burgtheater, im Dezember 1937 »Carmen« mit Bruno Walter am Pult, der wenig später in die USA emigriert. Diese Arbeit »sollte der Beginn einer dauernden Zusammenarbeit werden, wenn ein viertel Jahr später nicht die Nazis gekommen wären«.
Am 15.März 1938 verkündet Hitler vom Balkon der Hofburg die »Heimkehr seiner Heimat ins Deutsche Reich«. Die für diesen Tag vorgesehene Premiere von Shakespeares »Julius Cäsar« mit Werner Krauß in der Titelrolle findet vier Tage später statt. Der Name des Regisseurs Carl Ebert fehlt auf dem Theaterzettel.
Der Schauspielerin Käthe Dorsch, die seinetwegen bei Hermann Göring vorstellig geworden war, schreibt er am 6. März 1938: »[…] falls sich die betreffende Persönlichkeit noch einmal nach mir erkundigen sollte, so bitte ich Sie, zu antworten, daß die Arbeit, die ich mir in schweren Zeiten auf künstlerisch reicher Basis aufgebaut habe und mit der ich deutsche kulturelle Interessen nach besten Kräften verteidige, auf Jahre hinaus festgelegt ist.« Er kehrt in die Schweiz zurück.
Am 10. September 1938 schreibt Ebert an Busch:
„Da die Welt momentan den Atem anhält, sind andere amerikanische Projekte jetzt nicht greifbar. […] Ich bin zu müde, um noch lange über das zu reden, was uns wohl in diesen Stunden am meisten bewegt. Soeben hörte ich eine Rede von Goebbels. Die Verdrehungen, die Spiegelfechtereien, die faustdicken Lügen marschierten auf wie die Bataillone unseres Volkes, die heute in 8 Tagen vielleicht schon im Feuer stehen. Man könnte heulen, wenn nicht das dumpfe Gefühl da wäre, daß sich hier ein Schicksal erfüllt. »Wir werden handeln nach dem Gesetz, nach dem wir angetreten sind«, so schloß dieser Teufel seine Rede, und der Mißbrauch des ehrwürdigen Wortes konnte einen gruseln machen. Ich erwarte den Beginn des bewaffneten Konflikts (den man vielleicht gar nicht Krieg nennen wird) schon für die allernächsten Tage. Dann gnade Gott Europa.
Wie’s auch kommt: lebe wohl, lieber Junge, bleibt gesund und laßt von Euch hören.
Dir, Grete und den Mädels Gruß und Kuß auch von Gertie!“
Busch antwortet aus Stockholm:
„Mein lieber Carl,
vielen Dank für Deinen lieben und gescheiten Brief, den ich kurz vor der Abreise mit Eta nach Stockholm erhielt. Es fällt mir schwer, vernünftig zu antworten, wenn man jeden Augenblick den Ausbruch eines neuen Weltkriegs erwartet, der fürchterlicher wird als alles, was sich unsere Fantasie vorstellen kann. Meine Depression wird dadurch nicht geringer, daß ich diese Entwicklung der Dinge kommen sah und daß ich persönlich mit meiner Familie wahrscheinlich kaum betroffen werde. […]
Und nun, mein lieber Carl, einmal von Herzen: Gott befohlen! Ich habe nicht viele Freunde auf dieser Erde, den wenigen, wozu Ihr in erster Linie zählt, hoffe ich aber ein guter Freund zu sein. So steht mir auch Euer persönliches Schicksal immer vor Augen, und ich wünsche zunächst von ganzem Herzen, daß die Dinge nicht so schlimm kommen mögen, wie es heute den Anschein hat.
Seid alle herzlichst umarmt in alter Treue –
Dein Fritz.“
November 1938: »Ich dampfe ab nach Ankara (Ata Türk ist schwer erkrankt). Sterbende Diktatoren sind aber kein guter Aspekt für ruhige Arbeit«. Dennoch zieht er 1939 samt Familie nach Ankara, wo er das Nationaltheater mit »Madame Butterfly« eröffnet. In ihren Briefen schildert Gertie seine Arbeit, die stundenlangen Exerzitien mit den von Schauspiel und Oper völlig unbeleckten Schülern, die Schwierigkeiten mit der Sprache, aber auch seine Erfolge: »Sie scheinen den Carl zu lieben, weil man Vertrauen gefaßt hat zu seiner Sachlichkeit u. seinem Willen, nicht für sich selbst etwas erreichen zu wollen, sondern das Beste für die Türkei zu leisten.« Ebert rückblickend: »Die Arbeit in der Türkei war eigentlich meine Lieblingsarbeit […] Ich mußte wirklich sehen: Was ist der Ursprung aller Dinge? Was ist Spielen? Was ist Theater? Was ist Oper? Es hatte nie eine türkische Oper gegeben. Ich bin dankbar dafür, daß ich das tun konnte.«
1946 erfährt Carl Ebert vom Tod Gustav Hartungs, der sofort nach Kriegsende heimgekehrt war. Seine Worte über den Freund – in einem Brief an Gertie – sind ein Nachruf:
„Gustav Hartung ist in Heidelberg gestorben. Es hat mich doch sehr erschüttert, muß ich sagen. Nun hat er zwar das Ende der Schreckenszeit, aber doch nicht mehr den Wiederaufbau erlebt. Ist er vielleicht nur ein Gleichnis für uns alle? Werden wir, unsere Generation der Emigrierten nicht alle nur die ewig Hoffenden, Wartenden u. Nie-zur-Erfüllung-Kommenden sein? Ich fühlte mich plötzlich so alt u. müde, genau wie Schwartz auch u. wir saßen uns still gegenüber, zwei Männer, die vor 13 Jahren ausgezogen waren, ins Ungewisse hinein, um zu kämpfen u. später zu bauen. 13 Jahre Emigration. Das ist viel. Vielleicht zu viel. Wie fühlte ich mich noch ungebrochen u. kraftvoll vor ein paar Jahren. Dann kam das Leben u. riß an einem u. zerriß soviel an Glauben u. Kraft u.Willen, das notwendig, so bitter notwendig ist, um nicht unterzusinken. Gustav war mutig, ich bewunderte ihn im Stillen, daß er justament dort wieder anfangen wollte, wo er schon einmal den Hebel angesetzt hatte, Heidelberg. Ganz im Kleinen nur arbeiten, an einer Stelle den Karren aus dem Dreck heben, dann würde das vielleicht in der Ferne wirken. Ich sagte mir ehrlich: das kann ich nicht mehr. Aber bravo Gustav! Nun kurz vor dem ersten Spatenstich nimmt ihm der Tod die Schaufel aus der Hand. Armer armer Junge. Und ich ahne, es wird uns allen mehr oder weniger so gehen. Fremd in der Fremde geblieben, fremd der Heimat geworden. Die uns auch nicht mehr braucht, uns ›alte Kämpfer‹, uns Veteranen.
Fünf, acht Jahre früher wäre unsere geheime Sehnsucht: zurückgerufen zu werden, vielleicht noch möglich gewesen Wahrheit zu werden. … Unser Leben ist hart; wie das weniger Generationen vor uns. Grausam werden wir zerzaust. …
Ich habe Abschied von Gustav genommen, wie von einem tapferen guten Kameraden. Die Neue Züricher Zeitung schreibt ihm einen freundlich kühl-objektiven Nachruf. Er hat einen größeren in meinem Herzen, u. es schmerzt mich, daß ich das nur fühlen u. ihm nicht mehr sagen kann …
Für heute nicht mehr Liebste
Ich küsse Dich innig Carl.“
1947 kehrt Ebert mit seiner Familie in die Schweiz zurück. 1948 erhält er einen Ruf an die University of Southern California; er richtet ein Operndepartment ein, betreut in Los Angeles junge Sänger, hält Vorlesungen über Operngeschichte und inszeniert in Glyndebourne und Edinburgh. 1950 wird er zum General Director der neu gegründeten Guild Opera Company in Los Angeles gewählt und eingebürgert. Die Universität Edinburgh verleiht ihm 1953 den Dr. h. c. der Musik. Dennoch denkt er an Europa. An den Mann seiner Tochter Hidde, den Schauspieler Walter Richter, schreibt er am 4.Februar 1950:
„Bei allen Schönheiten dieses Landes, dieses Lebens und dieses Klimas, fehlt uns Europäern doch etwas, was wir mit der Muttermilch eingesogen haben und als geistigen und künstlerischen Rückhalt auf die Dauer nicht vermissen können. Ich bin ja in der glücklichen Lage, daß ich in jedem Jahr für ein paar Monate nach England in mein geliebtes Glyndebourne zurückkehre. Da weht mir dann wieder europäische Luft um die Nase, ich fühle mich zu Hause, fühle Verständnis und Anregung. Wenn ich diese berufliche Doppelexistenz nicht hätte, würde ich bei allen schönen Aufgaben hier doch irgendwie Hunger leiden. So fühlen alle, auch die Größten auf künstlerischem Gebiet, nur wollen es sich die meisten nicht eingestehen – teils weil sie keine Gelegenheit haben, in Europa zu arbeiten und teils weil sie faul und bequem werden und sich dem hiesigen Leben anpassen. Und dieses Leben ist wahrhaftig unglaublich angenehm und comfortable, besonders hier im Westen. Der kalifornische Winter ist wie ein Frühling bei Euch. Die Blumen blühen das Jahr hindurch, man geht ohne Mantel und badet oft im Pacific. So schön es ist – das würden doch niemals Reizmittel für mich sein. Dein Papsch fühlt sich zu jung und zu unternehmenslustig, um sich auf die bequeme Seite zu legen oder Kompromisse zu machen.“
Deshalb geht er 1954 dorthin, wo er »schon einmal den Hebel angesetzt hatte«, an die Städtische Oper, die nach ihrer Zerstörung im »Theater des Westens« ihr Domizil hat. Während seiner Intendanz wird der Wiederaufbau beschlossen. Das neue Haus wird am 24. September 1961 am alten Platz als Deutsche Oper Berlin mit »Don Giovanni« in der Inszenierung von Carl Ebert eröffnet, Dirigent Ferenc Fricsay. Das ist Eberts letzte Arbeit in Berlin. Der Vierundsiebzigjährige verläßt die nun auch durch eine Mauer geteilte Stadt und setzt von Pacific Palisades aus seine internationale Regietätigkeit fort.
Am 14.Mai 1980 stirbt Carl Ebert in seiner Wahlheimat Amerika.
SINN UND FORM 5/2008, S. 593-603
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Koch, Jurij
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- 3/2014 | Helden der Nacht. Gedichte
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- 5/2015 | Die große Einsamkeit. Gedichte
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- 5/2016 | Jenseits der Bilder. Gedichte
- 3/2017 | The Course of Empire. Gedichte
- 6/2017 | Siedlung Heilsberg. Gedichte
- 5/2018 | Liebesgedichte
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- 4/2020 | Weiße Elegien. Gedichte
- 4/2021 | Die versiegelte Zeit. Gedichte
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Kofler, Gerhard
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Kofler, Leo
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- 5/1985 | Schrägschnitte
- 1/1987 | In Amöbien oder der grosse Laligei
Köhler, Jochen
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Kohlhaase, Wolfgang
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- 5/1975 | Kleine Geschichten
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- 5/2020 | Nachrichten aus der Welt. Das Kino in der DDR
- 1/2023 | Onkel, hast du Feuer? Exposé
- 1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt, S. 1173 Leseprobe
Kohlhaase, Wolfgang
»Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen?
WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt haben, die hat mein Sohn. Und wenn Sie so ein Tonrohr suchen, das hier mal in der Wiese gelegen hat, das hat auch mein Sohn. Dieser Sohn war ein Mann in den Siebzigern, der einen halben Arm verloren hatte im Krieg, und der Vater war in den Neunzigern. Es war ein abgelagerter Konflikt zwischen Vater und Sohn. Und dann kam das schöne Wort »übrigens«. Übrigens, sagte er, was ich Ihnen schon lange sagen wollte, ich habe bei Ihnen mal ein Rad sichergestellt. Na, Sie waren ja noch nicht ganz hier und ich bin immer mal eine Runde ums Haus gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Und da lehnte hinter dem Haus ein Rad. Da hab’ ich gedacht, wer weiß, was für ein Spitzbube hier ein Rad hingestellt hat, und hab’ es sichergestellt. Nun konnte er mit diesem Rad aber sein Leben lang nicht fahren, denn ich hätte es ja wiedererkannt. Und der Gedanke saß bei ihm tief: Der sieht das.
WEICHELT: Hat er es Ihnen zurückgegeben?
KOHLHAASE: Ich hab’s nicht genommen. Das hat ihn enttäuscht. Ich sagte, wissen Sie – der hieß auch noch Marx –, wissen Sie, Herr Marx, wenn Sie auf das Rad so lange achtgegeben haben und das ist immer noch da, dann behalten Sie es doch. Dieses Ausbleiben einer kleinen Belohnung hat ihn nicht gefreut.
WEICHELT: Diese Geschichte ist ja fast schon eine Filmszene oder eine kleine Erzählung.
KOHLHAASE: Einmal kam er und trank ein Bier bei mir, er kam immer mal vorbei. Ich guckte Fußball und sagte, gucken Sie auch Fußball, Herr Marx? Und er: Wegen Fußball habe ich 1909 bei den Husaren drei Tage mittleren Arrest gekriegt. Machte eine kleine Pause, in die ich natürlich reinging – was ist denn da passiert? Wissen Sie, sagte er, wir hatten so einen verrückten Leutnant, der wollte immer, daß wir im Kasernenhof Fußball spielen. Die, die sich dafür interessiert haben, wurden vorne eingeteilt bei den Stürmern, und die, die sich nicht so interessiert haben wie ich, waren hinten als Verteidiger. Irgendwie kam ich in die Nähe des Balles und habe ihn ins eigene Tor geschossen. Da kam der Leutnant angerannt und sagte, Mann Gottes, sind Sie verrückt geworden, ohne Bedrängnis, ohne Not schießen Sie den Ball ins eigene Tor! Da habe ich gesagt, Herr Leutnant, das hatte ich mir von Anfang an vorgenommen, sowie ich in den Besitz des Balles komme, schieße ich ihn auf kürzestem Wege in das nächstgelegene Tor. Und weniger das Selbsttor als der Vorsatz des Selbsttors hat den Leutnant so von der Rolle gebracht, daß er drei Tage Arrest bei Wasser und Brot anordnete. Na ja, solche und ähnliche Geschichten erzählt man sich auf dem Land. Wie die über einen Menschen, der Koslowski hieß, mit dem war mein Nachbar zusammen bei den Husaren in Brandenburg. Ich habe ein paar Notizen gemacht, ein fiktives Gespräch mit einem Kohlenhändler, der genau weiß, wer wo stationiert war.
ELISA PRIMAVERA-LÉVY: Das ist in Ihre Erzählung »Kohlen und Kavallerie« eingegangen. Der Kohlenhändler war einst Ulan in Leipzig und fachsimpelt mit dem Ich-Erzähler über Kürassiere in Pasewalk, Dragoner in Parchim und Husaren in Stendal.
KOHLHAASE: Ja, und mit Koslowski war Marx 1914 im Ersten Krieg, zuerst in Belgien, wo Koslowski hinter den Mädchen her war. Dann wurden sie nach Serbien versetzt, und da hat Marx zu Koslowski gesagt, das ist hier nicht wie in Belgien mit den Mädchen, der Serbe ist falsch. Da mußt du immer dran denken, der Serbe ist falsch. Und Koslowski weiter mit den Mädchen, und dann lag er totgestochen hinter dem letzten Haus. Er wollte ja nicht hören.
WEICHELT: Um Liebesangelegenheiten im weiteren Sinne geht es ja auch in Ihrem Text »Onkel, hast du Feuer?«, über den wir uns gern unterhalten würden.
KOHLHAASE: Ich ahne überhaupt nicht, was auf mich zukommt.
PRIMAVERA-LÉVY: Es gibt viele Gespräche mit Ihnen über Ihr filmisches Schaffen. Wir möchten in erster Linie über Ihre schriftstellerische Arbeit sprechen, schließlich sind mehrere Texte aus Ihrem Erzählungsband »Silvester mit Balzac« in den siebziger Jahren zuerst in Sinn und Form erschienen. »Onkel, hast du Feuer?«, Ihr bisher unveröffentlichtes Exposé, hat uns beim Lesen sofort begeistert. Die Handlung spielt offensichtlich in der DDR, aber ob in den sechziger oder siebziger Jahren, ist nicht leicht zu sagen. Wissen Sie noch, wann Sie es geschrieben haben und was der Anlaß dafür war?
KOHLHAASE: Ich wollte etwas über das machen, was man heute die Medienwelt nennt, über den permanenten Schwindel der hergestellten Diskussionsstoffe und die sogenannte öffentliche Meinung. Und da hatte ich eine sehr schmale Idee. Was man so als Redensart ständig hört: Mir geht das vollkommen auf den Sack ... Warum soll es immer nur auf den Sack gehen oder aufs Herz? Ich habe gesagt, wie ist es, wenn es jemanden sozusagen in der Mitte seiner Männlichkeit trifft? Und wieviel Komik ist daraus zu gewinnen? Dann habe ich an die Manipulation der gesammelten Nachrichten gedacht. Aus dem nicht zum Alltag gehörenden, aber eher harmlosen Wunsch eines Zehnjährigen, eine Zigarette zu rauchen, macht man einen Beitrag über die Schädlichkeit des Rauchens überhaupt. Und ich habe diesen Satz geschrieben, der auch in der DDR dauernd in der Luft hing, als permanente Drohung: »Erdöl ist teurer geworden.« Das Problem mit dem Erdöl und den Russen geht ja dreißig Jahre und länger zurück. Die haben auch früher manchmal auf und zugedreht. Dann wurde die Braunkohle wieder in Gang gebracht oder wieder eingebuddelt und es hieß: Unser Erdöl wird teurer – wenn Öl teurer wird, wird alles teurer, wenn alles teurer wird, wird die Moral schlechter, warum sollen wir noch über gesellschaftlich Problematisches reden? Es blieb immer irgendwie auf dieser Spaßebene ... Bei Geschichten über Impotenz ist es auch so – die können ja komisch sein. Da ist jemand, der sich plötzlich vor sich selbst fürchtet, der etwas fürchtet, was ihm noch nie passiert ist. Über die Rolle von Plot und Figuren in dieser Geschichte habe ich noch gar nicht entschieden. Wenn man darüber nachdenkt, kommt man dahinter, daß sich das gar nicht trennen läßt: Die Figur bedient den Plot, der Plot bedient die Figur. Man kann also gar nicht so eindeutig sagen, ob der Plot das Sujet ist oder die Figur.
WEICHELT: Das Bemerkenswerte an diesem Text ist, daß man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob es ein literarischer Text ist oder eine Filmvorlage. Es steckt beides drin. Der Text präsentiert sich als Filmexposé, funktioniert im Grunde aber auch als Erzählung.
KOHLHAASE: Da bin ich ganz unsicher, ob das wirklich merkwürdig genug ist als Erzählung. Und die Sache hat ja eine gewisse Atemlosigkeit, aus der man keinen soliden, stabilen Prosa-Atem machen darf.
WEICHELT: Das denke ich auch, die Lücken gehören zur Stärke dieses Textes. Und mir scheint, wie gesagt, das Besondere zu sein, daß hier Ihre beiden Ausdrucksweisen, das filmische und das literarische Schreiben, zusammenkommen. Das Szenische spielt darin eine große Rolle, aber auch das Erzählerische. Es gibt diese schnellen Wechsel zwischen den Handlungsorten, die gar nicht erklärt werden, und trotzdem bleibt die Geschichte in sich stimmig und wird getragen von einer großen Leichtigkeit, Komik und Lebendigkeit.
KOHLHAASE: Man könnte hier auch noch dichter zu den Figuren gehen, denn die sind auf jeden Fall da, sowohl die mit einem Vorbild als auch die ausgedachten. Ich hab’ noch mal geblättert in den liegengebliebenen Seiten und gedacht, man könnte auch noch einen älteren Mann dazunehmen, als Ehemann der Frau, die jetzt nur dazu gut ist, Hoffie darauf anzusprechen, daß er schon wieder ein Mädchen mitbringt. Dieser Mann hätte sich in seinem 65. Lebensjahr ins Bett gelegt und gesagt, ich stehe nicht wieder auf, ich spiele nicht mehr mit, ich bleibe liegen ... Die Geschichte wäre dann die: Er war im Krieg gewesen und er war Schneider, jedes Regiment brauchte einen Schneider, wenn die Hosen nicht mehr paßten oder wie auch immer. Und seine Frau war katholisch und eine Polin, die es irgendwie nach Deutschland verschlagen hatte. Er schlief nicht mehr mit ihr, obgleich sie schön war, sie wiederum sagte, Gott hat das anders geplant, Gott will, daß die Menschen sich vermehren, aber wenn das nicht geht, dann geht’s nicht. Und so lebt sie mit ihm ein schizophrenes Leben. Ab und zu rennen sie ungeheuer um den Tisch, weil er sie jagt, aber nie kriegt. Sonst liegt er im Bett und guckt fern. Also sagen wir mal, zu diesen Figuren hätte ich eine Tür.
PRIMAVERA-LÉVY: Meine Vermutung war, das Exposé könnte etwa aus derselben Zeit wie Ihr Film »Solo Sunny« (1978 / 79) stammen, weil die Figuren sich ähneln, auffallend etwa in ihrer Mühelosigkeit des Anbandelns, was man als eine ganz eigene DDR-Erotik bezeichnen könnte. Wissen Sie noch, was Sie mit dem Text vorhatten?
KOHLHAASE: Eigentlich hatte ich vor, einen Film zu machen. Und ich glaube, Konrad Wolf starb, der aber nicht auf die Geschichte aufgesprungen war, er sagte zwar, es interessiere ihn, aber dann schied er aus. Und Frank Beyer starb auch. Es starben also Leute, mit denen ich gearbeitet hatte, dennoch dachte ich, vielleicht ist es trotzdem ein Film und kein Erzählstück.
WEICHELT: Bei Hoffie durchmischen sich das Filmische und das Erzählerische auf eine spezielle Weise. Irgendwann spielen auch Spiegel eine größere Rolle. Er sieht sich dauernd selber, schaltet immer den Fernseher an, wenn eine Frau da ist, sieht sich bei den Umarmungen im Spiegel und merkt plötzlich, was daran seltsam ist. Das macht ja die Komik aus: Als Casanova ist er eher ungeschickt, kann weder unterhalten noch sich als Liebhaber betätigen, man fragt sich, worin eigentlich seine Anziehungskraft liegt.
KOHLHAASE: Ich habe mal darüber nachgedacht, »Nicht-Geschichten« zu erzählen, im Sinne von: hat nicht geklappt. Da dachte ich an so einen Drehstab wie in »Onkel, hast du Feuer?«, der auf dem Land unterwegs ist. Die Dorfjungs und Dorfmädchen lösen für ein langes Wochenende ihre Verabredungen, und die flotten Jungs vom Film sind nicht die Schauspieler, sondern die Kameraassistenten. Das eine Mal überredet einer davon ein schönes Mädchen zu einem langen Spaziergang, bei dem es immer bedrohlicher wird, weil sechs Leute aus dem Dorf hinter ihnen herlaufen und allmählich den Abstand verkürzen. Und als es schon ganz gefährlich aussieht, kommt auf dem Fahrrad ein Volkspolizist und der Assistent sagt, wenn ich Sie einen Augenblick in Anspruch nehmen dürfte, ich fühle mich hier bedroht und verfolgt ... Und der hört sich das alles an, stellt sein Fahrrad ab, hört sich das weiter an und haut dann seiner Tochter eine runter, eine ungeheure Schelle. Die zweite Geschichte, die mit der ersten korrespondiert, wäre sozusagen nicht mehr im Wald, nicht beim Spazierengehen, nicht in der Nähe dieser Dorfrabauken, sondern bei ihr zu Hause. Sie gehen leise eine Treppe hoch, die knarrt, so ist das, aber alles wunderbar, das Ziel ist erreicht. Und da fällt ihm ein, was ihm vorher hätte einfallen sollen, noch mal die Blase entleeren, das schafft lockerere Haltung. Und dann sagt er, bin gleich wieder da, bis gleich. Er also wieder runter und rennt irgendwo dagegen, es klappert. Aber da ist die Tür, er ist wieder oben, in ihrem Zimmer. Nur im Bett sitzen aufrecht die erschrockenen Eltern, weil er die Tür verwechselt hat. Das war die zweite Nichtgeschichte. Die dritte Nichtgeschichte wäre: In keinem Restaurant, in keiner Wohnung, in keinem Wald, aber hier um die Ecke muß es doch erträgliche Örtlichkeiten geben. An einer mit Efeu zugewachsenen Mauer, wenn überhaupt, dann hier. Und er guckt nach links und nach rechts und lockert sozusagen die zu enge Bekleidung, da springt ein ungeheurer Kater aus dem Efeu, ein lebensgefährlich gesonnener.
WEICHELT: Das klingt wie ein Dekamerone des Scheiterns, man erzählt erotische Geschichten, die aber nicht zu dem führen, wozu sie führen sollen.
KOHLHAASE: Eben. Und wenn du so etwas pur erzählst, dann muß es sehr gut sein. Mit Ironie kannst du das sozusagen aus dem Handgelenk machen. In jedem Fall darf man dieses Impotenzproblem, dieses Hemmungsproblem nicht aus dem Auge verlieren. Wenn man in der Prosa komisch schreiben will, geht das nur über die Situation. In »Onkel, hast du Feuer?« sind für mich die Tagebau-Szenen am wenigsten überzeugend. Das wird einfach nur zitiert und hat eigentlich kein Fleisch. Würde man mich fragen, welcher Teil ist am ehesten DDR, dann käme ich auf diesen Aspekt, da stehen die Fragen der Wahrheit im Vordergrund. Das gab’s nur in der DDR, die Frage nach der Wirklichkeit verbittet sich die heutige Welt entschieden.
(…)
SINN UND FORM 1/2023, S. 21-35, hier S. 21-25
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Konzag, Marianne
Köpf, Gerhard
- 2/2023 | Tennessee Williams oder Das Wunder im Kölner Dom
Köpp, Ulrike
- 1/2018 | Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne, S. 46 Leseprobe
Köpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den hoffnungsvollen Kurs zum Aufbau des Sozialismus wie auch für die existentielle Krise der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953. Der sozialistische Boulevard sollte Arbeitern und ihren Familien großzügige, lichte Wohnungen bieten, mit Ladenzeilen die industrielle Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren und den Bewohnern mit einer Vielfalt gediegener Konsumgüter ein gutes Leben verheißen. In der Vorstellung der Planer gehörten dazu neben Geschäften für Jenaer Glas, für Schuhe und Bekleidung auch eine großzügige Buchhandlung und zwei Reformhäuser. Deren Einrichtung war im Rat des Stadtbezirkes unumstritten. Ganz anders die Frage, ob man auch dem Verkauf von Antiquitäten und Pelzwaren stattgeben solle, galten diese doch als Luxusgüter und standen für eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, welche die DDR als Gesellschaft der Gleichen überwinden wollte. An den Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Reformhäusern störte sich aber niemand, sie gehörten zum städtischen Leben und Einkaufen dazu wie Werbeanzeigen für Säfte oder Margarine aus der Reformsiedlung Eden bei Oranienburg. Die Ideen und Praktiken der um 1900 entstandenen Lebensreformbewegung waren inzwischen ganz selbstverständlich in den Alltag der Leute eingegangen. Auch für mich gehörten die Reformhäuser mit ihren braunen Holzregalen seit meiner Kindheit zum Inventar der Städte. Erst auf der Suche nach den Adern der Lebensreform in der DDR im Archiv stieß ich auch auf institutionelle Widerstände gegen diese Bestrebungen. Hinter den Kulissen gab es sogar den Versuch, den Gebrauch des Begriffs Reform für diese Handelseinrichtung zu unterbinden. Womöglich kam er von subalternen Mitarbeitern, die damit dem revolutionären Selbstverständnis der SED Genüge zu tun meinten. Bei dem Versuch sollte es dann aber auch bleiben.
Bei den Auseinandersetzungen um Praktiken der Lebensreform in den Nachkriegsjahren und der Frühzeit der DDR ging es immer auch um die Frage: Wie wollen wir leben nach diesem schrecklichen Krieg? Sein Ende wurde auch als Chance für einen kulturellen Neuanfang verstanden. Mit der Roten Armee kamen im Mai 1945 dessen Vorboten, die sowjetische Besatzungsmacht zirkelte den politischen Raum dafür ab: mit der Entnazifizierung der Behörden und Verwaltungen, mit der Bodenreform und der Enteignung der großen Unternehmen, die mit dem Krieg Gewinne gemacht hatten. Und ob die Deutschen sich nun als von den Faschisten Befreite fühlten oder als vom Feind Besiegte, sie nahmen diesen Raum ein und zeigten, daß selbst noch im radikalen historischen Bruch eine kulturelle Kontinuität waltet. Auch die Revolution von oben hat ihren Boden, der sie nährt.
Gleich im Sommer 1945 richtete der Magistrat von Groß-Berlin im Ressort Volksbildung eine Abteilung »Neues Leben« ein. Sie sollte »die Kulturarbeit des neuen Menschen« befördern. Mit Vorlesungen, Volkshochschulen und Ausstellungsführungen wollte sie den Berlinern geistige Anregung bieten. Tanz matineen, Gymnastik und Laienspielgruppen sollten für Unterhaltung und Entspannung der erschöpften Bevölkerung sorgen. Gesangs- und Sprechchöre wollte man auf die Beine stellen und mit ihnen die antifaschistisch-demokratische Politik des Magistrats unterstützen. Sogar um die Organisation von Reisen und Wanderungen wollte sich die Abteilung zusammen mit Jugend- und Tourismusvereinen kümmern. All diese Vorhaben erinnern an die Praxis der sozialdemokratischen Kulturarbeit in der Weimarer Republik. Der Mehrzahl der Berliner lagen freilich wohl die Unternehmungen weit näher, die sie mit der NS-Organisation »Kraft durch Freude« erlebt hatten. Diese aber hatte nur an das Freizeitkonzept der Arbeiterkulturbewegung vor 1933 angeknüpft, so wie nun auch die Antifaschisten, die zum Beispiel im Bezirk NO 55 die Bewohner zu einer ersten Silvesterfeier nach dem Krieg einluden. Man wolle das Jahr gemeinsam »in würdiger Form und froher Weise abschließen«, mit Freude und neuem Lebensmut. Die Einladung versprach ein kurzes Programm mit Rezitation und Gesang, ein Marionettenspiel mit dem Titel »Ein chinesisches Friedenslied« und Tanz in das neue Jahr hinein. Das Mehl und das Fett für die Pfannkuchen mußte allerdings jeder selber mitbringen.
Die Abteilung »Neues Leben« des Berliner Magistrats setzte auf alle, die trotz der Trümmerlandschaften wieder zu hoffen wagten. Mit Liederheften wollte sie die Gemeinschaft stärken, was schließlich not täte »beim nicht leichten Aufbauwerk «. Ein erstes Heft, »Lieder für Feier und Gemeinschaft«, erschien 1946. Es hob an mit »Freundschaft ist die Quelle wahrer Glückseligkeit«, einem Kanon von Beethoven, und ging weiter mit dem Volkslied »Die Gedanken sind frei« und dem Lied der Moorsoldaten, mit dem die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor ihr elendes Dasein zu überstehen versuchten. Der Grundton von Gemeinschaft erklang auch in den zukunftsgewissen deutschen Arbeiter und Jugendliedern wie »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« und in russischen Volksliedern. Ein zweites Liederheft hieß »Weisen von Abschied, Liebesfreud und Liebesleid«; der Verlag Neues Leben hatte sie offenbar sämtlich dem »Zupfgeigenhansl « entnommen, dem legendären Liederbuch der bürgerlichen Wandervögel. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es Gymnasiasten und Studenten auf ihren kleinen Fluchten aus dem Alltag begleitet und ihnen geholfen, sich auf ihren Wanderungen als »neue Menschen« zu fühlen. Im »Zupfgeigenhansl« war demokratisches Liedgut über die Nazizeit hinweg aufbewahrt worden. Die ursprünglich darin enthaltenen Soldatenlieder hatte der Verlag allerdings nicht mehr abgedruckt. Den fröhlichen Marsch ins Feld zu besingen, danach war niemandem mehr zumute, schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht und nun erst recht nicht mehr.
Wo sich 1945 in Ostdeutschland Hoffnung auf Gemeinschaft und ein neues Leben regte, reichte diese also bis an den Anfang des Jahrhunderts zurück. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte den Begriff der Gemeinschaft 1887 in seiner Schrift »Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen« geprägt. Darin grenzte er die beiden sozialen Gebilde scharf voneinander ab. Er verklärte das naturwüchsige Leben in der traditionellen Dorfgemeinschaft zum Inbegriff harmonischen Daseins und sah die Gesellschaft als bloßes Nebeneinander entfremdeter Individuen. Tönnies hatte die mit den Gründerjahren sich rasant entwickelnde Industriegesellschaft vor Augen, die ihm allein auf »Egoismus«, auf »Begierde und Furcht« zu beruhen schien. Die Großstadt galt ihm »überhaupt als Verderben und der Tod des Volkes«. Seitdem entfaltete der Begriff der Gemeinschaft eine geradezu magische Kraft. Denn die Bewohner der großen Städte übernahmen ihn und übertrugen ihn auf ihre Bedürfnisse. Sie lösten ihn von seinem Ursprung, der dörflichen Zwangsgemeinschaft, und wendeten ihn auf Gemeinschaftsformen an, die sich innerhalb der kritisierten Gesellschaft eröffneten. Die in die Moderne Entlassenen erfanden sich ihre Gemeinschaft, wählten sie je nach Lebenslage, Interessen und Neigungen. Wie die Wandervögel, die Gymnasiasten und Studenten, die am Wochenende »auf Fahrt« gingen und dabei ihr Anderssein kultivierten und sich als Neue Menschen stilisierten. Oder wie die ehemaligen Tagelöhner und Mägde, die in die Städte gezogen waren, wo sie die Fabriken und Wohnverhältnisse als Fluch erlebten. Sie fanden mit ihresgleichen neue Zugehörigkeit, die Geselligkeit in der Kneipe, die Ausfahrt am Sonntag oder den solidarischen Zusammenhalt im Arbeitskampf um höhere Löhne.
Nicht selten war die Erkundung alternativer Lebensformen mit der Suche nach Antworten auf die »soziale Frage« oder »die Arbeiterfrage« verbunden, zeitgenössische Kürzel für die Mißstände der kapitalistischen Gesellschaft und die Hoffnung auf Besserung im Sinne des Sozialismus. Auch der Untertitel der ersten Ausgabe von Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft«, der noch die Begriffe von »Communismus und Socialismus« enthielt, ist nur ein Indiz dafür, wie virulent sozialistische Vorstellungen waren und wie eng die verschiedenen politischen und kulturellen Bestrebungen im Ausgang des 19. Jahrhunderts zusammenhingen. Das Wissen darum ist freilich im 20. Jahrhundert verlorengegangen. Die geschichtlichen und sozialen Entwicklungen trennten sie, nicht zuletzt die großen Kriege. Und eine akademische Geschichtsschreibung, die dem Gang der Ereignisse politisch befangen, wenn nicht ideologisch verblendet nur auf bestimmten Pfaden folgt.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 46-60, hier S. 46-49
- 3/2019 | »Abstrakte, Moderne, verschiedene Ismen«. Zur Ablösung des Begriffs »entartete« Kunst
- 4/2020 | Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR, S. 46 Leseprobe
Köpp, Ulrike
Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR
Wie angewurzelt stand ich in der Alten Nationalgalerie vor dem Gemälde, ich hatte die gelöste Szenerie der Nacktbadenden am Ostseestrand wiedererkannt, die mir aus DDR-Zeiten so vertraut war. Dabei befand ich mich doch in dem Raum mit der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und die »Tritonen und Najaden«, die sich da am Meeressaum ergingen, waren von Max Klinger. Ein Mann und eine Frau liefen ins Meer, zwei Liebende, den Rücken zum Betrachter gekehrt, vor ihnen ließ sich eine Frau ins Wasser fallen. Alle Bewegung auf diesem Bild rührte von dieser Menschengruppe in seiner Mitte her. Denn im Blaugrün des Wassers war nicht eine Welle auszumachen. Allenfalls der Struwwelkopf des Kindes, das auf dem linken Oberarm des Mannes saß, ließ eine Brise ahnen, aber vielleicht war sein Haar auch nur von dem Schwung bewegt, mit dem der Vater es hochgehoben hatte. Rechts im Bild standen zwei Frauen und ließen ihre Blicke ins Weite schweifen, links hatte der Maler drei weibliche Figuren gruppiert, die eine sitzend, die beiden anderen, ihren Oberkörper auf den Arm gestützt, im Wasser liegend. Träge, wie hingegossen auf eine Wiese. Es war die Sinnlichkeit des Leibes, die Klinger dem Betrachter vor Augen führte. Er hatte die »Tritonen und Najaden« 1884/85 für den Fries in einer Villa bei Berlin gemalt, sie waren sein lebensreformerisches Programm, ein Gegenentwurf zur Körperfeindlichkeit und Prüderie seiner Zeit. Mit seiner arkadischen Landschaft brachte Klinger auch die Sehnsucht nach einem vom Kampf der Geschlechter befreiten und ebenbürtigen Umgang von Mann und Frau zum Ausdruck. In mir aber rief sein Bild andere Bilder wach, Willy Sittes kraftvolle Männer und Frauen und Liebespaare, die mit ihrer ungezügelten Sinnlichkeit ein irdisches Glück priesen. Ein Strandbild von Werner Tübke kam mir in den Sinn, mit dem Gewimmel von Nackten und Halbnackten, deren Körper sich zu einem einzigen Wirbel verbanden und die dabei doch ganz bei sich selbst blieben. Wo Klinger seine Darstellung nackter Leiber noch mit mythologischen Namen rechtfertigen mußte, nobilitierte Tübke mit seiner altmeisterlichen Kunst die Ungeniertheit der Leute und verlieh ihnen die Würde von Renaissance- und die Sinnlichkeit von Barockmenschen.
Um die DDR als Paradies der Nacktbadenden ranken sich Legenden. So geht die Mär, die Bürger hätten sich im Widerstand gegen die SED ihre Freiheit am Strand erkämpft. Zwar gab es anfänglich Verbote und Restriktionen gegen Freikörperkultur, letztlich war es aber genau umgekehrt: Die Freiheit zum Nacktbaden verdankte das Volk der DDR den Genossen. Wenn die VP, die Volkspolizei, Anfang der fünfziger Jahre Badewiesen und Strände auf die Einhaltung des Verbots kontrollierte, mußte sie die Nackten nicht selten als die ihren identifizieren. Die Anhänger der Freikörperkultur, die etwa am Waldteich bei Moritzburg »gewohnheitsmäßig« zusammenkamen, seien zum größten Teil Mitglieder der SED gewesen, berichtete die sächsische Landesbehörde nach einer Personenfeststellung im August 1950 an die Hauptverwaltung der VP in Berlin. Die Genossen hätten zudem darauf hingewiesen, daß das Nacktbaden anderswo im Land erlaubt sei, auf der Insel Rügen und überhaupt an der Ostseeküste wie auch an den um Berlin gelegenen Seen. Eine der »festgestellten Personen« sei der Professor Ludwig Renn gewesen, der sich in der Angelegenheit an die »Deutsche Demokratische Regierung« wenden wolle. In der Volkspolizei herrschte Verwirrung, das VP-Kreisamt Teltow faßte im Herbst 1951 die Lage an den südlich von Berlin gelegenen Seen zusammen: »Übersichtlich gesehen« seien die Ermittlungen »schwieriger Natur« gewesen, denn man sei zumeist auf Personen getroffen, »die der Freikörperkultur sympathisch gegenüberstehen und überdies zum großen Teil Genossen unserer Partei sind«. Nicht anders als in Ahrenshoop oder an den Volkersdorfer Teichen bei Dresden hatten sich auch im Umland von Berlin nach dem Krieg wieder Sozialdemokraten und Kommunisten eingefunden, die dort bereits in den zwanziger Jahren in der linken Gruppe »Fichte«, im Arbeitertourismusverein »Die Naturfreunde« oder im »Bund Freier Menschen« nackt gebadet hatten. Oft waren es jene Mitglieder der SED, die jetzt die maßgeblichen Positionen in Partei und Staat besetzten. Sie waren also vom selben Stamm wie die Polizisten, die sie am Strand kontrollierten.
Der von der sächsischen VP festgestellte Ludwig Renn, Professor für Kulturgeschichte und Vorsitzender des Sächsischen Kulturbunds, gehörte freilich nicht zu den frühen Lebensreformern, sondern war auf anderem Wege zum Nacktbaden gekommen. Als geborener Vieth von Golßenau hatte er als Junge schwer unter der seelischen Kälte und den ständischen Reglements seines Elternhauses gelitten. In seiner Einsamkeit suchte er nach anderer Zugehörigkeit und fand sie als Offizier im Ersten Weltkrieg. Er fühlte sich verantwortlich für seine Soldaten, in der Begegnung mit gebildeten wie ungebildeten Arbeitern und den analphabetischen Bauern schärfte sich sein sozialer Sinn. Sein Entsetzen angesichts des kriegerischen Gemetzels verwandelte sich in Empörung gegen die deutsche Generalität. Als sich dem adligen Offizier zum Kriegsende nicht wenige seiner Soldaten als Sozialdemokraten zu erkennen gaben, weitete sich sein politischer Horizont, obgleich er die Wirren der Novemberrevolution noch kaum verstand. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau will die hinter ihm liegenden Erfahrungen schreibend verarbeiten, nimmt für einen Sommer Quartier in einem Dorf im Elbsandsteingebirge. Ein Gebüsch am Fluß wird seine Klause zum Schreiben. Dort legt er seine Kleider ab, setzt seinen nackten Körper der Sonne aus und versucht, »auf eine fast verkrampfte Weise, dem gewöhnlichen Volk ähnlich zu werden«. Und wird der Schriftsteller Ludwig Renn.
Wiewohl Renn sich das Nacktbaden also nicht von anderen Lebensreformern abgeguckt hat, bricht er doch wie diese mit seinem bisherigen Leben. Er findet Anschluß an den »Bund Freier Menschen« in Sachsen, reist durch Europa, immer »von Enttäuschung zu Enttäuschung«, kehrt nach Deutschland zurück und schließt sich den Kommunisten an. In Berlin findet er endlich zur »Fichte«. Er hält Vorlesungen über Militärgeschichte in der MASCH, der Marxistischen Arbeiterschule, und gibt seine militärischen Kenntnisse auch im Rotfrontkämpferbund weiter, denn die Arbeiter wollen lernen, sich gegen den aufziehenden Faschismus zu verteidigen und für eine Revolution zu wappnen. Mit »Fichte« hatte Renn seine Lebensform gefunden. Die Organisation unterhielt um Berlin herum auf gepachteten oder gekauften Grundstücken Zeltplätze. Dort verbrachten Arbeitslose, die sich die Miete in der Stadt nicht mehr leisten konnten, die Sommer, aber auch Intellektuelle und Künstler suchten hier am Wochenende Erholung. Man spielte Ball und trieb Gymnastik, traf sich im Lesezirkel zum Diskutieren und badete selbstverständlich nackt. Ludwig Renn tat sich zudem mit seinen arbeitslosen Zeltnachbarn zu einer Eßgemeinschaft zusammen, zu der er Lebensmittel beisteuerte. Es muß der Zeltplatz in Nassenheide gewesen sein, zumindest passen Renns Erinnerungen genau zu denen des Schauspielers Erwin Geschonneck. Dieser nämlich gehörte zu den Arbeitslosen, die zweimal die Woche mit dem Fahrrad von Nassenheide im Norden »zum Stempeln« nach Berlin fuhren, um sich ihre Arbeitslosenunterstützung zu holen. Für den aufgeweckten jungen Proletarier »gehörte es sich«, damals in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, aus der Kirche auszutreten, zu politischen Demonstrationen zu gehen und im Arbeitersportverein organisiert zu sein. Geschonneck versuchte es zuerst mit den Boxern, ging dann aber zu den Arbeiterwanderern – die schienen ihm geistig reger. In Nassenheide fand er reichlich Zeit zum Lesen und den dazugehörigen Zirkel, in dem er sein Studium der Werke von Karl Marx vertiefte. Von hier aus ging er auch mit den Freunden am Wochenende »auf Fahrt« bis zur Ostsee, und eines Tages wurden die Mitglieder von »Fichte« sogar zum Film gerufen: Sie spielten als Statisten in »Kuhle Wampe«, dem Film von Bertolt Brecht und Slatan Dudow, und Geschonneck sang in der legendären S-Bahn-Szene mit den anderen Jungen »Vorwärts und nicht vergessen, / Worin unsre Stärke besteht!«
Renn erinnerte sich an eine Begebenheit, in der Freikörperkultur als Lebensform zur Weltanschauungsgemeinschaft verdichtet erscheint: Mitglieder von »Fichte« hatten ihn um militärische Schulung im Rahmen ihres Sommerlagers gebeten, er vergatterte die Freunde dazu, splitternackt zu dem verabredeten Waldstück zu kommen und auch kein Blatt Papier mitzubringen, denn so könne sich auch ein möglicher Spitzel keine Notizen machen. Im Fall des Falles wären seine Aussagen vor Gericht also nicht zu gebrauchen. So schützte unverfängliches Nacktbaden politisch höchst verfängliches Tun. Die existentielle Bedeutung seiner Entscheidung für die kommunistische Bewegung aber erhellt der bittere Vorwurf, den Renn in seinen Erinnerungen gegen Sigmund Freud richtet. Der habe mit seiner Psychoanalyse die Menschheit nur »noch tiefer in die Krankheit der Vereinsamung hineingestoßen«, an der sie durch den Kapitalismus ohnehin schon litt. Renn verknüpfte seine Suche nach einer alternativen Lebensform mit der Vorstellung von einer fundamental anderen Gesellschaftsform. Die Szene im Wald macht deutlich, daß das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation keinen Widerspruch zu einer selbstbestimmten Lebensform bildete, in der Nacktheit des individuellen Körpers fand dies nur den sichtbarsten Ausdruck, bei Proletariern wie Intellektuellen bürgerlicher Herkunft gleichermaßen. Nach Nassenheide zog es am Wochenende auch Hilde und Georg Benjamin, von hier fuhr der aus armem jüdischem Milieu stammende Alexander Abusch täglich nach Berlin, wo er sich als Redakteur der »Roten Fahne« zum Intellektuellen mauserte. Er auch gehörte nach 1945 zur politischen Prominenz, die sich an den FKK-Strand in Ahrenshoop verlief.SINN UND FORM 4/2020, S. 470-483, hier S. 470-473
- 5/2022 | Der volkseigene Gartenzwerg. Über den Kampf gegen Kitsch in der frühen DDR, S. 46 Leseprobe
Köpp, Ulrike
Der volkseigene Gartenzwerg. Über den Kampf gegen Kitsch in der frühen DDR
Im Sommer 1947 warb ein Plakat für den Besuch einer Ausstellung im Weimarer Schloß: »Gegen die Ausbeutung des Volkes durch Kitsch«. Den Initiatoren ging es offenbar ums Ganze. Den Schwung für ihr Unterfangen bezogen sie aus dem radikalen gesellschaftlichen Umbruch nach dem Untergang des Nazi-Reiches. So hatten die neuen politischen Machthaber mit der Bodenreform gerade für die Umsetzung eines alten lebensreformerisches Ziels gesorgt. Warum sollte da nicht auch die Stunde für die Kunsterziehungsreformer gekommen sein?
Die Malerin Lea Grundig erinnert sich an eine Begebenheit aus ihrer Schulzeit in Dresden, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Als Achtjährige war sie von ihrem Lehrer über Kitsch aufgeklärt worden und stiftete ihre älteren Schwestern umgehend dazu an, die Nippes im elterlichen Zuhause wegzuräumen. Zum Entsetzen der Mutter packten sie die Vasen und die Engel mit den goldenen Flügeln und die komischen »Dämchen« aus Porzellan in den Wäschekorb. Kunsterzieher wie Leas Lehrer und auch Künstler bekämpften den Kitsch, der als Synonym für gestalterischen Schund und Verlogenheit galt, als Symptom gesellschaftlicher Mißstände. Der Maler Otto Griebel etwa hatte sich, durch den Ersten Weltkrieg politisiert, den Linksradikalen angeschlossen und als dadaistischer Künstler das Dresdner Publikum verschreckt. Als Mitglied der Asso, der Dresdner Gruppe proletarisch-revolutionärer bildender Künstler, zog Griebel mit Vorträgen über »Kunst und Kitsch« umher und provozierte seine Zuhörer mit Kritik an »grienenden Gartenzwergen« und Öldruck-Elfenreigen im Schlafzimmer, diesen üblen Produkten »gefühlsverderbenden Massenschunds«. Der Architekturkritiker Adolf Behne forderte 1920 gar mit einem Manifest »Fort mit der Gemütlichkeit!« und warb für kühl-sachliche architektonische Konstruktionen aus Glas und Stahl. Der Schriftsteller Ludwig Renn meinte, daß Kitsch wirklichen Verbrechen als »ästhetisches Mäntelchen« diene. Im Exil in Mexiko sprach er 1944 im Heinrich-Heine-Club über die im Interesse von Geschäft und Politik erzeugten falschen Gefühle, über die Postkarten mit süßlichen Motiven, die Frauen an ihre geliebten Söhne und Männer, an »Unsere sonnigen Feldgrauen « an der Front schickten. Renn, ein geborener Adliger, hatte als Leutnant im Ersten Weltkrieg das Elend der Soldaten erlebt, den Hunger, den Dreck, die Leichen der Kameraden, die auf dem Schlachtfeld zurückgelassen wurden. Jetzt wartete er einmal mehr auf das Ende des Krieges und auf seine Rückkehr nach Deutschland.
Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs regten sich allerorts Anti-Kitsch- Initiativen. Als im Herbst 1946 im Club der Kulturschaffenden in der Berliner Jägerstraße die Kommission Bildende Kunst des Kulturbunds tagte, ging es auch um den Kampf gegen den Kitsch. Max Taut, der sich im Arbeitskreis von Hans Scharoun, Stadtbaudirektor im Berliner Magistrat, für den Wiederaufbau der Stadt engagierte, forderte die bildenden Künstler auf, sich dafür einzusetzen, »daß endlich der Kitsch beseitigt werde«. Auch dafür brauche es eine Zeitschrift für bildende Kunst. Der Publizist Kurt Stern schlug vor, die Geschmacksbildung der Leser mit grundsätzlichen Artikeln zu fördern. Ihn hatten bei seiner Rückkehr aus dem französischen Exil nicht nur die Trümmerlandschaften erschüttert, sondern auch die Schwemme von Kitsch. Überall wurden »Geschenkartikel« angeboten, die provisorischen Verkaufsräume von Wertheim im »Columbia- Haus« schienen überzulaufen von Aschenbechern und Vasen, von Tabakdosen und Zigarettenspitzen, »nie so viele Raucherartikel gesehen wie jetzt, da es 6 Zigaretten im Monat gibt«, notierte er in sein Tagebuch. Es seien Bücher und Spielzeuge aus Pappe und Holz zu haben, aber neben Lebensmitteln mit künstlichen Aromen vor allem künstlicher Blumenschmuck und »allerhand andere Kinkerlitzchen und Schund«.
Es ging in diesen ersten Nachkriegsjahren ums nackte Überleben. Jeder handelte mit dem, was ihm geblieben war, oder produzierte Dinge aus Material, das er beschaffen konnte. Im Referat für Bildende Kunst, Museen und Denkmalpflege wollte man deswegen zur Geschmacksbildung eine »Kitschausstellung« lancieren. Diesen Plan mußte man jedoch aufgeben, so der Kunstwissenschaftler Gerhard Strauss als Vertreter der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Kunstkommission, da die Menschen aus Mangel an Bedarfsartikeln »gezwungen seien, Kitsch zu kaufen«. Die Landesregierung von Mecklenburg- Vorpommern machte Anfang 1947 hingegen ernst, als sie in einem Rundschreiben die Landräte und Oberbürgermeister aufforderte, Prüfstellen einzurichten, die den örtlichen Kunsthandel überwachen und »wertvolle Erzeugnisse von Kitsch« scheiden sollten. In Demmin nahm sich eine rührige »Gruppe bildender Künstler « des Kulturbunds der Sache an und bildete zusammen mit Vertretern von Kulturamt, Gewerbepolizei und Gewerkschaft eine Kommission, die Maßstäbe für die »bekämpfung von kitsch und preiswucher in kunst und kunstgewerbe« zu finden und zu exekutieren versuchte – man bemerke die Kleinschreibung, auch sie ein Feld der Lebensreformer. Wucherpreise waren bei der Kontrolle von Auslagen und Schaufenstern von Galerien und Kunsthandwerkern noch leicht zu indizieren, Geschmacksurteile hingegen waren eine zwiespältige Sache, wie sich in den Protokollen nachlesen läßt. Da war, in bezug auf Heiligenbilder, von »ekelhaften Machwerken« die Rede. Es gab den »Heimat-Maler«, dessen Bilder »für den Handel« gerade noch tragbar schienen, und den »auswärtigen Kitschmaler «, einen aus Berlin Zugezogenen. Bei der Malerin Ilse von Heiden-Linden hingegen seien »edelstes Bemühen und vollendete Kunst« zu bemerken, und die Arbeiten des Bildhauers Wilhelm Graf stünden »auf dem goldnen Boden deutscher Handwerkskunst«. Der Landrat des Kreises Demmin berichtete im April 1947 dem Ministerium für Volksbildung des Landes Mecklenburg von den irritierenden Erfahrungen der Prüfstelle für den Kunsthandel. Es habe sich gezeigt, daß es schon in der Kommission Meinungsverschiedenheiten gebe, weil ihre Vertreter verschiedenen Kunstrichtungen anhingen. Man sei sich zwar grundsätzlich einig, wann man es mit Kitsch zu tun habe, es gebe aber auch Grenzfälle. So meinten die einen, auch Arbeiten von hauptberuflichen Malern, die nicht hohen künstlerischen Ansprüchen genügten, seien auszuschließen, andere hielten dagegen, ein solches Vorgehen würde diese brotlos machen. Man müsse das Ministerium diesbezüglich um eine klare Entscheidung bitten. (…)
SINN UND FORM 5/2022, S. 664- 678, hier S. 664-666
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- 6/2011 | Das im Leben verborgene Gedicht, S. 735 Leseprobe
Krauß, Angela
Das im Leben verborgene Gedicht
Im Frühling 2005 war es, als mich Paul Michael Lützeler im Rahmen des Max-Kade-Programms an die Washington University nach St. Louis einlud, mit seinen Studenten zu arbeiten.
Im Jahr vorher hatte ich die Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten, in St. Louis ging es um Seminare, also um Austausch, zudem auf der anderen Seite der Welt, das war etwas anderes. So wollte ich es auch machen: anders.
Ich stellte mir meine Seminare vor wie ein ins Leben eingespieltes Prosastück.
Es wurde ein Drama.
Es hatten sich acht Studenten eingeschrieben, vier Amerikaner, vier Deutsche. Im Jahr ihres Masterabschlusses, sie hatten eine literaturwissenschaftliche akademische Laufbahn im Blick. Zweifellos von ihrem Jahrgang die jeweils vier intelligentesten deutschen und amerikanischen jungen Menschen, begierig darauf zu forschen, zu lehren, Kritiken zu schreiben.
Es war Frühjahr, sie brauchten nur noch ein paar Prüfungen.
Zur Überraschung aller, auch zu meiner eigenen, war ich das erste lebende Exemplar der Gattung, deren Hervorbringungen sie mit ihrem frischen Wissen und einem bestrickend freimütigen Zugriff zu analysieren verstanden.
Beinahe wären sie damit in ihr Leben gestartet, ohne Verdacht zu schöpfen.
Aber nur beinahe.
Kurz vor dem Ziel war jemand aufgetaucht, der in so lebendiger Präsenz nicht im Bild vorgesehen war. Dessen bloße Anwesenheit die Versuchsanordnung änderte: eine lebende Schriftstellerin.
Ich warf, nachdem wir uns alle dieser Situation bewußt geworden waren, meine Seminarvorbereitungen über den Haufen.
Denn ich dachte bis jetzt, sie wüßten … (von unsereinem).
Vielleicht ist der Gedanke, die Wissenschaft weiß nicht, doch schwer denkbar.
Nein, meine Erfahrungen mit Kritikern sind nicht etwa frustrierend, nicht mal enttäuschend. Ich halte lediglich meine Erwartungen in Schach. Mein Verhältnis zu dieser Seite meines sogenannten Berufslebens ist eines der Suche. Nach Erkenntnis natürlich. Der Literaturwissenschaftler als solcher ist für mich eine noch immer unergründete Spezies. Zwar solide eingeordnet ins Literaturleben, ja, es nicht selten sogar ausmachend, dennoch – für mich hat er sein Wundersames nicht verloren.
Als etwas Unentdecktes müssen mich meine acht Hochintelligenten wohl ihrerseits angesehen haben. Und das ausgerechnet kurz vor den Prüfungen.
Bisher war eigentlich alles klar. Sie verfügten über Methoden der Analyse und setzten bei der Schriftstellerin Methoden der Konstruktion voraus.
So hatten sie es gelernt: Wie hat sie es gemacht?
Das war ihre Frage, das wollten sie von mir wissen.
St. Louis ist unbedingt eine Reise wert.
Aber eine einzige Fahrt auf dem menschenleeren Martin Luther King Boulevard, auf dem ein einzelner schwarzer Mann ziellos vor sich hinjagt, reicht aus, um sicher zu sein: Man fliegt nicht um die halbe Welt, um acht Hochbegabten zu erklären, der Dichter habe eine Methode, die der Literaturwissenschaftler entschlüsselt.
Falls eine solche Vereinbarung besteht, und es kann einem gelegentlich so vorkommen, so beruht sie von seiten der Wissenschaft auf Überzeugung aus reinem Herzen. Von seiten des Dichters auf einem Seufzer.
Hatte ich so weit reisen dürfen, um meine Chance zu bekommen?
Ich ergriff sie spontan – um diese Vereinbarung einmal und für immer (kurz bevor es zu spät ist) in Frage zu stellen. Ich verwarf also meine Seminarvorbereitungen und nutzte das große Appartement, um mir auf dem weißen, fünf Zentimeter tiefen amerikanischen Flauschteppich neue Dramaturgien auszudenken. Die Fensterwand schenkte einen unvergeßlichen Blick auf den Park, der einst auf dem Areal der Weltausstellung 1904 entstanden ist, jener Weltausstellung, die nach einem Jahr triumphal endete mit der Präsentation der neuesten Erfindung: dem gleichzeitigen Erglühen von viertausend Glühbirnen.
Erleuchtung! So sollte es sein.
Ich setze auf Anverwandlung als Erkenntnisweg. Als Poetin halte ich ihn für den verläßlichsten. Meine lieben, mir anvertrauten zukünftigen Literaturforscher sollten auf die andere Seite kommen. Auf unbekanntes Gebiet. Ich mußte sie also auf meine Seite locken. Wie könnte das gelingen?
Mir schien, durch eine Erinnerung an etwas so Vertrautes wie Unverdächtiges: an das Aufsatzschreiben. Ich beschloß, ihnen den Einstieg mit dem ersten Satz zu erleichtern, indem ich ihn vorgab.
Erster Satz: Am Tag, als die Mauer fiel, war ich … Jahre … Tage alt.
(Ich verschwieg, was ich ihnen mit dem vorgegebenen ersten Satz ersparte bzw. schenkte. Von all dem wußten sie nichts, gar nichts wußten sie.)
Kommentar, prompt und durchaus scharf, meiner Primus-Kandidatin: Ich bin Wissenschaftlerin, ich sage nicht ich.
Ich atmete durch.
Ich erinnerte sie, wohl um die jähe Polarisierung abzuschwächen, an den Vortrag einer Linguistin über die Wirkung von Fachsprache in der Öffentlichkeit. Der entschiedene Impuls des geschädigten Subjekts »Ich zeige Sie an« – erscheint in der Fachsprache als »Sie werden zur Anzeige gebracht«. Was geschieht hier? Das Subjekt hat die Verantwortung abgegeben an eine Instanz, die dem Gebot der Objektivität folgt. Das Subjekt wird unsichtbar. Es ist verschwunden.
Genau, bemerkte meine Prima ungerührt.
Wie war das, dachte ich: Wozu reist man um die halbe Welt? Offenbar um es auf der anderen Seite zu erfahren, wozu. Ich schwieg. Sollte ich jetzt etwas erklären, sollte ich jetzt so tun, als wüßte ich etwas, das sich erklären läßt? Nur weil ich zehn Stunden geflogen war, eingeflogen wurde auf Kosten einer der angesehensten amerikanischen Privatuniversitäten, und jetzt vorne stand und weiterwissen mußte?
Dichtung sagt: Ich. Hier bin ich.
Dichtung sagt: Ich meine dich!
Ich dachte, ich sollte meine acht Blitzgescheiten dazu bringen, sich selbst in diesen Zustand zu begeben. Damit sie, und sei es nur einmal, erfahren, aus welcher Haltung heraus Literatur entsteht.
Die Gruppendynamik war, wie sich zeigte, bestens dazu geeignet. Es reichte ein Gegenüber von sieben Kommilitonen, mit denen jeder um souveräne Objektivität konkurrierte, um den Rückfall ins Gegenteil als Zumutung, ja als Desaster zu empfinden.
Meinen ersten Satz las ich eine Woche später achtmal in etwa folgender Vervollständigung: Am Tag, als die Mauer fiel, war ich sieben Jahre und einundsechzig Tage alt. Am Tag, als die Mauer fiel, war ich acht Jahre und zweihundertdreiunddreißig Tage alt. Am Tag, als die Mauer fiel, war ich fast sieben Jahre alt, zwei Tage fehlten noch.
(Ich ließ mir meine Erschütterung nicht anmerken. Ich hatte gehofft, sie wären wenigstens in der Pubertät gewesen, als die Mauer fiel. Schließlich waren sie jetzt erwachsen. So wie ich. Irgendwie. Offenbar hatten sie mich nicht weniger verwirrt als ich sie.)
Betrachtet euch nicht im Alter von sieben Jahren, seid es! rief ich.
Seid sieben Jahre!
Planen Sie ein öffentliches Vorlesen der Arbeiten?
Damit sei zu rechnen, gab ich bekannt.
Schweigen.
Ich werde meinen Master mit eins machen.
Es war nur geflüstert.
Schweigen.
Was wollen Sie von uns?
Und was wollen Sie von mir? konterte ich.
Wir wollen wissen, wie Sie es machen. Müssen wir dafür gequält werden?
Ja! rief ich. Aber nur einmal.
Truman Capote war, während er an seinem letzten Roman schrieb, sechsmal in der Nervenklinik. Rilke wurde von manisch depressiven Schüben heimgesucht, erst nach den Duineser Elegien wagte er zu sagen: Ich bin.
Virginia Woolfs Tagebuch ist voll von Fragen wie: Wohin gehen denn die Leute immer nur so zielstrebig?
Meine lieben, klugen, bewunderten acht, die ihr der schönen Literatur so anhängt, daß ihr in ihrer Nähe leben und von ihr erzählen wollt, erfühlt nur einmal, woher sie kommt, wie sie entsteht und – großer Gott – warum.
WOHER?
[...]
SINN UND FORM 6/2011, S. 743-757
Krauss, Werner
- 2/1949 | Ein spanisches Vermächtnis. Betrachtungen über Garcia Lorcas »Zigeunerromanzen«
- 5/1949 | Über den Standort einer Sprachbesinnung
- 2/1950 | Calderon - Dichter des spanischen Volkes
- 4/1950 | Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag
- 5/1951 | Christlicher Ausklang in der klassischen Tragödie Frankreichs
- 4/1952 | Molière und das Problem des Verstehens in der Welt des 17. Jahrhunderts
- 4/1958 | Cervantes und der spanische Weg der Novelle
- 3/1959 | Eine politische Preisfrage im Jahre 1780
- 1/1960 | Über den Anteil der Buchgeschichte an der literarischen Entfaltung der Aufklärung
- 2/1960 | Über den Anteil der Buchgeschichte an der literarischen Entfaltung der Aufklärung
- 1/1961 | Über die Konstellation der Aufklärung in Deutschland
- 2/1961 | Über die Konstellation der Aufklärung in Deutschland
- 2/1962 | Zu einer Prosa Diderots
- 5-6/1962 | Geist und Widergeist der Utopien
- 5/1983 | Tagebuch-Fragmente
- 5/1983 | Marburg unter dem Naziregime
Krautter, Philippe-Emmanuel
- 1/2013 | Im vollen Bewußtsein der Gefahren. Gespräch mit Marc Fumaroli
Krechel, Ursula
- 4/1998 | Den Körpern ist nichts entgangen
- 1/2000 | Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch. Emmy Ball-Hennings zum Gedenken
- 4/2000 | Meine Stimme ist mit den Fischen geschwommen
- 6/2020 | Aufzeichnungen aus der Dunkelheit. Vom Träumen in Diktaturen, S. 524 Leseprobe
Krechel, Ursula
Aufzeichnungen aus der Dunkelheit. Vom Träumen in Diktaturen
Wir träumen oder wir träumen nicht. Und nehmen an, daß Erinnerungen und Tagesreste eine Folie bilden, auf der Träume aufscheinen. Und gleichzeitig wundern wir uns nicht, daß Menschen, die einer persönlichen und objektiven Katastrophe entronnen sind, schlecht träumen oder aus Alpträumen aufschrecken. Wie wurde in Sarajevo, im Kosovo, in Bagdad geträumt, wie wird in Aleppo, in Damaskus, in Idlib, wie in Pjöngjang, wie in den fortgeschrittenen Überwachungsstaaten geträumt? Ein Traumforscher müßte sich auf den Weg machen und die Träume der Traumatisierten, der aufgeschreckten Schläfer sammeln. Doch es wäre ein problematischer Ansatz, verängstigten und eingeschüchterten Menschen ihr nächtliches Material zu entwinden und ins Licht der Beobachtung zu stellen. Traumatisierte verschließen sich gewöhnlich. Sie leiden an einem fragmentierten Gedächtnis. Im Schweigen verkapselt sich das Trauma und widersetzt sich der Bearbeitung. Von neuem fühlten sich die Opfer bedrängt, vielleicht würden sie dem Forscher zuliebe etwas erfinden oder Träume so verändern, daß diese ihren Sinn verlören.
Der Traum, der erinnert wird, hat schon eine Sperre passiert, ist durch die Maschen der Traumzensur geschlüpft. Der politische Traum unterläuft eine innere und eine äußere Zensur. Traum und Trauma, obwohl sie gänzlich verschiedenen Wortstämmen entspringen, rücken in Diktaturen nahe zusammen und sind ineinander verwoben. Es ist durchaus nicht immer so, daß Traumatisierte die Übergriffe auf die persönlichste Sphäre, die Beschädigung, die Folter, den politischen Mord in Alpträumen von neuem erleben. Eher dissoziieren sie.
»Ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch von oben herab beobachtet.«
Oder: »Ich steige aus meinem Körper aus, ich nehme gar nicht mehr wahr, was mit ihm geschieht.«
Oder: »Ich bin dann gar nicht da, ich schalte ab.«
Während wir bei einer alltagstauglichen Persönlichkeit ein kohärentes Ich voraussetzen, das eine leibliche und psychische Einheit in Raum und Zeit bildet, kommt es hier zur Anpassung des psychischen Apparats an die Anforderungen der Realität durch ein Abschotten vor der Überflutung, durch »Zumachen«. Das Trauma wählt Strategien des Verschweigens, während im Inneren eine lärmende Stille herrscht. Einem drohenden Schmerz wird mit einem affektiven Ausnahmezustand begegnet, so wird einer erneuten Erniedrigung vorgebeugt. Oder salopp ausgedrückt: Der Teufel wird mit dem Beelzebub ausgetrieben. Für Traumatisierte, im Wortsinn heißt das: seelisch Überlastete, kann eine solche Dissoziation heilsam sein. Die Traumata ganzer Bevölkerungsgruppen entziehen sich der Bearbeitung, einmal wegen der nicht ausreichenden Zahl therapeutisch ausgebildeter Helfer und andererseits, weil kollektive Unterdrückungserfahrungen individuelle Folgen haben.
»Ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch von oben herab beobachtet.«
Wie hätte jemand Auschwitz überleben können ohne die Kraft zu einer solchen schützenden Dissoziation? Hier die Nummer beim Appell, dort die frühere Person, die einen eigenen Namen hatte, ein Bett, einen Tisch, eine Familie, ein Vorleben und eine Zukunft. All das versinkt, ist versunken, damit der Schmerz des Verlustes nicht übermächtig, überwältigend wird.
Die Arbeit mit Traumatisierten gebietet es, die Hermeneutik der angewandten Therapiemethoden und den Verhaltenskodex des eigenen Kulturkreises ständig zu reflektieren, auch die enge Bindung an das Medium Sprache muß auf den Prüfstand gestellt werden. Ob dann Atemübungen, malen, töpfern, tanzen helfen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. In ihren Intentionen klaffen Forschung und akute Opferhilfe auseinander. Beide müßten eigentlich resignieren, denn in bestimmten Regionen der Welt sind alle Mitglieder der Gesellschaft, auch die Helfer und Therapeuten, traumatisiert. Im Grunde genommen sind ganze Staatsgebilde und ihre Bürger von solchen Dissoziationen betroffen. Doch die Traumatisierung der Opfer der Pinochet-Diktatur ist eine andere als die des Apartheidregimes, und bei vielen Bürgern der sozialistischen Staaten, den Opfern der Ceauşescu-Diktatur gibt es wieder andere Auswirkungen. Eben dies ist das Dilemma der Arbeit mit Opfern von Diktaturen. Methoden, die für die Behandlung von seelischen Krankheiten entwickelt wurden, sind nicht unmittelbar auf die Kränkung durch Freiheitsberaubung, Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Berufsausübung zu übertragen. Die Hilfestellung ist konkret und individuell, der Ursprung der Traumata ist überindividuell, politisch.
»Das ist die Diktatur: unwillkürliche Bedrohung und unwillkürliches Bangen, B+B, Bedrohung und Bangen, das ist die Diktatur, aber nicht etwa so, daß die eine Hälfte des Landes die andere bedroht, oder die sogenannten Machthaber alle anderen bedrohen, sondern zu alldem gehört auch noch eine himmelschreiende, fürchterliche Ungewißheit, wer droht, hat auch Angst, wer bedroht wird, droht seinerseits ebenso, die streng abgesteckten Rollen sind bis zum äußersten unsicher, alle bedrohen und alle bangen, wobei es Henker und Opfer gibt und diese beiden voneinander unterscheidbar sind.«
So analysiert Péter Esterházy die psychischen Verformungen. Daß die Literatur, auch dort, wo sie weitgehend auf autobiographische Aussagen verzichtet, ein sensibel reagierender Seismograph ist, um das Demütigende und Krankmachende anzuzeigen, muß nicht ausdrücklich betont werden. Was Literatur ausmacht, ist keine Unterfütterung gesellschaftlicher Prozesse, es ist eher das Ungebändigte, Verstörende, das sich der Angst entgegenstellt. Eben das macht sie in Diktaturen so verdächtig. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind Subjekt und Objekt ihres Schreibens, auch wenn sie auf autobiographische Aussagen verzichten. Herta Müllers literarisches Interesse gilt gerade der Kluft zwischen dem Außen und dem Innen der Gesellschaft, nicht eigentlich der Reibungsfläche zwischen Staat und Individuum, wie in der klassischen Literatur.
»Und in der Nacht muß ich wie Schlaf das mitgebrachte Land in dichten und genauen Bildern durch den Körper treiben.«
Das Trauma einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder entmündigt, erniedrigt, mit Strafen bedroht, wenn sie sich nicht einordnen, macht sich an äußeren Ereignissen fest. Täter und Opfer sind meist zu identifizieren, haben Namen und Adresse, auch wenn es sich häufig um Deck- und Spitzelnamen wie die der Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit handelt, und sie haben ein Gesicht, das wiedererkennbar ist – auch unter gänzlich anderen Bedingungen, auch im Traum.
Es ist eine bittere Ironie der Wissenschaftsgeschichte, daß Freuds Bemerkungen zur Kriegsneurose im Ersten Weltkrieg, sein Gutachten zur unmenschlichen und gleichzeitig fruchtlosen Behandlung der »Zitterer« durch Elektroschocks fast unbeachtet geblieben sind und daß das Nachdenken über Traumatisierung und ihre Folgen in den späten sechziger Jahren eine Folge von Krieg und Völkermord war.
Träume produzieren keine photographischen Abbilder früher erlebter, vielleicht verdrängter Szenen. Eher ver-rücken sie Erfahrungen, kleiden sie anders aus, verdichten sie zu neuen Bildern. Insofern sind sie dem Kunstwerk verwandt, das den Künstler auch nicht von einer bestimmten Erfahrung befreit, sondern in dem er eine andere Zugangsebene erarbeitet: eine Umschreibung, Überschreibung. Angstträume, Träume von der Vernichtung des Selbst, einer Weltzertrümmerung vor den eigenen Augen gibt es auch ohne Gewaltherrschaft. Sie sind dann Ausdruck eines depressiven Krankheitsbildes. Träumer in Diktaturen sind wache Zeitgenossen, sie sind wie Linsen, durch die das Tageslicht hineinströmt und dann gebrochen wird. Herta Müller erklärte in einer Rede: »Auch das begriff ich erst später, daß der Traum für jeden die unfreiwillige Arbeit an der Existenz war, der bis zur letzten Konsequenz geführte Diskurs des Alleinseins. Eingeschränkt nur vom Licht des Tages, oder vom Läuten des Weckers.
Ohne die Dimension des Traumes wäre ich nicht ausgekommen. Er gehörte zu den Personen, die ich erfunden hab. Er half mir zu zeigen, wie sich das Leben überschlägt, auch das derer, die sich im Wachsein am Tag von einem Zwang in den anderen begeben, bewußt oder verinnerlicht, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Und es blieb kein Geheimnis, es blieb auch mir selbst kein Geheimnis, daß sich der Schlaf mit seinen Träumen um so mehr zumutet, um so weniger sich der Tag mit seinem großen Auge über allen zugesteht. Je größer die Zwänge waren, je dichter, je wilder und dichter waren die Träume. Auch meine eigenen.«
Auf ähnliche Weise bleibt der russischen Schriftstellerin Lydia Tschukowskaja die Ebene des Traums in der Tagesrealität des wütenden stalinistischen Terrors erhalten, in dem ihr Mann getötet wurde: »Meine Einträge über den Terror waren – zufällig – nur dort vollständig, wo es um Träume ging. Für die Realität reichte meine Kraft des Beschreibens nicht aus. Ich habe es nicht einmal versucht. « Sie – die lebenslang Dissidentin blieb – schrieb unter Lebensgefahr und war gleichzeitig so mutig, Gedichte von Anna Achmatowa aufzuzeichnen, die diese nur mündlich vortrug und dann vernichtete.
Eine klug vorausschauende Frau, Charlotte Beradt, hatte zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft begonnen, ihre eigenen Träume zu notieren. Später, bevor sie 1939 Deutschland verlassen konnte, kamen Träume anderer hinzu, politische Träume, die in einzigartiger Weise die durch die Diktatur der Nationalsozialisten verursachten Gefühlsambivalenzen, Ängste und Anpassungsbestrebungen zum Ausdruck brachten. Sie befragte etwa dreihundert Träumer. Beradt hatte vorher für Zeitungen geschrieben und war Mitarbeiterin der »Weltbühne« gewesen. Mit ihrem Mann, dem Juristen und Schriftsteller Martin Beradt, der aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden war, flüchtete sie nach London und von dort nach New York. Als ihr Mann erblindete, verdiente sie den Lebensunterhalt als hairdresser. Sie übersetzte Texte der mit ihr befreundeten Hannah Arendt und arbeitete nach dem Krieg wieder für deutsche Zeitungen und Rundfunkanstalten. Erst 1966 wurde ihre Traumsammlung »Das Dritte Reich des Traums«, von ihr kommentiert, veröffentlicht und erregte großes Aufsehen; »eine Quelle ersten Ranges«, um die psychischen Auswirkungen des Nationalsozialismus zu studieren, schrieb der Historiker Reinhart Koselleck. Viele der Träume, die Beradt mitteilt, handeln vom Überwachen und Überwachtwerden, der Verengung des Erfahrungsraums, dem schleichenden Terror, der in den Alltag sickert. So der Traum eines jungen Mädchens: »Ich träumte, daß ich mitten in der Nacht aufwache und sehe, wie die beiden Engelchen, die über meinem Bett hängen, nicht mehr nach oben sehen, sondern nach unten und mich scharf beobachten. Ich erschrecke so, daß ich mich unter meinem Bett verkrieche.«
Hier ist die feine Grenze zwischen dem Beschützen des Schlafs – vermutlich durch die Putten, die die Sixtinische Madonna begleiten – und dem Überwachen auf symbolische Weise überschritten. Wachen wird Überwachen, die Vorsichtsmaßnahmen des Tages machen sich selbständig. Viele Träumer bei Beradt erleben, daß ihre Wohnungen, ihre Gedanken durchsichtig sind, daß die beobachtende Behörde allwissend, ja gottähnlich ist. Einmal ist es ein Kopfkissen, einmal ein Ei, dann ein Mistelzweig, der zum Objekt des Verrats wird. Zu Agenten der Macht sind die vertrauten Dinge geworden, sie hören die Träumer ab, um sie leichter ausliefern zu können. Die Anpassungsleistungen, um der Kontrolle zu entgehen, sind enorm. Der Terror wird nicht nur geträumt, sondern die Träume selbst sind Bestandteil des Terrors. Eine Putzmacherin berichtet im Sommer 1933, daß sie im Traum vorsichtshalber Russisch spreche: »damit ich mich selbst nicht verstehe und damit mich niemand versteht, falls ich etwas vom Staat sage, denn das ist doch verboten und muß gemeldet werden«.
Vorsichtsmaßnahmen, Verdrehungen des Sinnvollen, die Diktatur schleicht in die Träume, macht sich die Menschen gefügig. Ein Witz wird erzählt, aber aus Vorsicht so falsch, daß er keinen Sinn mehr ergibt. Die Träume verkleiden nicht die Angst, sie drücken die Angst vor der Überwachung unmittelbar aus, latenter und manifester Trauminhalt fallen ineinander. Das Sperrfeuer der Propaganda ist allgegenwärtig, dem Traum bleibt nur der winzige Phantasieraum, den die totalitäre Gesellschaft noch nicht vollkommen besetzt hat. Im Traum kämpfen die Elemente der Anpassung und des Widerstands miteinander. Doch nicht das, was dem Individuum angetan wird, gilt als ver-rückt, als jenseits des Erträglichen, sondern gerade das Bedürfnis nach Freiheit, nach Auflehnung, die Gegenkraft der Revolte soll es sein. Es ist dies eine elementare Kraft, die sich durch Träume in der Diktatur ausdrückt, sie stemmt sich der Erfahrung der Totalität entgegen, eine produktive Energie erwächst aus ihr. Der Alptraum ist das normale Leben.
[…]
SINN UND FORM 6/2020, S. 787-797, hier S. 787-791 - 5/2023 | Bauen, Erkennen, Glauben. Erich Mendelsohn und die Akademie der Künste
Krehayn, Joachim
- 5-6/1958 | Problem und Komödie in Shakespeares »Maß für Maß»
Krenzlin, Kathleen
- 1/1992 | Gespräch mit Rolf Szymanski und Angela Lammert
Krenzlin, Leonore
- 6/1977 | Briefe zu Annemarie Auer
Krenzlin, Norbert
- 1/1984 | Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss´ »Die Ästhetik des Widerstands«
Kreuzinger, Bernd
- 6/1998 | Gespräch mit Robert Gernhardt, Daniel Lenz und Eric Pütz
Krieger, Hans
- 3/2015 | Ungarettis Unermeßlichkeit. Überlegungen zu einem alten Übersetzungsproblem
- 1/2016 | »Das einzige weibliche Genie«. Die Dichterin Marceline Desbordes-Valmore
- 2/2016 | Die Wiederkehr des Reims. Form als Sinn – zu einem Gedicht von John Donne, S. 419 Leseprobe
Krieger, Hans
Die Wiederkehr des Reims. Form als Sinn - zu einem Gedicht von John Donne
Zu den erstaunlichsten Entwicklungen der neueren Lyrik gehört die geräuschlose Rehabilitierung des Reims. Lange war er verpönt gewesen als Relikt einer entleerten Tradition, als Konventionskrücke der Epigonen, gar als trügerische Schönrednerei, die das Disparate der modernen Welt mit glättender Harmonie überschminkt. Nur für die Humoristen unter den Versemachern war er, seiner Liaison mit der Pointe wegen, ein probates Mittel geblieben. Nun aber, noch etwas schüchtern und manchmal mit Anzeichen von Muskelschwäche nach zu langem Stilliegen, betritt der Reim erneut die Bühne. Und auch manche von denen, die seiner sinnlichen Wirkpotenz besonders entschieden unauffälligere Ordnungsmittel der gebundenen Rede hatten entgegensetzen wollen, erliegen wieder seinem Zauber, der in eine weit entfernte mythisch-magische Vergangenheit zurückreicht.
Für den Übersetzer von Lyrik bleibt der Reim, was er war: ein Problem und eine Herausforderung. Eine Erschwernis also: Wo er es mit gereimten Gedichten zu tun hat, muß er nicht nur Sinngehalt, Bildprägungen, Sprachmuster und Tonfall nachbilden, sondern obendrein nach vorgegebenem Schema die Versenden zum Gleichklang binden. Da das in der Praxis oft nicht ohne Verrenkungen abging, die das Ergebnis schwerfällig und verkrampft wirken ließen, haben viele Übersetzer, gerade auch bedeutende, sich zum Reimverzicht entschlossen – eine Übung in demütiger Askese, um »nahe am Text« zu bleiben. Kann man aber nahe am Text sein, wenn man diesem Text wesentliche Momente seiner Klanggestalt nimmt?
Niemand käme auf die Idee, ein reimloses Gedicht gereimt zu übersetzen; das wäre Verfälschung. Wieso ist es dann keine Verfälschung, wenn man ein gereimtes Gedicht reimlos übersetzt? Der Klang kann für die Wirkung entscheidender sein als der Wortlaut. Eichendorffs berühmte »Mondnacht« könnte in der dritten Strophe auch so lauten: »Und meine Seele spannte / ihre Flügel weit aus / und flog durch das stille Land, / als ob sie nach Hause flöge.« Philologisch fehlt nichts, poetisch fehlt alles. Der Zauber ist verflogen.
Aber nicht nur die metaphysisch geweitete Naturstimmung braucht ihre spezifische Klanglichkeit, um zur Wirkung zu kommen. Für den satirischen Witz, den polemischen Sarkasmus, das anzügliche Geplänkel ist der Reim der Treffer des Florettfechters. Vor kurzem hat die »Frankfurter Anthologie« der FAZ John Donnes berühmtes Gedicht »Der Floh« in der klassischen Übertragung von Werner von Koppenfels wieder in Erinnerung gerufen. Das Original ist selbstverständlich perfekt gereimt, nach einem sehr eigenen Muster: Die drei neunzeiligen Strophen lassen auf jeweils drei Reimpaare eine Reim-Trias folgen. Die Reimpaarung versinnbildlicht auf doppelte Weise die Grundidee: Sie entspricht der ersehnten Vereinigung des Galans mit der noch spröden Geliebten, die der Floh auf sehr physische Weise symbolisch vollzogen hat, indem er die beiden nacheinander blutsaugend gebissen hat; sie entspricht zugleich der Koppelung des Unvereinbaren, des Liebeswerbens mit der Banalität eines Parasitenbisses. Die dreifache Wiederholung der Reimpaarung aber und der abschließende Reim-Dreiklang korrelieren mit der dreifachen Todsünde, welche die Angebetete mit der Tötung des Flohs begeht, weil sie damit den Liebhaber, sich selbst und auch das Medium der Vereinigung beider umbringt – was für den theologisch geschulten John Donne wohl auch eine wenig respektvolle Anspielung auf die Trinität war.
Warum nur hat Werner von Koppenfels die hier so entscheidende Reimform nicht gewahrt? Daß er sich aufs Reimen versteht, hat er doch wiederholt bewiesen, etwa an Balladen von François Villon. Die bloßen Assonanzen oder Halbreime, die er statt dessen bringt (»zugleich« auf »heißt«, »Mensch« auf »nennt«, »zuletzt« auf »Bett«), sind im Grunde enttäuschender als völliger Reimverzicht, weil sie wie mißglückte Reimversuche wirken. Es ist aber gar nicht so schwer, John Donnes Gedicht auch auf deutsch streng zu reimen. Beispielsweise so (unter gelegentlicher Verwendung einzelner Formulierungen von Werner von Koppenfels):
DER FLOH
Sieh diesen Floh! Und sieh, was er uns lehrt:
Ist, was du mir verweigerst, so viel wert?
Gebissen hat er mich und dann dich auch,
Vermischt ist unser Blut in seinem Bauch.
Daß dies nicht Sünde ist, mußt du bekennen,
Man kann’s nicht Schmach, nicht Raub der Unschuld nennen.
Was er genießt, so mühelos und frei,
Mit Lust gebläht vom einen Blut der zwei –
Wer sagt, daß dies für uns nicht schicklich sei?
Halt ein! Der Hochzeitssegen uns gegeben,
Wenn du ihn totschlägst, mordest du drei Leben:
Du tötest mich und dich mit einem Streich
Und triffst, worin vereint wir sind, zugleich,
Den Hochzeitstempel aus lebendgem Holz,
Der uns gepaart hat, trotzend deinem Stolz.
Mich umzubringen schreckt dich ja nicht sehr,
Doch Sakrileg und Selbstmord wiegen mehr.
Todsünde dreifach, daran trägst du schwer.
O übereilte Willkür! Hast du jetzt
Den Finger mit der Unschuld Blut benetzt?
Was tat es denn, das arme kleine Tier,
Als daß es trank ein Tröpfchen Blut von dir,
Von dem du selber sagst – und hast ja recht –,
Es habe weder dich noch mich geschwächt?
Ach, eitle Ängste! Dich mir hinzugeben
Nimmt deiner Ehre mehr nicht, als was eben
Der Tod des Flohs dir nahm von deinem Leben.
Unterschlagen habe ich, im Unterschied zu Werner von Koppenfels, eine metrische Feinheit: den regelmäßigen Wechsel von vierhebigem und fünfhebigem Jambus. Diese Subtilität ist als Ausdruck eines Moments von Ungleichheit in der Paarung gewiß nicht ohne Bedeutung; sie scheint mir aber von weitaus geringerem Gewicht zu sein als die Wahrung der Reimform, mit der die Schlagkraft des Witzes dieser geistUnterschlagen habe ich, im Unterschied zu Werner von Koppenfels, eine metrische Feinheit: den regelmäßigen Wechsel von vierhebigem und fünfhebigem Jambus. Diese Subtilität ist als Ausdruck eines Moments von Ungleichheit in der Paarung gewiß nicht ohne Bedeutung; sie scheint mir aber von weitaus geringerem Gewicht zu sein als die Wahrung der Reimform, mit der die Schlagkraft des Witzes dieser geistreich-frivolen Verführungsrhetorik steht oder fällt. Der »Floh« des Shakespeare-Zeitgenossen John Donne ist mir aber nur aktueller Beispielsfall für die immense Bedeutung der Klanggestalt des Gedichts. In der Klanglichkeit erscheint der Sinn als Form. Wer als Übersetzer den Reim umgeht, kapituliert vor der eigentlichen Aufgabe, die mehr verlangt als nur philologische Treue.
SINN UND FORM 2/2016, S. 273-275
- 5/2016 | Angriff auf die Sprachkultur. Zwanzig Jahre Rechtschreibreform, S. 419 Leseprobe
Krieger, Hans
Angriff auf die Sprachkultur. Zwanzig Jahre Rechtschreibreform
Vor zwanzig Jahren gelang sie am Ende doch: die jahrzehntelang geprobte und immer wieder gescheiterte Umkrempelung der deutschen Orthographie. Mit der »Wiener Absichtserklärung« von 1996 verpflichteten sich die deutschsprachigen Länder sowie Staaten mit relevanten deutschsprachigen Minderheiten zur Einführung einer reformierten Rechtschreibung; noch im gleichen Jahr wurde mit ihrer Einübung in den deutschen Schulen begonnen. Heftige Proteste, vor allem namhafter Schriftsteller, blieben wirkungslos. Vor zehn Jahren dann, 2006, sorgte der von den Kultusministern installierte »Rat für deutsche Rechtschreibung « mit einer halbherzigen »Reform der Reform« für das, was in der offiziellen Sprachregelung »Rechtschreibfrieden« heißt und vom »Deutschlandfunk« unlängst als »Waffenstillstand im Wörterkrieg« bezeichnet wurde. Seitdem herrschen Verunsicherung und die Gleichgültigkeit resignierter Gewöhnung ans Verwirrende, gnädig verdeckt durch die Korrekturprogramme des Computers. Die langfristigen Folgen aber für die Sprachkultur können denjenigen nicht gleichgültig sein, für die der Nuancenreichtum und die Präzision des schriftlichen Ausdrucks von existentieller Bedeutung ist, den Literaten also und allen an Literatur Interessierten. Denn die Rechtschreibreform war ein Angriff auf den Wörterbestand des Deutschen und auf die Wurzeln dessen, was man Sprachgefühl nennt, also das intuitive Verständnis für die Tiefenstrukturen der Sprache.
Die Reformer, nach so vielen vergeblichen Anläufen offenbar nur noch darauf bedacht, überhaupt irgend etwas zu verändern, haben ja nicht nur aus dem »daß« ein »dass« und aus der »Brennessel« eine »Brennnessel« gemacht und dem Leserauge so wundersame Stolperfallen wie »Essstörung«, »Missstand« oder »Flussschleife« gestellt. Sie haben Hunderte von vertrauten Wortzusammensetzungen ("Univerbierungen« nennt sie der Linguist) aus dem Wortschatz gestrichen. Wörter wie »kennenlernen«, »spazierengehen« oder »radfahren«, wie »hochbegabt« oder »weitreichend«, »furchterregend« oder »vielversprechend«, ja sogar »wiedersehen« durfte es nicht mehr geben; aus der Zoologie verschwand das »blutsaugende Insekt« und aus der Botanik die »fleischfressende Pflanze«. Damit waren, anders als beim »keiser im bot«, der sich nicht durchsetzen ließ, nicht nur Schreibweisen verändert; die Substanz der Sprache war angetastet. Bedeutungsunterscheidungen gingen verloren ("wohl bekannt« ist semantisch nicht das gleiche wie »wohlbekannt«); Wortbildungsprozesse, zu denen es ja nicht ohne sinnvollen Grund gekommen war, wurden rückgängig gemacht, und vor allem wurde die Neubildung von Univerbierungen abgeblockt, die ja gerade im Deutschen eine Hauptquelle kreativer Weiterentwicklung ist.
Gewiß: Mit der sogenannten Reform der Reform von 2006 wurde ein großer Teil der verpönten Univerbierungen rehabilitiert. Aber als bloße Varianten, über deren Gebrauch oder Nichtgebrauch nicht das Bedeutungsverständnis, sondern pures Belieben entscheidet. Dies entspricht exakt einem Grundprinzip der Reformer, auf das sie ganz besonders stolz waren: Das Verständnis von Bedeutungsfeinheiten sollte für die Rechtschreibung keine Rolle mehr spielen, weil es als Privileg der »Gebildeten « galt; es sollte überflüssig werden durch leicht zu befolgende simple Regeln, damit Orthographie nicht mehr »Herrschaftsinstrument « zur »Diskriminierung« der »Ungebildeten « ist.
Das wäre selbst dann absurd, wenn es die jedem verständlichen simplen Regeln geben könnte. Sinn und Zweck einer geregelten Orthographie ist ja nicht ihre leichte Erlernbarkeit, sondern das mißverständnisfreie Lesen auch komplizierter Texte und das Ermöglichen einer hochdifferenzierten Sprachkultur, von der auch jene indirekt profitieren, die nicht an ihr teilhaben. Denn in dieser Sprachkultur schult sich die Präzision des Denkens, ohne die es auch die wissenschaftsgestützte Technik mit all ihren Errungenschaften der Lebensbequemlichkeit nicht geben könnte. Aber so simple Regeln, die jedes Sprachgefühl unnötig machen, läßt die Sprache nicht zu, und das stellte sich schnell heraus. »Hochbegabt« sollte getrennt geschrieben werden, weil es sich steigern läßt ("höher begabt«), »blutsaugend «, weil durch die Univerbierung, anders als beim »blutstillenden Medikament«, kein Wort eingespart wird (das Medikament stillt das Blut, das Insekt saugt Blut, ohne Artikel). Für solche Spitzfindigkeiten mußte man fast Sprachwissenschaft studiert haben; selbst Deutschlehrer am Gymnasium sahen sich überfordert, und so wurden die ausgetüftelten Regeln rasch, aber stillschweigend wieder fallengelassen. Schon der zweite Reform-Duden ließ für »blutsaugend« wie »blutstillend« Getrennt- wie Zusammenschreibung unterschiedslos zu. Aus der abstrusen Mixtur aus Rigidität und Willkür war pure Beliebigkeit geworden. Die Ausschaltung des Sprachgefühls aber blieb.
Dafür sorgte auch die »Reform der Reform« von 2006. Sie wurde durchgesetzt, obwohl der Rat für deutsche Rechtschreibung das dornige Kapitel der Groß- oder Kleinschreibung noch gar nicht behandelt hatte. Den Kultusministern pressierte es, sie wollten endlich den »Rechtschreibfrieden«. Und der Ratsvorsitzende Hans Zehetmair beugte sich. Er, als bayerischer Kultusminister einst eifrigster Reformbetreiber, am Ende seiner Amtszeit aber zu der Einsicht gelangt, daß der Staat in die Entwicklung der Sprache nicht eingreifen dürfe, hatte nicht noch einmal den Mut, den er im Spätjahr 1995 bewiesen hatte. Damals hatte er, im Vorfeld der Wiener Vereinbarungen, auf Nachbesserungen am Reformkonzept bestanden und auf die Frage von Spiegel-Reportern, ob er es denn verantworten könne, daß wegen seiner Forderungen eine fertige Auflage des »Duden« eingestampft werden müsse, ungerührt zur Antwort gegeben: »Da haben sich die Herren halt verspekuliert.«
Die Folge: Schreibungen, die gegen die Logik der Sprache verstoßen, wie »heute Morgen«, »seit Langem«, »bei Weitem«, »im Übrigen«, bleiben dauerhaft vorgeschrieben. Hier also wurde festgehalten an der Simplizität der Regel: was irgendwie nach einem Substantiv aussieht, muß groß geschrieben werden. Auch wenn es für das Sprachgefühl und erst recht bei logischer Analyse seinen substantivischen Charakter längst verloren und eine adverbiale Funktion übernommen hat, fast immer auch mit einem schlichten Adverb umstandslos austauschbar ist: »seit Langem« mit »längst«, »im Übrigen« mit »übrigens« oder »außerdem «. Anders als bei vielen Fällen der Getrennt- oder Zusammenschreibung steht hier keine Variante wahlweise zur Verfügung. Wer korrekt schreiben will, muß sein Sprachgewissen vergewaltigen.
Die zahllosen Univerbierungen der herkömmlichen Rechtschreibung sind nie von Ministerien beschlossen und von Verwaltungsorganen durchgesetzt worden. Sie fanden Verbreitung, weil sie sich als zweckmäßig und sinnvoll bewährten und einem Bedürfnis nach Präzision des Ausdrucks entsprachen. Es ist schon sehr die Frage, ob Parlamente befugt wären, die Sprachentwicklung gesetzgeberisch umzulenken. Die Rechtschreibreform von 1996 aber wurde unter Umgehung des Gesetzgebers bloß auf dem Verordnungsweg durchgedrückt; treibende Kraft war die Kultusministerkonferenz, die kein Verfassungsorgan ist, ein »rechtliches Nullum« (Staatsrechtler Rupert Scholz), das lediglich Empfehlungen abgeben kann. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorgehensweise mit der seltsamen Begründung gutgeheißen, von einem »wesentlichen« Eingriff, der dem Gesetzgeber vorbehalten bleibt, könne nicht die Rede sein, da nur ein kleiner Bruchteil des gesamten Wörterbestandes von der Reform betroffen sei. Welch absurde Verwechslung von Qualität und Quantität! Als ob jemand, der durch Körperverletzung einen Finger eingebüßt hat, nicht »wesentlich« beeinträchtigt wäre, weil er ja weniger als ein Promille seiner Körpersubstanz verloren hat. Noch hanebüchener war die zweite Begründung, daß die Reformschreibung ja nur für Schule und Amtsgebrauch verbindlich sei und ansonsten jeder schreiben könne, wie er wolle. Als ob es rechtens sein könnte, von Schulkindern das Erlernen einer Rechtschreibung zu verlangen, die nicht die allgemein übliche ist, sondern nur in Schulen und Ämtern gilt.
Das Urteil fiel im Juli 1998. Was damals zur Debatte stand, gibt es längst nicht mehr, hat es im Grunde nie wirklich gegeben. Die Rechtschreibreform war von Anfang an ein Verwirrspiel voller Unklarheiten und Widersprüche und wurde von Duden-Auflage zu Duden-Auflage sukzessiv aufgeweicht und modifiziert. Von einer in sich kohärenten, verbindlich kodifizierten Reformschreibung kann keine Rede sein. Entsprechend chaotisch sieht die Schreibpraxis aus; in Zeitungen und Büchern findet man immer wieder die abenteuerlichsten Getrenntschreibungen. Einigermaßen gesichert ist nur die neue ss-Schreibung ("dass« statt »daß«); sie hat allerdings in den Schulen nicht zu weniger, sondern zu mehr Fehlern geführt, wie etliche Studien belegen. Mancher sieht in dieser Chaotisierung sogar einen Fortschritt: endlich sei die Überbewertung der Rechtschreibung überwunden. Das hätte man freilich einfacher haben können: Beibehaltung des alles in allem Bewährten mit einer Zusatzregel, die alle schwer zu entscheidenden Zweifelsfälle dem Sprachgefühl und Stilwillen des Schreibenden anheimgibt. Ein großer Irrtum aber wäre es zu glauben, die Beliebigkeit sei ein Freiheitsgewinn. Nur wo es klare Regeln gibt, kann die bewußte Abweichung als Akt der Freiheit wirken und dem Ausdruckswillen oder der stilistischen Profilierung dienen. An der Beliebigkeit erstickt die Freiheit. Goethe wußte es: »Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.« Vorausgesetzt, das Gesetz ist vernunftgemäß. So vernunftgemäß, wie es die deutsche Rechtschreibung bis 1996 war.
SINN UND FORM 5/2016, S. 705-707
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Kumar, Sharat
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Kuncinas, Jurgis
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Kundera, Ludvík
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Kundera, Milan
Kunert, Günter
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Menschen - 4/1979 | Anläßlich Ritsos. Ein Briefwechsel zwischen Günter Kunert und Wilhelm Girnus
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- 6/2019 | Aus dem Big Book, S. 1225 Leseprobe
Kunert, Günter
Aus dem Big Book
3.6.17 Heute nacht habe ich den Brief einer Frau bekommen, wußte aber nicht, wer mir das geschrieben hatte. Auch war der Brief gedruckt, eine endlose Epistel, wie alle Texte, die ich erträume, dazu wie immer die vorlesende Stimme. Ein sehnsuchtsvolles Schreiben, Aufforderung, sie zu besuchen, und ob ich mich denn nicht mehr an sie erinnere? Waren die Sätze anfänglich noch zurückhaltend, platonisch, romantisch, so wurden sie mit jedem Wort leiblicher, ja, sexueller, bis zu vulgären Einladungen, ein Panorama körperlicher Angebote präsentierend. Und ebenfalls wie immer schwand langsam die Lesbarkeit, die Schrift verwischte sich, die Stimme wurde undeutlich, und ich drehte mich auf die andere Seite, um meine Ruhe vor derartigen Unzüchtigkeiten zu haben.
Eine lähmende Hilflosigkeit vor dem Weltgeschehen: Kriege, Aufstände, Hungersnöte, Zerstörungen, Korruption, eine Sintflut von Katastrophen aller Art findet man jeden Morgen vor der Haustür. Man resigniert. Der Glaube an eine positive Veränderbarkeit des alltäglichen Unheils, Rettung mit dem Anwachsen der Gefahr von erkennbaren und noch unbekannten Bedrohungen – der ist längst erloschen. Melancholisch denkt man an die schlechte, gute Zeit nach dem Kriege, als ein Aufbruch in eine wirklich neue Zeit denkbar schien und junge Leute, wie auch ich einer war, von Visionen und Phantasmen lebten, obschon das Brot knapp war oder vielleicht gerade deswegen. Wozu noch die Reflexionen, diese vergeblichen »Lageberichte«, alles Klagen und in Sätze gefaßtes Gejammer, wo doch die Sinnlosigkeit derartiger Unternehmen auf der Hand liegt. Man kann es nicht lassen, trotz besserer Einsicht. Ein Beichten im »stillen Kämmerlein «, ähnlich wie in jenem Märchen, da das kleine Mädchen seine Sorgen und Nöte in den Ofen spricht und von einem versteckten Prinzen gehört wird. Die Situation ist die gleiche, bloß der Prinz Publikum fehlt. Der amüsiert sich bei Fußballspielen, Radauveranstaltungen, dem Massenwahn hingegeben, und hat keine Zeit und keine Lust, sich um Wichtigeres zu kümmern. Vor langer Zeit, die mir wie die sprichwörtlich »kleine Ewigkeit« vorkommt, hatte ich ein Buch mit dem leichtfertigen Titel warum schreiben? veröffentlicht, der schon auf die Antwort »zwecks Selbsttherapie« hindeutete. Eine Frage, die selber immer fragwürdiger geworden ist und schließlich bei Kurt Tucholskys Definition endet. Es ist eine Treppe, schrieb er, es sind drei Stufen: schreiben, reden, schweigen. Soweit das Resümee eines Autors, das die Kapitulation vor dem unaufhaltsamen Geschehen in der Welt signalisiert. Es demonstriert die Vergeblichkeit der Vernunft, deren Widerstandskraft, worauf Brecht noch setzte, inzwischen fast vergangen erscheint.
Auch der Terror ist eine moderne Erscheinung und ähnelt in nichts dem eindeutig politischen Terror, den die nazistischen Schlägerbanden vor 1933 in Deutschland, vor allem in Berlin, ausübten: deren Zielsetzung war klar: die Machtübernahme. Der islamische Terror ist weitaus diffuser, denn von Machtübernahme in einem europäischen Land kann keine Rede sein. Zweck ist die Störung des gängigen Bewußtseins vom Geschütztsein durch den bürgerlichen Rechtsstaat; die Verstörung der Bürger, ihre Verunsicherung. Und die Erzeugung von Mißtrauen gegenüber den islamischen Mitbürgern. Diese sogenannte Spaltung der Gesellschaft soll verhindert werden, was einem Sisyphosunternehmen ähnelt. Die Versuche werden immer aufs neue durch den abwertenden Begriff »Gutmenschentum « gekennzeichnet, aber was unter der Oberfläche der Gesellschaft tatsächlich schwelt, an Haß, Vorurteil, Fremdenfeindlichkeit, Ausländerantipathie, wissen wir gar nicht und ebenso wissen (und ahnen) wir nicht, ob und was sich insgeheim zusammenbraut. Ob da nicht schon in manchen Kämmerlein die Messer gewetzt werden? Solange die wirtschaftliche Situation einigermaßen stabil bleibt, bleibt auch der Terror wider den Terror aus. Aber wehe, wehe, es geht abwärts und wir nähern uns den Zuständen, wie 1933 gehabt. Dann öffnet sich das Tor zur Hölle. Wir Zukunftsblinden hoffen nur, daß es soweit nie kommt …
Polizisten nahmen die Verbrechensbekämpfung in die eigene, gewaltbereite Hand, um der Kriminalität ein für allemal Herr zu werden. Die schlugen Kriminelle einfach tot, folterten sie zu Tode, brachen ihnen die Finger, die Arme und Beine, zermarterten sie, stachen ihnen die Augen aus, ja, sie ließen keine grausige Art der »Bestrafung« aus. Zum Glück geschah dies alles heute nacht nicht in der Realität, doch in meinem Traum. In diesem las ich davon, Zeile um Zeile, und sah auch nur sehr schattenhaft das blutige Geschehen, das durch seine »Verschriftung« mir Schlafendem erträglich war. Ich nahm mir jedoch vor, künftig solche unerbetenen Träume abzubestellen und etwas Freundliches zu erbitten. Weiß nur nicht, an welche Institution ich mich wenden sollte.
18.6.17 In der Provence im Tal der Vézère herumspaziert. Große Einsamkeit ringsum. Nach längerem Wandern mitten im Irgendwo eine Kapelle, grauer Stein, gotisch, über der verschlossenen und verriegelten Eingangstür eine Baubo: jene Frauenfigur, die mit gespreizten Schenkeln dasitzt, ihre Vagina präsentierend, um den Teufel abzuschrecken. (Später zu Hause besorgte ich mir ein Buch über Herkunft und Verbreitung des Abwehrzaubers.) Wenige Schritte von der Kapelle entfernt in den Fels geschlagene Höhlungen, länglich, flach, Fächer zur Aufnahme von Toten, gewißlich älter als die Kapelle davor, durch kein Schild, durch keinen Hinweis Auskunft oder Aufklärung über Datum und Zeit der Benutzung gebend. Ein verwunschener Ort von großer Anziehungskraft. Wie eine Vorstufe zum Jenseits, einladend und unheimlich. Auf meine Fragen nach der Heimkehr konnte mir niemand etwas über diese einsame Stelle in dem verwilderten Wald Aufklärendes mitteilen, was ich jedoch nicht bedauerlich fand, denn just das Unwissen über solche Orte, das Verwunschene, das davon ausgeht, macht ja ihren Zauber aus. Abseits der öffentlichen Wege fand ich, der einsame Wanderer, hin und wieder und da und dort derartige steingewordene Rätsel, mal in England, mal in Frankreich oder Italien, auf Malta und selbst in meiner engeren Heimat. Es waren Anlässe für die Phantasie, für die Imagination, verbunden mit dem Empfinden, einer fernen Vergangenheit verbunden zu sein, eine Nähe zu spüren, von der sich nicht genau sagen ließ, worin sie denn eigentlich bestand.
24.6.17 Heute nacht sollte ich mich vor der Partei rechtfertigen. Eine finstere Reminiszenz an ein wirklich-unwirkliches Geschehen. Einstmals saß ich vor der Parteileitung des Schriftstellerverbandes und sollte meine ideologischen Verfehlungen gestehen. So ausgeliefert armseligen Tröpfen, die ohne das System nicht und nichts gewesen wären, redete ich mich heraus, was aber die Inquisitoren wenig befriedigte. Später zu Hause trank ich eine Flasche Calvados zwecks Sedierung und schlief traumlos, doch der entsprechende, damals verpaßte Traum kehrte nun doch zu mir zurück. Ich wachte mißgelaunt auf, in Erinnerung an die nicht nur für mich, sondern auch für die Anwesenden unwürdige Szene. Hinter dem allen zeigte sich eine eifernde, um Hunderte von Jahren verspätete Religiosität, die sich ihrer selbst nicht sicher ist. Mit dem Verschwinden ihres Staats traten auch diese Personen von der Bühne ab, über den Verlust ihrer Rollen klagend.
Niemand kommt mehr um, keiner stirbt oder erleidet einen tödlichen Unfall. Keiner verliert sein Leben, keiner ertrinkt oder stürzt mit dem Flugzeug ab, weil, immer wieder wiederkehrenden Pressemeldungen zu Folge, nur noch eine einzige Art und Weise des Daseinsendes Gültigkeit hat: die Betroffenen werden »in den Tod gerissen«. Diese martialische und brutale Methode soll vermutlich die Dramatik des Lebensendes anzeigen. Es hat aber seine schockierende Wirkung eingebüßt, weil es zur Standardformel geworden ist und damit auch seine Bildhaftigkeit verloren hat. Da immerzu jemand in den Tod »gerissen« wird, fragt sich der Leser irgendwann, welche numinose Macht dieses »Reißen« eigentlich bewerkstelligt? Es muß doch etwas Personales hinter dem Kraftakt stekken, eine geheime oder unheimliche Macht, deren Aktivität uns verborgen ist. Verständlich war noch die altertümliche Redewendung, daß der Tod jemanden aus dem Leben riß, weil die seit dem Mittelalter weitverbreitete Darstellung von Totentänzen als Illustration des Vorganges die Sache anschaulich machte. Diese Bebilderung ist annulliert, ungültig, wird nicht mehr gebraucht – nur das Reißen hat sich erhalten, der gewalttätige Akt, dem aber der Akteur verlorenging. So entstand eine leere Phrase, deren billige Rekapitulation dem Opfer den letzten Anschein eines individuellen Endes versagt.
SINN UND FORM 6/2019, S. 725-736, hier 725-728
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- 6/2022 | Kurzfassung eines Lebenslaufes
- 5/2023 | Zivilcourage. Drei autobiographische Berichte
Kunst, Thomas
- 2/1997 | Gedichte
Kunze, Horst
- 2/1982 | Werner Klemke zum 65. Geburtstag
Kunze, Reiner
Kupfer, Harry
- 1/1987 | Zum zeitgenössischen Musiktheater
Kuprijanow, Wjatscheslaw
Kurella, Alfred
- 1-2/1965 | Tagebuchaufzeichnungen
- 5/1965 | Aus der Budapester Pen-Diskussion über Tradition und Moderne
- 2/1968 | Die historische Leistung der Entfremdung der Arbeit
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
- 3/1969 | Kunstwerk als Eigenwert
- 2/1979 | Briefe
- 3/1985 | Brief an Romain Rolland
- 4/1990 | Dodo Garai, Alfred Kurella. Ein Briefwechsel
Kurihara, Sadako
- 4/1983 | Gedichte
Kürvers, Klaus
- 4/1993 | Von Schiffsbau und Hausbau. Zum 100. Geburtstag von Hans Scharoun
Kurz, Robert
- 2/1993 | Die dritte Kraft. Ende und Anfang der Neutralität
Kurzeck, Peter
- 5/2011 | »Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren.« Gespräch mit Ralph Schock, S. 624 Leseprobe
Kurzeck, Peter
»Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren«. Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?
PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.
SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?
KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor »Übers Eis«, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: »Kein Frühling« zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und »Keiner stirbt« im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.
SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.
KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich »Kein Frühling« fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.
SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des »Oktober"-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.
KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.
SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim »Vermessen der Zeit« ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?
KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.
[...]
SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633
Kurzweg, Volker
- 3/1971 | Ein Fragebogen
Kus, Mira
Kusniewicz, Andrzej
- 2/1980 | Lektion einer toten Sprache