Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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Haas, Eberhard Theodor
- 1/2013 | Hundert Jahre »Totem und Tabu«
Haas, Franz
- 6/1991 | Das schiefe Dreieck »Malina« (Roman, Drehbuch, Film)
- 3/1992 | Musikanten im Massengrab. Zum Umgang mit Günther Anders in Italien
- 6/1992 | Vorbild oder Feinbild. Hermann Hesse und die Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur
- 6/1994 | Die Wiener Spottmauer. Vom österreichischen Widerstand gegen den Expressionismus
Haase, Horst
- 3/1968 | Variationen eines großen Themas. Zu zwei Erzählungen von Eduard Claudius
Habbal, Rasha
- 1/2018 | Ich erlaube dir nicht, mich zurückzulassen
Habel, Sabrina
- 3/2017 | Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen, S. 422 Leseprobe
Habel, Sabrina
Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen
Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird gesellschaftlich hergestellt und ihre genauen »Produktionsweisen « lassen sich beschreiben. Bemerkenswerterweise zieht Brecht daraus nicht den Schluß, daß es mehrere Wahrheiten gebe oder gar geben solle – wie Roland Barthes, der sagen wird, daß es für jede Begierde eine eigene Sprache geben soll. Brechts Verständnis von Wahrheit (und vielleicht auch von Begierde) ist einfacher: »Es gibt nur eine Wahrheit«, schreibt er, »nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt.« In diesem Sinne gibt es auch nur eine Sprache, allerdings in zwei Zuständen: einem, in dem sie die Wahrheit abbildet, und einem, in dem sie die Wahrheit verstellt. Es gibt nämlich auch Produktionsweisen des Unwahren. Während Adorno unter dem Falschen einen Zusammenhang versteht, in den jeder bereits verstrickt ist, und betont, daß daraus bestenfalls ein Index des Besseren und Richtigeren entstehen kann, zeigt sich Brecht optimistischer. Am Richtigen läßt sich teilhaben, die erkannte Wahrheit kann das Falsche nicht nur anzeigen, sondern es auch stellen. Der Abgleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ermöglicht es, die Sprache Lügen zu strafen. Es sei denn, die Wirklichkeit ist genauso falsch wie ihre Sprache: 1934, in »Zeiten, wo die Täuschung gefordert und die Irrtümer gefördert werden«, entwirft Brecht in seinem dänischen Exil ein Programm zur »Wiederherstellung der Wahrheit«. Der kurze Prosatext ist eine Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland und der faschistischen Propaganda, den Radioansprachen von Göring und Hess. Brechts Text beschreibt eine Methode, sich dem Imperativ der Täuschung entgegenzustellen und der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Wenn Irrtümer »gefördert« werden, dann bedeutet das nicht allein, daß sie positiv sanktioniert werden. Das Fördern weist metaphorisch in den Bereich der Schwerindustrie: Die Bedingungen zur Produktion von Unwahrheit werden geschaffen, das Rohmaterial Irrtum wird industriell geborgen und zur Lüge weiterverarbeitet. Brechts Text ist eine Anleitung, das Falsche – die allgemeinen Irrtümer und das bewußt produzierte Unwahre – zur Rede zu stellen. Er ist zugleich eine Anleitung zum richtigen Lesen.
Brecht erfindet das »close reading«
In Zeiten der Täuschung, beginnt Brecht, »bemüht sich der Denkende, alles, was er liest und hört, richtigzustellen. Was er liest und hört, spricht er leise mit, und im Sprechen stellt er es richtig.« Lesen und Hören werden hier als Aktivitäten verstanden, als Arbeit an der Sprache. Diese beginnt mit dem Wiederholen, dem tätigen Wiederaufnehmen des Gesagten. Brechts Anweisung führt auch direkt vor, wovon sie spricht. Der zweite Satz wiederholt den ersten und liest ihn erneut, mit einer Hinzufügung: dem leisen Mitsprechen. Das Mitsprechen erinnert an das kantische Programm der Aufklärung. Es ist der wörtliche Übergang von der Unmündigkeit zur Mündigkeit oder eben: Mündlichkeit. Das Selbstsprechen richtet sich gegen die Bevormundung, es bricht die monolithische Schriftfläche und monologische Rede des anderen auf. Wer sich durch Mitsprechen in die Rolle des Sprechenden versetzt, der mimt die Hervorbringung des Gesagten. Denn die Wiederholung ist keine bloße Tautologie, keine Festigung und Affirmation des Vorherigen. Sie ist ein Rückgang an den Ort der Produktion, ein Auflösen der Verfestigung der Worte und ihres Zusammenhangs. Im Nachsprechen wird die Sprache aktualisiert, werden ihre Lautlichkeit und Zeitlichkeit bewußtgemacht: Der zweite Satz des Textes, der den ersten wiederholt, ist – bei genauem Mitsprechen und Hinhören – ganz eigentümlich rhythmisiert und akzentuiert: Was er liest und hört, spricht er lei-se mit – und im Sprechen –: stellt er es rich-tig. Das tätige Lesen soll nach Brecht so lange geübt werden, bis es von der Fertigkeit zur Gewohnheit wird, bis man »nicht mehr anders lesen und hören kann«. Der Lesende kann das ihm Vorgesetzte nun aktiv be-richtig-en: Dazu gehe er »von Satz zu Satz«, »so daß er langsam, aber vollständig das Gehörte und Gelesene in seiner zusammenhängenden Form berichtigt«. Die aufmerksame, langsame, gründliche Arbeit am Wortlaut, die Brecht hier beschreibt, ist das, was in der Literaturwissenschaft später »close reading« genannt wurde. Es wendet sich gegen die autoritäre Erstarrung der Sprache und die Sprachvergessenheit ihres Lesers.
(…)
SINN UND FORM 3/2017, S. 422-425, hier S. 422-423
- 2/2018 | Der Kritiker und die Resignation
Haberland, Hartmut
- 1/2024 | Lars Gustafsson – auf der Suche nach gutem Deutsch. Von Hartmut Haberland und Peter Eisenberg
Habermas, Jürgen
- 6/1989 | Produktivkraft Kommunikation - Fragen von Hans-Peter Krüger
- 2/1994 | Aus der Geschichte lernen?
Hacks, Peter
- 4/1955 | Die Schlacht bei Lobositz. Erster und zweiter Akt der Komödie
- 5/1955 | Die dritte Schlacht bei Lobositz. Dritter Akt der Komödie
- 2/1956 | Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637
- 3/1962 | Über Lieder zu Stücken
- 2-3/1963 | Briefe
- 2/1964 | Der Schuhu und die fliegende Prinzessin
- 3-4/1965 | Polly oder die Bataille am Bluewater Creek
- 6/1965 | Moritz Tassow
- 6/1965 | »Von Sophokles zu Sartre«
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Über den Stil in Thomas Manns »Lotte in Weimar«
- 4/1970 | Omphale
- 6/1972 | Geschichte meiner Oper
- 1/1973 | Adam und Eva
- 1/1973 | Über »Adam und Eva«
- 6/1973 | Oper und Drama
- 6/1988 | Jona - Trauerspiel in fünf Akten
- 6/1988 | Jona, Beiwerk und Hintersinn
- 1/1991 | Die freudlose Wissenschaft
- 3/2007 | Gespräch mit Gerda Baumbach, Gottfried Fischborn und Rolf Rohmer (1974)
- 5/2007 | Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Dramaturgie? Aus dem Protokoll der Arbeitsgruppe »Technik des Dramas«, Akademie der Künste der DDR, 10. November 1988. Ediert von Thomas Keck und Jens Mehrle
- 3/2012 | Briefe an die Mutter
Haddad, Malek
- 5/1971 | Das Schicksal des algerischen Schriftstellers
Hädecke, Wolfgang
- 2/1956 | Neue Lyrik
Häfner, Eberhard
- 1/1989 | Gedichte
Hage, Volker
- 4/2023 | Olgas Heimkehr
Hagemeister, Michael
- 5/1996 | Gespräch mit Nikolai Ptschelin
Hagen, Friedrich
- 3/1956 | Gedichte
Hagen, Wolfgang
- 4/2016 | Ivan Nagel, Dieses Rätsel will ich leben. Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen, S. 458 Leseprobe
Hagen, Wolfgang
Ivan Nagel, Dieses Rätsel will ich leben. Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen
JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders.
IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser Situation der dreifachen Minderheit fertig werden? Als meine Mutter während der ungarischen Revolution am Wiener Westbahnhof ankam, wir hatten uns nach meiner Flucht, meiner Emigration aus Ungarn acht Jahre nicht gesehen, stieg sie aus dem Zug aus und sagte: »Ich habe die Adresse eines Psychiaters.« Für mich war das ein entscheidendes Ereignis. Denn das, was ich als Judenkind bei den Nazis nicht sein durfte, nämlich ich selbst, was ich als bürgerliches Kapitalistenkind bei den Kommunisten nicht hätte sein können, hat meine Mutter mit der ganzen versteinerten Autorität der Budapester Bourgeoisie mitgebracht und mir so eigentlich dasselbe angetan: Geh zum Psychiater, du bist krank, du darfst nicht sein, was du bist. Es stimmt, daß man damals im Adenauer-Deutschland nicht dafür bestraft wurde, was man tat, also nicht für den Liebesakt zwischen einverstandenen, willigen Volljährigen. Aber man wurde dafür bestraft, was man war, im Sinne von § 175 durfte man kein Homosexueller sein: was man war, war strafbar. Dann, im Kinderheim, als Judenkind, hatte ich diese ungeheure, unerklärliche Energie eines Kindes, leben zu wollen, und hielt mich fest an der Behauptung: Es kann nicht sein, daß das, was ich bin, falsch ist, unerlaubt ist. In den glücklichen drei Jahren nach der Befreiung konnte sich diese Ich-Energie ausdehnen und mir die Welt und die Kunst erobern. Aber nach dieser Periode bin ich sozusagen mit mir, mit diesem Ich-Drang und dieser Ich-Energie allein geblieben. Die Gefahr war natürlich, daß man ins Ich-Loch des Egoismus, des Solipsismus hineinfällt. Davor rettet einen nur die Liebe, das heißt das Ausbrechen aus dem eigenen Ich. In der Liebe lernt man am Körper eines anderen, einer anderen sich selbst kennen und merkt, daß diese Lippen, diese Arme, diese Schenkel schön sind, richtig sind, daß der Mensch schön und richtig ist. Mit sechzehn wollte ich eigentlich nicht mehr älter werden. Ich sagte mir: Jetzt ist das Gehirn am klarsten, die Welt am transparentesten, warum soll ich mich einlassen auf diese Erwachsenen-Seuchen, diese trüben Geschichten von Geschlechtskomplikationen, von Geschäftsdrang, von Karriere. Meine Vorbilder waren die großen jungen Mathematiker, die großen jungen Komponisten, die mit sechzehn auf dem Höhepunkt waren, weil ihre Welt diese Transparenz hatte, weil ihre Gehirne noch nicht verseucht waren von diesen seltsamen Erwachsenenkrankheiten. Aber die Liebe ist der Ausweg, das erotische Ertasten, das Kennenlernen des anderen und damit von sich selbst, den Menschen liebgewinnen durch diesen Akt der Spiegelung, des Erkennens.
FISCHER: Sie haben als Jude in den fünfziger Jahren in Frankfurt die wenigsten Schwierigkeiten gehabt, weil das Thema damals dem sogenannten kollektiven Schweigen unterlag. Als Staatenloser und als Homosexueller hatten Sie hingegen manifeste Probleme.
NAGEL: Ja, das war ein großer Unterschied. Das Jude-Sein war eine aufgezwungene Identität, ich fühlte mich in meinem Leben nie hauptsächlich als Jude, als hundertprozentiger Jude. Staatenloser – das war keine Identität, das versuchte man so schnell loszuwerden, wie es irgend möglich war. Aber ich wußte, erkannte und stand dazu, daß ich als Homosexueller so bleiben würde, wie ich war, das heißt, daß meine Identität damit zusammenhing. Da war der Angriff, da war das Problem: Was ist Homosexualität? Ist sie eine Verengung, eine Beschränkung auf das eigene Geschlecht? Ist es eine Feigheit vor dem wirklichen Abenteuer, sich in einem anderen als seinesgleichen, in zwei Formen des Menschseins zu erkennen? Die Heterosexualität hat allerdings einen großen Haken, nämlich daß der zentrale Auftrag des Menschen, mit anderen, gleichen und verschiedenen Menschen zurechtzukommen, vor allem in der christlichen Religion abgeschliffen wird zu einer Art ordentlichem Benehmen, das auch noch vom lieben Gott befohlen wird. Es wird etwas Anpasserisches, Normales daraus, was einem den großen Auftrag der Begegnung mit dem gleichen Anderen verschleiert. Ich habe da zwei wunderbare Schocks gehabt. Der erste Schock war das Erlebnis Mozarts und Goyas, der denkbar heterosexuellsten Menschen, die die Begegnung mit der Frau niemals als abgeschliffene Routine, als bloße Normalität betrachtet, sondern auf die heftigste, leidenschaftlichste, liebevollste Weise gelebt haben. Es ist kein Wunder, daß ich zuerst über diese beiden wunderbaren Menschen und Künstler nachgedacht und geschrieben habe. Aber es gab ein zweites Problem, sozusagen das Subrätsel unter diesem Rätsel: Wie war es möglich, daß die universalsten Kenner, die reichsten Darsteller der Menschheit nur Männer glücklich liebten? Shakespeare und vielleicht Proust, Michelangelo und Leonardo. Wie war es möglich, diese universale Vorstellung zu haben, wenn sie unter jener »Verengung«, »Beschränkung« litten – unter der ich ja keineswegs gelitten habe, und sie offenbar auch nicht. Sondern diese als Sprungbrett genutzt haben zur umfassendsten, genauesten und herrlichsten Erkenntnis dessen, was ein Mensch ist. Nehmen wir Shakespeare: Julia ist tausendmal tiefer und interessanter als Romeo, Rosalinde tausendmal lebendiger als Orlando, Cleopatra unendlich fesselnder als Antonius. Dazu noch die gespenstische Überlegung: Diese Frauenfiguren, die wunderbarsten, die geschrieben worden sind, wurden von fünfzehnjährigen Knaben gespielt. Wie ist das möglich? Mein Entschluß war Gott sei Dank, auch als die Angriffe durch die Gesetze und durch meine eigene Mutter kamen, gefestigt genug, um zu sagen: Dieses Rätsel will ich leben. Ich stehe dazu, ich zu sein. Dazu noch eine kleine Bemerkung. In Platons »Gastmahl« gibt es die Aristophanes-Erzählung vom zweigeteilten Menschen. Ich glaube, diese Erzählung ist viel tiefer und wahrer als unsere Adam-und-Eva-Geschichte. Denn es wird nicht gesagt, weshalb Adam sich so einsam fühlt, weshalb die Frau geschaffen worden ist. Aber Aristophanes sagt: Es gab einmal ganze, vollständige Menschen. Die wurden getrennt, entzweigeschnitten in Mann und Frau, in Mann und Mann, in Frau und Frau, und seitdem suchen sie sich mit aller Sehnsucht, um sich wieder zu vereinigen. Die ersten Arbeiten, die ich gemacht habe, galten der Frau, nämlich Mozart und der Liebe in seinen Opern und Goya mit seinen beiden Frauenaktbildern, den beiden Majas. Mein späteres Hauptwerk neben dem Mozart-Buch »Autonomie und Gnade« heißt »Gemälde und Drama« und beschäftigt sich, nicht ganz zentral, weil es um die Erschaffung des konkreten, lebendigen Menschenbildes in der italienischen Malerei der Renaissance geht, aber doch auch mit der Frage: Wieso war die florentinische Entdeckung des leibhaft seelischen, des ganzen Menschen bei Brunelleschi, Donatello, Masaccio, Alberti die Entdeckung des männlichen Körpers? Das Ungerechte daran stand mir ganz klar vor Augen: Aus dem Verhältnis Mann und Frau wurde die Frau herausgedrängt, auch von dieser homoerotischen Gruppe. Und trotzdem waren Donatello und Masaccio, der Bildhauer und der Maler, der Durchbruch zum leibhaften Menschen.
FISCHER: Bei Shakespeare ist es, glaube ich, nicht ganz erwiesen, wir wissen einfach nicht genug …
NAGEL: Aber die einzigen Liebesgedichte, die er geschrieben hat, sind an einen Mann gerichtet. Es ist ja so, als ob Sie sagen würden: Petrarca hat aus irgendwelchen Gründen einen Lauro, einen hübschen Italiener, Laura genannt und so getan, als ob er auf Frauen stehen würde. Das ist absurd. Man will seit vierhundert Jahren verschweigen, was die einfachste und einleuchtendste Geschichte der Welt ist. Wenn einer seine Liebesgedichte einem Mann schreibt, dann hat er es offenbar mehr mit Männern als mit Frauen. Eine Zeitlang hat man bei Shakespeares Sonetten das »er« in »sie« korrigiert, um die Sache in Ordnung zu bringen, denn der größte Dichter durfte natürlich nicht auf Männer stehen.
WOLFGANG HAGEN: Wir waren gerade beim Stichwort »innere Biographie«, und ich habe Sie so verstanden, daß Sie Heterosexualität und Homosexualität gar nicht gegeneinander ausspielen, sondern im Grunde genommen einen Weg zur Heterosexualität finden über das, was im Homosexuellen in Spannung bleibt. Weil das Heterosexuelle mehr oder minder kulturelle oder auch machtpolitische Rollenzuweisungen erfahren hat, die den eigentlichen Grund, warum zwei Menschen zusammenkommen, längst überschrieben haben.
NAGEL: Ich glaube, daß die Zweigeschlechtlichkeit, wie wir aus tausend Romanen, Gedichten und Lebensbeschreibungen wissen, das große Rätsel, das zentrale Problem ist. Das kann gezähmt, verdrängt werden, indem man sagt: Na ja, man heiratet, man liebt ja Frauen, das ist normal und der liebe Gott will es so. Aber ich glaube, daß die Heterosexualität sich diesem größten und schwierigsten Auftrag stellen muß. Und ich glaube außerdem, das Problem der Homosexualität besteht in Folgendem: Wenn man dieses volle Sich-Stellen verweigert, durch seine Triebstruktur gar nicht in diese Perspektive kommt, ist das eine Reduktion, ein Verlust. Oder ist das ein zweites Rätsel, das einem zuteil geworden ist und das man bestehen muß?
SINN UND FORM 4/2016, S. 458-465, hier S. 458-461
Hager, Kurt
- 3/1980 | Die Akademie und die sozialistische Kultur
- 5/1981 | Der X. Parteitag und die Kulturpolitik
- 3/1985 | Tradition und Fortschritt. Festvortrag zum 35jährigem bestehen der Akademie der Künste der DDR
Hahn, Ulla
- 3/1983 | Gedichte
Hähnel, Carola
- 3/2000 | Gespräch mit Imre Kertész und Philippe Mesnard
Haiduk, Manfred
- 1/1984 | Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss´ »Die Ästhetik des Widerstands«
Hajek, Jiri
Hajnal, Gábor
- 1/1969 | Gedichte
- 6/1972 | Gedenktafeln für Heine
- 5/1974 | Brief aus Budapest
- 4/1982 | Die blasslila Kappe
- 2/1983 | Gedichte
Halbe, Max
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Halbmayr, Alois
- 6/2017 | Die Theodizee und ihre Erben. Eine Erinnerung an Odo Marquard, S. 830 Leseprobe
Halbmayr, Alois
Die Theodizee und ihre Erben. Eine Erinnerung an Odo Marquard
Als Odo Marquard 2015 im Alter von 87 Jahren starb, war in den Nachrufen viel von seiner singulären Art und Weise die Rede, Philosophie zu betreiben; von seiner stupenden Kenntnis der Tradition, vor allem der Aufklärung; von seinem vehement vorgetragenen Plädoyer für einen »Abschied vom Prinzipiellen«. Natürlich wurde auch an seine vieldiskutierte These von den Geisteswissenschaften als Kompensationsunternehmen erinnert, an stilprägende Wortschöpfungen wie »Njet-Set« für die Vielflieger unter den Kritischen Theoretikern; »Wacht am Nein«; »Inkompetenzkompensationskompetenz«, »Weigerungsverweigerer« oder, passend zum Reformationsjubiläumsjahr: »Hier stehe ich und kann auch immer noch anders.« Marquard war zeitlebens ein streitbarer Philosoph, der insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren in gesellschaftliche Debatten eingriff und auch Präsident der »Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland« war.
Während seiner langen philosophischen Karriere hat Marquard nur zwei Monographien veröffentlicht, eine kurze Dissertation über Kant und eine sperrige Habilitationsschrift über den Transzendentalen Idealismus im Kontext der Psychoanalyse. Diesen beiden Qualifikationsschriften stehen unzählige Aufsätze gegenüber, von denen ein Großteil seinen bevorzugten Problemstellungen gewidmet ist: Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Ästhetik und eben auch Theo dizee. Die meisten seiner Essays sind als gesammelte Studien in den kleinen gelben Reclam-Bändchen leicht zugänglich. Ihre Titel sind Programm: »Abschied vom Prinzipiellen « (1981), »Apologie des Zufälligen« (1987), »Skepsis und Zustimmung« (1994), »Philosophie des Stattdessen« (2000), »Individuum und Gewaltenteilung « (2004), »Skepsis in der Moderne« (2007), »Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie« (2013, herausgegeben von einem seiner Schüler, Franz Josef Wetz). Seine erste Aufsatzsammlung erschien bezeichnenderweise im Suhrkamp Verlag: »Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie« (1973). Der Titel gab bereits auf lakonische Weise Auskunft über sein Unbehagen. Legendär ist der Eröffnungssatz: »Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu verschonen.« Besser und wohl auch gelassener kann man Marx nicht vom Kopf auf die Füße stellen. Die besonderen, oft eigentümlich anmutenden Perspektiven, die Marquard einnimmt, verleihen seinen Texten bis heute ihren Glanz. Literarisch sind sie ein Genuß, stilistisch sicher und meist brillant komponiert. Die Pointen gehen nicht zu Lasten der Präzision oder des argumentativen Verlaufs, die gedanklichen Zurichtungen sind mit Witz und einer gehörigen Portion Selbstironie gewürzt. Es ist kein Zufall, daß Marquard 1984 den »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung« erhielt. »Transzendentalbelletrist«, so hat er sich einmal selbst mit feiner Ironie bezeichnet. Dabei blieb immer der konkrete Gegenstand im Blickfeld, dessen übersehene oder vergessene Winkel er ausleuchtete. Nur so ließen sich weniger bekannte, aber nicht weniger bedeutsame Facetten des Proble
Marquards Beiträge zur Theodizee nehmen in seinem OEuvre eine Sonderstellung ein. Obwohl die Frage nach der Rechtfertigung Gottes in der Moderne ihre dominante Stellung verloren hat, blieb das Nachdenken darüber angesichts von Leid und Schuld ein produktives Unterfangen. Marquard wollte zeigen, welch ungehobene philosophische Schätze in ihr schlummerten. Die Theodizee betrachtete er als exzellenten Theoriegenerator, durch den unzählige Anschlußfragen gestellt und epochale Weichenstellungen vorgenommen wurden. Doch in kaum einem der Nachrufe wurden Marquards Arbeiten dazu erwähnt, lediglich die Süddeutsche Zeitung brachte einen kurzen Hinweis. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich die Frage nach der Theodizee als eine Art Kettfaden erwies, der geschichtsphilosophische mit anthropologischen, ästhetische mit existentiellen Fragen verwob. 2013 bekannte Marquard in einem Gespräch mit Franz Josef Wetz: »Am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir die Theodizee.« Die Beschäftigung damit begann bereits zu Studienzeiten. Den Germanisten Benno von Wiese, so erzählte Marquard mit der ihm eigenen Ironie, habe er nach der Ammenschlafmethode gehört: »Nur aufwachen, wenn das eigene Problembaby schreit: das war für mich die Theodizee, was ja wohl nicht gerade ein abwegiges Problem ist angesichts des Holocaust.« Allerdings habe ihm von Wieses tragische Weltsicht zu sehr aufs Gemüt gedrückt, weshalb er beschloß, etwas anderes zu versuchen. Damit habe dann sein »langer Marsch durch die Theodizee« begonnen.
Dieser lange Marsch kannte kein konkretes Ziel, er zielte nicht auf Beantwortung der Frage, weder in philosophischer noch in religiös-existentieller Perspektive: »Ich persönlich finde immer mehr Geschmack an den institutionellen Seiten der Religion, habe aber als Philosoph Schwierigkeiten mit bestimmten Sachen, beispielsweise mit dem Jenseits, mit dem Leben nach dem Tode. Ich gehöre nämlich zu den Leuten, die Auferweckungen fast nur negativ erfahren. Schon die Vorstellung, morgens oder nach dem Mittagsschlaf das Bett zu verlassen, ist bei mir negativ belegt. Wenn der liebe Gott es gut mit mir meint, wird er mir die Auferweckung im Jenseits vielleicht ersparen und mich schlafen lassen.« (Gespräch mit Jochen Rack, Sinn und Form 5 / 2010) Marquards persönliche Auseinandersetzung mit der Theodizee frage ist in sein Werk kaum eingeflossen, er blieb zu sehr dem klassischen Ideal des Philosophen als leidenschaftslosem und emotionsfreiem Denker verpflichtet.
An der Theodizee als philosophischem Projekt interessierte ihn, weshalb sie in bestimmten Zeiten eine Hochkonjunktur erlebte und dann wieder verschwand, um erneut in den Fokus zu geraten. Zunächst schien Marquard erklärungsbedürftig, warum sie Anfang des 18. Jahrhunderts plötzlich die philosophische Bühne betrat, nachdem die abendländische Philosophie bis dahin ganz gut ohne sie ausgekommen war. Weshalb konnte Leibniz’ monumentaler Lösungsansatz von 1710, der die scheinbare Unvollkommenheit der Welt zum Sehfehler der Menschen erklärte, die die »Schönheit und Ordnung des Ganzen« nicht erkannten, keine fünfzig Jahre später als widerlegt gelten? Reicht es aus, diesen Umbruch auf das Erdbeben von Lissabon und Voltaires beißende Kritik zurückzuführen?
An dieser doppelten Scharnierstelle, dem Aufkommen und baldigen Scheitern der Theodizee, entsteht schließlich die eigentliche Fragestellung: Was folgt aus diesem Scheitern? Verschwindet mit der Leibnizschen Theodizee das gesamte Arsenal an Gedanken, Ideen und Perspektiven? Oder bleibt etwas erhalten, das in Versatzformen oder anderen Problemstellungen weiterlebt? Es liegt nach Marquard an der spezifischen Denkform der Theodizee, daß sie sich nicht abschütteln läßt, sondern ihre Wirksamkeit im Unterstrom neuer philosophischer Ansätze fortsetzt.
(…)
SINN UND FORM 6/2017, S. 830-836, hier S. 830-832
Hambitzer, Ulrich M.
- 2/2022 | Die heilige Seuche. Meditationen zu einem Gedicht von Stefan George
Hamblyn, Richard
- 3/2014 | Die Krakatau-Briefe von Gerard Manley Hopkins, S. 375 Leseprobe
Hamblyn, Richard
Die Krakatau-Briefe Von Gerard Manley Hopkins
Im Winter 1883 fiel der Dichter Gerard Manley Hopkins in eine seiner periodischen Depressionen, »ein erbärmlicher Zustand von Schwäche und Schläfrigkeit, ich weiß nicht, wieso«, schrieb er, »immerzu müde und außerstande, zu irgendeinem Behufe zu lesen oder zu denken«. Zum Teil war es Langeweile: Hopkins hatte eine ungeschickte Stellung an einer katholischen Internatsschule in Lancashire, wo er zumeist damit beschäftigt war, seine Schüler durch Universitätsaufnahmeprüfungen zu bugsieren. Der Gedanke, daß er seine Zeit und seine Talente vergeudete, bedrückte ihn schwer bei den langen, grüblerischen Wanderungen, die er durch die »süße Landschaft« von Ribblesdale unternahm, »dein liebliches Tal«, wie er es in einem der wenigen Gedichte nannte, die er in diesem Winter zu schreiben vermochte. Er war fast vierzig Jahre alt und fühlte sich wie in einer Falle.
Das war seine geistige Verfassung, als die Krakatau-Sonnenuntergänge begannen. Die winzige Vulkaninsel Krakatau (auf halber Strecke zwischen Java und Sumatra) war Ende August 1883 Schauplatz einer spektakulären Eruption gewesen und hatte Milliarden Tonnen von Asche und Schutt in die irdische Hochatmosphäre geschleudert. Fast vierzigtausend Menschen starben durch die von der mächtigen Explosion ausgelösten riesigen Wellen: Der javanische Hafen Anjer wurde, zusammen mit Hunderten Küstenstädten und -dörfern, nahezu ausgelöscht. »Alles weg. Viele Tote«, meldete ein Telegramm aus Serang, und noch Wochen später wurden Leichen an Land geschwemmt. Derweil dehnte sich die Aschewolke zu einem opaken Band, das sich westwärts langsam um den Äquator wand und in den niederen Breiten denkwürdige Sonnenuntergänge und Abendröten bildete. Nach einigen Wochen verlagerte sich der stratosphärische Schleier von den Tropen zu den Polen, und Ende Oktober 1883 erlebte der größte Teil der Welt, einschließlich Britanniens, ein gespenstisches abendliches Gepränge, eine Folge der Zerstreuung eintretenden Lichtes durch mäandernden vulkanischen Dunst. Im November und Dezember entflammte der Himmel in giftig schillerndem Grün, Blau, Kupfer und Magenta, »mehr wie entzündetes Fleisch denn wie das klare Rot gewöhnlicher Sonnenuntergänge«, schrieb Hopkins. »Die Röte ist intensiv, und das fällt jedem auf; sie hat das Tageslicht verlängert und die Jahreszeit optisch verändert; sie überspült den ganzen Himmel, sie gilt fälschlich als Widerschein eines großen Feuers.«
Wie die meisten Beobachter hatte Hopkins keine Ahnung von den Ursachen dieses Phänomens, doch er wurde von dem täglichen atmosphärischen Gepränge immer stärker fasziniert und verfolgte dessen wechselnde Ausformungen während jenes unruhigen Winters. Ende Dezember übertrug er seine Beobachtungen in ein merkwürdiges 2000-Wörter-Manuskript und sandte es an das führende Wissenschaftsjournal »Nature«. Der im Januar 1884 veröffentlichte Text war ein Meisterwerk der Reportage, ein gesteigertes Prosagedicht, das literarisches Experimentieren mit enormer meteorologischer Exaktheit verband:
»Über dem Grün wiederum erschien ein rotes Leuchten, breiter und gröber; es war zart gesprenkelt, und in den Rippen oder Streben war es mehr rosig, in den Kanälen, wo das Blau des Himmels hindurchschien, war es malvenfarben. Darüber war ein schwaches Lila. Das Rot sah man zuerst 45 Grad über dem Horizont, und darin waren Speichen oder Strahlen auszumachen, die ein Zuschauer mit einer offenen Hand verglich. Um 16.43 hatte Rot das Grün verdrängt und, sich mit dem restlichen Orange vermischend, den Horizont erreicht. Unterdessen wurde der Osten, der eine Rosatönung hatte, tiefrot wie Sand; nach meiner Beobachtung war der Himmelsgrund im Osten grün oder ansonsten gelbbraun, und das Karminrot nur in den Wolken. Ein großes dunkles Wolkentuch, gerefft oder gefältelt, trieb während dieses prächtigen Schauspiels westwärts; sein Saum und die kleineren, über das helle Feld des Sonnenuntergangs ziehenden Wolkenkugeln erhaschten ein fahles Grün. Um 17.00 war das Rot im Westen schwächer, um 17.20 wurde es merklich rosiger und satter; aber es war nie ein reines Rosa. Eine leichte dunkle Rötung blieb um 17.30 oder später zurück. Während sich der Himmel auf diese Weise veränderte, glühte die Landschaft von Ribblesdale in düsterem Braun.«
Hopkins war ein begabter empirischer Beobachter mit einem fast forensischen Interesse am Entdecken schriftlicher Äquivalente für die Komplexität der Naturwelt. Dieses Interesse an der Sprache der Präzision teilten damals viele Wissenschaftler, denn die Wissenschaft war, wie die Poesie, ein von Natur aus deskriptives Unternehmen. Wer den Bericht der Royal Society über die Krakatau-Sonnenuntergänge liest, findet Passagen, die der poetischen Prosa von Hopkins nahekommen, der solche Sprache als »die gesteigerte und sich selbst nicht ähnliche Sprache von heute« charakterisierte, eine dynamische schriftliche Form, hervorragend zum Beschreiben der, wie er sagte, »inscape« geeignet, der eigentümlichen Einheit aller Naturerscheinungen, die jedem Ding in der Natur seine ureigene Schönheit und Einmaligkeit verleiht. Die Seinskraft, die diese dynamischen Identitäten zusammenhält, nennt er »instress«, jene grundlegende Energie, kraft derer ein Beobachter die inscape eines anderen Wesens erkennt. Diese postromantischen Vorstellungen bildeten eine Art persönliches poetisches Credo, eine logozentrische Naturtheologie, die im Werk des mittelalterlichen christlichen Philosophen Duns Scotus wurzelte.
Für Hopkins lagen inscape und instress im Zentrum seiner religiösen und poetischen Praxis, und sie waren zugleich wesentliche Mittel zum Verstehen der Naturwelt. Am 22. April 1871 zum Beispiel schreibt er in sein Tagebuch: »eine so herrliche Damaszierung am Himmel wie heute habe ich noch nie gefühlt. Das Blau war mit einfachem instress geladen, der Himmel oben, im Zenit, ernst und düster, darunter heller und lieblich.« Man beachte, daß er die Damaszierung sowohl fühlte als auch beobachtete, und man beachte seine kalibrierten Beschreibungen des gebänderten Himmelblaus, das höhere »ernst und düster«, das tiefere »heller und lieblich«. Seine Tagebücher sind voll von solchen poetischen Quantifizierungen, die er als Notizen für ein Quintett von Artikeln benutzte. Sie erschienen in »Nature« und handelten allesamt von meteorologischen Themen. Die ersten beiden, von November 1882 bzw. November 1883, sind Briefe über Antikrepuskularstrahlen (Wolkenschatten, die am Abendhimmel gegenüber der Sonne erscheinen), die anderen drei befassen sich mit den Krakatau-Sonnenuntergängen, die dem melancholischen Hopkins anscheinend eine dringend nötige Quelle der Ablenkung verschafften.
Mit diesem Interesse stand er nicht allein; überall in der Welt reagierten Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler auf das Drama der vulkanischen Himmel. Die Dichter Algernon Swinburne, Robert Bridges und Alfred Tennyson (damals Poeta Laureatus) verfaßten überlange, von den außergewöhnlichen Dämmerungszuständen inspirierte anschauliche Strophen, auch wenn, wie der Historiker Richard Altick sagte, »die einzige gute Poesie, die aus diesen Himmelsschaustellungen hervorging, sich in Hopkins‘ Prosa findet«. Das ist eine gerechte Einschätzung, wenngleich ich selbst eine stille Vorliebe für Tennysons Blankvers-Annäherung an die Tonlagen der Viktorianischen Populärwissenschaft habe:
War die Glutasche eines glühenden Gipfels
So hoch geschleudert worden, daß sie überm Erdball lag?
Denn Tag für Tag, an manch blutrotem Abend …
Gleißte der grimm‘ge Sonnenuntergang …
Auch Bildende Künstler merkten, wie sie in ehrfürchtigem Wetteifern mit dem Himmel ihre Farbskalen erweiterten. Der Maler William Ashcroft zeichnete Abend für Abend Pastellskizzen vom Themseufer in Chelsea und konstatierte enttäuscht, er könne »bloß in einer gleichsam chromatischen Kurzschrift den Kern des Effekts festhalten, da so vieles von der Schönheit der Abendröte aus Konzentration besteht«. Über fünfhundert dieser stark getönten Pastellzeichnungen wurden im Science Museum ausgestellt, in dessen Magazinen sie noch heute liegen, wenig bekannt und selten gesehen.
In Oslo hingegen inspirierten die Sonnenuntergänge eines der bekanntesten Gemälde der Welt. Edward Munch ging eines Abends mit zwei Freunden auf der Straße spazieren, als die Sonne durch den Dunst unterging: »es war, als würde ein flammendes Schwert aus Blut das Himmelsgewölbe aufschlitzen«, erinnerte er sich; »der Himmel wurde blutrot – mit gleißenden Feuerzungen – die Hügel wurden blauschwarz – der Fjord dunkelte zu kaltem Blau – zwischen den gelben und roten Farben - dem grellen Blutrot – auf der Straße – und dem Geländer – wurden die Gesichter meiner Gefährten gelb-weiß – ich fühlte so etwas wie einen großen Schrei – und wirklich hörte ich einen großen Schrei.« Sein Bild »Der Schrei« (1893), von dem er mehrere Versionen malte, ist ein bleibendes (und oft plagiiertes) expressionistisches Meisterwerk, eine Vision leidvoller menschlicher Verlassenheit unter einem apokalyptischen Himmel, als »ein großer nicht endender Schrei durch die Natur«. Und wirklich war die letzte Eruption auf Krakatau am 27. August 1883 das lauteste je aufgezeichnete Geräusch; es pflanzte sich beinahe 5000 km weit fort und war auf fast einem Zehntel der Erde zu hören: wahrlich ein großer Schrei.
Was Hopkins betraf, so fiel die Publikation seines Krakatau-Essays mit dem willkommenen Angebot einer Klassik-Professur in Dublin zusammen. Im Februar 1884 verließ er Lancashire, erleichtert, entkommen zu sein. Doch das dauerte nicht lange. Heimwehkrank, einsam und überanstrengt, erlag Hopkins seiner wohl schwersten Depression; sein Elend zeigt sich in den »schrecklichen« Sonetten von 1885 ("Ich wache auf und fühle den Anbruch des Dunkels, nicht des Tages«). Im Juni 1889 starb er, vierundvierzigjährig, an Typhus; er wurde in einem anonymen Grab beigesetzt. Nur sein enger Freund Robert Bridges erkannte seine dichterische Größe, und die meisten seiner Werke wurden erst nach 1918 veröffentlicht. Bis auf eine Handvoll in unbekannten Zeitschriften abgedruckter unbedeutender Gedichte sind die fünf Artikel in »Nature« tatsächlich das einzige von Hopkins, das zu seinen Lebzeiten erschien.
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 3/2014, S. 375-378
Hamburger, Maik
- 6/2012 | Mein Vater Rudolf Hamburger oder Die Abgründe des kurzen 20. Jahrhunderts, S. 758 Leseprobe
Hamburger, Maik
MEIN VATER RUDOLF HAMBURGER ODER DIE ABGRÜNDE DES KURZEN 20. JAHRHUNDERTS
In frühester Erinnerung steht er vor mir, sportlich gekleidet in Jacke und Knickerbocker aus englischem Tweed. Der ruhige braune Ton des Pfeffer-und-Salz-Musters schien seine Persönlichkeit am besten zur Geltung zu bringen; der Stoff faßte sich weich, aber fest an, und die männlichen Schultern wirkten darin noch breiter. So kam er nachmittags von seiner Arbeitsstelle, einem Architektenbüro in Shanghai, um sich sogleich mit mir auf dem Rasen hinter dem Haus zu balgen. Heute bin ich bei nüchterner Berechnung erstaunt, wie kurz die Zeit des Zusammenseins in Wahrheit gewesen ist. Zweieinhalb Jahre in China, vier in Polen und der Schweiz, dazwischen lag schon eine Unterbrechung. Der sich dann 1939 für eine »kurze Zeit« vom Achtjährigen verabschiedete, verschwand für sechzehn Jahre. Zehn davon beschreibt er in seinem Lagerbericht. Rudolf Albert Hamburger war elf Jahre alt, als mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges das »kurze 20. Jahrhundert«, das »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) einsetzte, für dessen Brüche, Abgründe und Verwerfungen sein unsteter Lebensweg geradezu modellhaft zu stehen scheint.
Als Sohn des Textilfabrikanten Max Hamburger im schlesischen Landeshut geboren, wächst Rudolf in einem kultivierten großbürgerlichen Haushalt auf, zu dessen Freundeskreis auch die Familie Gerhart Hauptmanns zählt. Das väterliche Unternehmen floriert, denn der nach Kriegsausbruch aufschießende Bedarf an Uniformstoffen sorgt für Staatsaufträge. In der Schule sitzen die Fabrikantensöhne neben den Arbeiterkindern in einer Klasse. Rudolf freundet sich mit einem proletarischen Jungen an, der gelegentlich zum Spielen in die Hamburgersche Villa eingeladen wird. Eines Tages unternimmt Rudolf einen Gegenbesuch. Seine Bestürzung ist enorm. Jahrzehnte später wird er sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen an die elendeWohnküche erinnern, den Lärm, die Gerüche, den barschen Ton der Mutter zu den Kindern und den neuen Blick auf seinen Freund, der in diesem Milieu seine Schularbeiten erledigt. Im GULAG wird er sich über die Umkehrung der Verhältnisse Gedanken machen, da der ehemals Privilegierte jetzt als »Politischer« zur untersten Stufe der Lagerhierarchie gehört.
Von den drei Brüdern ist Rudolf der Künstler. Er studiert Architektur in München, in Dresden und zuletzt bei Hans Poelzig in Berlin, der ihn nach dem Diplom als Meisterschüler aufnimmt. In Berlin lernt er Ursula Kuczynski kennen, Tochter des renommierten Demographen Robert René Kuczynski, das Paar heiratet 1929. Das temperamentvolle, mit ganzer Leidenschaft dem Kommunismus zugetane Mädchen wird später einmal berühmt werden als »Sonja«, die Geheimdienstagentin, die die von Klaus Fuchs besorgten Unterlagen aus der anglo-amerikanischen Atomforschung an die sowjetische Armeeaufklärung GRU übermittelte.
Der frischgebackene Architekt steckt voller Tatendrang, aber die Weltwirtschaftskrise drückt schwer auf den Markt. Bauaufträge sind rar. Durch einen glücklichen Zufall erhält er ein Angebot aus China. Auf dem Bahnweg reisen die jungen Eheleute über Sibirien nach Shanghai, wo Hamburger eine Stelle bei der Stadtverwaltung des International Settlement antritt. Sein Einstand könnte schwungvoller nicht sein: er entwirft das vierstöckige Victoria Nurses’ Home, das als ein Pionierbau der Moderne in China gilt; es folgen eine Schule, eine Müllverbrennungsanlage und – man kann seine Aufgaben nicht wählen – ein Gefängnis. Darüber hinaus erledigt er private Aufträge für Innenausstattungen. Nicht nur als Fachmann, auch durch seinen Charme, seinen Humor und sein natürliches Taktgefühl macht er sich schnell beliebt in europäischen Gesellschaftskreisen. Die auch geschäftlich nicht unwichtigen Einladungen führen zu Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die in dem neokolonialen Spießermilieu, wie sie es sieht, nur widerwillig die nette Gattin gibt. Es kommt aber noch kategorischer: Durch die Vermittlung Richard Sorges nimmt Ursula Hamburger Verbindung zur Kommunistischen Partei Chinas auf und stellt, wenn ihr Mann arbeitet, das gemeinsame Wohnhaus für konspirative Treffs zur Verfügung. Als sie nicht umhinkann, ihn einzuweihen, ist er außer sich. Nicht nur, daß er sich hintergangen fühlt – sie hat die Familie aufs Spiel gesetzt. Für solche Aktivitäten droht auch Ausländern die Todesstrafe. Er will es ihr verbieten, vergeblich. Die Kluft zwischen ihnen reißt immer weiter auf. Ursulas Entschluß, zu einer einjährigen Ausbildung bei der GRU nach Moskau zu fahren und den Sohn bei den Großeltern in Schlesien unterzubringen, bedeutet faktisch das Ende der Ehe.
Die politische Entwicklung ist nicht geeignet, seine Stimmung zu heben. In Shanghai wüten die japanischen Invasoren, unter den ansässigen Deutschen gewinnt die nationalsozialistische Gesinnung immer mehr an Boden, die Nachrichten aus Deutschland selbst sind verheerend. Das düstere, ja bedrohliche Erscheinungsbild der westlichen Länder lenkt Hamburgers Blick in Richtung Sowjetunion als einzige glaubwürdige Alternative. Seine Ansichten radikalisieren sich, nähern sich denen seiner in der Ferne agierenden Ehefrau.
Der mittlerweile angesehene Architekt trifft eine verhängnisvolle Entscheidung. Er mag nicht mehr abseits stehen. Er will handeln. Er bewirbt sich als Agent bei eben der Organisation, für die seine Frau schon tätig ist. Die Verantwortlichen bei der GRU zögern. Sie können ihn vielleicht besser einschätzen als er sich selbst. Als er weiterhin insistiert, erhält er doch einen ersten Auftrag: seine Ehefrau – auf dem Papier ist sie es noch – mitsamt Sohn nach Polen zu begleiten, um ihre illegale Tätigkeit dort nach außen abzuschirmen. Es soll der Anschein einer heilen Familie gewahrt werden. Eine Ausbildung als Agent sei für Hamburger nicht nötig, er könne ja bei seiner Frau Kompetenz erwerben. Learning by doing: eine in dieser Branche höchst riskante Devise!
Der fünfjährige Sohn weiß von diesem Arrangement natürlich nichts; nichts davon, daß diese Jahre mit dem Vater ihm nur vergönnt sind, weil es dem sowjetischen Armeegeheimdienst gut in den Plan paßt. Für mich ist die Familie wieder beisammen. Bald kommt meine Schwester zur Welt, Tochter aus einer kurzen Verbindung mit einem deutschen Kommunisten, die mein Vater als sein Kind anerkennt und amtlich einschreiben läßt. (Es widerstrebt mir, sie Halbschwester zu nennen.) Die Wahrheit wird sie, werden wir, zwanzig Jahre später in der DDR erfahren. Das Familienleben vollzieht sich nach meiner Wahrnehmung reibungslos; ich wüßte nicht, daß es zwischen den Eltern je Streit gegeben hätte (worüber jemand mit größerer Lebenserfahrung vielleicht doch stutzig geworden wäre). Bei meiner Mutter erhielt ich den ersten Schulunterricht, erlaubte doch der häufige Wohnungswechsel nicht, mich in einer polnischen Lehranstalt einzuschulen; mit meinem Vater erschuf ich immer kühnere Bauwerke aus dem Baukasten; und mit beiden unternahm ich Skiausflüge in die Berge um Zakopane, wo wir ein märchenhaftes Holzhaus bewohnten. Heute bestürzt mich die Vorstellung, welche Gefühle mein Vater bei diesem Rollenspiel gehabt haben muß.
In der Schweiz lassen sich Rudolf und Ursula amtlich scheiden, ich bleibe fortan bei meiner Mutter. Hamburger befindet sich zudem wegen seiner jüdischen Abkunft in einer prekären Situation: sein deutscher Paß ist abgelaufen und einen neuen kann er nicht beantragen. Es bleibt ihm keine andere Wahl, als einen ihm in Genf angebotenen honduranischen Paß zu kaufen, mit dem er 1939 nach China zurückreist, um dort seine Arbeit für die GRU fortzusetzen. Unerfahren und obendrein vom Pech verfolgt, wird er in Chungking, der zeitweiligen Hauptstadt der Nationalchinesen, aufgegriffen. Ein Jahr verbringt er in Haft, erleidet Folter, hat keine Verbindung mit der Außenwelt. Sein Leben verdankt er dann wohl doch einem Quentchen Glück. Dem Bruder Otto, der zu der Zeit in Shanghai lebt, wird ein Telegramm aus Chungking zugespielt. Die im Ganovenjargon versteckte Botschaft ist nicht schwer zu entschlüsseln: »H’s Bruder als Späher ins Kittchen. Soll weggeputzt werden.« Mit H ist Otto selbst gemeint, der Bruder ist Rudolf. Otto alarmiert Rudolfs Freunde, die die Nachricht weitergeben, schließlich wird er durch diplomatische Intervention von sowjetischer Seite (so wird vermutet) aus der Haft entlassen.
Ein Jahr darauf führt ihn sein Weg als Kundschafter nach Teheran. Dort wird er, wie offenbar seine Auftraggeber auch, vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion überrascht. Im Nu besetzen englische, russische und amerikanische Truppen das Korridorland Persien. Hamburger gelingt es, als Mitarbeiter eines Ministeriums in Teheran unterzukommen. Aufgrund einer Denunziation wird er festgenommen. Er verbringt Wochen in amerikanischer, dann englischer Haft. Sein honduranischer Paß – die Vorgesetzten bei der GRU haben es nicht einmal für nötig gehalten, ihn mit einem glaubwürdigen Dokument auszustatten – erhärtet den Verdacht auf konspirative Verwicklungen. Da er jedoch in den Verhören wenig preisgibt und kaum Beweise gegen ihn vorliegen, entläßt man ihn mit der Maßgabe, in kürzester Zeit aus Persien zu verschwinden. Was liegt näher, als in dem Land, für das er so viel riskiert hat, in seiner Sowjetunion, um Asyl zu ersuchen? Es scheint die richtige Entscheidung zu sein. Wohlbehalten erreicht Hamburger Moskau. Am dritten Tag wird er verhaftet.
[...]
SINN UND FORM 6/2012, S. 758-768
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Hamburger, Michael
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Hamburger, Michael
Moderne deutsche Literatur in England. Ein persönlicher Erfahrungsbericht (1981)
Michael Hamburger, Übersetzer aus der Not des Übersetztwerdens. Eine Vorbemerkung
Der mit dem Werk Michael Hamburgers vertraute Leser mag in der erstmals auf deutsch abgedruckten Rede über eine bemerkenswerte Auslassung stolpern. Denn anders als in seiner Autobiographie »Verlorener Einsatz« oder in seiner Essaysammlung »Zwischen den Sprachen« bleibt die Urszene seiner literarischen Existenz, seiner dreifachen Identität als Dichter, Übersetzer und Kritiker hier unberührt. Immer wieder greift Hamburger in seinem Werk ein Schlüsselerlebnis auf: den Schreck des verstummenden Kindes, dem in der Fremde keine Worte mehr zur Verfügung stehen. Es beginnt 1933 mit einem neunjährigen Jungen aus Berlin-Charlottenburg, der über die Flure einer britischen Schule geistert. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft – von der er ein paar Monate zuvor noch nichts wußte – ist er aus Nazi-Deutschland vertrieben worden. Den Blick in den wortlosen Abgrund hat Hamburger, der später zum entscheidenden »cultural mediator« deutschsprachiger Literatur in Großbritannien werden sollte, auf unterschiedliche Weise geschildert. Berichtete er in seiner Muttersprache Deutsch von dem Erlebnis, so nahm er eine aufschlußreiche Verschiebung des Wortes Übersetzung vor: Statt der aktiven Form betonte er die ungewollte Variante eines Übersetztwerdens.
In diesem Sinne beantwortete er dreißig Jahre später in einer deutschen Zeitung die selbstgestellte Frage »Warum ich übersetze«: Er sehe da zwei Jungen, ihn und seinen Bruder, in einem Edinburgher Schulgebäude die richtige Schwelle in eine neue Welt suchen: »Ich selber war ins Englische übersetzt worden. Nun galt es, das fremde Element (…) zu bewältigen – oder unterzugehen.« Und in seiner Autobiographie schrieb er: »Es war, als sollte man schwimmen lernen, indem man in tiefes Wasser geworfen wurde.« Doch, so seine Deutung dieser »linguistic transplantation«, gerade die Erfahrung der Sprachnot mobilisierte eine eigene Dringlichkeit zu verstehen – und zu übersetzen. Diese Grunderfahrung haben auch andere jüdische Exilanten und Exilantinnen seiner Generation geschildert. So etwa Georges-Arthur Goldschmidt, den der schockhafte Weltwechsel bei der Emigration unvermittelt in die »Wahrheit der Sprache« stellte. Hamburger drückte es so aus: »Es kann geschehen, daß man anfängt, Sprache als etwas nicht mehr Selbstverständliches zu begreifen, so wie die meisten Menschen Sprache für selbstverständlich nehmen.« Es ist die Erfahrung einer Zerrüttung, bei der die Mehrsprachigkeit zunächst weniger als Bereicherung denn als »Gebrechen« erfahren wird.
Goldschmidt hat dafür den Begriff der Doppelsprachigkeit geprägt. In Abgrenzung von der Zweisprachigkeit bestimmt er ihn durch die Geschichte: »Sie ist ein persönliches Schicksal, sie ist zu jeder Zeit eine verdoppelte Seinserfahrung.« In seiner Selbstvorstellung 1973 vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung meinte Hamburger, daß es nicht allein seine »Geschichte« gewesen sei, die ihn nach Großbritannien »versetzt« habe. Es war die Erfahrung eines »age of dispersion«, wie es in seinem literaturgeschichtlichen Werk »After the Second Flood« heißt, das ihn zum »displaced poet« und Übersetzer in der Fremde habe werden lassen.
Die Übersetzungserfahrung wird zum herstellungsästhetischen Problem. Jüngst hat der britische Germanist Jeremy Adler davon gesprochen, daß der exilierte Schriftsteller nicht nur zum Verstehen der ihn umgebenden Welt angehalten werde, sondern »notgedrungen « Neues erschaffe, so es ihm gelinge, seine Separierung produktiv werden zu lassen. In diesem Sinne vermochte Hamburger jenen Zwischenraum zwischen den Sprachen, den er mit dem deutschen Wort Niemandsland umschrieb, fruchtbar zu machen. Er nannte seine Tätigkeit daher ein »carrying over«, ein Vorgang, der in den Bau seiner Arche aus Übersetzungen in England mündete. Inwiefern dieses Überlieferungsbewußtsein auch ein Erbteil seiner Herkunft aus dem assimilierten Berliner Judentum war, dazu hat er nur Andeutungen gemacht: Er hielt fest, daß ihn die Begegnungszonen des Geistes interessiert hätten, aus denen das Beste einer »deutsch-jüdischen Verschmelzung « entstanden sei. Darauf verweist der weite Bogen seines Werks als Übersetzer, von Friedrich Hölderlin bis zu Paul Celan. Daß der gerade eingebürgerte Neuzehnjährige 1943 seine erste Publikation Hölderlin, dem Dichter eines Leidens an der Suche nach dem Ausdruck schlechthin, widmete, fügt sich zur eigenen Sprachnot im Exil. Vermutlich ging es ihm aber auch darum, Hölderlin den Händen des NS-Regimes zu entwinden, indem er ihn mitten im Krieg zum Dichter »in desolate times«, zum Unbehausten machte.
So wurde Hamburger schließlich selbst – im Sinne Jean Pauls – zu einem »Bindegeist« zwischen den Kulturen in der Epoche nach 1945, die er in seinem literaturkritischen Hauptwerk »Wahrheit und Poesie« als an allen Enden lose charakterisierte. Er wurde zu einem Hermes im Transitraum der Sprachen. Es sei ihm darum gegangen, ein Verfahren der »Verpflanzung« zu entwickeln, das weder freie »Nachdichtung« noch »Besitzergreifung « sei. In seinem maßgeblichen Aufsatz »Erfahrungen des Übersetzers« merkte Hamburger nicht ohne Ironie an, er habe dieses Verfahren der deutschen Literatur abgeschaut, die immer wieder bewiesen habe, wie fruchtbar die »Einbürgerung von Fremdem « sein könne.
In Anlehnung an den Dichter und Kritiker John Dryden (1631–1700) unterschied er drei Übersetzungsarten, die Metaphrase, die Paraphrase und die Imitation. Man könnte auch von einer wörtlichen, einer allegorischen und einer poetischen Übersetzungsweise sprechen. Die wörtliche schied für Hamburger als zu bedeutungsfixiert aus, die poetische war ihm allzu frei und zu besitzergreifend. Insofern bevorzugte er die umschreibend-allegorische Vorgehensweise und versuchte, die Andersartigkeit des Textes, seinen Eigensinn oder seine »quiddity« in die Zielsprache hinüberzutragen. Seine Übersetzungen lassen eine Tendenz zur »foreignisation« statt zur »domestication« erkennen.
In dieser gewinnenden Fremdheit liegt ein Prinzip doppelter Anreicherung. Einerseits füllt die gelungene Übersetzung eine Lücke in der Zielsprache. Eine unbekannte Position scheint auf. Die Eigentümlichkeiten der Nationalliteraturen werden nach Hamburger erst dann ganz wirksam, wenn der neu eingeführte Autor in der anderen Sprache eine Lücke besetzt. Tut er dies, wie im Fall von Goethes »Faust« oder Hölderlins Lyrik, so bereichert er deren Literatur. Ist dieser Platz hingegen schon durch eine eigene Tradition besetzt – das gilt für Goethes Stücke der klassischen Periode –, so hat er es schwer, in die andere Überlieferung einzutreten. Andererseits aber kann das Übersetzen im Dialog mit einer kritischen Essayistik auf die Ausgangssprache zurückwirken.
Ein Beispiel dafür ist Hamburgers eigenes Werk, denn er schlug keine klassische akademische Karriere ein, sondern begleitete seine Übersetzungsarbeit vornehmlich mit Essays. Die Resultate, wie etwa die Bände »Vernunft und Rebellion« oder »Das Überleben der Lyrik«, haben ihren Weg auch in die deutschsprachige Öffentlichkeit gefunden. Im angelsächsischen Raum war es insbesondere die deutschsprachige Lyrik, der er eine Stimme verlieh. Daß der Bau dieser Arche auch persönlich motivierter Bewahrungsakt im Exil war, gehört zu den diskret verschwiegenen Aspekten seines hier abgedruckten, 1981 vor einem westdeutschen Publikum auf englisch gehaltenen Vortrags.
Daß in dessen ersten Sätzen die deutschen Begriffe »Wirkungsgeschichte« und »Rezeptionsgeschichte « verwendet werden, weist Hamburger als poeta doctus aus, der mit den jüngeren Strömungen der Hermeneutik vertraut war. Das Typoskript fand sich schließlich im Nachlaß Hans-Georg Gadamers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Gleichwohl darf man annehmen, daß Hamburgers eigenes Modell produktiver Wirkungsgeschichte mehr gegen die von Hans Robert Jauß formulierte Position einer Rezeptionsgeschichte gerichtet war, führt er doch aus, es sei ihm um eine allmähliche Revision der Vorurteile gegen die deutsche Literatur gegangen, die sich nicht bloß in Absatzzahlen manifestiert habe. Hamburger ging es um die komplizierten Wege einer anderen Wirkungsgeschichte: jener Glut literarischer Überlieferung, wie sie von Autor zu Autor geht.
Aus den eigenen Produktionserfahrungen speist sich auch ein zu Beginn der Rede vorgebrachter Einwand, den man als Hamburgers Theorieskepsis bezeichnen kann. In einer Zeit, in der die Literaturwissenschaft begann, ihr Heil in der Methodisierbarkeit ihres Gegenstandes zu suchen, formulierte er unüberhörbar Kritik an einer »mißbräuchlichen Verwendung wissenschaftlicher Methoden« in den Geisteswissenschaften. Die alte Frage von Wahrheit oder Methode scheint auf. Hamburger hat sie auf seine Art noch in den neunziger Jahren in einem Gespräch im deutschen Rundfunk beantwortet, indem er den Nutzen der Methode mit den Worten »Und es geht doch in der Dichtung um Wahrheit« in die Schranken wies.
Was den Lyriker und Literaturkritiker betraf, konnte den Übersetzer nicht kalt lassen. So bestand Hamburger auf der kaum abschließbaren Annäherungsarbeit an den Kern des Gedichts, die sich durch dessen Wandlungen zieht. Der Fall Celans führte ihn als Übersetzer an seine eigenen Grenzen. Für Hamburger hatte das mit seinem verzweifelten »Ansturm gegen das Unsagbare« zu tun. Er eignete sich ein gewissenhaftes Verfahren an, dachte und fühlte sich in die Sphäre des osteuropäischen Judentums ein. Manche Gedichte mußten unübersetzt bleiben, wie er in »On Translating Celan« bekannte. In diesem Lassenkönnen hält er dem Unsagbaren die Treue. Doch das Scheitern des Übersetzers mag den Kritiker befruchtet haben. Für diesen war gerade der stille Zwischenraum der Sprachen sein eigentliches Zuhause: »Darum mußte ich«, so Hamburger in »Warum ich übersetze«, »Wörter suchen, zwei Sprachen verbinden, um in einer Sprache beheimatet zu sein.«Till Greite
SINN UND FORM 2/2024, S. 238-52, hier S. 238-240
Hamburger, Rudolf
- 6/2012 | Zehn Jahre Lager. Bericht über die Inhaftierung in russischen Arbeitslagern 1943-1952
Hamer, Detlef
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Hamm, Claudia
- 6/2023 | Pandoras Blackbox. Zur Ersetzbarkeit von Übersetzern, S. 748 Leseprobe
Hamm, Claudia
Pandoras Blackbox. Zur Ersetzbarkeit von Übersetzern
»Das Gegenteil von Mensch ist nicht das Tier oder
das Ding, sondern sein Simulakrum: der Roboter.«
Emmanuel Carrère, Ich lebe und ihr seid totAls 2021 das Spoken-Words-Gedicht der jungen afroamerikanischen Autorin Amanda Gorman zur Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden in verschiedene Sprachen übersetzt werden sollte, war die Aufregung groß, wer für diese Aufgabe die geeignete persönliche Erfahrung mitbringe. Zeugenschaft stand auf einmal gegen Empathie und Recherche, mangelnde gesellschaftliche Teilhabe und Fachkompetenz wurden zuweilen in eins gesetzt, dennoch war man sich im Grundsatz einig: Übersetzende sollten tief in die (Sprach-)Welt der Autorin eindringen.
Spätestens seit der Veröffentlichung von ChatGPT-4 scheinen solche Diskussionen hinfällig zu sein. Auch wenn das Maschinenübersetzungsprogramm DeepL schon seit Jahren behauptet, »der präziseste Übersetzer der Welt« zu sein und »in der Lage, selbst die feinsten sprachlichen Nuancen zu erkennen und in Sekundenschnelle korrekt zu übersetzen«, hat die Debatte über Textgeneratoren wie ChatGPT oder die zum Beispiel von Oracle, Alibaba, Google, Nvidia, Apple, Meta und Amazon erst in diesem Jahr wirklich Fahrt aufgenommen, gerade auch hinsichtlich des Übersetzens und Verfassens von Literatur. Da ich mit letzteren selbst mit großer Lust beschäftigt bin, überrascht mich die aktuelle kulturelle, gesellschaftliche und politische Debatte. Kann es sein, daß wir über Diskussionen rund um »Outputs« vergessen, warum Menschen sich überhaupt mit Kunst beschäftigen? Um die lauten Stimmen rund um textgenerierende Systeme wie GPT-4 einzuordnen, hier zunächst ein paar harte Fakten:
Was kommt rein?
Um ein Modell wie ChatGPT zu entwickeln, das schleifenartig eine Sprache simuliert, die Menschen unter Einsatz ihrer Erfahrungen, Emotionen, Denkleistungen, Beziehungen, Träume und Traumata geschaffen haben, wurde laut Wikipedia neben Gesprächen mit angeheuerten menschlichen KI-Trainern ein »umfängliches Textkorpus aus Büchern, Briefen, Wikipedia-Einträgen oder auch literarischen Textsammlungen, darunter das gesamte Gutenberg-Projekt«, benutzt. Das bedeutet, Datensätze aus gemeinnützigen Open-source-Projekten wurden ohne Informations-, Lizensierungs- und Honorierungspflichten gespeichert und werden nun gewinnorientiert mißbraucht. Denn nur die Startphase der zunächst faszinierend anmutenden Plaudertasche ist gratis, sie dient dazu, Millionen von – jetzt für das Unternehmen kostenlosen – Nutzerinputs für das weitere Training zu generieren, wie die englischsprachige Webseite offensiv bekennt. »Wir möchten das Feedback unserer Nutzer sammeln, um die Weiterentwicklung dieses Systems zu befördern. Während der Testphase ist die Nutzung von ChatGPT kostenlos«, liest man dort. In dem so neutral klingenden Tech-Vokabular heißt ein solches Geschäftskonzept RLHF. Reinforcement Learning with Human Feedback ist die Säule, auf der die Weiterentwicklung von KI beruht: Ohne die unhonorierte Zuarbeit von Menschen und die lizenzfreie Nutzung menschenverfaßter Texte wäre die Entwicklung von Textgeneratoren völlig unrentabel.
In der Stellungnahme des Netzwerks Autorenrechte, von sechzehn Autoren- und Übersetzerverbänden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, liest man aber auch: »Die Datensätze für das Training von Übersetzungs- und Selbstschreibsoftware beruhen neben im Internet zugänglichen gemeinfreien Textwerken auf urheberrechtlich geschützten und digitalisierten Büchern der Jahre 2013 – 2021 und jünger. Die drei Korpora, die für das Learning der maschinellen Sprachprogramme genutzt wurden, Books1, Books2 sowie Books3, stammen zudem teilweise aus illegalen Quellen wie etwa BitTorrent-Seiten; der Hersteller des Programms ChatGPT weigert sich, transparente Auskünfte über den Datensatz zu erteilen.« »Wer bist du, Books2?«, fragt auch der Publizist Peter Schoppert, der den Mißbrauch urheberrechtlich geschützter Texte durch Large Language Models (LLM, Große Sprachmodelle) umfassend dokumentiert. Daß Books3 196 640 urheberrechtlich geschützte Bücher enthält, ist inzwischen bekannt.
Wie kann es sein, daß sich geschädigte Autorinnen und »Content Creators« nicht massenhaft erheben und die Verantwortlichen lautstark zur Rechenschaft ziehen? Wie konnte ein solcher in jeder Hinsicht unfaßlicher Mißbrauch geistigen Eigentums durchgehen? Alles eine Frage der Organisation: Denn das, was jedem Einzelnutzer verboten wäre, ist gemeinnützigen Organisationen sowohl in den USA als auch in Europa erlaubt: Sie dürfen urheberrechtlich geschützte Texte sammeln und zu Forschungszwecken verwenden. Das hinter ChatGPT stehende, einst als Non-profit-Organisation gegründete, nun aber gewinnorientierte Unternehmen OpenAI bietet deshalb eine preisverdächtige Erklärung: »Wir wollen unsere Möglichkeiten erhöhen, Kapital anzuziehen, und dennoch unserer Mission verpflichtet bleiben, und mit keiner uns bekannten legalen Struktur läßt sich beides zufriedenstellend ausbalancieren. Unsere Lösung ist deshalb die Gründung von OpenAI LP als hybride Unternehmensform zwischen gewinn orientiert und gemeinnützig – wir nennen es ›Unternehmen mit Profitdeckelung‹.« Da die bestehenden legalen Geschäftsmodelle dem Unternehmenszweck leider nicht dienlich waren, schuf man sich also einfach sein eigenes – und damit einen Präzedenzfall für alle weiteren KI-Entwickler. Und weil gemeinnützige Organisationen und Forschung »zur Förderung der Menschheit« (wie OpenAI immer wieder beteuert) von einem besonderen Schutz profitieren, ist es so schwierig, sie zu belangen. Das deutsche Recht machte die Sache sogar noch einfacher: Mit der sogenannten DSM-Richtlinie wurde, um die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern, 2021 das »Text-and-Data-Mining« explizit auch für die kommerzielle Nutzung erlaubt.
Was kommt raus?
Wie ist nun der »Output« solcher Großen Sprachmodelle hinsichtlich literarischer Texte zu bewerten? Verdient die nach Wahrscheinlichkeiten operierende Kombination von Textbestandteilen in einem nicht-intentionalen Best- oder Worst-of von Zitattrümmern überhaupt den Namen Literatur? Um es gleich vorwegzunehmen: Da mich vor allem die unethische Umgebung der Großen Sprachmodelle interessiert, möchte ich mich nicht allzu lang mit der Qualität von Robotersprache aufhalten, die inzwischen vielerorts kommentiert wird. Sie ist oft leblos, unmotiviert, verzerrt oder irreführend, in anderen Fällen aber auch von Menschen benutzter Sprache so faszinierend ähnlich, daß man glauben könnte, man habe es mit einem realen Kommunikationspartner oder gar einer kreativen Akteurin zu tun.
KI ist eine Reproduktionssoftware, die menschliche Sprache simuliert; eine Mustererkennung, die weder Erfahrung noch ästhetisches Empfinden verarbeitet, keine Gründe kennt und auch keinen Wahrheitsanspruch besitzt. Als Technik, die keine Entscheidungen treffen und keine Verantwortung tragen kann, schafft sie ein Als-ob – und so werde ich ihren Auswurf fortab auch nennen. Zur Vermarktung eines solchen Systems ist ein solcher Befund natürlich hinderlich, wer will schon ein Fake, eine Imitation, einen Abklatsch? Aus diesem Grund wird KI schon lange mit einem humanisierenden Vokabular ummantelt, das den Eindruck verstärkt, einen »echten« Gesprächspartner mit »Nervenzellen« (»neuronalem Netzwerk«) vor sich zu haben, und das, obwohl der Kognitions- und Computerwissenschaftler John McCarthy offen zugibt, die Bezeichnung Künstliche Intelligenz in den fünfziger Jahren in Konkurrenz zum Begriff »Kybernetik« erfunden zu haben, um »Geld für einen Sommer-Workshop zu bekommen«. Nimmt man dieses Etikett dennoch ernst und führt ein »intelligentes« Gespräch mit ChatGPT, kommt etwa Folgendes heraus:
– Warum wird ein humanisierendes Vokabular wie »Intelligenz«, »lernen« oder »Fähigkeit« benutzt, um KI zu bezeichnen?
– Das liegt daran, daß die Künstliche Intelligenz (KI) menschliche kognitive Fähigkeiten imitiert, indem sie Informationen aus Eingabedaten erkennt und sortiert. Die Intelligenz kann auf programmierten Abläufen basieren oder durch maschinelles Lernen erzeugt werden. Das menschliche Vokabular wird verwendet, um die Fähigkeiten der KI zu beschreiben und zu erklären.
– Ist denn eine Imitation von Intelligenz überhaupt Intelligenz?
– Das ist eine interessante Frage. Es gibt verschiedene Definitionen von Intelligenz, aber im allgemeinen wird Intelligenz als die Fähigkeit definiert, Aufgaben durch Denken [sic!] zu lösen. Künstliche Intelligenz imitiert menschliche kognitive Fähigkeiten, indem sie Informationen aus Eingabedaten erkennt und sortiert. Die Intelligenz kann auf programmierten Abläufen basieren oder durch maschinelles Lernen erzeugt werden. Ob eine Imitation von Intelligenz als Intelligenz bezeichnet werden kann, ist eine philosophische Frage und hängt von der Definition von Intelligenz ab.
Wie bitte? Ich frage, warum ein humanisierendes Vokabular benutzt wird, um KI zu bezeichnen, und erhalte die Als-ob-Antwort, es werde benutzt, um die Fähigkeiten von KI zu erklären? Ich frage nach einer Definition von imitierter Intelligenz und erhalte die Als-ob-Antwort, das hänge von der Definition von Intelligenz ab? Und zwei Sätze werden auf unterschiedliche Fragen fast wortgleich wiederholt? Im Germanistikstudium hätte das Tautologie geheißen, im Philosophieseminar petitio principii oder begging the question. Molière hätte seinen Spaß daran: Auch in seinem »Arzt wider Willen« ist die junge Frau Lucinde stumm geworden, weil sie, so der »Arzt«, die Sprache verloren habe.
Dennoch bedarf es besonderer Aufmerksamkeit, Zeit und Lesekompetenz, um solche Als-ob-Antworten zu enttarnen. Der ELIZA-Effekt mag seine Wirkung entfalten: die Bereitschaft von Menschen, aufgrund ihrer Bedürfnisse nach Interaktion, Resonanz und Akzeptanz Computern menschenähnliches Verstehen zuzuschreiben. Ein solcher Effekt konnte bereits 1966 bei dem von Joseph Weizenbaum entwickelten Programm dieses Namens beobachtet werden, das einen Psychotherapeuten simulierte und dem weit weniger Sprachdaten zur Verfügung standen. Um so erstaunlicher ist es, daß sich etwa die Kulturwissenschaftlerin Mercedes Bunz freut, wir könnten jetzt »Bedeutung errechnen«. Denn was bedeutet das? Wie meint sie das? Typische Fragen, die sich Übersetzende stellen. Schließlich friert Literatur Bedeutung nicht ein, sondern diese ergibt sich aus dem Akt des Lesens, individuell und immer wieder neu. Sie kalkulieren zu können würden sich vielleicht manche Verlage wünschen, die sich Verkaufsprognosen für ihre »Titel« zunehmend durch KI errechnen lassen und »datengetriebene Prozeßverbesserung« erhoffen. Doch selbst Autoren würden wohl kaum darauf verzichten wollen, daß jeder Leser etwas anderes in ihren Texten zu lesen vermag und Bedeutung gerade eben nicht berechenbar ist – und zwar weder in dem, was Wörter und Sätze »meinen«, noch in ihrer Bedeutsamkeit für denjenigen, der sie hört oder liest. »Wörter ändern ihre Bedeutung, je nachdem, wer spricht. Dagegen gibt es kein Heilmittel«, schreibt Maggie Nelson in »Die Argonauten«, genauso ändern sie ihre Bedeutung, je nachdem, wer liest, mag man ergänzen.
SINN UND FORM 6/2023, S. 748-764, hier S. 748-752
Hamm, Peter
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Handke, Peter
Eine Ideal-Konkurrenz. Zum Briefwechsel zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon
Ist’s nicht etwas Merkwürdiges, daß die Gestalten, die Gestalter, die Menschen, die Gestalter-Menschen, welche mich in der letzten Zeit in einer, in ihrer Weise dahin begeistert haben, mich auf meine Weise über sie zu äußern, ein jedesmal mir als Paare vor’s Leser-Auge getreten sind?
So war’s vor einem Jahr mit dem gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1842, einem Paar, als Mann und Frau, wie’s nicht allein im Buche steht. So ist’s mir geschehen vor mehreren Monaten mit dem Briefwechselband, konzentriert auf die vier Jahre des Großen Kriegs 1914–1918, zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig, einem Menschenkinderpaar wie nur je einem, anhand des geteilten Entsetzens und sanft-energischen Widersprechens. Und ebenso hab’ ich’s in den vergangenen Wochen erlebt mit der Korrespondenz – dieses Wort bekommt da wieder einen eigenen Klang –, der fast vier Jahrzehnte umfassenden, von 1959 bis 1997, zwischen Carlfriedrich Claus in Annaberg /Erzgebirge, während dreißig Jahren noch Deutsche Demokratische Republik, und Franz Mon in Frankfurt am Main, damals wie heute Bundesrepublik Deutschland. Und ist’s bei diesem dritten mich begeisternden Gespann, der »fast lautlose(n) Schwingungssymbiose«, wie Franz Mon den zweifachen Austausch über die Jahrzehnte in einem Brief einmal nennt, nicht auch schon merkwürdig, wenn es mich drängt, eingangs, in einer Andeutung von Reverenz, einerseits die ständigen, wohl des Rhythmus wegen, Apostrophe des Carlfriedrich Claus nachzubilden – »ist’s«, »so war’s«, »wie’s«, »so hab’ ich’s« –, und andrerseits, frei nach Franz Mon (dieser da im Gegensatz zu seinem Mitlebenden jenseits der Staatsgrenzen), das gesamtoder gar altdeutsche »scharfe ß« zu üben, als eine Art von, wenn vielleicht auch nur wenigen was bedeutendem, Weltkulturerbe.
Was ich versuchen möchte, zu Franz Mon und ebenso Carlfriedrich Claus, zu der beiden Schwingungssymbiose, zu äußern, soll nicht, zumindest nicht ausdrücklich, als eine Laudatio, ein Lobpreis, eine Preisschrift oder -rede, ertönen. (Sollte es antönen – recht so, vielleicht.) Meine Weise, in diesem Fall, da ich als Leser wie auch als Schreiber kein Mitstreiter oder dergleichen, vielmehr ein entschieden Außenstehender – »ich bin so frei!« – sein kann, hat, in erster und letzter Linie und Zeile, die des Zu-Wort-Kommenlassens der beiden, jetzt des Franz Mon, jetzt des Carlfriedrich Claus zu sein, des Ahnenlassens vom Wörtlich – wie Schriftbildlich – wie Laut – wie Lautloswerden der zwei Helden, ja doch, Helden des Gestaltens, und überdies, und wenn auch nur nebenbei, die Zeit, die Historie mit ihren Kalamitäten, ins Spiel zu bringen, welche das, wiederum ja, Heldentum des Paares Claus /Mon wider deren Natur, Struktur, geschweige denn Willen auf die Sprünge, auf die Expeditionen zu all den unentdeckten Formen, und sei es des scheint’s Bekanntesten, der Buchstaben, der Selbst- und Mitlaute, gebracht hat. »Zeit"? Franz Mon würde dieses Wort für die geschichtlichen Umstände und Unheile mißbraucht finden, wie jede gemessene, meßbare Zeit, er, der in einem seiner Briefe sich nach einer »maß-losen Zeit« sehnt und allein die Sekunde als real empfindet, siehe auch die vielen »plötzlich«, »unversehens«, »auf einmal«, »ruckhaft«, »abrupt« usw. in dieser Korrespondenz, evoziert, ausgerufen von den beiden Seiten, ohne Unterlaß, über die fast vier Jahrzehnte.
Es ist nicht meine Sache, die Poetik, die poetische Methode der beiden zu umreißen, gar zu definieren. Im übrigen könnte ich es auch nicht, habe zwar momentan, unversehens, ruckhaft einen Blick dafür, mehr noch ein Gehör, und, in der unmittelbaren Folge, ein Gefühl dafür, ein umfassendes, ein umgreifendes, etwas wie eine Hörvision. Doch es fehlen mir die Worte, und mehr noch die Begriffe. (Michael Lentz, der bei S. Fischer 2013 das Franz-Mon-Lesebuch »Zuflucht bei Fliegen« herausgegeben und kommentiert hat, verfügt über das eine wie das andere, und das ist, wie man einmal gesagt hat, »verdienstvoll «, hilfreich beim Einordnen – sofern einem Leser dergleichen nottut, und ist, zum Glück, auch noch ein anderes, und mehr.) Das einzig Wörtliche, das mir Leser-Betrachter-Hörer zur Poetik des Carlfriedrich Claus und des Franz Mon je in den Sinn gekommen ist, war, und zwar zu wiederholten Malen, was ich als ein Zeichen von Stichhaltigkeit nahm, ein Vergleich: Der mit dem »Wohltemperierten Klavier« von Johann Sebastian Bach, insofern als Bach da, wenn ich das richtig verstanden habe, ausschließlich ausgeht von den verschiedenen Tonarten und deren Entwicklungsmöglichkeiten auf diesem bestimmten Instrument und dessen besonderer Klangmaterie und einzig und allein auf diesem Weg, des Experimentierens mit dem Material, jeweils ins Spielen gerät, ein Spielen freilich, das ganz und gar nicht »so ohne« ist. Und solcherart Spielen und Experimentieren mit dem Material, mit dem »Motiv im Material«, wie Franz Mon das 1959 in einem der ersten Briefe an Claus einmal nennt, ist mir unversehens auch als Vergleich der Poetik Mon / Claus mit den Fingerund-Ohr-Expeditionen des »Wohltemperierten Klaviers« erschienen. Erschienen? Kann ein Vergleich »erscheinen"? Ja doch: Nur so, kommt mir vor, ist er am Platz und es ist zumindest was dran an ihm.
»Poetik«, habe ich gemeint, im Singular, so als ob die zwei, Franz Mon wie Carlfriedrich Claus, und umgekehrt, ein und dieselbe Poetik praktizierten. Das trifft einerseits zu für den gemeinsamen Ausgangspunkt, oder eher Aufbruchsmoment, siehe das »Motiv im Material« aufsuchen und weiterspielen. Andrerseits sind die beiden grundverschiedene Gestalten wie Gestalter, und solche Grundverschiedenheiten können nicht umhin, mitten in der Material-Expedition jeweils voneinander abzuzweigen, ein jeder auf seinem Form-Weg, ein jeder anhand seiner dem anderen Expeditionsmitglied vielleicht sogar entgegengesetzten Poetik. Es handelt sich also, aus dem Briefwechsel noch um einiges klarer als aus Claus’ und Mons Werken herauszulesen, zwar in der ersten Bewegung um eine einzige, gemeinsame Poetik, welche im Verlauf aber unversehens, wie ein einziger Fluß, aus dem – Bifurkation – plötzlich zwei werden, zu zwei Poetiken »bifurkieren« und in ganz verschiedene Richtungen, womöglich gar Ozeane tendieren. Ahnbar wird das schon in einem der ersten Briefe Mons an Claus, worin der leise ermahnt wird, die »Neoromantik« aus dem Spiel, d.i. aus dem Text, aus den Texten und Schriftbildern zu lassen, und gleichsam klipp und klar, wenn auch inzwischen ohne jede Kritik an dem, der inzwischen längst ein oder überhaupt der Text-Bild-Abenteuer-Partner schlechthin geworden ist, schreibt das Franz Mon in einem der letzten Briefe an Claus vor dessen Tod und sagt es zugleich sich selber lautlos vor: Seine Arbeit, sein lebenslanges Tun sei nicht »kontemplativ« (oder heißt es »meditativ »?), sondern »diskursiv«, also auf Dialog, Gespräch, Antwort aus. Eine Poetik, die mitten im Flußlauf auseinanderdriftet zu zweien, wie der Orinoco in Südamerika, und zuletzt, anders als der Orinoco, zur Einzahl, zum Einssein zurückfindet.
Wie das geschieht, ist nachzulesen als eine Art von Wunder, freilich als ein »natürliches«, von dem wir einst im Religionsunterricht gelernt haben, das Wunderbare daran sei einzig, daß es sich, als natürliches, der Vernunft zugängliches Geschehen, in dem einen besonderen Moment, unversehens, plötzlich, ereignet. Und auch dafür, für das Wunder dieser Korrespondenz, das selbst heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Ausklingen, weiter seinen Moment hat, seine Plötzlichkeit, stärker vielleicht als zuvor, fehlen mir die Worte. Das heißt, sie fehlen ganz und gar nicht, denn sie steigen einem, mir nichts, dir nichts, auf und entgegen aus der Folge der Briefsätze, welche ab jetzt ohne Kommentar, höchstens da und dort mit einem Ausruf, das Lebensexperiment, das experimentelle Leben des Franz Mon wie des Carlfriedrich Claus nachvollziehbar und vor allem miterlebbar machen.
[…]SINN UND FORM 5/2014, S. 581-592, hier S. 581-583.
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Hanshe, Rainer J.
AUFTRITT AUF DER WELTBÜHNE Miklós Szentkuthys »Ars Poetica«
[…]
Szentkuthys zweites Buch »Az egyetlen metafora felé« (Auf zur einzigen Metapher), das 1935 erschien und 1985 wieder aufgelegt wurde, besteht aus einhundertzwölf numerierten Abschnitten, deren Länge von einem Satz bis zu mehreren Seiten reicht. Es ist ein in sich geschlossenes singuläres Werk, eine Art Kentaur, und zugleich der Humus für Szentkuthys spätere Arbeit. Der Text läßt sich keinem spezifischen Genre zuordnen, am ehesten trifft auf ihn vielleicht der Begriff Literatur in Blanchots umfassendem Sinn zu. Blanchot definiert Literatur als etwas, das die Unterscheidungen und Begrenzungen eines jeden Genres zunichte macht, indem es eine einzigartige, hybride Form schafft. In Deszö Barótis Besprechung aus dem Erscheinungsjahr heißt es, das Buch bestehe aus »unkonventionellen Passagen im Zeitungsstil, die sich zu kurzen Essays ausweiten, aus Plänen für Romane, poetischen Meditationen im Stil freier Verse und paradoxen Aphorismen«. »Die Hauptmotive (soweit man das in aller Knappheit sagen kann) sind Natur, Liebe, Erotik, Sex. All dies ist jedoch durch die unverhohlene, vibrierende Präsenz eines Schriftstellers getönt, der ständig auf der Suche nach sich selbst ist und mit immer neuen verführerischen, stimulierenden Überraschungen aufwartet.« Das paßt zu Szentkuthys grandiosem, wenngleich quijotischem Vorhaben, so etwas wie einen »Catalogus rerum« zu erstellen, »ein Verzeichnis der realen Dinge und Phänomene, einen Katalog all dessen, was es auf der Welt gibt«. Die Absurdität des Plans reizt zum Lachen – sogar Szentkuthy selbst –, denn er hat etwas vom Totalitätsanspruch der Enzyklopädisten, wenn nicht gar vom eigentlichen Ziel der Aufklärung, der Erlangung absoluten Wissens. Nichtsdestoweniger war die Erfassung der »ungenannten unzähligen Phänomene auf der Welt« für Szentkuthy »ein wahrhaft edles faustisches Ziel«. Dazu gehörte das Katalogisieren »aller zugänglichen Naturphänomene, aller Himmel und Höllen der Liebe, der ganzen Welt der Geschichte, und zu guter Letzt eine universale Übersicht über die Mythologien (die universale Schau) bis hin zur christlichen Mythologie«. András Nagy glaubt, Szentkuthys Catalogus rerum orientiere sich eher an den Arbeiten mittelalterlicher Mönche und am Denken der Kirchenväter und Scholastiker als an den Enzyklopädieenthusiasten der Aufklärung ("Masks behind Masks: A Portrait of Miklós Szentkuthy«, Berlin Review of Books, 25. März 2013). Was Szentkuthys Ziel von dem der Enzyklopädisten unterscheidet, ist, daß es ihm nur ums Katalogisieren geht und nicht um den prometheischen Versuch, die Natur dienstbar zu machen und zu beherrschen; dazu kommen seine Heiterkeit sowie die Einsicht, daß das faustische Ziel niemals zu erreichen sei. Aber wissen wir wirklich, wie nahe er dem Ziel kam oder wie weit er es verfehlte? Glaubte er wirklich, daß es nicht zu erreichen sei, oder war das falsche Bescheidenheit, die öffentliche Maske des Narren, der in Wirklichkeit alles daransetzt, es zu erreichen? Wir sollten bedenken, daß Szentkuthy – wie Casanova – von Schauspielern abstammte; wie der Erzähler der »Marginalien zu Casanova« konnte er sagen: »Das Grundprinzip des Lebens ist theatralisch; keine Lügen, nur Masken, Mimik… Realität und Theater: ein und dasselbe.« Die Passage schließt mit dem Ausruf, es gebe ein Alpha und Omega, ohne das nichts sei: »Schauspieler, Schauspieler, Schauspieler« (§1). Mehr noch, indem Szentkuthy in »Frivolitäten und Bekenntnisse« gesteht, er habe kein geringeres Ziel, als der Dante des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden, geht er nichts anderes als einen Pakt mit dem Teufel ein, mit dem es ihm todernst ist.
Was, so fragt man sich vielleicht, inspiriert jemanden zu einem so befremdlichen Buch wie »Auf zur einzigen Metapher"? Es sind so unterschiedliche Quellen wie Paracelsus, Spengler und die Wiener Psychologie, die Szentkuthy leiten und zu seinen Abenteuern verlocken. Es enthält aber auch ein kämpferisches Element, denn das Werk ist eine Antwort auf die Kritiken gegen »Prae«, den Roman, der das literarische Establishment Ungarns so fassungslos gemacht hatte, daß sein Autor als »bücherwurmartiger Homunkulus« bezeichnet wurde, »als gräßliches Monster, das immer und überall nur auf Naturwissenschaft, Philosophie und Mathematik stieß«. Wo, so glaubt man manche Kritiker lamentieren zu hören, bleibe er denn da als Mensch? Szentkuthy schrieb »Auf zur einzigen Metapher", um gegen dieses Bild eines monströsen Lusus naturae anzugehen und sein Menschsein unter Beweis zu stellen, wobei der Titel Bogen, Entwicklung und Kreisbewegungen des Buches andeutet – vom manischen Katalogisieren aller Dinge auf der Welt bis hin zur einen und einzigen Metapher, die sich herauskristallisiert und alles enthält. Hier stand Paracelsus Pate: »Wie Paracelsus den menschlichen Körper, Sterne und Mineralien auf einen gemeinsamen Nenner brachte oder die moderne Physik manchmal dazu tendiert, alle materiellen Phänomene der Welt auf einen Nenner zu bringen (Materialität ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft der Energie, Energie ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft des Raumes …), wollte ich eine Art Zusammenfassung von Kunst, Theologie, Liebe, Leben, Tod, Alltag, Mythologie, Spiel, Tragödie, Wiege, Grab, Spaß, eine Offenbarung. Aufzählen heißt nicht Schwafeln: bei mir sind das echte ‚Gegensätze’.« ("Frivolitäten und Bekenntnisse«)
Indem Szentkuthy sich das paracelsische Ethos – zu seinen Bedingungen – zu eigen macht, kommt er mit seinen Aufzählungen nicht nur Gegensätzen, sondern auch Affinitäten und Analogien auf die Spur: den vibrierenden Entsprechungen, die das Gefüge bzw. die Strukturen offenbaren, die dem Universum zugrunde liegen. Dies ist – und Szentkuthy gesteht, daß er hier mit Absicht ein religiöses Wort verwendet – eine Offenbarung. Was, so fragt der unermüdlich Suchende, ist das allen Dingen Zugrundeliegende? Welches ist der gemeinsame Nenner, der die menschlichen Organe, eine chemische Substanz und weit entfernte Sternennebel verbindet? Wie haben derart ungleiche Dinge miteinander zu tun? Szentkuthys Listen sind nicht bloß Listen, sondern werden sub specie aeternitatis zusammengetragen; wenn er Kataloge erstellt, begibt er sich nicht in die Niederungen einer Einkaufsliste. Sein Katalogisieren ist eher merkurisch, chemisch, indem er mathematische Formeln literarisch transponiert. In diesem paracelsischen Ethos ist die Methodologie seines Buches enthalten, obwohl das Wort für einen clownesken, possenreißenden, ikonoklastischen Autor wie Szentkuthy eigentlich zu theoretisch klingt. Wie Paracelsus glaubt er, Wissen sei Erfahrung. Wenn die hohen Schulen so viele Esel hervorbrächten, müsse ein Arzt eben alte Weiber, Zigeuner, Schwarzkünstler, umherziehendes Volk, Räuber und andere Gesetzlose aufsuchen und bei ihnen in die Schule gehen.
Zum einen ist das Werk also ein Catalogus rerum, zum anderen eine Confessio, und das führt uns zur Wiener Psychologie und zur Praxis der Psychoanalyse. Szentkuthy wurde erwachsen, während die Geburt der modernen Psychologie mit all ihren Kämpfen und ihrer Apotheose in vollem Gange war. Als er »Auf zur einzigen Metapher« schrieb, waren die Hauptwerke von Freud, Jung und Adler fast alle schon erschienen. Jedenfalls beginnt Szentkuthys Leben als Schriftsteller, als der ganze Kontinent sich im Zuge politischer Umbrüche und der intensiven Erforschung der Psyche in Gärung befindet. Als – freilich höchst unorthodoxer – Katholik hatte der Ritus der Beichte für ihn große Bedeutung, durch das leidenschaftliche Studium der Werke Freuds, Jungs und Adlers wurde der Akt des Analysierens bzw. der unbarmherzigen Selbstprüfung noch intensiviert. Wenngleich deren Terminologie in seinem Werk keine offensichtlichen Spuren hinterlassen hat und sich darin keine offenkundig psychologischen Darstellungen finden, ist ihr Einfluß – von Szentkuthy auf seine Weise umgesetzt – durchaus bemerkbar, vor allem in seiner obsessiven, beharrlichen und verbissenen Beschäftigung mit ‚der Frage’. Denn eines der auffälligsten Merkmale von »Auf zur einzigen Metapher« ist die Analyse. »Mein Bestreben«, erklärte er, zielt auf »ein Welt-Bild [világkép], das es mir erlaubt, die letzten Fragen des Lebens zu bündeln (wie stilisierte Bilder, die man auf alten Wappen sieht – einen Löwen, den Mond, Sterne, ein Schachbrett, einen Arm mit einer Keule, Hügel und ein Wasserlauf, et cetera –, so viele schöne Dinge haben auf so kleinem Raum Platz…) Letzte Fragen ist ein guter Ausdruck, weil in dieser unserer Welt alles Frage bleibt, zumindest für den prüfenden Verstand. Folglich (…) ist es weitaus nützlicher, Fragen zu katalogisieren, die an die Grundlagen der Welt rühren, als vorschnelle Antworten und Lösungen anzubieten.« (Frivolitäten und Bekenntnisse, Kapitel VIII)
Keine Antworten, keine Lösungen, sondern ein Katalog von Fragen, obwohl selbst das nicht wörtlich zu verstehen ist: Man wird in diesem Buch keine Liste im üblichen Sinn finden. An »Auf zur einzigen Metapher« ist nichts pedantisch: Es besteht aus Aphorismen und essais, und Szentkuthy ist so aufrichtig (und unterhaltsam) wie Rousseau. Alles, was ihm in die Hände, zu Ohren, vor Augen kommt oder seine Haut berührt, wird sorgfältig und gewissenhaft analysiert, denn er versucht, soweit es in seiner Macht steht, »den Dingen mit derselben Leidenschaft auf den Grund zu gehen wie der Wiener Arzt«. Und so behält die Frage die Oberhand: in einem Denken in Bewegung, in der Eleganz eines Gedankens. Szentkuthy tanzt.
[…]
Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol
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Harman, Mark
Wie Kafka sich Amerika vorstellte
Daß Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika verbannte junge Held des Romans »Der Verschollene«, Kafkas liebstes Alter ego war, ist so gut wie sicher. Als Kafka seiner späteren Verlobten Felice Bauer das erste Kapitel schickte, bat er sie: »Nimm den kleinen Jungen freundlich auf, setze ihn neben Dich nieder und lob‹ ihn, wie er es sich wünscht.« Ich hoffe, daß Karl den Lesern ebenso ans Herz wächst wie mir beim Übersetzen des Buches und daß sie ein ganz anderes Bild von diesem ersten Roman Kafkas gewinnen, der immer noch viel zu sehr im Schatten seiner beiden späteren Romane steht. Dann würden Max Brods Worte wahr werden, »daß gerade dieser Roman einen neuen Weg zum Verständnis Kafkas zeigen« könnte.
"Der Verschollene« ist ein poetisch dichtes Werk, das man ganz unterschiedlich lesen kann: als episodenhafte pikareske Erzählung, als Bildungs- oder Initiationsroman, als Auswanderungs- oder Exilgeschichte, als düstere Vision der urbanen Zivilisation, als selbstreflexiven modernistischen Roman und schließlich als eine Verulkung des amerikanischen Traums voller trockenen Humors. Für sein Amerikabild nutzte Kafka eine Vielzahl von Quellen: Zeitungsartikel, Reiseberichte, Stummfilme und vermutlich auch die Autobiographie Benjamin Franklins, die er in dem berühmten Brief an den Vater angelegentlich erwähnt, in dem er sein lebenslanges Bemühen schildert, dessen Einfluß zu entkommen: »Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen.« Schließlich erkannte er wohl, daß die deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts dazu neigten, die Neue Welt entweder als idyllische Zuflucht oder aber als Dystopie zu schildern.
Wie Kafkas Tagebücher und Briefe bezeugen, erwuchs seine Faszination für Amerika aus dem Gefühl, eingesperrt oder im inneren Exil zu sein. Seine Geburtsstadt Prag, von der er sagte: »Dieses Mütterchen hat Krallen«, war ihm nie »Heimat«. Am 20. August 1911 schreibt er von dem Wunsch, sich »in alle Weltrichtungen auszubreiten«. Dieser Drang, sich von Prag loszureißen, und sei es auch nur in der Phantasie, hat ihn nie verlassen. Nicht lange vor seinem Tode sah er im Festsaal des Prager Jüdischen Rathauses eine dort untergebrachte dichtgedrängte Gruppe von Auswanderern, und er schreibt an seine Geliebte Milena Jesenská: »wenn man mir freigestellt hätte, ich könnte sein was ich will, dann hätte ich ein kleiner ostjüdischer Junge sein wollen, im Winkel des Saales, ohne eine Spur von Sorgen, der Vater diskutiert in der Mitte mit den Männern, die Mutter dick eingepackt wühlt in den Reisefetzen ... und in paar Wochen wird man in Amerika sein.«
Als Edwin und Willa Muirs elegante erste englische Übersetzung 1938 in London erschien, war kaum bekannt, was Kafka über Amerika wußte, und da er nie den Atlantik überquert hatte, konnte man den »Verschollenen«, den er gern seinen »amerikanischen Roman« nannte, durchaus als reine Phantasie abtun. Doch dank der sorgsamen wissenschaftlichen Rekonstruktion der vernichteten Welt des deutschsprachigen Prager Judentums und der damaligen Debatten über Literatur, Religion, Philosophie, jüdische Identität und Zionismus, an denen Kafka beteiligt war, wirkt das Buch heute nicht mehr so unhistorisch und unpolitisch.
Obgleich Kafka die Neue Welt also gar nicht kannte, hatte er doch bestimmte Vorstellungen von ihr. So war er dagegen, daß Kurt Wolff 1913 den alten Stich eines in den Hafen von New York einlaufenden Segelschiffes als Titelbild für das als eigenständige Erzählung veröffentlichte erste Kapitel, »Der Heizer«, verwendete, da er ja »das allermodernste New York« darstellen wollte.
Die Manuskripte belegen die enge Beziehung zwischen den Hauptfiguren des »Heizers,« der »Verwandlung« und des »Urteils«, die eine Trilogie seiner häuslichen Tragödien bilden und das Schicksal von Söhnen schildern, die von ihren Eltern bestraft werden: In der »Verwandlung« schreibt er mehrmals Karl statt Gregor und im »Heizer« fünf Mal Georg - er ist die Hauptfigur im »Urteil« - statt Karl. Nur drei Tage, nachdem er in der Nacht vom 22. zum 23. September mit dem »Urteil« seinen literarischen Durchbruch geschafft zu haben glaubte, begann er seinen »amerikanischen« Roman. Aber anders als das »Urteil« war der »Verschollene« eine langwierige Angelegenheit - mit mindestens drei Versionen -, deren Wurzeln in Kafkas Vorstellungswelt schon früh erkennbar sind. Aus einer Tagebuchnotiz vom 19. Januar 1911 erfahren wir, daß er als Kind oder Jugendlicher eine Geschichte mit einem verwandten Thema schrieb, in der Amerika als Zufluchtsort fungiert. Im Winter 1911 begann er mit dem ersten - nicht erhalten gebliebenen - Entwurf, und zwischen September 1912 und Januar 1913 schrieb er die ersten sieben Kapitel. Doch dann widmete er sich anderen Projekten, so daß das letzte Kapitel erst im Oktober 1914, als er bereits am »Prozeß« arbeitete, fertig wurde. Der den Ort der Handlung betonende Titel der Ausgabe von 1927, »Amerika«, stammte von Max Brod, während Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom November 1912 den Roman eindeutig »Der Verschollene « nennt und damit das ungewisse Schicksal des Helden hervorhebt.In der Tagebucheintragung von 1911 über die Amerika-Geschichte erinnert sich Kafka, wie er bei einem Großelternbesuch - leider nennt er sein damaliges Alter nicht - an einem Roman über zwei Brüder schrieb, von denen der »gute« in einem europäischen Gefängnis blieb, während der andere nach Amerika fuhr, und ihm ein Onkel das Blatt wegnahm, es kurz ansah und zu den anderen sagte: »Das gewöhnliche Zeug«. Der Achtundzwanzigjährige bekennt, wie er durch dieses Urteil »einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt bekam« und sich »vertrieben« fühlte, ein Wort, das Karls Situation zu Beginn des »Verschollenen« antizipiert.
"Als der Sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.«
("As he entered New York harbor on the now slow-moving ship, Karl Rossmann, a seventeen year-old youth who had been sent to America by his poor parents because a servant girl had seduced him and borne a child by him, saw the the Statue of Liberty, which he had been observing for some time, as if in a sudden burst of sunlight. The arm with the sword now reached aloft, and about her figure blew the free winds.«)Über diese Sätze haben die Kritiker viel Tinte vergossen, besonders über die Beschreibung der Freiheitsgöttin. Indem Kafka ihr statt einer Fackel ein Schwert in die Hand gibt, unterläuft er die realistischen Konventionen, und obwohl ein Rezensent im Mai 1913 darauf hinwies, hat Kafka diesen vermeintlichen Lapsus für die zweite Ausgabe des »Heizers«, 1916, für die er Kleinigkeiten änderte, nicht korrigiert. Das Schwert war also Absicht.
Einige Kritiker vertreten die These, Kafka verwende das amerikanische Freiheitsemblem als Sinnbild der Gerechtigkeit und das Schwert richte sich nicht gegen die vom amerikanischen Kapitalismus verursachten sozialen Ungerechtigkeiten, sondern gegen Karls Gewissen (Heinz Politzer); andere sehen in dem Schwert ein »Symbol der Gewalt«, einen Vorgriff auf Karls Kampf gegen eine unmenschliche technische Zivilisation. Und wieder andere verweisen auf die Darstellungen der Justitia in der europäischen Malerei. Kafkas Freiheitsgöttin könnte freilich auch an die Cherubim mit dem bloßen hauenden Schwert erinnern, die - jedenfalls in der einflußreichen griechischen Version der Genesis - nach der Austreibung von Adam und Eva das Tor zum Paradies bewachen. Etliche hingegen halten den Roman eher für eine Traumerzählung, wenngleich diese Lesart genausowenig zu begründen ist wie die daraus ableitbaren psychologischen Interpretationen. Im allerersten Absatz, als Karl die Statue erblickt, ist im Manuskript ein Satz gestrichen: »Er sah zu ihr auf und verwarf das über sie Gelernte.« Aus dieser geradezu postmodern anmutenden Formulierung könnte man schließen, daß Karl der Statue seine eigenen Vorstellungen oktroyiert - genau die psychologische Deutung, die Kafka auszuschließen versuchte. Und so wie Gregor Samsas Gefühl, sein Körper habe sich über Nacht auf geheimnisvolle Weise in einen Käfer verwandelt, nicht einfach als Alptraum abzutun ist, so ist auch diese surreale Freiheitsgöttin nicht ohne weiteres als subjektiver Eindruck Karl Roßmanns wegzuerklären. In der »Verwandlung« steht eindeutig: »Es war kein Traum.« Und vielleicht wollte uns Kafka durch die Plazierung der abgewandelten Statue gleich am Anfang ja auch davor warnen, die Geschichte als einen realistischen Bericht über die Erlebnisse eines jungen Mannes in Amerika aufzufassen.
Man hat viel darüber debattiert, ob Karl sich wie der Held eines Bildungsromans entwickelt. Kafka selbst sah sich in der Schuld eines großen englischen Entwicklungsromans: »David Copperfield«, und er nennt die in beiden Romanen vorkommenden Motive: »Koffergeschichte, der Beglükkende (sic!) und Bezaubernde, die niedrigen Arbeiten, die Geliebte auf dem Landgut, die schmutzigen Häuser u.a.«. Allerdings bemängelte er Dickens’ »Klötze roher Charakterisierung«, die er, der viel von Flaubert, Kleist und, trotz der kitschigen Inszenierungen, auch von den Aufführungen des jiddischen Theaters in Prag gelernt hatte, zu vermeiden wußte. An Goethes klassischen Bildungsroman »Wilhelm Meister« erinnert der »Verschollene« nur durch parodistische Anklänge, um so mehr ähnelt er »Jakob von Gunten«, dem Anti-Bildungsroman des absonderlichen Schweizer Modernisten Robert Walser über einen Menschen, der auszieht, ein Niemand zu werden.
Wie ist es zu erklären, daß Karl Roßmann, der außer ein wenig Klavierspiel kaum künstlerische oder literarische Neigungen hat, plötzlich an die »Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel« denkt? Darüber geben Kafkas Tagebücher Aufschluß, vor allem etliche Eintragungen vom Juni 1910, in denen er oder vielmehr sein halb biographisches, halb fiktionales Alter ego darüber nachsinnt, daß seine Herkunft und Erziehung ihn daran gehindert haben, sich natürlich zu entwickeln, und daß er nun dasteht mit einer »toten Braut«, womit sein ungenutztes Potential gemeint ist. Kann es sein, daß auch in Karl ein solches Potential steckt? Auf jeden Fall deuten seine Träume von künstlerischen Erfolgen auf das letzte abgeschlossene Kapitel, in dem Karl sich einer riesigen Theatertruppe anschließt, wobei eine als Engel gekleidete Frau namens Fanny ihm versichert: »Du bist ja ein Künstler.«
Die Gesellschaftskritik ist im »Verschollenen« deutlicher als sonst in Kafkas Werk. Daß Amerika für Karl ein Land ist, in dem man auf Mitleid nicht hoffen darf und wo nur die Glücklichen »ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen« scheinen, bestätigt ihm alles, was er über die Vereinigten Staaten gelesen hat. Indem Kafka hier auf die Reiseberichte verweist, aus denen er sein Wissen hatte, macht er oder jedenfalls Karl sich die scharfe Kritik am amerikanischen System zu eigen. Übrigens hielten die ersten Kommentatoren den »Verschollenen« für ausgesprochen sozialkritisch. Adorno meinte, Kafkas »hermetische« Methode dürfe nicht über seinen scharfen Blick für die ökonomischen Tendenzen hinwegtäuschen, und Wilhelm Emrich fand gar: »Der geheime ökonomische und psychologische Mechanismus dieser Gesellschaft und seine satanischen Konsequenzen werden hier schonungslos bloßgelegt.« Ob man nun so weit wie Emrich gehen möchte oder nicht, der Text hat zweifellos Momente, in denen Kafkas Sicht der amerikanischen Gesellschaft auffällige Ähnlichkeit mit der von Theodore Dreiser in »Schwester Carrie« (1900) und Edith Wharton im »Haus der Freude« (1905) hat. Wenngleich Kafkas Roman, anders als diese eher konventionellen Porträts der amerikanischen »Raubritterzeit«, eine Herausforderung an den Realismus darstellt, seziert er den amerikanischen Traum doch ebenso sarkastisch wie diese. Vom Charakter her neigt Karl nicht eben zur Selbstbeobachtung, sonst könnte er zu ähnlichen Schlüssen gelangen wie Edith Whartons Lily Bart am Ende ihres sozialen Abstiegs: »Ich habe mich mit aller Kraft bemüht – aber das Leben ist schwierig, und ich bin eine ganz nutzlose Person. Man kann kaum sagen, daß ich eine unabhängige Existenz hätte. Ich war nur eine Schraube oder ein Rädchen in der großen Maschine, die man Leben nennt, und als ich herausfiel, merkte ich, daß ich nirgends von Nutzen war.« Doch während Wharton die genaue Ursache für Lilys Tod im dunkeln läßt, bleibt Karls Schicksal ganz und gar offen.
Aber viel typischer für den Roman sind jene Passagen, in denen Kafka die abstrakte Kritik an der modernen städtischen Zivilisation in lebensvolle Gemälde umwandelt und damit die frühen Filmklassiker wie Fritz Langs »Metropolis« oder Charlie Chaplins »Moderne Zeiten« antizipiert. Nehmen wir nur die Schilderung des Telegrafensaals in der Firma von Karls Onkel, wo der rechte Arm eines Angestellten auf einem Tischchen lag, »als wäre er besonders schwer, und nur die Finger, die den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch«; oder die Szene im Hotel Occidental, wo es heißt, die Köpfe der Auskunft erteilenden Unterportiers würden so heiß, daß sie mit Wasser begossen werden müßten. Durch derartige Details verweist Kafka ja vielleicht auf Analogien zwischen der Geschäftswelt und den amerikanischen Fabriken, die er nie von innen zeigt. Allerdings konnte er sich als Angestellter einer Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, der Fabriken in ganz Böhmen besuchte, die Arbeitsbedingungen in Amerika natürlich gut vorstellen.
Schreibanfängern wird oft empfohlen, nur über das zu schreiben, was sie kennen. Diesen an sich vernünftigen Ratschlag hat Kafka bei seinem ersten Roman wohl in den Wind geschlagen. Aber immerhin hat er sich über Amerika informiert. Er las die in der »Neuen Rundschau« in Fortsetzungen abgedruckten Reportagen des ungarischen jüdischen Sozialisten Arthur Holitscher und kaufte sich auch die spätere Buchausgabe »Amerika Heute und Morgen«, und er besuchte die Vorträge des tschechischen Sozialisten František Soukup, die in dem Buch »Amerika. Eine Reihe von Bildern aus dem amerikanischen Leben« gesammelt waren. Für Holitscher und Soukup ist die alles beherrschende Profitgier schuld an der Hektik des amerikanischen Lebens, und sie wenden sich: »Gegen dies mörderische Tempo, gegen diese Hetzjagd, die nur am Grabe innehält, gegen die ganze widersinnige Tollheit des Systems.«
Kafka hat derartiges Material also durchaus verarbeitet, aber in schöpferischer Weise. Nehmen wir seine Freiheitsgöttin. Obwohl er Ellis Island nicht beschreibt, scheint er seiner Statue ein Element aus Holitschers Insel-Reportage aufgepfropft zu haben: »kein Blake vermöchte den Racheengel zu zeichnen, zu singen, der über Ellis in einer Wolke von Angst, Wimmern, Folter und Gotteslästerung thront all diese Tage, die wir im freien Land verleben«. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Kafka sich Blakes Engel entlehnt hätte, um ihn, unter ironischer Verwendung des bei Holitscher hochsarkastischen Adjektivs »frei«, auf den Sockel der Freiheitsstatue zu stellen.
Und wenn, wie manche Kritiker meinen, das Hotel Occidental, wo Karl als Liftjunge eingestellt wird, auf das Hotel Athenäum in Chautauqua, New York, zurückgeht, dann hat Kafka Holitschers beinahe begeisterte Beschreibung dieses Grand Hotels, in dem die Liftjungen abends in der Halle mit den gutbetuchten Gästen plaudern, doch erheblich abgeschwächt. Aus dem Graduierten der Columbia Universität und jetzigen Kandidaten der Medizin, der im Athenäum als Portier arbeitet, ist eine Umkehrung der pädagogischen Mentorfigur des traditionellen Bildungsromans geworden: der völlig ausgebrannte Medizinstudent »Schwarzer Kaffee«, der Karl klarmacht, wohin es führt, wenn man Tag und Nacht arbeitet oder studiert. Und Soukups Auswandererschiff, das aussieht wie »ein Lagerhaus, in dem man Menschen wie Waren nach Amerika verfrachtet«, erinnert an die klägliche Kabine des Heizers, in der »ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp neben einander wie eingelagert standen«. Kafka fügt dem sozusagen seine ganz persönliche Note hinzu, einen Hauch von Humor, ohne dabei die Gesellschaftskritik ganz zu tilgen.
Auf seine Amerika-Lektüren spielt Kafka in einer Szene an, in der Karl sich beim Anblick des Iren Robinson erinnert, irgendwo gelesen zu haben, daß man sich in Amerika vor den Irländern hüten solle – bei Holitscher heißt es: »Diese Rasse hat nämlich in Amerika den höchstentwickelten und erfolgreichsten Typus des politischen Padrone, des Boss, Sklavenhalters und Stimmenfängers hervorgebracht« –, und er zitiert die hoffnungsvolle Frage eines Zwischendeckpassagiers: »Wie lange muß man in Amerika leben, um ein Irländer zu werden?« Wie Anthony Northey in seiner vorzüglich recherchierten Studie »Kafkas Mischpoche« berichtet, hatte Kafka Verwandte in Amerika: den Onkel Otto, wohl auch ein Vorbild für Karls Onkel Jakob, sowie einen Vetter Franz oder Frank, der wie Karl als Sechzehnjähriger auswanderte. Wie Jakob war Otto ein Selfmademan, der nach einem abenteuerlichen Leben in Südafrika und Südamerika in die USA ging, wo er schließlich reich genug wurde, um sich in Tarrytown, New York, ein Haus neben der Rockefeller Mansion zu kaufen. Im Spätherbst 1911, als Kafka am »Verschollenen« arbeitete, besuchte Otto mit seiner neuen Frau Alice Stickney, der Tochter einer damals bekannten amerikanischen Familie und vermutlich ein Vorbild für Klara Pollunder, die Verwandten im böhmischen Kolin, und wahrscheinlich erfuhr Kafka von ihnen, welchen Eindruck die beiden Amerikaner machten. Jedenfalls gab Otto gerne einen Spruch von sich, der auch gut aus dem Munde von Jakob hätte kommen können: »Wer befehlen will, muß erst gehorchen lernen.« Sachlich und selbstbewußt, wie er war, ließ er sich von keinem einschüchtern, auch nicht von Leuten mit Macht und Beziehungen. So verklagte er seinen Kompagnon, General Coleman T. Dupont (einen aus der bekannten Industriellenfamilie stammenden ehemaligen Postminister) – eine Schlagzeile in der New York World vom 29. Januar 1918 lautete: »Kafka droht Du Pont mit Prozeß« –, und ein paar Jahre später den mexikanischen Außenminister Adolfo de la Huerta. Und auch Ottos Eheprobleme kamen an die Öffentlichkeit — »Er ließ die Familie mittellos sitzen, sagt Kafkas Frau«, stand in der New York Times vom 25. November 1923.
Im September 1918 ersuchte Otto den Stellvertretenden Generalstaatsanwalt mit einer Bittschrift um Entlassung aus dem Gefängnis, wo er wegen des Verdachts der Spionage zu Unrecht einsaß. Otto Kafka sagte, er habe in Amerika als Transportarbeiter in einer Korsettfabrik mit 5 Dollar die Woche angefangen. Also ist es wohl kein Zufall, daß Karls Onkel Jakob stolz darauf ist, so viele Packträger zu haben. Doch derlei verführerische Details sind mit Vorsicht zu genießen, da biographische Quellen, angelesenes Amerika-Wissen und Fiktionen nicht immer ganz leicht zu trennen sind. Obwohl Otto sich ähnlich wie Jakob äußert, haben diese Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten doch auch fast immer etwas Gattungstypisches.
Wie von Jorge Luis Borges erkannt und wie vor allem von Robert Alter nachgewiesen, hat Kafka Karls amerikanische Abenteuer oft mit religiösen, zumal alttestamentarischen Motiven durchwirkt und für uns Leser Fragen aufgeworfen: In welchem Maße ist eine Metropole wie New York City, mit den hunderttausend »Augen« ihrer vielen, dem Turm von Babel gleichenden Wolkenkratzer den Winden und der »Unruhe« ausgesetzt, die vom Meer herüberziehen? Was sollen wir von der merkwürdigen Zugluft halten, die das riesige Landhaus bei New York durchweht, besonders in der Nähe der Kapelle, die von dem übrigen Haus abgesperrt werden soll … Wie sollen wir einen Vergleich wie diesen deuten: »als werde über der Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen«?
Doch so düster die Lage seiner Helden auch sein mag, Kafka verliert nie seinen Sinn für Humor. Zuweilen ist der Gegensatz zwischen Karls unerbittlicher Ernsthaftigkeit und den oft komischen Abenteuern, in die er hineingerät, so kraß, daß man trotz allen Mitgefühls in sich hineinlachen muß: etwa seine Dialoge mit dem Iren Robinson, die durchsetzt sind mit minutiösen Beschreibungen von dessen ekelhaften Eßmanieren, oder das Baderitual von Brunelda, einer grotesken Figur, die ihrem Wagnerschen Namen alle Ehre macht. Obendrein verursacht Karls nicht sehr ausgeprägtes Persönlichkeitsgefühl komische Zwischenfälle, man denke an die Szenen mit seinen Kumpanen Delamarche und Robinson. Und auch der Name des Dienstmädchens, das ihn verführt hat – Kafka verwendet gern sprechende Namen: Brummer –, ist treffend, aber auch beunruhigend, da Karls Nachname ja das Wort Roß enthält.
Vielleicht wundert sich der Leser über das faszinierende letzte Kapitel, das ebenfalls rätselhaft ist, zumal es im Roman direkt davor eine Lücke gibt. Nach einem kurzen Bericht über Karls Betreten eines bordellähnlichen Etablissements mit der industriemäßigen Bezeichnung Unternehmen Nummer 25 bricht die Erzählung ab, und wir befinden uns ohne jede Überleitung vor einem Plakat, auf dem ein mysteriöses Theater freie Stellen anbietet. Als Kafka sich 1914 wieder mit dem Schlußkapitel befaßte, das Brod, obwohl es im Manuskript keinen Titel hatte, »Das Naturtheater von Oklahoma« nannte, wollte er vielleicht ebenso verfahren wie beim »Prozeß«, also erst den Schluß schreiben und dann die Leerstellen auffüllen. Da ihm dies hier genausowenig gelang wie dort, werden die Leser nach diesem Kapitel, ja nach dem ganzen Roman, zu den unterschiedlichsten Interpretationen gelangen, je nachdem, welche Sinnebene sie bevorzugen: die soziale, metaphysische oder psychologische, die Apotheose oder Parodie des amerikanischen Traums und so fort. Vielleicht bringt ja auch Kafkas Spiel mit der Doppelbedeutung von »Laufbahn« anläßlich einer Diskussion über Robert Walser in einem Brief von 1909 an Direktor Eisner – er war einer seiner Vorgesetzten auf seiner ersten Stelle in der Assicurazioni Generali – Licht in seine ansonsten ziemlich dunkle Entscheidung, die Aufnahmekanzlei für das Theater von Oklahama auf einer Rennbahn einzurichten.
Kafka hatte zwei Schlußvarianten erwogen. Laut Brod wollte er den Roman versöhnlich enden lassen, und sein junger Held sollte, wie er lächelnd zu sagen pflegte, in diesem »fast grenzenlosen Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch paradiesischen Zauber wiederfinden«. Doch in der Tagebucheintragung vom 30. September 1915 vergleicht er ausdrücklich Karls und K.’s Schicksal: »Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen«. In typischer Unentschiedenheit bezüglich des Endes und nach dreijähriger immer wieder unterbrochener Arbeit am Roman hat er dann irgendwann seine Pläne für Karls Schicksal geändert.
Im Kapitel über das Theater von Oklahama – der Name ist durchgängig falsch geschrieben – behauptet das »größte Theater der Welt«, alle Bewerber brauchen zu können. Aber wie glaubwürdig ist die Organisation? Wird sie Karl eine gewisse Erfüllung gewähren? Die einen sehen in dem Theater das Modell einer religiösen Erlösung, die anderen eine Gesellschaftsutopie und die dritten eine surreale Version des amerikanischen Traums. Doch wie sollen wir es verstehen, daß Karl, der seine Legitimationspapiere verloren hat, sich nun als »Negro« ausweist, mit dem Rufnamen aus seinen letzten, aber nie näher beschriebenen Stellungen? Die Bezeichnung Negro wählte Kafka mit Bedacht. Zuerst schrieb er »Leo« – vielleicht eine Anspielung auf ein Alter ego, Leopold S., das im Tagebucheintrag vom 15. August 1913 einen offenkundig autobiographischen, wiewohl rätselhaften fragmentarischen Dialog mit einer Felice S. führt –, aber ersetzte den Namen dann neun Mal durch »Negro«. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Kafkas Bemerkung in einem Brief an Milena Jesenská vom August 1920, daß er und Milenas jüdischer Mann »das gleiche Negergesicht« hätten.
An dieser Stelle gibt es im Roman Anzeichen für eine Wende zum Besseren. So hat Karl einige verheißungsvolle Begegnungen mit Menschen aus seiner Vergangenheit – was für Kafkas angeblichen Plan für ein positives Ende spräche. Betrachtet man jedoch die Abbildung in Holitschers Amerika-Buch, ein Foto von einer Gruppe grinsender Weißer, die beim Lynchen zuschauen, mit der sarkastischen Unterschrift »Idyll aus Oklahama« (mit der derselben Schreibung wie bei Kafka), neigt man vielleicht zu einer düstereren Interpretation sowohl dieses Kapitels als auch Karls letzter Reise.
Der mehrsprachige Kafka wußte, daß Übersetzer oft konträre sprachliche und literarische Belange miteinander in Einklang bringen müssen. Zwar lobt er seine erste tschechische Übersetzerin Milena Jesenská, aber gibt ihr zu bedenken: »ob nicht Tschechen Ihnen die Treue, das was mir das Liebste an der Übersetzung ist … vorwerfen«. Erhellend sind seine Kommentare zu den ersten beiden Sätzen des Romans, die zu dessen schwierigeren Passagen gehören. Wie ist es zu verstehen, daß Karl von seinen »armen Eltern« nach Amerika geschickt wurde? Kafka war nicht glücklich mit Milenas Lösung, den Doppelsinn von »arm« durch Hinzufügen von »chudy«, das materielle Armut bezeichnet, aufzuheben und dadurch den Eindruck zu erwecken, daß Karls Eltern verarmt seien. »Arm«, erläuterte er, »hat hier auch den Nebensinn: bedauernswert, aber ohne besondere Gefühlsbetonung«. Doch könnte der Verweis auf die »armen Eltern« nicht auch ein ironischer, ja sogar sarkastischer Erzählerkommentar sein? Kafka suggeriert noch eine andere Deutung, wenn er Milena erklärt, die Wendung spiegele ebenso »ein unverstehendes Mitleid das auch Karl mit seinen Eltern hat«. Und über »die freien Lüfte«, welche die Statue umwehen, schreibt er, daß der deutsche Begriff »ein wenig großartiger« als Milenas »freie Luft« sei. Wie im Englischen ist auch im Tschechischen »Luft« nicht ohne weiteres im Plural zu verwenden – doch um die Grenzen des Übersetzens wissend, räumt Kafka ein: »aber da ist wohl kein Ausweg«.
Ich habe mich bei meiner Übersetzung für eine Wendung entschieden, die wie Milenas nicht so gehoben ist wie die deutsche, letztlich auch deshalb, weil ich das schlichte, aber klangvolle »frei« bewahren wollte. Im allgemeinen habe ich mich bemüht, die Interpretationsmöglichkeiten nicht einzuengen und Kafka auch dann zu folgen, wenn er offenbar absichtlich unbestimmt bleibt und über die Konventionen spottet. So verwendet er bei der Schilderung des Theaters von Oklahama nie direkte, eindeutige Verben wie »einstellen«, und das habe auch ich nicht getan und die englische Fassung so offen wie möglich gehalten. Das gleiche gilt für die Zeichensetzung, die viele Leser irritiert. Nach einigen Fragen setzt er ein Fragezeichen, nach anderen nicht. Hier muß man bedenken, daß er seine Manuskripte, bis auf das »Heizer«-Kapitel, nicht mehr durchgesehen hat. Aber auch aus stilistischen Gründen setzte er wenige Zeichen, und diese Sparsamkeit hat dazu beigetragen, daß seine Prosa, die so ungeheuer reich an genauen Beobachtungen ist, dennoch, wie im ersten Kapitel zu sehen, ganz wunderbar leicht dahinfließt.
Bereits der Titel, »Der Verschollene«, ist nicht genau zu übersetzen. Meine Annäherung ist »The Missing Person«, der Vermißte; er ist von typischer Kürze – substantiviertes Perfektpartizip plus bestimmter Artikel –, aber auch widersprüchlich, denn er enthält die metafiktionale Frage nach der Herkunft dieser Geschichte über einen jungen Mann, der spurlos, ja klanglos – ohne Schall, verschallen – verschwunden ist.
Max Brod hat offensichtliche Flüchtigkeitsfehler korrigiert, so die Brücke, die New York mit Boston verbindet, einen plötzlichen Währungswechsel von Dollar zu Pfund sowie Karl Roßmanns unterschiedliches Alter, sechzehn und siebzehn. Edwin und Willa Muir haben nach der Brodschen Ausgabe übersetzt. Die neueren deutschen Herausgeber dagegen haben nichts geändert, da sie einen Text vorlegen wollten, der Kafkas Fassung letzter Hand möglichst nahe kommt. Ich habe mich nach Jost Schillenheits kritischer Ausgabe gerichtet, aber einiges stillschweigend korrigiert, zum Beispiel die inkonsequente Schreibung von New York, mal zusammen, mal auseinander und mal mit Bindestrich, ebenso Hotel Occidental, das im Original meist klein geschrieben ist.
Die größte Herausforderung bestand für mich darin, daß ich einen englischen Text schaffen mußte, der anscheinend so grundverschiedene Züge zum Ausdruck bringt wie Kafkas »geradezu provozierend ›klassisches‹ Deutsch« (Reiner Stach), seine Detailgenauigkeit, seine »Springlebendigkeit« (Nicholas Murray) und sein modernistisches Festhalten an der begrenzten Sicht der Hauptfigur. Daß einige deutsche Kritiker sich am Stil des »Verschollenen« stießen – so lobte der aus Prag gebürtige Heinz Politzer den kleistisch verschachtelten ersten Satz, aber bemängelte den zweiten als »kunstlos« –, halte ich für eine Verkennung der erstaunlichen Modernität, die unter Kafkas stilistischem Konservatismus oft verborgen ist. Es liegt viel Modernes in dem ständigen Wechsel zwischen indirekten inneren Monologen und dem zurückhaltenden Erzähler, der dem Leser verstohlen zuzwinkert und dadurch auf die Ironie und den Humor aufmerksam macht, die der viel zu ernsthafte junge Romanheld ja gar nicht bemerkt.
Obwohl Brods anfangs allgemein akzeptierte Ansicht von Kafkas Werken als religiösen Allegorien nicht überdauerte, hatte er vielleicht doch nicht ganz unrecht mit der Vermutung, daß »Der Verschollene« einen neuen Weg zum Verständnis Kafkas zeigen könne und – zumindest in Amerika, wo er seltsamerweise immer noch viel zuwenig wahrgenommen wird – zu einer Würdigung dieses womöglich »amerikanischen«, aber ganz sicher spannenden Romans.
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 6/2008, S. 794-804
- 1/2011 | »Ein Zirkusreiter auf 2 Pferden«. Kafka - Übersetzung und Jiddischkeit
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Haroche, Charles
- 4/1990 | Gespräch mit Ismail Kadare
Harris, Wilson
- 3/1984 | Kein verdammter Karibe
Hart, Kitty
- 3/1964 | Aber ich lebe. Die Verhaftung
Hartlaub, Felix
- 1/2014 | Platon und der Staat. Mit einer Vorbemerkung von Karl Corino, S. 48 Leseprobe
Hartlaub, Felix
Platon und der Staat
Vorbemerkung von Karl Corino
Centenarfeiern für einen poeta absconditus wie Felix Hartlaub, der im Juni 2013 hundert geworden wäre, mögen in der breiten Öffentlichkeit ohne sichtbare Wirkung bleiben – für die literarhistorische Forschung können sie ein Anlaß sein, nach unbekannten Dokumenten zu suchen oder sich bislang unbeachteten Jugendwerken zuzuwenden, die in Archiven die Zeitläufte überdauert haben. Beides ist in seinem Fall geschehen: In den Beständen der Odenwaldschule wurde eine um 1932 entstandene umfangreiche Studie Hartlaubs über Platon entdeckt, und unter Materialien der Berliner Universität, die verblüffenderweise die Bombardements des Zweiten Weltkriegs überstanden haben, fanden sich die Promotionsakten des Doktoranden. Diese enthalten eine Reihe aufschlußreicher Zeugnisse, etwa diesen Lebenslauf:
»Ich, Gustav Adolf Felix Hartlaub, wurde am 17.6.1913 als Sohn des Kunsthistorikers Dr.G.F.Hartlaub und seiner Gattin Felicie geb. Meyer zu Bremen geboren. Meine Kindheit verbrachte ich in Mannheim, wo ich die Volksschule und das humanistische Gymnasium bis zur Obertertia besuchte. Aus Gesundheitsrücksichten trat ich dann in das Landerziehungsheim Odenwaldschule bei Heppenheim ein, wo ich im Herbst 1932 die Reifeprüfung ablegte. Im Wintersemester 1932/33 hörte ich an der Handelsschule in Mannheim nationalökonomische Vorlesungen. Mitte Februar 1933 besuchte ich Verwandte in Neapel, wo ich bis zum Juni blieb und archäologische, kunstgeschichtliche und Sprachstudien trieb. Im August erwarb ich das Sprachlehrerdiplom der Fremdenuniversität Perugia. Im Wintersemester 1933/34 und im Sommersemester 1934 studierte ich in Heidelberg romanische Philologie und genügte meiner studentischen Arbeitsdienstpflicht; im Anschluß daran nahm ich an einem Lehrgang der Geländesportschule Adelsheim teil. Im W.S.1934/ 35 bezog ich die Berliner Universität, nachdem ich meine Studienabsichten geändert und Geschichte als Hauptfach gewählt hatte. Im Sommer 1936 erhielt ich von Herrn Prof. Elze das Thema meiner Dissertation.«
So beschreibt Hartlaub am 7. Juni 1938 seinen Bildungsgang bis zur Arbeit über Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Dieser war offenbar von den Prinzipien des deutschen humanistischen Gymnasiums bestimmt – mit einem altsprachlichen Unterricht von erstaunlich hohem Niveau. In der Reformschule im Odenwald wurden die klassischen Texte auf ihren philosophischen Gehalt befragt und nicht bloß als Turnstangen für grammatische Übungen benutzt.
Die sorgfältig ausgefüllten Fragebogen des Promotionsakts zeigen aber auch, wie eifrig der neue Staat nach 1933 an der ideologischen Gleichschaltung der Studentenschaft arbeitete – die Instrumente waren der Arbeitsdienst, die Arbeitsgemeinschaften der Fachschaften (im Wintersemester 1933/34 und im Sommersemester 1934 nahm Hartlaub an zwei AGs zur politischen Erziehung teil) und die studentische SA, der Hartlaub vom 15. November 1933 bis zum 1. Januar 1935 angehörte. Unklar das Motiv und die offizielle Begründung seines Austritts; man konnte Arbeitsüberlastung vorschützen. Ganz ungefährlich war er nicht, aber mögliche Nachteile nahm Hartlaub in Kauf. So unbestreitbar sein Widerwille gegen die körperliche und geistige Uniformierung war – die Verbrennung der braunen Kluft, im Gespräch mit der Schwester erwogen, dürfte rebellisches Gedankenspiel geblieben sein. Der Doktorvater Walter Elze, George-Jünger und NSDAP-Mitglied, bescheinigte dem Kandidaten Hartlaub am 13. Juni 1938, die Dissertation sei in »kameradschaftlichem Arbeitsverhältnis« unter seiner Aufsicht entstanden. Entsprechend befriedigt zeigte er sich in seinem Gutachten vom 5. Juli:
»Als ich dem Verf. die Aufgabe stellte, lag mir daran, seine Kenntnis u. a. des Spanischen wie Italienischen für einen Gegenstand auszunutzen, der auch für die weitere deutsche Geschichte Bedeutung hat. So kam ich auf Don Juan d’Austria. Der sehr gut veranlagte und sehr genau arbeitende Verf. hat zu dieser Arbeit umfängliche Studien betrieben. Eine geplante Reise zu den Archiven wurde durch die polit. Ereignisse unmöglich. Trotzdem bietet die Arbeit durch Ausbeutung der span., ital. u.s.w. Literatur für die Erforschung Don Juan d’Austrias wichtige Ergebnisse.
Der Verf. richtet sein Hauptaugenmerk auf die Person Don Juans und seine persönl. Beteiligung an dem Sieg. In Exkursen bietet er reiche Beiträge für eine vollständige Lebensbeschreibung. (…) Die Frage nach den Folgen der Schlacht zeigt den Verf. Als unvoreingenommenen Betrachter, der sich den Blick über die unmittelbaren Ereignisse hinweg zu weltgeschichtlichen Zusammenhängen offenhält.«
Das Prädikat »sehr gut« ist nach solchem Lob nicht verwunderlich, es wurde durch das Rigorosum vom 16. Februar 1939 bestätigt. Es scheint, als habe der Doktorvater seinen in den Seminaren offenbar stillen, zurückhaltenden Schüler erst in der Prüfung richtig kennengelernt: »Dieser Hartlaub – ich dachte, Sie wären so ein verhutzelter Nußler – plötzlich können Sie reden, packen ganz groß aus.« So der Bericht des Kandidaten an seinen Vater. Die politischen Fragen, etwa nach dem Zusammenhang von »Staat. Partei, Rasse. Weltpolitik«, habe Elze »nur im Protokoll« behandelt, und augenscheinlich entwickelte er gegen den Sohn eines aus politischen Gründen schon 1933 entlassenen Museumsdirektors keinen soupçon, während der Dekan Koch, wohl wegen Hartlaubs südländischen Aussehens und seiner langen Nase, einen sozusagen physiognomischen Verdacht schöpfte, der Prüfling könne etwas Jüdisches haben. Dieser Spectabilität, einem »Mittelding zwischen Ober und Hausdetektiv«, habe sein Anblick »immer einen hörbaren Prell« gegeben, »den er auch am Schluß beim feierlichen Handschlag nicht zu unterdrücken vermochte«.
Schon vor seiner Doktorprüfung, während der Konferenz von München, war Hartlaub im Rahmen seiner Wehrpflicht Kanonier einer Luftsperrbatterie in Kaiserslautern, und es war abzusehen, daß er statt des Doktorhuts das Käppi des Flaksoldaten tragen werde. Doch bei seiner mangelnden militärischen Begabung und dem fehlendem Ehrgeiz, ja der Obstruktion gegen Beförderung waren die Aufstiegschancen äußerst gering.
Als Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselte, diente Hartlaub bei der wenig ruhmreichen Truppe, die den Luftraum über Norddeutschland und dem Ruhrgebiet schützen sollte – unfreiwilliger Helfer Görings, der bekanntlich Meier heißen wollte, falls feindliche Flugzeuge ins Reichsgebiet eindringen sollten. Hartlaub begann damals mit den Aufzeichnungen, die seine militärische ›Laufbahn‹ begleiteten und Teil seines klandestinen Werks wurden. Zur Verwunderung der Schwester Geno (Genoveva) gewann er selbst der langweiligsten, ödesten Umgebung eine farbige, pointierte Prosa ab. Der wirkliche Schriftsteller braucht eben keine Sensationen, ihm genügen petits faits.
Daß er die Gegend um Wilhelmshaven oder den Bannkreis des Luftgaupostamts Hannover gegen andere, prominentere Regionen tauschen würde, war damals nicht zu ahnen. Dazu kam es allerdings nach dem triumphalen Sieg der Wehrmacht über Frankreich. Eine Kommission sollte die Akten des Quai d’Orsay studieren, um die französische Außenpolitik rekonstruieren zu können, und Prof. Elze, dem man Beziehungen zu Himmler nachsagte, wurde offenbar gefragt, wen aus seiner Schülerschar man für diese heikle Aufgabe brauchen könne: Der Betreffende mußte natürlich ausgezeichnet französisch sprechen, Landeserfahrung haben und das Handwerk des Historikers beherrschen. All das traf auf Felix Hartlaub zu. Schon als Jugendlicher hatte er mit seinem Vater das Nachbarland bereist und Paris besucht. Nun wurde er als kleiner Gefreiter in die Hauptstadt des geschlagenen Feindes abkommandiert und beugte sich über die Papiere der geflohenen Diplomaten. Neben den Gutachten entstand eine Reihe geheimer privater Texte, die einen wichtigen Teil seines Œuvres ausmachen und deren eindrucksvollster gewiß der über den verwaisten Quai d’Orsay ist. Wäre der Begriff nicht für die Kunst von Manet, Monet, Renoir etc. reserviert, könnte man geradezu von einem Hartlaubschen Impressionismus sprechen. Mit ungemein feinem Pinsel zeichnet er Stadtlandschaften und menschliche Begegnungen – bis hin zur »Weltwende im Puff«, dem Überfall auf die Sowjetunion aus der Perspektive eines Bordellbesuchers in Lutetia.
Von ähnlicher Qualität sind seine Aufzeichnungen, nachdem er zum Verfassen des Kriegstagebuchs in die Führerhauptqartiere nach Winniza (Ukraine) und in die Wolfsschanze (Ostpreußen) abkommandiert wurde, oder seine Notizen über die Fahrt mit dem Sonderzug des FHQs nach Berchtesgaden. Sie machen einen bedeutenden Teil der Schubladenliteratur des Dritten Reiches aus, nicht quantitativ, wohl aber im Hinblick auf ihren dokumentarisch-zeitgeschichtlichen Wert und ihre stilistische Brillanz. Sollten eines Tages die militärhistorischen Schriften Hartlaubs – sprich: die von ihm stammenden Teile des Kriegstagebuchs – neu ediert werden, könnte man überlegen, sie im Paralleldruck mit diesen Texten wiederzugeben. Der Kontrast könnte nicht größer sein.
Editorische Fragen stellen sich nach Hartlaubs hundertstem Geburtstag in vielerlei Hinsicht. Es gibt keine Centenarausgabe wie bei Autoren, die bereits zu Lebzeiten Klassiker wurden. Eine Briefausgabe wäre fällig, ein Neudruck der Dissertation, aber auch seines Jugenddramas über den Bauernkrieg von 1525, das in der Odenwaldschule aufgeführt wurde. Zu den noch in toto zu edierenden Jugendschriften aus dem Archiv der Odenwaldschule gehört auch das rund achtzigseitige Typoskript über Platon und den Staat, das sich – wie auch der in Hartlaubs Einleitung erwähnte »Bericht von einem Platonkurs« – im Bestand des Lehrers Dr. Werner Meyer erhalten hat. Dieser Kurs legte offenbar das Fundament für Hartlaubs umfangreiche Hausarbeit – im Einklang mit dem pädagogischen Prinzip, durch den Unterricht die eigenständige geistige Tätigkeit des Schülers anzuregen (wenn auch gewiß nicht jeder den Stoff mit gleicher Denkkraft durchdringen und seine Thesen formulieren konnte).
Rechnet man die Leistung Hartlaubs auf spätere Lebensjahre hoch, so kann man guten Gewissens behaupten, eine Laufbahn als Philosophiehistoriker auf einem Universitätslehrstuhl wäre möglich gewesen. Ausgestattet mit einer profunden Kenntnis der platonischen Dialoge und wichtiger Forschungsliteratur, folgt er der Denkbewegung ihres Urhebers auf eine Weise, die über das Vermögen eines gewöhnlichen Pennälers weit hinausgeht. Akribisch registriert er, welch vielfältigen Einschränkungen die Dichtung und die Künste überhaupt, etwa die Musik, in Platons idealem Staat unterworfen sein sollten. Warum, beschreibt er so:
»Wenn das Maß, die Verfassung des Chorliedes verkehrt wird, wenn der Text sich zu einer Wiederholung eintöniger Rufe der Klage oder des Jubels auflöst, die Musik zu einem dröhnenden Wirbel aller Instrumente und die Körperbewegung, sonst ein beschwingtes Schreiten, zu einem Aufruhr aller Glieder wird, ist schwerster Schaden für die Seele zu befürchten. Platon hatte sicher einmal erlebt, wie vom dionysischen Taumeltanze des Chores ergriffen, alle Besucher des Theaters von ihren Sitzen aufsprangen, um sich gegenseitig zu zerfleischen, zu umarmen oder wie, bei Aufführung irgendeiner grausigen alten Sage, der Zuschauerraum außer sich in das Rufen der Mörder, das Wimmern der Erschlagenen mit einstimmte. Den Neuerungen der Kunst, der Erfindung immer neuen Gelärmes, der Einführung asiatischer Tonarten, atemloser Rhythmen schrieb Platon die größte Schuld am Niedergang des athenischen Staatswesens zu.«
In abenteuerlicher Monokausalität führte Platon die stete »Aufregung der Demokratie, die Angst, das gegenseitige Mißtrauen«, den lächerlichen »Redestrom der Rhetoren und die vor Begeisterung sich verschluckende Volksmenge« auf die Ausbreitung des Theaterlärms in Volksversammlung und Prytaneion zurück. Das machte bestimmte Verdikte im idealen Staat unausweichlich. Verbote und Gebote waren darin in einer spezifisch platonischen Weise kombiniert – Hartlaub erkennt in Platons »Nomoi« eine »Mischung von geschichtlicher Einfühlung und listiger Verwirklichung der eigenen Phantasie«. Im antiken Gedankenexperiment waren agrarstaatliche, sozialistische, antimonetaristische, demokratische und oligarchische Vorstellungen miteinander vereint, wobei Platons Modellbürger ganz selbstverständlich Sklavenhalter waren. Mochte sein utopischer Staat Anregungen für Gesellschaftsreformer aller Art bilden – ein Vorkämpfer der Menschenrechte, so möchte man Hartlaub ergänzen, war Platon nicht. In »Platon und der Staat« heißt es: »Der Staat ruht auf rein agrarischer Grundlage, jeder Bürger wohnt auf einem unveräußerlichen Grundstück, Größe und Zahl dieser Grundstücke ist für ewig festgelegt, sie werden von Sklaven bebaut, während fremde Handwerker die dazu nötigen Geräte herstellen und von den Grundbesitzern ernährt werden. Innerhalb des Staates gibt es keinen Geldverkehr, nur Austausch der Erzeugnisse und Kleinhandel, der nur allein auf öffentlichem Markte vor sich gehen darf. Dem Vermögen sind feste Grenzen gesetzt« usw.
Auch wenn Platon von der Idee der Gütergemeinschaft abgerückt war – ein Vergleich mit Sowjetrußland nach der Landreform hätte nahegelegen. Die Odenwaldschüler befaßten sich zwar, wie die Schwester Geno bezeugt, in privaten Zirkeln mit dem Marxismus, und Hartlaub ließ in einem langen Brief vom 17. Februar 1932 durchaus Kenntnisse der UdSSR erkennen, aber im Unterricht war offenbar Zurückhaltung angesagt. Ein Brückenschlag über die Zeiten hinweg fand jedenfalls nicht statt, er hätte aus dem gräzistischen Musterschüler einen Meisterschüler gemacht.
Wir wissen nicht, ob Hartlaub nach dem 30. Januar1933 noch in platonischen Kategorien dachte. Mitunter sprangen die Parallelen zwischen der Antike und der braunen Gegenwart ins Auge: »Erst am Ausgang der griechischen Geschichte«, schreibt der Gymnasiast in seiner hier nur ansatzweise referierbaren Hausarbeit, »findet sich das Streben nach Weltherrschaft, erst der Alexanderzug zieht vorbei an allen Staatenbildungen des Abend- und Morgenlandes, war auf Krieg und Besitz endloser Länderstrecken gestellt: erst damals wird der Krieg nicht mehr geführt vom Selbsterhaltungstrieb der einzelnen Städte, in dem jeder Krieger für seine Heimat als den Herd seines eigenen Lebens, für den Staat als seinen Vater und Lehrer kämpft, sondern vom Erobererdrange der barbarischen Persönlichkeit, die nach Menge und Weite trachtet und nicht die weise Beschränkung auf den gegebenen politischen Rahmen kennt, die Beschränkung, die nicht den Zahlenerfolg, sondern die politische Tüchtigkeit an sich bewertete.«
Erst kurz vor dem Ende seines jungen Lebens – er verschwand spurlos in den qualmenden Ruinen Berlins – und dem des angeblich tausendjährigen Reichs entwarf der Gefreite Hartlaub eine phantastische Szene mit jenem anderen Gefreiten, der für zwölf Jahre zum Tyrannen geworden und jämmerlich gescheitert war, nachdem er die halbe Welt ruiniert und Millionen Menschen in den Tod gestürzt hatte. Eine Art platonische Umkehr: Angesichts der totalen Katastrophe fragt der Täter den Denker um Rat: »Der Führerbunker, nichts Ausweis, nichts Durchsuchung. Tiefe Polstersessel, ein Strauß Gladiolen, das Bismarckbild mit den sprühenden Augenbrauen, den durchwachsenen Augenbällen, die Rute des Wolfshundes klopft den Teppich. ›Also, ich schaffe es nicht mehr, bin am Rande. Sagen Sie mir, wie Sie es sich denken …‹"
SINN UND FORM 1/2014, S. 48-52
- 3/2017 | »In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien , S. 48 Leseprobe
Hartlaub, Felix
»In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien 1933
Vorbemerkung
Italien: Sehnsuchtsland der Deutschen. Nicht nur Touristen zieht es gen Süden, auch Schriftsteller konnten und können sich der Faszination des Landes nicht entziehen, wie sich an alpenähnlich hohen Bücherbergen zeigt. Während Goethe in Italiens Kunst und Landschaft noch Arkadien zu finden meinte, blickte mancher seiner Zeitgenossen schon kritisch auf das Land, wo die Zitronen blühn – zum Beispiel Johann Gottfried Seume, der auf seinem fast einjährigen »Spaziergang« durch Italien gerade auch dessen Schattenseiten beschreibt. Später setzte tatsächlich eine Art Italienverweigerung ein. Die Kritik entzündete sich unter anderem am Massentourismus, der das Land verschlossen habe, statt es zu erschließen – glaubte jedenfalls Rudolf Borchardt. Wolfgang Koeppen schließlich konstatierte, Italien beziehungsweise Rom als Projektionsflächen hinterfragend: »Die Tradition, die Kultur hat sich in einen endgültig leeren Haufen Ruinen verwandelt, die niemanden mehr erschüttern.«
Warum sich also den Zeugnissen eines weiteren Vertreters dieser reisenden Literaten zuwenden, den, in Anbetracht seines schmalen OEuvres, erstaunlich zahlreichen Texten mit Italienbezug von Felix Hartlaub? Außer seiner einzigen vollendeten Novelle »Parthenope oder Das Abenteuer in Neapel« (die in der Zeit spielt, in der Seume seine Reise antrat, und in der Hartlaub sich ebenfalls der sozialen Verhältnisse des Landes annimmt) und dem posthum unter dem Titel »Italienische Reise« edierten Bericht von 1931 existieren vor allem substantielle Briefe, die der Student aus Italien an seine Familie schrieb und denen er selbst offenbar literarische Qualität zusprach.
Daß Felix Hartlaub Schriftsteller werden wollte und Italien als wichtige Bildungsetappe ansah, genügt nur bedingt, um ein tiefergehendes Interesse an jenen Briefen zu begründen, die der 1913 Geborene ins heimische Mannheim sandte. Zwar sieht man in diesem Briefwerk durchaus einen Schriftsteller am Werk, der die früh entdeckte eidetische Begabung, Wahrnehmungen fast überscharf wiederzugeben, an unvertrauten Landschaften und Städten erprobte – die Lust an der Ausbildung eines ganz eigenen Stils ist in jedem Brief spürbar. Doch die eigentliche Bedeutung der umfangreichen Nachrichten aus Italien ist eine andere.
Noch vor dem Abitur war es zu einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem Land gekommen. Die Odenwaldschule hatte in dem nicht nur für sie finanziell schwierigen Jahr 1931 das Projekt des Lehrers Werner Meyer genehmigt, mit einem guten Dutzend Zöglingen in Italien zu wandern – und zwar nicht etwa in der lieblichen Landschaft um die oberitalienischen Seen, die man natürlich auch nicht ausließ, sondern in den touristisch noch kaum erschlossenen Cinque Terre, jenen nur vom Wasser oder eben zu Fuß zugänglichen fünf Städtchen an der Steilküste südlich von Genua. Hartlaub führte ein Skizzenbuch mit sich, in dem er immer wieder zeichnete, vor allem aber das Gesehene mit Worten festhielt. Dieses frühe Wandertagebuch, das wir 2013 in der Bibliothek Suhrkamp veröffentlicht haben, enthält neben einigen Kuriosa, etwa der Reaktion der Italiener auf das gemeinsame Campieren der männlichen und weiblichen Odenwald-Sprößlinge im Schatten des Schiefen Turms von Pisa, deutliche Hinweise darauf, daß Hartlaub sich hier an Schreibverfahren wagte, die seine zeichnerische Begabung gleichsam in einem anderen Medium fortsetzten. Nicht die Briefe aus Florenz und anderen Orten der Toskana waren das wichtigste Medium zur Erprobung seines Stils, sondern das tagebuchartige Skizzenbuch. Zudem bestritt die Odenwaldschule eine Ausgabe ihrer Schülerzeitung »Neuer Waldkauz« weitgehend mit Berichten von dieser sogenannten Homerwanderung: Hartlaubs Notate stechen vom Geschreibsel der übrigen Schüler deutlich ab. Zwei Jahre später, als er unter ganz anderen Bedingungen nach Italien zurückkehrte und auch viel länger blieb, wurden die Briefe zum Experimentierfeld, in dem etliches erprobt, wieder aufgegriffen und variiert werden konnte.
Doch warum zog es Hartlaub abermals in den Süden? Da war zunächst der Wunsch des Abiturienten und seines Vaters, die Grundlage für eine Karriere als Romanist zu schaffen. Hartlaub hatte unmittelbar nach dem Abitur zu studieren begonnen, sich von dem eher kaufmännisch orientierten Mannheimer Lehrbetrieb aber bald wieder abgewandt. Nun strebte er eine akademische Laufbahn an, etwa als Lehrer für Romanistik und Geschichte. 1933 war es allerdings keine leichte Entscheidung, in den Staatsdienst einzutreten – vor allem, wenn man die Moderne, die französische Literatur und die italienische Landschaft so sehr liebte wie Hartlaub. Noch dazu war Italien seit 1922 ein faschistisches Land, wo man mit dem, was Deutschland bevorstand, bereits konfrontiert wurde. Möglich, daß Hartlaub deshalb die Hauptstadt mied und lieber nach Neapel ging. Natürlich war auch Neapel keine Exklave, in der man vom Faschismus unbehelligt blieb. Wie die Briefe zeigen, war die dortige Archäologie – eine Modewissenschaft des Faschismus, wie Hartlaub feststellte – von Parteigrößen infiltriert. Dennoch bot das Institut Andersdenkenden Unterschlupf und Freiräume für Gespräche. Zudem war Neapel die Stadt des verfemten Benedetto Croce, in dessen unmittelbarer Nähe Hartlaub sein Quartier aufschlug – dank der Kontakte seines Vaters zu Hilda Ferraro, einer gebürtigen Österreicherin und entfernten Verwandten von Gustav Hartlaubs Mutter. Auch zog die Stadt viele Denker an, die man später der Kritischen Theorie zurechnete und von denen einige, wie Theodor W. Adorno, mit den Hartlaubs in Kontakt kamen. Sie alle beschrieben Neapel als Stadt des Porösen, Durchlässigen, Hybriden.
Von hier aus erlebte der neunzehnjährige Hartlaub, der kurz zuvor seine Mutter verloren hatte, eine weitere Familienkatastrophe mit: die Entlassung des Vaters aus dem Amt des Direktors der Kunsthalle Mannheim und seine Verleumdung als Kulturbolschewist. Gustav Friedrich Hartlaub hatte sich den Ruf eines bedeutenden Förderers moderner Kunst erworben. Ausgebildet bei Gustav Pauli in Bremen, dann unter Fritz Wichert in Mannheim tätig, hatte er eine Fülle überregional beachteter Kunstausstellungen initiiert und kuratiert. Diese erregten nicht nur das Mißtrauen der Berliner Behörden, sondern weckten auch die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen, darunter Walter Benjamin, der Hartlaubs auf seiner wohl berühmtesten Ausstellung beruhendes Buch »Der Genius im Kinde« begeistert rezensierte. Bereits in der Endphase der Weimarer Republik war es zu Kulturkämpfen zwischen Rechten und Linksbürgerlichen wie Hartlaub senior gekommen, die ahnen ließen, was nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten folgen sollte. In Mannheim erfolgte gleichsam der Probelauf für die 1937 zuerst in München gezeigte Propagandaausstellung »Entartete Kunst«. Der Direktor der Kunsthalle wurde mit Gefängnis bedroht und seine jüngst angekauften Werke – insbesondere Marc Chagalls »Rabbiner« – an den Pranger gestellt.
Darüber hinaus hatte Felix Hartlaub allen Grund, sich aus der Ferne auch um die eben erst »neugestaltete« Familie, wie er mit einer eigentümlichen Wendung sagt, Sorgen zu machen. Der Vater hatte unmittelbar nach der einjährigen Trauerzeit die Bankierstochter und Kunsthallenpraktikantin Erika Schellenberg geheiratet, die Schwester Geno weilte noch auf der nun als Kommunistenschule verunglimpften Odenwaldschule und versuchte vergeblich, ihre Zulassung zum Studium zu erwirken, und auch die Zukunft des kleinen Michael war ungewiß. Dies wie auch die bange Frage, was aus der Rente des auf Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entlassenen fünfzigjährigen Vaters werden und wie es überhaupt finanziell weitergehen würde, klingt in vielen Passagen der Briefe an. Zu große Deutlichkeit mußte Felix Hartlaub aus politischen Gründen vermeiden, aber er meinte wohl auch, als ältester Sohn den Vater eher aufmuntern als belasten zu sollen. Die Eindringlichkeit, mit der Hartlaub Neapel beobachtet und beschreibt, entsteht sicher auch aus dem Wunsch, das frühere Sehnsuchtsland des Vaters, über dessen Kunst dieser promoviert wurde und das er oft bereist hatte, auf trostspendende Weise zu vergegenwärtigen.
Im Chaos der Jahre 1933/34 konnte Italien sogar als möglicher Exilort ins Auge gefaßt werden, wenn man die Ballungszentren der Macht mied oder »poröse« Orte wie Neapel und Perugia aussuchte. Zwar war das Land faschistisch, doch gab es, wie Klaus Voigt in seiner grundlegenden Studie »Zuflucht auf Widerruf« gezeigt hat, Inseln, auf die sich zumindest eine kleine Zahl »Schiffbrüchiger« retten konnte, deren Namen nicht ganz oben auf den schwarzen Listen standen. Daß Felix Hartlaub und vor allem seinem Vater das bewußt war, belegt eine Reihe von Formulierungen in den Briefen. Offenbar überlegte die Familie, den Sohn auf Dauer oder zumindest auf unbestimmte Zeit in Italien zu belassen. Da kein Geld mehr vorhanden war, hätte ein solches Exil auf Probe aber mit Erwerbsmöglichkeiten verbunden sein müssen. Doch Hartlaub entschied sich, fast gegen den Willen seiner Familie und vielleicht aufgrund seiner schärferen Wahrnehmung der politischen Situation, zur Rückkehr; nicht weil er sich einfügen wollte, sondern weil er wohl nur in Deutschland jenen Beobachtungsposten vermutete, auf dem er zum Historiker seiner Zeit werden konnte: als Schriftsteller, der in seinen Aufzeichnungen Erfahrungen eines Lebens bewahrt, das sich täglich radikal änderte. Ein gesellschaftlicher Umbruch, wie er in der Geschichte nur selten vorkommt.
Nikola Herweg und Harald Tausch
SINN UND FORM 3/2017, S.293-317, hier S. 293-295
- 4/2017 | Neapolitaner Aufzeichnungen. Ediert von Nikola Herweg und Harald Tausch
- 2/2020 | »Ich stelle mir eine Stadt vor«. Ein rätselhaftes Fragment. Mit einer Vorbemerkung von Jannis Wagner
Hartlaub, Geno
- 1/2014 | »Felix war ein Meister der Tarnung«. Gespräch mit Karl Corino (1986)
Härtling, Peter
- 2/1992 | Gespräch mit Jürgen Krätzer
- 6/1994 | Stimme, die das Schweigen bricht
- 4/1996 | Schumanns Schatten
- 4/1997 | Fünf Lauterbacher Strophen
- 4/2000 | Gedichte
- 6/2000 | Hoffmanns Berliner Vorspiel
- 4/2003 | Leben lernen - in Berlin
- 6/2013 | Mein Freund, mein Präsident. Nachruf auf Walter Jens
Hartman, Geoffrey
- 1/2002 | Memory.com: Fern-Leiden und Zeugenberichte im Internetzeitalter
- 2/2005 | Erinnerungen an Erich Auerbach
Hartmann, Annemarie
- 6/2018 | Eine Winterreise. Gedichte
Hartmann, Bernhard
- 4/2006 | Wojciech Bogumil Jastrzebowskis »Verfassung für Europa«
- 6/2007 | Gespräch mit Artur Szlosarek
- 1/2011 | Gespräch mit Julia Hartwig
- 2/2014 | Ob Sprachbildner, ob Fuhrmann – ich bin Übersetzer. Dankrede zum Karl-Dedecius-Preis
- 4/2017 | »Ich gehöre zu den modernen Nomaden.«
Ein Gespräch mit Olga Tokarczuk über Literatur als Welterfahrung, S. 816 Leseprobe
Hartmann, Bernhard
BERNHARD HARTMANN: Vor siebenundzwanzig Jahren, am 12. November 1989, fand im niederschlesischen Kreisau die deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt, bei der es zur berühmt gewordenen Umarmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Ministerpräsidenten der ersten frei gewählten polnischen Regierung, Tadeusz Mazowiecki, kam. Ein wichtiger Moment für die deutsch-polnischen Beziehungen, der zugleich für die Hoffnung und die Euphorie steht, die in der Zeit nach dem Mauerfall aufkamen. Man träumte – zumindest im Westen – vom »Ende der Geschichte« und hoffte, die Gespenster der Vergangenheit endgültig zu bannen und in eine Zukunft ohne große Konflikte zu gehen. Wie erinnerst du dich an diese Zeit?
OLGA TOKARCZUK: Ich habe 1989 angefangen, meinen ersten Roman zu schreiben, und hätte mir keinen besseren Zeitpunkt dafür vorstellen können. Es schien, als heitere Europa sich auf, als wüchse es zusammen und schüttele endlich die Alpträume der Geschichte ab. Ich dachte, auch in Polen würde man sich nun dem zuwenden können, was Literatur eigentlich ausmacht. Meine Generation – darunter inzwischen bekannte Autoren wie Andrzej Stasiuk, Paweł Huelle oder Natasza Goerke – entdeckte damals das Private neu für die Literatur. Dieses Gefühl der Befreiung von gesellschaftlichen und politischen Pflichten war für uns unglaublich belebend. Wir konnten uns beispielsweise mit Feminismus und Ökologie befassen, unseren Ort in der Welt und unsere Körperlichkeit erkunden. Jetzt, wo die Zeiten unruhiger werden, geraten diese Themen erneut an den Rand. Ich hätte nie gedacht, daß die Literatur sich keine drei Jahrzehnte später wieder mit Politik befassen muß, die Schriftsteller wieder politisch werden, alles wieder politisch wird, jede Erzählung, jeder Roman, jedes Thema.
HARTMANN: Der politische Wandel in Polen ist symptomatisch für den Stimmungswandel, der in ganz Europa zu beobachten ist. Die Idee der europäischen Einigung überzeugt nur noch wenige, in immer mehr Ländern wächst der Wunsch, sich ins nationale Schneckenhaus zurückzuziehen. Sind wir überfordert damit, europäisch zu denken? War es zu viel Europa in zu kurzer Zeit – zumal für die einstigen Ostblockländer, die ihre hart erkämpfte Souveränität nicht gleich wieder an eine oft als technokratisch empfundene Institution abgeben möchten?
TOKARCZUK: Für mich ist der Beitritt Polens zur EU einer der glücklichsten Momente der polnischen Geschichte. Ich kann mir Polens Zukunft auch nur innerhalb dieser großen Gemeinschaft vorstellen, deren östlichen Rand wir derzeit bilden. Doch momentan weiß niemand, was kommen wird. Auch ich kann und will keine Diagnosen stellen oder Prognosen abgeben, das ist nicht mein Metier, ich bin Schriftstellerin. Aber ich glaube, es sind vor allem zwei Gründe, die diese Verunsicherung und Angst hervorrufen. Das eine ist die Flut von Informationen, die heute jeder einzelne von uns verarbeiten muß. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Mensch nicht mehr in der Lage, alles mit seinen Sinnen und seinem Verstand zu verarbeiten. Zugleich haben die großen Wertsysteme und Erzählungen, die früher klare Weltbilder vermittelten, an Bedeutung verloren, und die Medien bringen keine Ordnung ins Chaos, sondern vergrößern es noch. Das andere ist der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus, der einerseits Enklaven des Friedens und Wohlstands schafft, andererseits aber auch Ghettos, in denen die ungeheure Zahl der Ausgeschlossenen lebt. Die Mechanismen dieser Ausgrenzung sind schwer zu durchschauen und zu kontrollieren. Wir begreifen nicht, wie neoliberale Wirtschaft und Politik funktionieren, und das führt zu einer Erosion der Demokratie. Die Folge ist das Aufkommen populistischer Strömungen, das wir derzeit überall in der Welt beobachten.
HARTMANN: Nun arbeitest du in deinen Romanen auch mit dem Mittel der Fragmentarisierung, der Leser muß sich aus unzähligen Mosaikstücken und Mini-Erzählungen selbst ein Gesamtbild schaffen. In deinem letzten Roman, »Ksie˛ gi Jakubowe« (Die Bücher Jakob), spielen Grenzüberschreitungen verschiedenster Art eine Rolle, schon der Untertitel deutet darauf hin: »Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei Religionen, die kleinen nicht mitgezählt «. Am Beispiel der Sekte des Jakob Frank und ihrer Reise durch das Polen und Europa des 18. Jahrhunderts zeigst du, wie individuelle und kulturelle Identitäten sich auflösen und wandeln. Und du entwirfst ein Bild Polens in dieser Zeit, das der – nicht zuletzt durch Autoren wie Henryk Sienkiewicz – verbreiteten Vorstellung von ethnischer und religiöser Homogenität diametral entgegensteht. Du zeigst einen Vielvölkerstaat, in dem neben christlichen auch jüdische und osmanische Einflüsse wirksam sind. Das ist natürlich eine Provokation für alle, die in nationalen oder ethnischen Kategorien denken. Hast du beim Schreiben bewußt versucht, ein Gegenmodell zu vereinheitlichenden, vereinfachenden Darstellungen nationaler Identität zu schaffen?
TOKARCZUK: Als ich »Ksie˛ gi Jakubowe« zu schreiben begann, dachte ich, ich schriebe für eine nicht allzu große Gruppe literarisch versierter und historisch interessierter Leser, und rechnete mit einer Auflage von höchstens zwei- oder dreitausend Exemplaren. Inzwischen wurden 150 000 Exemplare verkauft, das Buch wurde breit diskutiert und es gab zahlreiche Besprechungen. In der Tat revidiert das Buch in gewisser Weise eine verbreitete naive Sicht auf die polnische Geschichte. Kurz gesagt, handelt »Ksie˛ gi Jakubowe« davon, wie die modernen Gesellschaften in Europa entstanden, in diesem Fall in Mitteleuropa, in Polen. Ein zentrales Moment in diesem Entstehungsprozeß war immer die Auseinandersetzung, das Verhandeln mit Fremden, die zur Mehrheitskultur hinzukommen und anders sind. Das führt natürlich unweigerlich zu Spannungen, die daher rühren, daß wir einerseits das Fremde fürchten, es andererseits aber auch eine gewisse Faszination ausübt.
HARTMANN: Ist es Zufall, daß dieses Fremde in »Ksie˛ gi Jakubowe« vor allem durch die jüdischen Sektierer um Jakob Frank verkörpert wird?
TOKARCZUK: Das Verhältnis zu den Juden steht in Europa sinnbildlich für das Verhältnis zum Fremden. Salopp könnte man sagen, die Juden sind die Fremden vom Dienst. Mal passen sie uns in den Kram, denn sie steigern das wirtschaftliche Niveau und ihre Kultur ist in vielerlei Hinsicht nützlich, und mal nicht, dann haßt man sie. In der europäischen Geschichte schwingt das Pendel hin und her. Mein Buch nimmt die Mechanismen des Umgangs mit dem Fremden unter die Lupe, vom Assimilationsdruck bis zu unterschiedlichen Autonomiekonzepten. In ihm sehen wir die Welt vor allem mit den Augen von Außenseitern, die sich einer Mehrheitsgesellschaft anschließen möchten und fragen: Was sind die Bedingungen, was läßt sich gemeinsam aushandeln? Die Ergebnisse solcher Prozesse können unterschiedlich, oft auch tragisch ausfallen, hier endet es damit, daß die Fremden aufgenommen werden, dafür aber alles aufgeben, was ihre Identität ausmacht.
HARTMANN: In der polnischen Rezeption steht dieser Aspekt im Hintergrund. Die Debatte kreist vor allem um die Darstellung der polnischen Wirklichkeit zur Zeit der Handlung.
TOKARCZUK: Weil ich eine Geschichte erzähle, die historisch bedeutsam ist, über die aber lange nicht gesprochen wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Rzeczpospolita, die polnisch-litauische Adelsrepublik, ein mächtiges Königreich, das aber schon erste Zerfallserscheinungen zeigt. Eine Gruppe armer jüdischer Kaufleute um Jakob Frank, deren Auslegung des jüdischen Glaubens sie zu Häretikern macht, möchte sich in die polnische Gesellschaft eingliedern und konvertiert zum Katholizismus, insgesamt etwa 15 000 Menschen. Die katholische Kirche nimmt sie auf, begegnet ihnen aber mit Mißtrauen. Ihr jüdisches Umfeld wendet sich von ihnen ab. Das Buch zeigt, wie die Frankisten in der polnischen Gesellschaft aufgehen – um den Preis der Aufgabe ihres alten Glaubens – und wie sie das im 19. und 20. Jahrhundert einflußreiche polnische Bürgertum mitbegründen und prägen. Bestimmte Glaubenselemente und Denkweisen der Frankisten sind in der polnischen Kultur und Literatur bis heute erkennbar. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle mehr, wer vor zweihundert Jahren einheimisch und wer fremd war.
HARTMANN: Hast du eine Idee, warum vor dir niemand dieses Thema aufgegriffen hat?
TOKARCZUK: Diese Geschichte paßt nicht ins nationale Selbstbild, darum wurde sie vergessen oder verdrängt. Aber nicht nur von den Polen. Die orthodoxen Juden haben sie verdrängt, weil die Frankisten in ihren Augen Abtrünnige und Verräter waren. Und auch die Frankisten selbst und ihre Nachkommen wollten nicht an ihre jüdischen Wurzeln erinnert werden, weil sie auf totale Assimilation setzten.
HARTMANN: Und die Debatten? Wolltest du eine Diskussion anstoßen oder warst du überrascht von manchen Reaktionen?
TOKARCZUK: Als ich das Buch schrieb, war ich politisch völlig unbefangen, ich bin herumgereist, habe in Bibliotheken recherchiert, Quellen studiert, mit Historikern gesprochen. Aber als das Buch vor gut zwei Jahren erschien, kam es in eine ganz andere Zeit. Wir haben inzwischen eine Regierung, die ihre Politik an einem Verständnis der polnischen Geschichte und Identität ausrichtet, in dem die Nation als homogenes Gebilde mit einer langen heroischen Vergangenheit erscheint und alles ausgeblendet wird, was ethnische Minderheiten und überhaupt die Heterogenität unserer Gesellschaft betrifft. Mein Buch dekonstruiert in gewisser Weise jenes nationale Bild. Ich erzähle von dieser Zeit aus Sicht der Provinz und der Peripherie. Weil das Buch aber inhaltlich wenig Angriffsfläche bietet, haben sich die Angriffe aus dem nationalkonservativen Lager großenteils auf meine Person gerichtet.
HARTMANN: Vor zwei Jahren ist in einer Anthologie mit Texten zur Flüchtlingsthematik deine Erzählung »Die Grenze« erschienen. Auch diese vor fast zwanzig Jahren entstandene Erzählung klingt heute merkwürdig aktuell. Weißt du noch, was dich seinerzeit dazu gebracht hat, diesen Text zu schreiben?
TOKARCZUK: Ich erinnere mich, daß ich »Die Grenze« in meinem Haus in Krajanów geschrieben und mich beim Schrei ben ziemlich amüsiert habe. Der Text greift einen im polnischen Denken fest verwurzelten Topos auf, dem zufolge wir die östliche Grenze der europäischen Zivilisation bilden und das christliche Europa gegen Angriffe verteidigen. Ich habe mir eine postapokalyptische Welt vorgestellt, in der alle zivilisatorischen Werte in Vergessenheit geraten sind und die Überlebenden versuchen, aus den Trümmern der Überlieferung eine neue Ordnung zu schaffen, während von jenseits der Grenze immer wieder die Barbaren andrängen und zurückgeschlagen werden müssen. Der Grenzfluß Pruth markierte einst tatsächlich eine Grenze des christlichen Europa, auf der anderen Seite lag das Osmanische Reich, lag der Islam. Damals habe ich die Erzählung als Groteske betrachtet, als literarischen Scherz. Ich hätte nicht gedacht, daß uns das Thema Jahre später unmittelbar betrifft. Als ich gefragt wurde, ob ich bei einem Buchprojekt zugunsten einer polnischen Flüchtlingshilfeorganisation mitmachen würde, wollte ich eigentlich einen neuen Text schreiben. Doch dann fand ich im Computer diese noch unveröffentlichte Erzählung, die plötzlich eine ganz neue Bedeutung gewann.
[…]Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 4/2017, S. 447-457, hier S. 447-451.
- 3/2019 | Die Kunst des Überdauerns. Ein Gespräch mit Tomasz Różycki über Geschichte und Sprache
- 3/2021 | »Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Irit Amiel, S. 816 Leseprobe
Hartmann, Bernhard
»Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Irit Amiel
BERNHARD HARTMANN: Als Sie vor gut zwei Jahren einen Unfall hatten, habe ich Ihnen per E-Mail baldige Genesung gewünscht. Sie schrieben mir zurück: »Wir sogenannten Shoah-Überlebenden haben so etwas wie einen Sensor, einen Rettungsknopf in uns. Und immer, wenn uns etwas Schlimmes passiert, drücken wir diesen Knopf und dann ist wieder alles möglich.« Wie funktioniert das?
IRIT AMIEL: Bei mir vor allem so, daß ich nicht den Kopf verliere, wenn etwas passiert. Ich weiß, daß ich meine Kinder anrufen muß, Oni und Dita. Seit einiger Zeit habe ich auch einen echten Notrufknopf, mit dem ich den Krankenwagen alarmieren kann. Den Rest erledigt dann der Arzt … Als ich nach meinem Sturz operiert werden mußte, sah es so aus, als würde ich nicht mehr laufen können. Ich saß im Rollstuhl, aber ich habe mir vorgenommen: »Ich stehe wieder auf.« Und ich bin aufgestanden. Später hat mir ein Physiotherapeut Übungen gezeigt, eine Art Tanz, die mache ich bis heute. Mittlerweile schaffe ich wieder die zwei Kilometer in den benachbarten Park. Nicht mehr laufen? Oh nein! Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Auch nicht von der Panik, von der Angst, die uns ständig im Nacken sitzt. Außerdem habe ich Glück mit den Menschen. Vor zehn Jahren habe ich eine junge Polin kennengelernt, die zum Judentum konvertiert ist und einen Israeli geheiratet hat. Sie war nett und sehr fromm, eine bessere Jüdin als ich. Jetzt ist sie meine Assistentin. Als ich im Krankenhaus lag, suchten wir nach einer Pflegerin, damit ich weiter in meinem Haus leben konnte. Viele Bewerberinnen sprachen vor allem davon, was wie zu sein hätte, was sie bräuchten, wann sie freihaben wollten und so weiter. Bis eine Srilankerin hereinkam, sich an mein Bett setzte, kein Wort redete und mich einfach ansah, bis sie irgendwann sagte, sie würde gern bei mir bleiben, solange ich lebe. Und ich sagte: »Das möchte ich auch.« Seitdem leben wir zusammen hier.
HARTMANN: Sie wurden 1931 als Irena Librowicz in Tschenstochau geboren. Erinnern Sie sich, wie das Leben Ihrer Familie und die polnisch-jüdischen Beziehungen vor dem Krieg aussahen?
AMIEL: In Tschenstochau lebten vor dem Krieg 35 000 Juden, das war knapp ein Viertel der Stadtbevölkerung. Und beileibe nicht alle waren religiös. Meine Familie war assimiliert, bei uns wurde polnisch gesprochen. Die polnisch-jüdischen Beziehungen waren nicht sonderlich gut, an den Universitäten gab es die Ghettobänke, wer Arzt oder Lehrer werden wollte, mußte sein Judentum aufgeben. Sonst hätte er nicht studieren können. Es gab vor dem Krieg einen starken Antisemitismus in Polen und es gibt ihn bis heute, obwohl fast keine Juden mehr dort leben, weil sie von den Deutschen ermordet wurden, teils unter aktiver und bereitwilliger Mithilfe der Polen. Wie 1939 die Atmosphäre in Polen war, müssen Sie bei den Historikern nachlesen. Mir fällt es schwer, darüber zu sprechen, ich war acht, als der Krieg ausbrach.
HARTMANN: In Ihrer Autobiographie »Arbeitstitel: Leben« schreiben Sie mit großer Zuneigung über Ihre Eltern, aber auch mit einer gewissen Distanz. An einer Stelle sagen Sie, wenn nicht Krieg und Shoah gewesen wären, hätten Sie als Erwachsene sicher mit ihnen über Ihre Erziehung diskutiert, die Sie »nicht auf das Leben, auf eine selbständige Existenz vorbereitet« habe.
AMIEL: Das ist nicht leicht zu erklären, denn meine Eltern waren außergewöhnliche Menschen. Sie stammten aus Großfamilien, meine Mutter hatte sieben Geschwister, sie wußte, wie schwer es war, auf Mutters Schoß zu gelangen. Sie glaubte, man könne nur ein Kind wirklich lieben. Meinen Vater vergötterte ich, ich vertraute ihm alle Geheimnisse an. Die beiden wollten ihr Kind schützen, sie schickten es nicht zur Schule, sondern engagierten eine Hauslehrerin, damit es nicht mit dem Antisemitismus konfrontiert würde, nicht mit der Wirklichkeit, damit es sich sicher fühlte … Vor diesem Hintergrund war es um so bemerkenswerter … bemerkenswerter und mutiger, daß sie mich im September 1942 am Tag der Aktion auf die andere Seite schickten, elf war ich damals …
HARTMANN: Der »Tag der Aktion« war der Tag, an dem die Deutschen ins Ghetto kamen und Menschen verhafteten, um sie nach Treblinka zu deportieren. Damals schmuggelte Ihr Vater Sie durch ein Loch in der Wand eines Hauses an der Grenze zur sogenannten arischen Seite aus dem Ghetto.
AMIEL: Wir hatten schon vorher mehrfach versucht, aus dem Ghetto zu fliehen. Ich hatte gute Überlebenschancen, weil ich nicht jüdisch aussah. Ich hatte helles Haar, einen Zopf, mein Kindermädchen hatte mir die katholischen Gebete beigebracht. Einige frühere Versuche waren gescheitert, denn es war nicht so, daß man bei Kaffee und Gebäck zusammensaß und in Ruhe überlegte, vielleicht machen wir dies oder das. Man mußte je nach Situation schauen, was möglich war. Und an Jom Kippur ging es los, denn sie quälten uns mit Vorliebe an den Feiertagen. Und keiner, wirklich keiner ahnte … Ich erinnere mich, daß mein Bekannter Michał angefahren kam und rief: »Hört zu, sie töten die Juden!« Keiner wollte ihm glauben, die Leute sagten: »Er is meschigge gewordn.« Denn sie erinnerten sich an die Deutschen aus dem Ersten Weltkrieg, da hatte es noch geheißen: »Bitte sehr« und »Danke sehr«. Auch mein Vater zog später Arbeitsschuhe an, weil er dachte, er führe zur Zwangsarbeit.
HARTMANN: In Wirklichkeit fuhr er nach Treblinka, wo er wie Ihre Mutter ermordet wurde. Zuvor gelang es ihm aber noch, Sie vor der Deportation zu retten. In »Arbeitstitel: Leben« beschreiben Sie die Szene dieser Rettung als zweite Geburt.
AMIEL: Ja, man könnte sie aber auch ganz anders erzählen. Etwa so: Was empfindet ein Kind, wenn es weggegeben wird? Was empfindet es sein Leben lang? Es denkt sein Leben lang, Vater hat mich gerettet, und deshalb lebt jetzt der und der und der – es gibt ein Gedicht, in dem ich aufzähle, wer ihm alles das Leben verdankt. Aber es könnte auch denken, er hat es sich leichtgemacht, er hat sich mit seiner über alles geliebten, schönen und sinnlichen Frau davongemacht und ihr gesagt: »Wir können uns noch so eine Irenka machen.« Irenka hat nicht so gedacht, aber bei Saul Friedländer habe ich irgendwann gelesen, daß er seinen Eltern lange böse war, weil sie ohne ihn in die Öfen gegangen waren. Als ich das las, dachte auch ich kurz, mein Vater hätte mich verraten, weil er mich nicht mitnahm. Aber nur kurz …
HARTMANN: Nach der endgültigen Flucht aus dem Ghetto lebten Sie unter falscher Identität erst auf dem Land und später in Warschau, wo Sie 1944 Augenzeugin des Warschauer Aufstands wurden. Ihr Onkel Marian Hassenfeld half Ihnen, so gut er konnte. Sie hätten nach dem Krieg bei ihm bleiben können, aber Sie wollten nach Palästina.
AMIEL: Bei Kriegsende wußten wir noch nicht, was den Juden angetan worden war. Wir wußten von Deportationen, Lagern und Zwangsarbeit, aber bis wir die ganze Wahrheit erfuhren, habe ich jeden Tag auf meine Eltern gewartet, einen Monat lang. Währenddessen ging ich zur Schule, aber das war stinklangweilig. Ich war belesen, weil ich in jedem meiner Verstecke gelesen hatte. Wo immer sich ein Buch fand, las ich … Ich hatte verschiedene Möglichkeiten. Mein Onkel wollte mich adoptieren, aber dafür fand ich mich zu alt. Ich hätte zu Verwandten nach Kuba gehen können, und in den USA lebte eine Schwester meiner Mutter, die von der Aussicht auf Familienzuwachs freilich wenig begeistert war. Meine bevorzugte Option war eine Kibbuz-Gruppe, die erste, die gleich nach Kriegsende in Warschau entstanden war. Dort waren unter anderem meine Freundinnen, die fast alle Zwangsarbeiterinnen bei der HASAG (Hugo und Alfred Schneider AG) in Tschenstochau gewesen waren, und dort wollte ich auch hin. Allerdings stellte sich heraus, daß diese Gruppe schon nach Palästina aufgebrochen war. Doch es sollte eine neue Gruppe gebildet werden. So begann meine Reise. Ich bin von zu Hause weggelaufen, anfangs wurde ich sogar von der Polizei gesucht …
HARTMANN: Es war nicht leicht, nach Palästina zu kommen. Sie mußten sich zum Mittelmeer durchschlagen, großenteils zu Fuß, dann wurde Ihr Schiff von den Briten abgefangen und Sie saßen fast ein Jahr in einem Displaced-Persons-Lager auf Zypern fest. Insgesamt dauerte die Reise zweieinhalb Jahre. Haben Sie unterwegs nie den Mut verloren?
AMIEL: Ich war damals in einem Alter, in dem der Mensch glaubt, er sei zu allem imstande. Und ich hatte die für junge Leute typische Abenteuerlust. Zugleich war ich verzweifelt, weil ich begriffen hatte, daß es in Polen nie anders sein würde – ich wollte dem Antisemitismus entkommen, den ich nach dem Krieg erlebt hatte. Und natürlich wollte ich die Welt verbessern und beim Aufbau eines jüdischen Staats mithelfen. Die Araber und alles andere haben mich damals nicht interessiert, nur die Juden. Ich war fest überzeugt und bin es bis heute, daß es einen Ort geben muß, an dem ein Jude, dem es schlechtgeht, Zuflucht finden kann. Israel muß existieren. Selbst wenn es dazu zwei Staaten geben müßte, was auch seine Risiken hätte.
HARTMANN: Nach der Ankunft in Palästina haben Sie, wie Sie in »Arbeitstitel: Leben« schreiben, »Irenka begraben und Irit erschaffen«. Wie haben Sie die erste Zeit im neuen Land empfunden?
AMIEL: Es war ein Neuanfang und Neuanfänge sind niemals leicht. Mitten im Leben. Die Israelis damals … Der Mensch sieht immer nur das, was um ihn herum ist. Was anderswo geschieht, sind Zeitungsmeldungen. Menschen werden ermordet, aber man sieht es nicht mit eigenen Augen, man schüttelt den Kopf und sagt, wie schrecklich … Aber es ist nicht dein Leben, nicht du mußt dich verstecken, weil du sonst umgebracht wirst. Es war nicht einfach, diesen Israelis zu begegnen, die … Wir kamen aus religiös geprägten Familien, zwar nicht mehr durch unsere Eltern, aber durch die Generation unserer Großeltern. Und hier war alles ganz anders. Hier gab es Kibbuze und einen berühmten Schriftsteller, Moshe Shamir, der über seinen im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Bruder schrieb: »Elik nolad min ha yam. Elik wurde aus dem Meer geboren.« Das bedeutete, er hatte keine fromme Großmutter, keinen Großvater mit Bart, sondern gehörte zu denen, die früher hergekommen waren und die Geschichte dieses Landes verändert hatten. Sie waren melakh ha’aretz, das Salz der Erde. Ihre Eltern waren aus allen möglichen Käffern in Polen und anderswo ausgewandert, aber sie hatten inzwischen eine völlig neue Generation herangezogen. Für uns war das alles zu viel auf einmal. Wir wurden nicht freundlich oder mit Neugierde aufgenommen. Am Anfang mochte uns niemand. Die Leute waren skeptisch, sie fragten: Wieso hast ausgerechnet du überlebt? Was hast du getan, um am Leben zu bleiben? Das war nicht einfach. Trotzdem habe ich nie bereut, daß ich hierhergekommen bin.
(…)Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 3/2021, S. 308-317, hier S. 308-311
Hartmann, Sadakichi
- 6/2014 | Im Land der Düfte, S. 750 Leseprobe
Hartmann, Sadakichi
Im Land der Düfte
Leser moderner Literatur stutzen sicher öfters angesichts der ständigen Bemerkungen zum Einfluß von Gerüchen auf das menschliche Gefühlsleben und zur Möglichkeit, die Parfümkunde zu einer Kunst mit Anspruch zu erheben. Die Andeutungen der Schriftsteller sind zu spekulativ, als daß sie praktischen Wert hätten. Zumeist sind es bloß persönliche, durch den Genuß eines Parfüms entstandene Eindrücke oder vage Ideen, wie man dieses neue ästhetische Wirkungsfeld entwickeln könnte. Sie zeigen lediglich, daß es in fast allen Ländern ernstzunehmende Geister gibt, nach deren Ansicht der Geruchssinn künstlerische wie intellektuelle Aufgaben übernehmen kann.
Von einem ähnlichen Glauben getrieben, habe ich das Problem vor einigen Jahren in Angriff genommen und mich bemüht, durch private Versuche und gelegentliche Experimente im Freundeskreis zu praktischen Schlußfolgerungen zu kommen. Die wissenschaftliche Literatur war dabei wenig hilfreich, da die Schriften über die Geruchsphysiologie von Bernstein, Vintschgau, Cloquet und Ramsay – um nur die wichtigsten zu nennen – vornehmlich die physischen Grundlagen von Gerüchen und vergleichende Studien über die Geruchsorgane und die chemische Zusammensetzung von geruchsbildenden Substanzen behandeln, aber nicht die ästhetischen Möglichkeiten untersuchen.
Der einzige Beitrag, der dieses Thema ernsthaft behandelt, ist die »Toiletten-Chemie« (Chimie des parfums et fabrication des essences, odeurs, bouquets et eaux composées, émulsions, pâtes, teintures, pommades, dentifrices, poudres etc.) von Dr. Septimus Piesse, dem französischen Chemiker, der das »Octophone « erfand: eine Skala von vierundsechzig verschiedenen Gerüchen, die so angeordnet sind, daß sie mit je einer Note auf dem Klavier korrespondieren. Die Gerüche sind komplementär und können zu Harmonien komponiert werden wie Töne zu einem Akkord. Für den Parfümeur ist das Octophone eine wertvolle, quasi wissenschaftliche Orientierungshilfe, denn man muß nur einen Akkord auf dem Klavier anschlagen und wissen, welche Gerüche die Noten des Akkords repräsentieren, um einen Vorschlag für eine neue Duftnote zu erhalten. Für ästhetische Experimente ist dieses System aber nur von geringem Wert. Die Affinität zwischen Klängen und Gerüchen ist rein spekulativer Natur. Obgleich nicht abzustreiten ist, daß das tiefste E auf der Tastatur mit dem schweren, fast aufdringlichen Geruch von Patschuli korrespondiert und das dreigestrichene F mit dem weichen, aber durchdringenden Aroma von Zibet, sind so klare Übereinstimmungen für die Mehrzahl der von Dr. Piesse für seine Skala ausgewählten Duftsubstanzen unmöglich festzustellen. Ihre Beziehung zu den korrespondierenden Noten beruht ausschließlich auf Gutdünken.
Es ist offensichtlich, daß die Kunst der Duftmischung nur dann perfektioniert werden kann, wenn ihre poetische Wirksamkeit auf den physiologischen Eigenschaften des Geruchssinns beruht, und nicht auf für andere Künste gültigen Gesetzen. Das begriff ich eines Tages, als ich verschiedene neue Kompositionen ausprobierte. Die Luft war mit dem schweren, extrem stechenden Duft konzentrierter Nelke gesättigt, und der erste Eindruck, den ich davon empfing, war in seiner Aufdringlichkeit fast überwältigend. Seltsamerweise vergingen nur wenige Minuten, bis mir die duftgeschwängerte Luft absolut geruchlos erschien. Als ich weitere, mit anderen Destillaten gefüllte Flaschen öffnete (weniger stark als die der konzentrierten Nelke), konnte ich die unterschiedlichen Gerüche zu meinem großen Erstaunen klar voneinander unterscheiden. Ich hatte erwartet, daß meine Geruchsnerven für alle anderen Eindrücke abgestumpft wären.
Diese Erfahrung machte mich mit drei wichtigen physiologischen Tatsachen vertraut: 1. Der erste Moment des Kontakts mit einem Geruch ist immer der intensivste. 2. Sogar die durchdringendsten Gerüche sind für die Riechschleimhaut schon nach wenigen Minuten nicht mehr wahrzunehmen (im Gegensatz zur Seh- und zur Hörempfindung, die so lange angesprochen werden, wie die Sinneseindrücke fortbestehen). 3. Verschiedene Gerüche, die sich in derselben Atmosphäre entfalten, vermischen sich nie, sondern machen sich, je nach spezifischer Schwere und vorherrschenden Luftbewegungen, von Zeit zu Zeit bemerkbar.
Die Unfähigkeit der Nasenschleimhäute, mehr als einen Geruch auf einmal wahrzunehmen, schließt alle Versuche aus, ein Publikum mehreren Düften gleichzeitig auszusetzen. Ästhetisches Vergnügen im Bereich der Düfte kann vorerst nur durch eine Abfolge einzelner Geruchsstoffe bereitet werden, die so gestaltet ist, daß die Sequenz eine künstlerisch geformte, entfernt an eine Melodie erinnernde Einheit bildet. Abgemildert werden kann die Monotonie einer festen Reihenfolge durch Kontraste, Wiederholungen in verschiedenen Intensitätsgraden, Rhythmisierung und die allmähliche Herbeiführung einer Klimax.
Nachdem ich eine hinreichende Theorie aufgestellt hatte, begann ich mit meinen Experimenten. Meine Instrumente waren Zerstäuber mit luftdruckbetriebenen Aufsätzen, die den Duftnebel knapp neun Fuß weit versprühten, sowie Verdampfer (wie sie für medizinische Inhalationen verwendet werden) mit duftgetränkten Schwämmen. Diese eignen sich nach meiner Erfahrung für Räume, in denen ein bis zwei Dutzend Personen bequem Platz finden. Weitere Einzelheiten des Mechanismus spare ich hier aus. Mein Material umfaßte die wichtigsten Standarddüfte, aus Parfümerien bekannte ätherische Öle und Tinkturen, aber auch Balsame, chemische Verbindungen wie Cumarin, natürliche Zutaten wie Muskatblüte und verschiedene flüssige Duftstoffe, darunter ein nach Bananen riechender Lack. Bisweilen benutzte ich die Öle und Tinkturen pur, wie sie im Großhandel angeboten werden, meist verdünnte ich sie aber mit Alkohol. All diese Stoffe gehörten naturgemäß zur Klasse der angenehmen Gerüche, denn mein Vorsatz war, ausschließlich Gefühle ästhetischer Art auszulösen, nicht etwa so elementare wie Bedrückung, Furcht und religiöse Ergebenheit, die das Verbrennen von Talg, Fleisch und Weihrauch hervorrufen kann – charakteristische Empfindungen jedes antiken Opferrituals. Mein erstes Ziel war herauszufinden, wie der Geruchssinn auf eine schnelle Abfolge von Eindrücken reagieren würde.
Durch verschiedene Experimente entdeckte ich, daß es unmöglich war, in einem gewöhnlichen Raum zehn oder elf für je zweiminütige Intervalle erzeugte Düfte klar zu unterscheiden, wenn nicht ein natürlicher Luftzug oder eine eigene Einrichtung zur Luftreinigung vorhanden war. Die ersten drei verdampften Duftstoffe wurden in etwa fünfeinhalb Metern Entfernung nach fünfundvierzig Sekunden (im Durchschnitt) wahrgenommen; bei den folgenden dauerte es etwas länger, aber kaum mehr als achtzig Sekunden. Nach dem elften Parfüm hatten die verschiedenen dufttragenden Schichten die Raumluft so angereichert, daß es über zwei Minuten dauerte, bis wieder eine Veränderung bemerkt wurde, und selbst dann war gelegentliches, die Nasengänge reinigendes Schniefen notwendig, um eine gewisse Intensität wahrnehmen zu können.
Bei hinreichender Belüftung können fünfzehn bis sechzehn Gerüche unterschieden werden, danach sind die Schleimhäute überreizt und bedürfen einer beachtlichen Ruhezeit, bevor sie feinerer Differenzierungen wieder fähig sind. Strychnin, mit Zucker versetzt und als Schnupftabak eingenommen, verlängert die Empfänglichkeit der Geruchsnerven, kann jedoch nicht empfohlen werden.
Mit einem Zerstäuber verlief das Experiment weniger erfolgreich; der versprühte Duftstoff ist zu flüchtig, und obwohl er kraftvoller und damit plötzlicher auf die Schleimhaut trifft, reizt er die Nervenenden der Nasenschleimhaut nicht in gleicher Weise wie Verdunstetes. Wäßriger Dampf gibt allen Duftpartikeln bekanntermaßen mehr Kraft, wie sich leicht an Blumenbeeten beobachten läßt, die weitaus stärker riechen, sobald Sonnenstrahlen die von Regen oder Tau akkumulierte Feuchtigkeit des Bodens zerstäuben.
Diese Experimente können nur mit Gerüchen vorgenommen werden, die sich stark unterscheiden, und davon gibt es wenige. Die meisten sind zu subtil, als daß man den Wechsel merken würde. Orangen- und Magnolienblüten machen fast denselben Eindruck, und vergleichsweise wenige Menschen können zwischen Verbene und Zitrone oder Menthol und Tonkabohnen unterscheiden. Unter den zweihundert mir bekannten Duftsubstanzen – es gibt viel mehr – habe ich weniger als zehn Prozent mit einer ganz eigenen Note gefunden. Dazu gehören die wohlbekannten Gerüche Moschus, Zibet, Patschuli, Geranie, Bittermandel, Bergamotte, Wintergrün, Rosmarin, Veilchen, Tuberose, Wacholder und Nelke. Und selbst diese erkennt man nicht sofort, denn es gibt unzählige andere, die ihnen erstaunlich ähneln. Thymian und Majoran riechen wie Wacholder, Sandelholz erinnert mich an Patschuli. Zitrone und Verbene haben viel von Bergamotte. Kein Geruchsapparat kann Rosmarin von Lavendel unterscheiden, wenn sie aufeinanderfolgen, und nur wenn Lavendel zuerst kommt, scheint Rosmarin zwar ähnlich, aber durchdringender zu riechen. In einer künstlerischen Darbietung muß man darauf achten, die süßen und delikaten Parfüms zur Einführung zu wählen, die mittelschweren zur Entwicklung des Themas zu nutzen und die schärfsten und schwersten Düfte bis zuletzt aufzuheben, da sie die Eigenheiten der anderen auslöschen. Dem Kanonendonner vergleichbar, der unsere Ohren für leisere Töne taub macht, wirken purer Moschus und Patschuli lange nach und monopolisieren die Empfänglichkeit der Schleimhäute für mindestens zwei oder drei Minuten.
Nachdem wir die grundsätzlichen Schwierigkeiten untersucht haben, die mit der sukzessiven Abgabe von Duftstoffen einhergehen, können wir uns nun der emotionalen Wirkung widmen, die dadurch erzielt wird.
Die Suggestivkraft von Gerüchen ist verblüffend. Der Geruchssinn ist der emotionalste aller menschlichen Sinne. Rascher als jeder andere ruft er Gefühle und intellektuelle Assoziationen hervor, sorgt für augenblickliche Erleichterung von den prosaischen Pflichten des Lebens und erweckt Empfindungen unmittelbaren und interesselosen Wohlgefallens.
[…]
SINN UND FORM 6/2014, S. 750-759, hier S. 750-753
Aus dem Englischen von Elisa Primavera-Lévy
Hartung, Günter
- 4/1966 | Johannes Bobrowski
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Johannes Bobrowskis »Litauische Claviere«
Hartung, Harald
- 3/1992 | Gedichte
- 3/1996 | Joseph Brodsky. Um einen Dichter von außen bittend
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- 6/2015 | Provisorische Schlüsse
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- 5/2019 | Haikus des Alten
Hartwig, Helmut
- 6/2002 | Kunst und Glück
Hartwig, Ina
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- 6/2014 | Das Glückswunderkind (störrisch). Lobrede auf Ann Cotten zum Wilhelm-Lehmann-Preis
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Hartwig, Julia
- 5/2008 | Skizzen zu Zbigniew Herbert
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- 1/2011 | Gedichte
- 3/2012 | Gedichte
- 2/2014 | Wohin gehöre ich. Amerikanische Gedichte, S. 651 Leseprobe
Hartwig, Julia
Wohin gehöre ich Amerikanische Gedichte
DIESER SONNENUNTERGANG
Dieser unvergleichliche Sonnenuntergang, dargebracht im täglichen Opfer.
Ite missa est. Der Tag ist vorüber. Der dunkelnde Ozean empfängt die Hostie.
Vögel, kluge Vögel, sagt, wo ich bin.
Im Fegefeuer des Nichtseins. Am Steilufer der Hoffnung.
(1971–74)
WACHEN AN DER BUCHTSie schlief ein aber selbst im Schlaf spülte der Ozean Sand an und rauschte
von allen Farben entblößt so wie sie ihn meist bei Tagesanbruch sah
Der Wind rüttelte an der Tür und schlug an die Fensterläden
Auf dem Stuhl ein hingeworfener Band mit Schauergeschichten
und die Zeitung mit dem aufmerksam studierten Polizeibericht
Die Furcht wohnte in ihr
wie ein Stein den noch immer Wasserrauschen umspült
Eine Frau mit offenem Haar
und im fußlangen Arbeitsrock
verbrennt Laub vom letzten Jahr das sie achtsam zur Mitte des Feuers kehrt
In ihrem Rücken der Ozean
Er versucht sie bei jeder Ebbe mit sich zu reißen
als wäre sie die Geisel eines geheimen
in der Vergangenheit geschlossenen Pakts
Mit dem Ozean leben heißt leben zwischen der täglichen Angst
und der Angst die wie ein unter den Wellen verborgener Fels
die Ablagerungen der seit Jahrtausenden von Ozean
Wind riesigen Fischen und Vögeln herangetragenen Ängste erkennen läßt
Aber jeder muß sich irgendwann einem Element hingeben
ihm Treue schwören
Warum nur wußte ich nicht daß der Ozean schon dort war
vor dem Fenster meines alten Hauses
Muß man deshalb bis ans andere Ende der Welt fahren
ans gegenüberliegende Ufer
(1970–74)
WIE DEN ORT EHRENEin Schriftzug markiert die hier verlaufende Wasserscheide
zwischen Pazifik und Atlantik
Ein Fluß der in dieser Gegend entspringt
muß sich gut überlegen
welchem der beiden Ozeane er angehören will
zu welcher Mutter er sich bekennt
in wessen Schlund er für immer verschwinden
und seinen Namen verlieren will
Wie diesen einzigartigen Ort ehren
mit einem Schrei mit Stille
Ich stehe auf der Wasserscheide
wie auf dem Rücken eines breitbeinigen Bisons
den die Sonne blendet Die Fluten des Regens
fließen an seinen zwei glänzenden Seiten hinab
Ich aber
wohin gehöre ich
(1979)
STÄDTISCHES WIEGENLIEDAbend in der Stadt Die Bahnsteige glänzen
die Subway ist randvoll beladen
mit Müdigkeit und Schlaf
auf die Sichtschutzzäune malt jemand nachts
kämpfend ineinander verschlungene Lettern
Hinter dir Schritte in der dunklen Straße
nachmittags eine Schießerei in der Bar
das leuchtende Chrom der Auslagen und Glassplitter
der Rettungswagen verschluckt ächzend die Trage
unter der graubraunen Decke eine reglose weiße Gestalt
Von oben schauen spottende Wolkenkratzer auf uns herab
ihnen vertrauen wir uns zur Nachtruhe an
in den Schlaf wiegt uns das Brummen des Ventilators
der mit den Flügeln schlagende metallene Vogel
Frühmorgens wecken uns von der Straße Sirenen
und die Kräne stecken ihre Köpfe ins Fenster
die weißglühende Sonne blendet wie Quecksilber
aber du findest keinen Schutz unter dem Baum
der abgenagt ist wie das Skelett eines Fisches
Gehe vorwärts spute dich einsamer Passant
hinter dir der spöttische Schatten
in dir die blutende Zeit
(1983)
SCHWARZER COMIC
Shine ist ein kleiner schwarzer Junge aus einem Comic
Seine besondere Eigenschaft ist die Unsterblichkeit
Wenn Shine unsterblich ist
muß sein Vater dann sterben
Ja alle anderen sterben
nur Shine ist unsterblich
Jetzt fliegt er einen Düsenjäger
und seine Geschwindigkeit
übertrifft alle bisherigen Rekorde
Neben mir sitzt ein junger Schwarzer
er hört eine Vorlesung über schwarze Literatur
Auf dem Pult vor ihm die zerknitterte Cellophan-Hülle
eines Stücks Rocky-Road-Schokolade aus dem Automaten
eine zerrissene Kekspackung
und ein zerknüllter Cola-Pappbecher
Er lauscht so gebannt daß sein Mund die Wörter nachformt
die der Dozent spricht
man kann den Blick kaum von seinem lebhaften Gesicht abwenden
Der Dozent liest jetzt das Gedicht einer schwarzen Dichterin vor
es handelt von einem samstäglichen Fest in ihrem Elternhaus im Süden
Die Mutter hat Brot gebacken ein alter Phonograph spielt
die Kinder tanzen und springen festlich gekleidet umher
die Großmutter steht lächelnd mit dem Braten in der Tür
der kranke Großvater stützt sich in seinem Holzbett auf die Ellbogen
und bewegt den Kopf im Takt der Musik
Den Studenten gefällt das Gedicht sie klatschen Beifall
Aber jetzt ist wieder die Rede von Shine
dem mythischen Comichelden
Der junge Student in der Aula weiß er ist Shine
und alles woran er denkt ist möglich
(1970–1974)
GLÜCK
Ein Sonntag nachmittag
Über dem East River das graue Netz des Himmels
und kreisende Möwen
Eine alte Frau setzt sich auf eine Bank
und stemmt die Fersen der starr ausgestreckten Beine in den Boden
Wonne Der Sonntag gleitet dahin wie ein Motorboot
und versprüht silbernes Licht
Ein Schwarzer mit Hut regt sich auf
Liza läßt immer alles fallen
und jetzt muß man Schlüssel Notizbuch Schminke
aus dem Laub sammeln
Die alte Frau döst mit offenen Augen
Der Anblick des Flusses und der Passanten
fällt in sie hinein wie in einen vergessenen Briefkasten
Ach welche Wonne
Nichts ängstigt sie sie muß nirgends hineilen
der Wind zaust sanft das graue Haar über der Stirn
(1986)
GEDANKEN ÜBER DEM BUCH EINES JUNGEN DICHTERS
Das Zimmermädchen wird sich am Morgen wundern
wenn es neben dem Hotelbett dieses Buch findet
denn ich werde es wohl hierlassen
weil meine Koffer schon randvoll gepackt sind
Ich wäge aber trotzdem noch einmal die Last des Bandes
gegen das Gewicht der darin enthaltenen Gedichte
Er ist ja in seinen Versuchen wahrhaftig
wenn ich trotz der Julihitze
an den Schneeregen im November glaubte
der ihn nach dem Verlust seines Mädchens in die Bar trieb
und an den Morgen an dem er plötzlich begriff
wie wenig ihm sein Elternhaus noch bedeutete
also packte er seine Sachen und verließ es für immer
Später lebte er von Gelegenheitsjobs
lebte schnell und erwachte am Boden der Gleichgültigkeit
mit dem Wunsch einzuschlafen und nie mehr zu erwachen
all das hat er bestimmt nicht aus einem fremden Leben gestohlen
auch nicht die Gedichte aus fremden Gedichten
Ist das nicht Grund genug das Buch zu behalten?
Loslassen war noch nie meine Stärke
alles was mir begegnet trage ich in mir
wie etwas Hinterlegtes das auf den verspäteten Besitzer wartet
Vielleicht haben ja diejenigen recht
die sich leicht von allem Überflüssigen befreien
und direkt auf ihr Ziel zusteuern
Sie lachen bestimmt über mein Abwägen
(1979)
EMILY DICKINSON
Zwei kurze Strophen Beide lassen sich notieren
zwischen dem Aufschlagen der Eier fürs Omelett und dem Erhitzen der Pfanne
Die Inspiration kam von Sonntagspredigten
vom Duft des Klees und von Grabinschriften
Ich bin Niemand – schrieb sie morgens am Fenster
vor dem wie ein Vorhang der Nebel Neuenglands sich senkte
von den rostroten Eichen des Herbstes
Diejenigen die deine Notizen fanden
wußten nicht was sie damit anfangen sollten so viele waren es
Man nahm die Meisterwerke heraus
wie Kastanien aus dem Feuer
(1990)
ZUM ENTSATZ
Allein, allein! Ich bin glücklich allein!
– ruft der Dichter William Carlos Williams während er nackt vor dem Spiegel tanzt
Glücklich allein! Aber oben im Hinterzimmer
schlafen seine Frau Kathleen das Kind und das junge Kindermädchen
alle bereit herbeizueilen
wenn er nur nach ihnen riefe
(1997)
BEIM ÜBERSETZEN DER WERKE AMERIKANISCHER DICHTERUmzüge wie diese gefallen ihnen bestimmt nicht
aus Long Island Santa Barbara oder dem Buchladen Lightning House in
San Francisco
aus der Trapperhütte am klaren Fluß in Pate Valley
aus den Betten in denen sie noch halb schlafend liegen
aus verrauchten Tavernen und Klubs
aus Motels wo sie nach einem Tagesmarsch durch ein sumpfiges Tal müde
die Stiefel abstreifen
von der abgelegenen Farm in Missouri aus dem wohlhabenden Haus inWashington
aus der Nachtbar in New York
und sie rebellieren jetzt gegen die unerbetene Umsiedelung
nach Osteuropa von dem sie so wenig wissen
obwohl ja nicht ihr selbst zu uns kamt sondern nur eure Gedichte
und ihr wißt nicht welch warmer Empfang ihnen zuteil wurde
aus Gründen die ich nur raten kann ohne ganz sicher zu sein:
weil ihr in ihnen eure Sorgen und eure Eitelkeiten respektiert
eure Krankheiten und eure Lächerlichkeiten eure Autos und eure Blumen
eure Reisen und die unterwegs gesammelten Landschaften
euren Haß auf die großen Städte und das Berauschtsein von ihnen
Chicago New York New Orleans Golden Gate und Brooklyn Bridge
Namen von denen europäische Schuljungen seit Jahren träumten
verbunden mit der Hoffnung auf große Veränderungen und Ruhm
und genau das ist die Mitgift die ihr beisteuert
in Gedichten die nicht auf Größe zielen sondern den Alltag zeigen
mit den Augen eines Farmers Neurasthenikers und Hypochonders
einer vom Leben trunkenen Nymphomanin und Landstreicherin
oder eines von einer Gang von Fehlschlägen und Unglücken Verfolgten
eines auf seine Demokratie Stolzen der ihren Mißbrauch verdammt
Wie großartig wenn man frei ist sein Land zu betrachten
wie einen Menschen dessen Vorzüge und Schwächen man ohne Furcht
erörtern kann
(1998)
BEGEGNUNG
Der Brooklyn Park ist erfüllt
von Seidenkaftanen und schwarzen Hüten
Unter den blühenden Bäumen
ziehen sie im Kreis ihrer Familien ruhig und gesammelt vorbei
wie in einem geträumten langsamen Film
Es sind gerade die Feiertage
Passover
Festlich gekleidete Kinder
junge Männer und kleine Buben mit Kippas
auf hellem und dunklem Haar
Mädchen in festlichen Kleidern
in denen sie aussehen wie englische Königskinder
Meine schönen Juden! Ich betrachte euch durch die Folie meines eigenen Lebens
in dem auch eure Geschichte enthalten war
Ich sah euch ganz anders
getrieben durch die Straßen von Lublin und Warschau
in der schlimmsten Zeit der Vernichtung
Euch hier zu sehen
wie ihr sicher zwischen Blüten und Grün spaziert
ist für einen Zeugen jener Tage ein tröstlicher Anblick
(1998)
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2014, S. 196-202 - 2/2014 | »Es gibt eine Poesie der Ordnung und eine Poesie des Wahns«. Aus dem Tagebuch 2008
- 1/2016 | Unsterbliche Einsamkeit. Gedichte
Harzer, Friedmann
- 3/2001 | ... auf Rücken und Achseln staubig und sogar fleckig. Franz Kafka bei Rudolf Steiner
Hasenclever, Walter
- 3/1964 | Zeit und Dichtung. Ein Dialog zwischen Rudolf Leonhard und Walter Hasenclever
Haslinger, Josef
- 1/1987 | Auf der Suche nach der österreichischen Literatur des letzten Jahrzents
- 5/1990 | Ich habe noch unter Jandl gedient
- 1/1992 | Ich Blindgänger
- 2/1993 | Jüdisches Wien. Ein Versuch über Antisemitismus und Verantwortung
Hatfield, Henry
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Notizen zum Zauberberg
Haufe, Eberhard
- 3/1982 | Zu Bobrowskis Erzählung »Im Gefangenenlager«
Haufs, Rolf
Hauptmann, Elisabeth
- 1-2-3/1957 | Notizen über Brechts Arbeit 1926
- 3/1977 | Geschichten
- 2/2021 | »2 × sehr über ihn geärgert«. Tagebuchaufzeichnungen zu Brecht. Mit einer Vorbemerkung von Martin Kölbel und Peter Villwock
Hauptmann, Gerhart
- 1/1949 | Traum
Hauptmann, Helmut
- 5/1969 | Festival
Hauranija, Saiid
- 5/1971 | Der Säufer ist zurückgekehrt
Hauschke, Jürgen
- 2/1985 | »Fachlektor« kontra Brezan oder Schwierigkeiten mit Krabat
Hauser, Harald
Hauser, Heinrich
- 1/2012 | Die schlechten Mädchen von Hamburg. Texte aus dem Nachlaß, S. 43 Leseprobe
Hauser, Heinrich
Die schlechten Mädchen von Hamburg. Texte aus dem Nachlaß
Vorbemerkung
Wir wissen nicht genau, wann Heinrich Hauser (1901–1955) diese Texte geschrieben hat, doch wir wissen, an wen sie gerichtet waren. »Mein Junge«, das ist Hausers Sohn Huc, der 1933 in Deutschland geboren wurde. Und wir wissen, weshalb Hauser sie auf englisch geschrieben hat: Huc Hauser hätte sie auf deutsch nicht verstanden. Der Vater mußte sich also einer fremden Sprache bedienen, um dem Sohn von seiner Vergangenheit zu erzählen. Wie kam das?
Wie so vieles hat das mit dem »Riß der Zeit« (Hertha Pauli) zu tun, jenem Riß, der sich 1933 auftat. Hauser war damals als Autor durchaus erfolgreich, besonders seine Reisebücher über das Ruhrgebiet, den Osten der USA, Australien, Kanada und die Balkanländer erzielten hohe Auflagen. Er drehte Filme ("Eine Weltstadt in Flegeljahren « über Chicago und »Die letzten Segelschiffe«), schrieb die Firmengeschichte von Opel, war Opel-Testfahrer, arbeitete als Redakteur bei der Frankfurter Zeitung, übersetzte Liam O’Flaherty. Zunächst war er alles andere als ein Gegner des Nationalsozialismus, sein Buch »Ein Mann lernt fliegen« (1933) widmete er gar Hermann Göring, was zum Bruch mit seinem Verlag, S. Fischer, führte. Aber er lernte schnell: 1938 brachte er seine beiden Kinder, Huc und Helen, nach New York, wohin ihre Mutter, Ursula Bier, bereits ausgereist war. Und 1939 emigrierte er selbst. Er glaubte nicht, daß seine Kinder nach Deutschland zurückkehren würden, und ließ sie als Amerikaner aufwachsen. Diese Zeit hat er später in einem unveröffentlichten Romanmanuskript geschildert, das »Zwischen zwei Welten« heißt und demnächst als Buch erscheint.
Hauser hatte es nicht leicht in den USA, als Autor konnte er sich nicht durchsetzen. Er schrieb für Zeitschriften, nahm Gelegenheitsarbeiten an und kaufte schließlich eine Farm in der Nähe von Albany, New York. Die Kinder kamen auf ein Internat, von seiner Frau hatte er sich getrennt und lebte mit seiner ehemaligen Sekretärin, Rita Laurösch, die mit ihm aus Deutschland emigriert war.
Um das Aufenthaltsrecht zu bekommen, heiratet er eine Amerikanerin, die Ehe wird bald wieder geschieden, und 1945 heiratet er Rita Laurösch. Hauser schreibt eine Artikelserie für das Magazin »Fortune«, »Hitler versus Germany«, und veröffentlicht 1945 eine Polemik gegen das in seinen Augen dekadente amerikanische System: »The German Talks Back«. Darin bezieht er sich auf die preußischen Tugenden, von denen er sich einen Neuanfang für Deutschland erhofft. Er verkehrt in konservativen Emigrantenkreisen, ist u. a. mit George Grosz befreundet. Immer ist ihm klar, daß er nach Kriegsende wieder in Deutschland leben wird, daher nimmt er 1948 das Angebot von Henri Nannen an, Chefredakteur des »Stern« zu werden. Er verläßt seine Farm – nunmehr am Mississippi –, die sein Sohn Huc später verkaufen wird, und zieht nach Duisburg. Die Anstellung endet jedoch schon nach wenigen Wochen, Hauser ist zu unberechenbar und unstet für eine solche Arbeit. Der Versuch einer Rückkehr in die USA scheitert, er hält sich mit Reportagen über Wasser, schreibt erneut eine Firmenschrift für Opel und ein Buch über die deutsche Industrie. Zuletzt lebt er in Dießen am Ammersee, wo er unter ungeklärten Umständen am 25. März 1955 stirbt.Stefan Weidle
IKARUS, IKARUS!
Als ich ein Junge war, mein Junge
Brachen die Tage des Fliegens gerade erst an
Die »Flugdrachen«, wie wir sie nannten, sahen aus wie eine Mischung
Aus Regenschirmen, Kastendrachen und Sonnensegeln
Mit Kinderwagen, Klavieren und Fahrradrahmen.
Die Vogelmenschen, auch »aviateurs« genannt,
Trugen Lederjacken, Schutzbrillen und um den Hals riesige Schals
Deren flatternde Enden immer
In den Propeller oder das Steuerruder gerieten.
Du hättest gelacht, mein Junge
Wenn du diese komischen Ungeheuer gesehen hättest
Wie sie auf dem Boden schnaubten und mahlten, dröhnend, Feuer rülpsend,
Und in die Luft rumpelten, wobei sie wie Seiltänzer
Um ihr Gleichgewicht kämpften,
Und wie sie dann landeten wie eine Heuschrecke mit gebrochenem Bein
Mit dem Krach eines zusammenbrechenden Hühnerstalls.
Und doch:
Als ich ein Junge war, mein Junge
Träumten wir vom Fliegen
Nicht wie du heute von fliegenden Güterwagen und Ozeanriesen mit Flügeln
Die mit der brutalen Kraft zahlloser PS die Räume durchmessen
Sondern davon, ganz leicht zu sein, wie Bambus und Aluminium
Und gleichzeitig sehr stark, wie die Flügelmuskeln der Vögel
Damit wir fliegen könnten – wie Vögel.
Für dich muß das verrückt klingen, mein Junge
Aber ich habe hart trainiert
Immer weniger gegessen und die Armmuskulatur gestärkt
Damit meine Arme kraftvoll die Luft mit Flügeln schlagen könnten
Sprang über Hecken mit der Vision, irgendwie magisch
In der Luft bleiben zu können, schwebend.
Aus Bambus und Bettlaken habe ich mir heimlich Flügel gebaut
Die ich in einem Feld versteckte.
Nachts schlüpfte ich dann ins Freie, um zu fliegen
Breitete die Flügel aus und rannte einen Hügel hinab
Der Bambus bog sich, die Drähte sangen, das Laken blähte sich
Ich spürte die aufsteigende Kraft des Windes
Fühlte den geheimnisvollen Magnetismus des Mondes
Der mich anzog, die Schwerkraft ließ nach
Ich spürte den Reiz der Gefahr, die Süße des Verbotenen
Die Hand des Todes auf meiner Schulter mit knotig-harten Bambusfingern
Du, mein Junge
Denkst an Düsenantrieb und Überschallgeschwindigkeit
Kannst du dir vorstellen, wie es war, wenn man selbst zu fliegen versuchte,
Als ich ein Junge war?
Jeden Sommerabend bei Sonnenuntergang
Befielen mich ein eigenartiges, verrücktes Glücksgefühl und der Drang,
Herauszufinden, wie nahe ich dem Ideal des Vogelmenschen gekommen war.
Die hohe, mächtige Douglastanne schien zu winken
Mit einem Riesensatz sprang ich auf ihren untersten Ast
Und verschwand so schnell wie ein Eichhörnchen in ihr
Froh, dem Käfig des Bodens entronnen zu sein.
In dem weiten Nadelzelt, dem dunklen und duftenden,
Kletterte ich höher und höher
Hob meinen Körper und spürte, wie er gehoben wurde, gewichtslos, mühelos
Mein Wesen veränderte sich
Ich war kein Junge mehr, sondern ein Eichhörnchen
Kein Eichhörnchen mehr, sondern ein Vogel.
Als Vogel spürte ich keine Schwerkraft
Als Vogel erreichte ich den Wipfel
Brach durch das Nadeldach und ruhte mich aus
In der Fülle der letzten Sonnenstrahlen, weit über der dunkelnden Erde
Weit, weit weg schaukelte ich
Im Äther der Freiheit.
Saß da, ins Dunkel gewandt
Schaute über weite, endlos weite Horizonte
Schaute über Himmel, unendliche Himmel
Schaute hinab auf die schwankenden Zweige meines Baums
Wie Segel bauschten sie sich und segelten mit den Wolken
Ich schaukelte mit der Baumspitze, schwang im Wind
Ich öffnete den Mund, um den Wind in mich einzulassen
Und ein jubelnder Schrei antwortete ihm
Oh, Vogel zu sein unter Vögeln; wie wunderbar war das
Nur einer saß noch höher als ich
Ein Rotkehlchen, das seine rote Brust aufplusterte und sein Abendgebet sang:
"Ich danke dir, mein Gott, danke dir für diesen schönen Tag"
Unter mir gurrten die Waldtauben schläfrig aneinandergelehnt
Den Kopf unter die Flügel gesteckt
Über mir im Himmel
Flatterten nur noch Fledermäuse lautlos unter den Sternen
Und an mein Ohr drang die Stimme des Versuchers:
"Wenn Gott einer kleinen Maus die Gabe verliehen hat zu fliegen
Weshalb dann nicht auch dir?
Versuche es! Breite deine Arme aus; sie sind Flügel
Laß los
Und du wirst dich über die Welt
Erheben, wie du es dir wünschst
Laß los
Du wirst schweben und in immer größeren Spiralen
Auf die Wiese hinabgleiten und weich landen
Es ist wundervoll zu fliegen; Ikarus, o Ikarus!
Versuche es! Laß dich los, laß los!«
Du, mein Junge,
Der du alles über Schwerkraft und Aerodynamik weißt
Grinst du oder verstehst du,
Daß ich fast nachgegeben hätte, daß ich fast losgelassen hätte?
So tief waren die Träume, so süß waren die Träume
Als ich ein Junge war, mein Junge.
DIE SCHLECHTEN MÄDCHEN VON HAMBURG
Steht die Reeperbahn noch auf dem Pinnasberg?
Hat die »Große Freiheit« überlebt, Hamburgs Barbary Coast, oder vielleicht
sogar die »Kleine Freiheit«, ihre Schwester?
Ist das Alkazar noch da? Tropft das Neonlicht noch von den roten Herzen seiner
Fassade?
Das Rad der roten Windmühle, leuchtet es noch in der Nacht von St. Pauli?
Und die Laternen des New China, schwingen sie noch im Wind?
Und was ist mit dem Eldorado, dem Piccadilly, dem Hippodrom, der Blauen
Grotte und all den anderen,
Beinah wie die Sterne unendlich vielen, die einst der Himmel der Matrosen
waren?
Schlafen die Reporter alle? Warum sagen sie uns nicht, was Millionen Seemänner
wissen wollen?
Und noch wichtiger: Fahren sie noch vom Holstentor hoch und radeln die
Palmaille entlang
Bei Geschäftsschluß, Hamburgs hübsche Mädchen auf Fahrrädern, Tausende
Ganze Armeen, unbesiegbar unter den Goldhelmen ihrer Haare?
Stolz trugen sie ihre Farben, das Milch und Blut ihrer Haut, die Nase hoch in
der Luft, die Röcke sehr kurz.
Diese unwiderstehlichen Armeen langer seidiger Beine, galoppieren sie noch
über die Herzen der Männer, die mit Schiffen übers Meer kamen?
Nein, die Reporter haben nicht geschlafen; sie haben die Geschichte erzählt –
alles, was es da zu sagen gab
Von einer Stadt, in der letztes Jahr noch eine Million Menschen lebten
Vom größten Hafen des Kontinents, der großen alten Mätresse der Meere
Von einer Stadt, die von den Seemännern der Welt geliebt wurde wie nur wenige
Ein Telegramm von fünf Worten erzählte die Geschichte:
"Hamburg zu neunzig Prozent zerstört – stop"
Das beantwortet alle unsere Fragen endgültig: nach den Schiffen, den Werften,
Den mittelalterlichen Gebäuden, nach den Lichtern St. Paulis und der Reeperbahn
Nach der »Großen« wie der »Kleinen Freiheit« und nach den hübschen Mädchen
Und, ja, auch die nach den schlechten Mädchen
Die schlechten Mädchen von Hamburg; das älteste Gewerbe der Welt, dauerhafter
als Metall
Einige werden natürlich überleben
Und sie werden mit den britischen Seeleuten schlafen, wie sie es immer getan
haben: Business as usual
Aber im Gestank der Kadaver unter dem Schutt toter Straßen
Nur wir, die wir uns an die Süße der Gewürze und den sauberen Geruch
geteerter Taue in Hamburgs Straßen erinnern
Nur wir, die das frohe Brausen des Blutes wie Wein in unseren Adern gespürt
haben
Wenn die lange Reise nach Hause mit dem großen Sprung vom Fährboot an
Land endete
Nur wir werden uns an die schlechten Mädchen von Hamburg, an unsere
Mädchen, an unsere kleinen Alliierten erinnern
Mit Zärtlichkeit und mit einem Verständnis jenseits der Worte, wie an verlorene
Schwestern
Wir sehen sie vor unserem geistigen Auge mit einem Heiligenschein im grünen
Gaslicht der Reeperbahn
Wie sie da standen oder gingen und die Hüften schwangen in Schnee und Regen
In ihren knappen Kleidchen, wie bunte kleine Vögel, verlorene Vögelchen, die
im Nebel des Nordens ihre Richtung verloren haben
Sie lächelten die Männer an, Hoffnung und Trauer im Gesicht, und doch war
es ein süßes Lächeln
Ihr Heiligenschein war allerdings nicht der einer Maria Magdalena, noch
interessierten sich die Matrosen überhaupt für Heiligkeit
Wahr bleibt, oft – sehr oft – gabelte der Seemann ein Mädchen auf, weil er
Ja, weil er Sex wollte, doch auch aus anderen, nobleren Gründen, etwa:
"Ich muß dieses Kind aus dem Regen holen, es erkältet sich sonst.«
Und wahr ist auch, daß ein schlechtes Mädchen oft – sehr oft – die ganze
Nacht aufblieb
Um für den schlafenden Seemann Socken zu stopfen, Knöpfe anzunähen, einfach
aus Nettigkeit
Sie schrieb für ihn auch jenen Brief nach Hause, den er selbst so unendlich
schwer zu schreiben fand
Fühlte wie eine Mutter, während sie an die Mutter schrieb, an seine, die ihres
Mannes – wenn auch nur für eine Nacht.
Und wahr ist auch, daß an der Mauer von St.Katharinen
Vor Tagesanbruch immer Kerzen brannten
Und in der Nische des Erlösers knieten immer einige der schlechten Mädchen
von Hamburg und beteten um Vergebung ihrer Sünden.
"Sie haben ihre Körper verkauft, ja, aber nicht ihre Seelen. Sie hatten ihren
Stolz«, sagen die Seemänner.
"Und zur Hölle mit allen Heuchlern!«
"Nur diese Frauen hatten einen Platz für uns in ihren Herzen«, sagen die
Seemänner.
"Und zur Hölle mit allen Heuchlern!«
"Sie waren nicht schlecht, einfach nur einsame Mädchen, wie wir einsame
Männer waren«, sagen die Seemänner.
"Und zur Hölle mit allen Heuchlern!«
Wir haben vielleicht keinen allzu starken Glauben, wir Wanderer der Meere,
doch glauben wir fest und für immer an:
Die Liedchen, die sie immer summten oder sangen – mit uns oder allein –, die
schlechten Mädchen von Hamburg
Diese rührseligen Balladen, so voller Stolz und eigenartiger Trauer, wie:
"In Hamburg, da bin ich gewesen, in Samt und Seide gehüllt.
Meinen Namen, den darf ich nicht nennen,
denn ich bin ja ein Mädchen für Geld.«
Oder das wehmütige alte Lied von der Reeperbahn:
"Komm doch, liebe Kleine, sei die Meine, sag nicht nein!
Du sollst bis morgen früh um neune meine kleine Liebste sein.«
Es gab auf der Reeperbahn ein kleines japanisches Restaurant, mein Junge,
lange vor deiner Geburt
Dort servierte man die Speisen roh, und auf jedem Tisch gab es einen kleinen
Gasherd
Immer, wenn ich an Land war, mein Junge, ging ich mit einem Mädchen
namens Carla dorthin
Sie war ein schlechtes Mädchen, mein Junge, eine »fille de joie«, wie die
Leute sagen – mit so viel bitterer Ironie
Aber ich habe nie ein Gesicht gesehen, das auch nur halb so glücklich, halb
so leuchtend war wie das der schlechten Carla
Wenn sie auf ihrem »eigenen« Herd ihr »eigenes« Essen kochte und so tun
konnte,
Nur für eine Stunde so tun konnte, als hätte sie ein Zuhause und einen Mann,
für den sie sorgte, wie eine ehrbare Hausfrau
Und zur Hölle mit allen Heuchlern, mein Junge! Ich schäme mich nicht wegen
Carla und werde das nie tun
Aber dann, als ich sie zum letzten Mal sah, nachdem sie mir ein Brieflein
geschickt hatte, in dem nur stand: »Ich bin krank, mein Freund"
Da habe ich mich geschämt, mein Junge, entsetzlich geschämt; denn in ihrem
heruntergekommenen kleinen Zimmer
Lag ein Mädchen, das seines Lebens müde geworden war, lag da im Todesschlaf
Und während die Schatten durch dieses elende Loch wanderten, sah ich mich
um, mein Junge, von einem leblosen Gesicht zum nächsten.
Denn rund um ihr Bett waren ihre Puppen versammelt, Teddybären und andere
Stofftiere, langbeinige abartige Marionetten
Sie alle hielten Taschentücher Carlas. Ich fand das seltsam und konnte es mir
nicht erklären
Bis ich einen Zettel las, den sie an ihren Nachttisch geheftet hatte:
"Niemand sonst wird um mich weinen – deshalb!«
Seemänner weinen nicht, mein Junge, und laß dir versichern: Ich habe damals
nicht geweint.
Doch nun scheint es mir, daß ich an sie erinnern muß, an Carla
Und all ihre Schwestern, die schlechten Mädchen von Hamburg
Untergegangen sind sie für immer
Im Bombenhagel
DIE GLOCKEN VON VINETA
Als du noch ein kleiner Junge warst
Und wir in einem Landhaus lebten, das nicht mehr steht
Am Hamburger Hafen, der nicht mehr steht
In der bombenverwüsteten Alten Welt
Da hast du mich immer nach Geschichten gefragt, Geschichten vom Meer,
weißt du noch?
Wenn du im dunklen Zimmer im Bett lagst
Und wir gemeinsam hinausschauten
Über die Hafenlichter hinweg und unsere Schiffe zählten wie Schafe:
Die Liniendampfer, wandernde, hell erleuchtete Straßen; die schummrigen
Frachter, die hochmastigen Segelschiffe, die wie dunkle Kathedralen
hinein und hinaus glitten und seltsame Muster aus glänzenden Wirbeln
Über die schwarzen Wasser der Abendflut webten.
Ich weiß, ich habe dir von meiner Zeit auf See erzählt, doch niemals dies:
Wie ich einst
Die Glocken von Vineta hörte.
Ich hatte auf einem Holzschoner angeheuert, einem kleinen, altmodischen
Schiff namens »Sundvall«.
Wir pendelten zwischen Schweden und der deutschen Küste mit einer fünfköpfigen
Mannschaft
Der Kapitän und seine Frau, zwei Söhne – und ich, der Jüngste.
Die ganze Nacht hatten wir bei nachlassendem Wind gegen die Strömung laviert
Bis wir in Sichtweite des Hafens in eine Flaute gerieten und vor Anker gingen
An einem Ostermorgen, meinem ersten Ostern auf See.
Seither habe ich Ostern auf allen Weltmeeren erlebt; doch blieb sich alles
immer gleich an diesen seltsamsten der Tage:
Flaute, die Natur ist voller Trauer, aus der Brust des Meeres steigen Seufzer auf
Auf den grauen Schiefer des Himmels schreiben Möwenflügel,
Schmerz und Klage sind ihre Schreie
Die Segel hängen schlaff, die Seeleute schweigen
Verloren in Gedanken an Golgatha
Wir saßen an Deck, jeder für sich, der Kapitän mit seiner Bibel
Ein Junge schneuzte die Laternen, einer flickte ein Segel, ich überprüfte die
Angelschnüre,
Als ich plötzlich etwas zu hören glaubte:
Kirchenglocken.
"Läutet irgendwo jemand die Glocken?«
"Ausgeschlossen; das Meer tut das nicht.«
"Vielleicht eine Kirche an Land?«
"Ausgeschlossen. Wir haben keinen Wind.«
"Was ist es dann?«
Der Kapitän hob sein graues Haupt: »Ich höre es auch.
Das sind die Silberglocken
Das sind die Glocken, die in der Tiefe läuten
Das sind die Glocken von Vineta.
Es gab da einst eine Stadt, vielleicht genau hier,
Vielleicht steckt unser Anker in ihren alten Mauern; Vineta hieß sie
Sie war so reich, daß sie die Glocken ihrer Kathedrale aus Silber goß
Sie war so stolz, daß ihre Pferde aus silbernen Trögen tranken
Deshalb sandte der erzürnte Gott eine Flut, ihrer Sünden wegen
Versank die Stadt, das alte Vineta. Vor Urzeiten
habe ich jemanden sagen hören:
Manchmal steigt sie auf
Manchmal, mit läutenden Glocken, steigt das alte Vineta aus der Tiefe nach
oben
Und man hörte die Glocken an einem Sonntagmorgen.«
Wir lachten nicht; wir lauschten
Es kam und ging
Unerklärlich, geisterhaft, zwischen dem Grau des Meeres und des Himmels
Wogte der Klang der Silberglocken
Und vielleicht sahen auch andere, was ich als eine Erscheinung wahrnahm:
Kirchturmspitzen voller Grünspan erhoben sich
Unter Wasserkaskaden
Und Mauern und Marktplätze, auf denen sich
Pelzgekleidete Handelsfürsten drängten
Meerwasser troff aus ihren Bärten und von ihren Goldketten
Hob und senkte sich
Mit jedem Atemzug der grauen Ostseebrust.
Das ist die Art von Geschichten, die ich dir nicht erzählt habe
Als du noch klein warst, mein Junge
Das ist die Art von Geschichten, die noch zu erzählen bleiben
Wenn ich am Spätnachmittag meines Lebens zurück muß
Aus der Neuen Welt in die Alte – in mein Vineta
In die Vinetas meines Landes und meiner Generation, die unter den Bomben
versanken.
Nicht alle handeln von Schiffen und Meer; die meisten handeln von
Straßen, Häusern, Menschen, die nicht mehr sind
Die es so nie mehr geben wird.
Von einer toten Welt, einem erloschenen Stern, von dem ich noch einen flüchtigen
Eindruck, ein Flackern, einen letzten Funken zu erhaschen suche
Um ihn dir zu reichen über den tiefen Abgrund hinweg
Von einer Welt zur anderen, von einem Zeitalter zum anderen
Ich bin es, der die Glocken läutet, unten in der Tiefe
Die Glocken von Vineta
Ich wünsche so sehr, daß ihr Klang dich erreicht
An einem Ostermorgen.Aus dem Englischen von Stefan Weidle
SINN UND FORM 1/2012, S. 43-52
Hazlitt, William
- 3/1949 | Die indischen Gaukler
He, Jin
- 6/1989 | Das Wiedersehen
Heaney, Seamus
Hebel, Johann Peter
- 1/2011 | Eine vergessene Kalendergeschichte. Mit einer Vorbemerkung von Heinz Härtl
Hebengge
- 3/2006 | Nachtgespräche
Heckmann, Herbert
- 5-6/1962 | Gedichte
Hegewald, Wolfgang
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Heidegger, Martin
- 1/2006 | Briefe an Sophie Dorothee und Clemens Podewils
Heidenreich, Felix
- 2/2024 | »Unser Dostojewski«. Die russische Tapete und der Krieg gegen den Westen
Heidenreich, Gert
- 4/2014 | »Die Spuren des Lebens der Armen
verschwinden«. Ein Gespräch mit Ralph Schock
über »Die andere Heimat«, S. 470 Leseprobe
Schock, Ralph
»DIE SPUREN DES LEBENS DER ARMEN VERSCHWINDEN» Ein Gespräch mit Ralph Schock über »Die andere Heimat»
RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind auch der Koautor des Drehbuchs. Wie kam es zu dieser Kooperation?
GERT HEIDENREICH: Edgar Reitz hatte seit vielen Jahren die Idee, sich mit der Auswanderung aus dem Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend nach Brasilien, zu beschäftigen. Zum einen, weil auch Vorfahren von ihm ausgewandert waren, deren Nachkommen noch in Südamerika leben, zum anderen, weil sich Edgars verstorbener jüngerer Bruder Guido als eine Art linguistischer Privatgelehrter mit indigenen Sprachen beschäftigt hat. 2009 fragte Edgar Reitz mich, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm einen solchen Film zu erarbeiten und gemeinsam das Drehbuch zu schreiben. Wir kannten uns zwar schon ein bißchen, hatten aber noch nie etwas zusammen gemacht. Ich hatte noch nie ein Spielfilm-Drehbuch geschrieben, bloß einige Theaterstücke fürs Fernsehen bearbeitet, aber das ist ja etwas ganz anderes. Und er hatte wohl aufgrund meiner Romane, von denen er einige gelesen hatte, den Eindruck, mit mir könnte es gehen. Er braucht für die Fiktionalisierung eines Stoffs, eines Materials immer einen Partner, im Gespräch entwickelt er die besten Ideen. So kam es dazu, daß er mich fragte, und ich sagte erst einmal: »Ich habe keine Ahnung, ob ich das kann.« Aber ich wolle mir gern von ihm sagen lassen, wie er sich das denke, was er schon geplant und vorbereitet habe, und dann sind wir ein paar Tage im Hunsrück spazierengegangen. Während er dabei erzählte, was für Geschichten er sich ausgedacht hatte, merkte ich, daß auch bei mir sofort Bilder und Ideen für eine Handlung entstanden. Das ging dann so hin und her. Es war sehr merkwürdig, eine Art gemeinsames Phantasieren. Danach haben wir beide gesagt: Ja, wir versuchen es.
SCHOCK: Was stand zu Beginn der Zusammenarbeit fest? Was war vorgegeben? Der Schauplatz offenbar, der Hunsrück. Kannten Sie den? Edgar Reitz sagt, durch die Region sei es für ihn ein persönlicher Stoff. War er das auch für Sie?
HEIDENREICH: Er ist dort geboren, von dort geflohen und wieder dorthin zurückgekehrt. Für mich war das eine fremde Gegend. Ich bin zwar ab und zu durch den Hunsrück gefahren, aber mit seiner Geschichte, mit den Menschen, habe ich mich eigentlich nur mittels der Filme von Edgar Reitz beschäftigt, vor allen Dingen »Heimat 1« und »Heimat 3«. Die kannte ich sehr gut. In »Heimat 2« hat mein Stiefsohn Michael Seyfried eine größere Rolle gespielt. Diese Zyklen haben mich vor allem filmisch interessiert, weil der Autorenfilmer Reitz einen ungemein genauen psychologischen Zugriff auf die Figuren hat, und das fasziniert einen als Romancier. Vieles von dem, was er über den Hunsrück Mitte des 19. Jahrhunderts recherchiert hatte, mußte er mir erst mal vermitteln. Als wir anfingen, gab es ein Treatment, in dem schon die beiden Brüder vorkamen – ein Bodenständiger und ein Träumer, der unbedingt auswandern will und sich schon fast als Indianer fühlt –, aber es gab im Grunde noch keine Handlung. Dann haben wir uns erst einmal an die Recherchen gemacht – eine große Schwierigkeit, wenn es um arme Menschen geht. Der Reichtum bleibt, die Paläste des Adels stehen noch; es gibt eine Fülle von Dokumenten, ganze Adelsregister, mitunter sogar Biographien, so daß man sich das Leben der Reichen relativ leicht erschließen kann. Es ist auch leicht, Reichtum im Film zu zeigen: Sie brauchen nur ein Schloß, ein paar Kerzenständer, ein schönes Buffet, ein paar Kostüme und Musik, und schon haben Sie einen Ball. Die Spuren des Lebens der Armen verschwinden, ihre Welt muß von Grund auf rekonstruiert werden. Deshalb ist es teuer, Armut zu drehen, und billig, Reichtum zu drehen. Auch beim Recherchieren ist der Aufwand viel größer. Das war uns von Anfang an klar, aber wir haben großes Glück gehabt.
SCHOCK: In welcher Hinsicht?
HEIDENREICH: Um das zu erklären, muß ich kurz auf die historische Situation eingehen: Die angrenzende Pfalz, wo die Lebensumstände ganz ähnlich waren, kam nach dem Ende der napoleonischen Besetzung zu Bayern, während der Hunsrück preußisch wurde. Aber die Preußen kümmerten sich so gut wie gar nicht um die Gegend. Sie machten allerlei Auflagen und verhängten drakonische Strafen für den sogenannten Waldfrevel, also wenn die armen Leute Holz holten, aber kümmerten sich nicht um ihr Leben und ihre Lage. Der bayrische König Max dagegen wollte, aus welchen Gründen auch immer, genau wissen, wie es seinen Untertanen in der Pfalz ging, und stellte zu diesem Zweck sogenannte Kantonsärzte ein. Das waren Beamte des Münchner Hofs, die in verschiedenen Regionen oder Kantonen der Pfalz lebten und jedes Jahr einen umfangreichen Fragenkatalog durcharbeiten mußten. Über fast alles wurde Buch geführt, nicht nur über Geburten und Todesfälle, sondern auch darüber, wie die Menschen lebten, wie ihre Betten aussahen, wie viele Personen darin schliefen, welche Rolle Sexualität vor und in der Ehe spielte, wie es um die Wasserversorgung, um Heilkräuter und den Aberglauben bestellt war. All diese Informationen waren jährlich abzuliefern, wofür die Ärzte umfängliche Recherchen auf sich nehmen mußten. Für sie war das schlimmer als für uns heutzutage die Steuererklärung, doch für uns ist es ein Glück, denn ihre Berichte sind erhalten. Sie liegen im Landesarchiv in Ludwigshafen und sind wegen ihrer kalligraphischen Schrift gut lesbar. Hoch lebe König Max, der es uns ermöglicht hat, diese Verhältnisse, die man im wesentlichen auf den Hunsrück übertragen kann, so genau zu studieren! Das war wirklich eine große Erleichterung.
SCHOCK: Wurden diese Berichte von der Geschichtsforschung bisher gar nicht aufgearbeitet?
HEIDENREICH: Das schon, es sind ja auch zwei oder drei Bände transkribiert und mit Anmerkungen versehen worden, und man weiß sogar, wo die Kantonsärzte geschwindelt oder es sich leichtgemacht haben. Aber wir wollten die Quellen selbst konsultieren und haben, gerade im Hinblick auf Alltagssituationen oder den Aberglauben, auch sehr davon profitiert. Dann kam irgendwann der Punkt, an dem wir die Figuren gestalten mußten, Edgar Reitz nennt das die Fiktionalisierung des Materials. Da sagte er den für mich überraschenden Satz: »Denk jetzt mal nicht ans Drehbuch, sondern tu das, was du kannst, schreib eine Erzählung.«
SCHOCK: Wann war das ungefähr? Wie lange hatten Sie sich schon darüber unterhalten?
HEIDENREICH: Das war nach sechs, sieben Wochen Arbeit. In dieser Zeit haben wir natürlich auch schon über die Figuren phantasiert. Wie das beim Schreiben so geht, ergaben sich in der Erzählung neue Konstellationen zwischen den Figuren und den Geschichten. Bevor ich anfing, habe ich vor allen Dingen Namensrecherchen betrieben. In der Prosa wie auch im Film ist es ja ungeheuer wichtig, daß die Namen zu den Figuren passen. Heutzutage gibt es im Internet die wunderbare Möglichkeit, die Häufigkeit von Vor- und Nachnamen in einer Region zu einer bestimmten Zeit festzustellen. So konnte ich Namen finden, die damals im Hunsrück gebräuchlich waren, und brauchte nur ein bißchen Intuition, um die Vor- und Nachnamen zu verkoppeln. Auf diese Weise entsteht schon etwas von dem, was wir Authentizität nennen. Wenn eine Figur einen Namen trägt, bekommt sie ein Gesicht und wenig später auch ein Schicksal. Damit habe ich begonnen und dann in drei Monaten die ganze Erzählung geschrieben – es sind bloß 130 Seiten –, und das war der Stand der Dinge, als wir mit dem Drehbuch begannen. Edgar Reitz sagte zu Recht: »Jetzt sind wir im Bereich der Fiktion, jetzt müssen wir noch einmal bei Null anfangen, denn das Drehbuch zu schreiben ist etwas völlig anderes, als die Erzählung zu schreiben.« Ich kann auch gerne darlegen, warum das so ist: Ich schreibe meine Romane und Erzählungen so, wie es meist bei zeitgenössischer Prosa der Fall ist, nämlich mit Vor- und Rückblenden, Assoziationen und Erinnerungen. Meine Erzählung »Die andere Heimat« ist im Prinzip eine komplette Rückblende, ausgehend vom Tag des Abschieds der Auswanderer, der vom Vormittag bis zum Nachmittag geschildert wird. In dieser Spanne sind sämtliche Erinnerungen, Erlebnisse und Wandlungen der Figuren enthalten. Das wollte Edgar Reitz auf keinen Fall. Er wollte keine Rückblenden. Ich habe das zuerst nicht verstanden, weil es das ja auch im Film gibt – ich habe dreizehn Jahre als Filmkritiker gearbeitet und kenne mich ganz gut aus. Aber er meinte, Rückblenden seien ein intellektuelles Stilmittel, und wir hätten es hier mit einem archaischen Stoff zu tun, mit armen Menschen, die ums Überleben kämpfen. Archaische Geschichten werden, wie man an den großen Epen der Menschheit sehen kann, immer linear erzählt. Deswegen wollte er, daß auch der Film linear erzählt. In dieser Hinsicht war die Erzählung unverfilmbar. Wir brauchten also einen Punkt, wo die Geschichte beginnen konnte, und es war klar, daß die Hauptfigur Jacob, der Träumer, schon in der ersten Szene in einer typischen Situation auftreten mußte. Deshalb beginnt der Film damit, daß der Vater, ein Feind des Lesens, erst das Buch und dann den Sohn hinausschmeißt.
[…]
SINN UND FORM, 4/2014 S. 470-479, hier S. 470-473
Heidrich, Christian
- 5/1997 | Narrenschiff Erde, Pascal am Steuer. Leszek Kolakowski bleibt hartnäckig
- 4/1998 | Gespräch mit Leszek Kolakowski
- 1/2000 | Geistiges Entzücken. Über Konversionen und Konvertiten
- 1/2023 | Lektüren vom oberen Regal. Meine polnischen Erbstücke
Heiduczek, Werner
- 4/1994 | Zu einem Fühmann-Brief: Brief an »Sinn und Form«
Heilman, Robert
- 5/2001 | Erinnerungen an Eric Voegelin
Hein, Christoph
- 2/1988 | Gespräch mit Krzystof Jachimszak
- 3/1988 | Literatur & Publikum / Elmar Faber - Christoph Hein. Ein Briefwechsel
- 4/1989 | Der Ritter der Tafelrunde - Eine Komödie
- 3/1990 | Der Apfelwein der Madam Guermantes - Betrachtung über Poetik-Vorlesungen
- 4/2001 | Keine Umarmung, kein Gezeter. Rede auf Hans Mayer in der deutschen Bücherei in Leipzig
- 5/2009 | Gespräch mit Ralph Schock, S. 342 Leseprobe
Hein, Christoph
Gespräch mit Ralph Schock
RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
HEIN: Von ein paar Sachen bin ich sehr angetan und frage mich, ob ich dazu noch in der Lage wäre.
SCHOCK: Vielleicht war er in diesen Punkten weiter als der ältere Kollege?
HEIN: Er war auf jeden Fall unbeschwerter. Ich glaube, das hat mit der schönen Naivität zu tun, die man im Laufe des Lebens verliert. Ein Kind bewegt sich ja viel eleganter als ein zu Bewußtsein gekommener Erwachsener.
SCHOCK: Das sagt auch Kleist in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater. Fühlen Sie sich, um im Bild zu bleiben, denn heute eher als Marionette als früher?
HEIN: Nein, das nicht. Aber alles ist schwieriger geworden, weil man mehr Erfahrung hat. In anderen Berufen ist Erfahrung hilfreich, in meinem Beruf ist sie auch eine Erschwernis. Wenn man über jede Bewegung nachdenkt, die man in der Kindheit und Jugend mit Eleganz und Anmut einfach ausgeführt hat, wenn man sie also bewußt produziert, dann ist das eine Schwierigkeit.
SCHOCK: Kleist meinte, der gute Schauspieler müsse die Anstrengung vergessen machen, um die Anmut der Marionette wiederzuerlangen. Wenn er anfängt zu lernen und sich seines Tuns bewußt wird, verliert er seine ursprüngliche Naivität und muß sie sozusagen auf einer höheren Stufe zurückgewinnen.
HEIN: Kleist erinnert auch an die anmutige Skulptur des dornausziehenden Knaben. Er beschreibt, wie ein Freund eine ähnliche Haltung im Spiegel sah und vergeblich versuchte, sie nachzumachen.
SCHOCK: Der Knabe erleidet durch das Bewußtsein ein Lebenstrauma – wir nähern uns der Claudia Ihres Buches. »Der fremde Freund«, 1982 in der DDR erschienen, kam ein Jahr später in der Bundesrepublik unter dem Titel »Drachenblut« heraus. Die Änderung wurde nötig, weil gerade ein Buch von Klaus Harpprecht erschienen war, »Der fremde Freund: Amerika, eine innere Geschichte«. Welcher Titel gefällt Ihnen im nachhinein besser?
HEIN: Mein Titel ist nach wie vor »Der fremde Freund«. Ich glaube, er beschreibt auch die Novelle viel genauer. »Drachenblut« ist mir ein wenig zu düster, zu mythologisch belastet. Da denke ich eher an Fantasy-Literatur.
SCHOCK: Es ist natürlich eine Anspielung auf die Siegfriedsage, auf das Bad im Drachenblut und das berühmte Lindenblatt, das sich auf die Schulter des Helden legt – die verwundbare Stelle, an der Hagen von Tronje später mit der Lanze zustößt. Aber Sie haben nicht protestiert gegen diese mythologische Assoziation.
HEIN: Nein, ich fand die Titeländerung unnötig. Rein rechtlich war sie es auch, weil meine Novelle vor dem Harpprecht-Buch erschienen war. Ich wurde um einen neuen Titel gebeten, aber da ich keinen hatte, überließ ich es dem Luchterhand Verlag, einen zu finden. Diesen neuen Titel habe ich dann registriert und hingenommen. Bei den Übersetzungen haben sich einige Länder für diesen, andere für jenen Titel entschieden, also etwa »Dragonblood« oder »The Distant Lover«.
SCHOCK: Geschah das unabhängig von der Blockzugehörigkeit? Oder übernahmen beispielsweise die polnischen, russischen, rumänischen Übersetzungen den DDR-Titel?
HEIN: Das war den Verlagen freigestellt. Meist haben sie den genommen, der zu ihrer Sprache oder ihrer Kultur besser paßte.
SCHOCK: Sind denn beide Fassungen textidentisch?
HEIN: Da wurde nicht ein Komma verändert. So etwas habe ich nie akzeptiert. Texte sind für mich heilig, und zwar nicht nur die eigenen. Das hat vielleicht mit meiner Herkunft zu tun. Als Pfarrerssohn habe ich das so gelernt.
SCHOCK: Die Novelle beginnt, wenn man von dem Traum-Vorspiel absieht, auf das wir noch zu sprechen kommen, mit einer Beerdigung. Claudia, eine junge Ärztin, macht sich bereit, ihren Freund Henry Sommer zu Grabe zu tragen. Nach diesem ersten Kapitel kommen lange Rückblenden auf ihre Beziehung, auf die gescheiterte Ehe, auf Abtreibungen, auf ihre Kindheit. Dann wird die Beerdigung wieder aufgegriffen, im vorletzten Kapitel, und im letzten erfährt man, wie sich Claudia ein halbes Jahr später entwickelt hat und was mit ihr geschehen ist. Aus einer konkreten Erinnerungssituation wird so eine Art Lebensbilanz. Der Ort der Handlung ist unzweideutig die DDR: Man kann es aus Details erschließen, aus Wörtern, die Sie verwenden, aber auch aus historischen Anspielungen, etwa auf den 17. Juni. Die Zeit, 1981, ist ein bißchen schwieriger zu erschließen. Die Novelle spielte, als sie erschien, in der unmittelbaren Gegenwart. Claudia ist zu diesem Zeitpunkt vierzig, sie wurde also 1941 geboren. Das heißt, sie ist zwei, drei Jahre älter, als Sie damals waren. Auffallend ist, daß es keinen expliziten Erzählkommentar gibt. Sie schildern alles aus Claudias Perspektive. Was für eine Frau ist sie eigentlich?
HEIN: Eine Person, die ich schätze. Sie ist mir zwar fremd, aber ich kann ihre Haltung und Lebensumstände nachvollziehen. Sie hat eine gewisse Härte. Übrigens hat die Novelle einen durchgehenden Subtext: Wenn Claudia bestimmte Dinge sagt, merkt der Leser auch, was sie nicht sagt, nicht sagen will. Das ist eine Erfahrung, die wir oft sogar mit Freunden machen. Wir fragen, wie es ihnen geht, und die Antwort ist: Wunderbar! Doch an den Augen oder der Haltung oder am Ton erkennen wir, daß das nicht stimmt. Diese Art von Subtext wollte ich dem Buch einschreiben – für den Leser, der sich darauf einläßt. Wenn er es aber nicht will, muß das Ganze trotzdem funktionieren.
SCHOCK: Hat dieser Subtext mit Angst zu tun?
HEIN: Ja, und auch mit Verdrängung. Unsere Kommunikation wäre überfordert, wenn wir auf ein »Wie geht’s?« die Antwort bekämen: »Gut, daß du mich fragst! Setzen wir uns, ich muß dir erst mal eine Stunde lang alles erzählen.« Wir brauchen diese kleinen Verabredungen, damit wir eine Freundlichkeit sagen können, ohne daß uns der andere gleich mit seinem ganzen Leben konfrontiert.
SCHOCK: Welche weiteren Aspekte spielen bei dem Subtext noch eine Rolle?
HEIN: Claudia sagt, daß sie nicht darüber nachdenken will, mit wem sie zusammenlebt, und meint damit sich selbst. Sie hat Angst, das herauszubekommen, und fürchtet, daß sie dann ein Fall für die Psychiatrie würde. In dem Zusammenhang spricht sie auch von der besten aller möglichen Heilanstalten. Zu Voltaires Zeit gab es die Rede von der besten aller möglichen Welten. Geblieben und für uns erreichbar ist nur noch die beste aller möglichen Heilanstalten.
SCHOCK: Das Wort taucht noch an einer anderen Stelle auf. Als Claudia bei einem Ostseeurlaub die Touristen in ihrer Einheits-Wetterkleidung sieht, sagt sie: Die sehen aus wie aus einer Heilanstalt. Das ist wohl auf die DDR gemünzt?
HEIN: Nein, das ist auf beide deutsche Staaten gemünzt, denn dieser sogenannte Friesennerz, ein westliches Kleidungsstück, wurde damals im Westen wie im Osten gern getragen. Auf einmal sah man überall die gleiche orange, offenbar sehr praktische Strand- und Regenbekleidung.
SCHOCK: Trotzdem: Heilanstalt, Anstalt DDR, das ist schon eine naheliegende Assoziation. Dazu kommt, daß im Grunde alles, was Claudia erlebt, entweder trist oder banal oder pervers ist: das aggressive Verhalten gelangweilter Jugendlicher und noch manches andere. Was hat eigentlich die Zensur zu Ihrem DDR-Bild gesagt?
HEIN: Günther de Bruyn hat mich damals gefragt, wie ich es geschafft hätte, dieses Buch durch die Zensur zu bringen. Es war aber gar keine große Leistung meinerseits. Die hatten den Text wohl nicht so überaus mißtrauisch angeschaut. Ich war noch nicht so bekannt, und es war ein kleines Buch. Als es hieß, daß da was gestrichen werden sollte, tat ich so, als sei ich aufgeschlossen, denn ich wußte, daß sich darin eigentlich nichts streichen läßt. Es gibt keinen besonders schlimmen oder bösen Satz. Es war das Klima, der Ton der Novelle, der eine für die Zensur schwer erträgliche Stimmung beschrieb. Durch das Streichen eines einzelnen Satzes oder einer Seite ließ sich daran gar nichts ändern.
SCHOCK: Volker Braun zum Beispiel mußte 25 Jahre auf die Druckgenehmigung für ein Theaterstück warten. Man hätte auch Ihr ganzes Buch verbieten können, Gründe hätte man gefunden: Alkoholmißbrauch, Handwerker betrügen ihre Kunden, gesellschaftliche Gleichgültigkeit, Langeweile, schmutzige und verwahrloste Gegenden; ein Künstler propagiert die Anarchie und das Asoziale, lehnt also die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers explizit ab. In der DDR sei alles »wie im 19. Jahrhundert«. Die Lehrer sind sadistisch, die Portiers feindselig. Hinnert tritt aus Opportunismus in die Partei ein. Jedes dieser Details müßte doch eigentlich unerträglich sein für einen Zensor.
HEIN: So wie Sie das auflisten, läuft es mir auch jetzt noch kalt den Rücken runter. Offenbar hatte man eine solche Zusammenstellung nicht vorgenommen. Vielleicht lag es einfach daran, daß ich noch so jung und neu im Geschäft war, ich weiß es nicht genau. Ich hatte später bei anderen Sachen Schwierigkeiten mit der Zensur, bei Theaterstücken, wo ich auch zehn, zwölf Jahre warten mußte, und beim nächsten Roman. Nach dem aufsehenerregenden Erfolg des »Fremden Freundes« wurde er mit großem Mißtrauen betrachtet und bekam keine Druckgenehmigung. Daß er überhaupt erschien, war die Leistung des Verlegers, Elmar Faber, der ihn schließlich auf eigene Faust herausbrachte. Das ist meines Wissens das einzige Buch, jedenfalls das einzige belletristische, das ohne Druckgenehmigung, also gegen den Willen der Zensur erschienen ist.
SCHOCK: Wie ging das?
HEIN: Der Verleger erzählte mir, er habe anderthalb Jahre lang immer wieder um die Zustimmung der Zensurbehörde gebeten und sei immer abschlägig beschieden worden. Dann hatte er die Faxen dicke. Er rief in der Druckerei an und sagte, er habe die Druckgenehmigung. Dort sah man keinen Anlaß, das zu überprüfen. Und noch ehe das hohe Haus es mitbekam, nach zwei Tagen nämlich, war der Roman vergriffen. Daraufhin wurde der Verleger ins ZK ein- bestellt. Es ging um seinen Kopf, um die Frage, ob er das Haus weiter leiten dürfe. Meinen westdeutschen Verlag hatte ich gebeten, noch zu warten, weil es den Ostverlag in Schwierigkeiten gebracht hätte, wenn das Buch dort zuerst erschienen wäre. Luchterhand hat mitgemacht, obwohl es sicher schon aus ökonomischen Gründen schwierig war, ein bereits fertig gedrucktes Buch nicht auszuliefern.
SCHOCK: In einem Interview sagten Sie im Zusammenhang mit dem »Fremden Freund«, es müsse über den Stand unserer Zivilisation gesprochen werden, über die seelischen Kosten, die dieses durch die moderne Produktionsweise bestimmte Leben verursacht. Demnach wäre Claudia also der Prototyp eines Menschen, den die Verhältnisse in der DDR hervorgebracht haben. Das ist doch eigentlich auch Dynamit.
HEIN: Das ist allerdings eine nachträgliche Überlegung.
SCHOCK: Aber zu DDR-Zeiten?
HEIN: Ich kann nicht mit einer theoretischen, abstrakten Haltung an einen Text herangehen. Ausschlaggebend für diese Arbeit war der Tod eines Bekannten. Ich hatte die Geschichte zunächst aus der Sicht eines Mannes erzählt. Nach einem halben Jahr langweilte mich das. Die Hälfte des Romans war fertig. Ich habe alles weggeworfen und mich entschlossen, ihn aus der Sicht der Frau zu erzählen. Das war natürlich ein Wagnis. Der Verlag sagte gleich: So etwas ging im 18. Jahrhundert, aber heute nicht mehr! Das wußte ich ja alles, aber ich wollte es einfach mal probieren. Als ich später gefragt wurde, warum dieses Buch in ganz verschiedenen Ländern so erfolgreich war, kam mir der Gedanke, daß ich darin wahrscheinlich die Kosten unserer Zivilisation beschreibe: Die Großfamilie ist zerschlagen. Unsere Produktion braucht sie nicht mehr. Sie braucht den ständig verfügbaren Single, der von niemandem behindert wird. Der Single ist das in unserer Zivilisation bevorzugte Individuum. Vielleicht war das einer der Gründe für den internationalen Erfolg der Novelle. […]
SINN UND FORM 5/2009, S. 628-632
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- 4/2022 | Versuch über William Beckford im Jahr 2022, S. 420 Leseprobe
Heinemann, Elke
Versuch über William Beckford im Jahr 2022
1
Social distancing, ein Schlagwort der Covid-19-Pandemie, läßt nicht von ungefähr an einen Mann denken, der 1760 in England geboren wurde und den größten Teil seines Lebens Abstand zu anderen gehalten hat. William Thomas Beckford, Schriftsteller, Baumeister, Komponist, Objektdesigner, Kunstsammler und Mäzen, im Brotberuf Millionenerbe, war ein Exzentriker, im Wortsinn ein »Sonderling«, wie der durch das britische Königreich tourende Exzentriker Hermann Graf von Pückler-Muskau 1828 zu berichten weiß: »eine Art Lord Byron in Prosa, der das prachtvollste Schloß in England baute, seinen Park aber mit zwölf Fuß hohen Mauern umgeben ließ und ebenso viele Jahre lang niemand den Eintritt darin verstattete. Nun, dieser Mann verauktionierte plötzlich jenes Wunderhaus, Fonthill Abbey (dessen großer Turm, an dem man die Nächte durch bei Fackelschein gemauert, bald darauf einfiel), mit allem, was darin war (Die Auktion dauerte mehrere Monate, und nie sah man bei ähnlicher Gelegenheit eine reichere Sammlung der kostbarsten und geschmackvollsten Seltenheiten), und zog nach Bath, wo er ebenso einsam lebt. In der Nähe der Stadt hat er abermals einen sonderbaren Turm, mitten im Felde, gebaut, dem als Dach eine genaue Kopie des diminutiv Tempels in Athen, den man die Laterne des Diogenes nennt (Denkmal des Lysikrates), aufgesetzt ist.«
2
Fast zweihundert Jahre später steht vor diesem Turm ein schwarzer Mann mit einem Fernsehteam der BBC. Der Brite Robert Beckford, Filmemacher, TVModerator, Theologe und Aktivist, stammt von Menschen ab, die William Beckford einst besaß. 1356 afrikanische Sklaven, 718 Männer und 638 Frauen, in die britische Kolonie Jamaika verschleppt und mit Peitschenhieben auf 18 Zukkerrohrplantagen zur Zwangsarbeit angetrieben, ermöglichten es dem absentee planter, in Europa fürstlich zu leben und wenig anderes zu tun, als »Melodien zu komponieren, Türme zu bauen, Gärten zu gestalten, altes japanisches Porzellan zu sammeln und Reisen nach China oder zum Mond zu beschreiben«. Der Name Beckford ist heute in Jamaika weit verbreitet: Die Sklaven hießen wie ihr Herr, sein Initial war in ihren Oberarmen eingebrannt. Nicht nur Sklaven, sondern auch Sklavenhalter waren unter seinen Ahnen, behauptet Robert Beckford, weiße Beckfords eben, schwerreiche Parvenüs, von der britischen Aristokratie verachtet und gefürchtet. Um soziales Prestige bemüht, investieren sie in England in Luxusimmobilien, Kunst, Bildung und Politik. Vergeblich hofft William Beckford auf ein Adelsprädikat und erfindet für sich eine Genealogie, in die er alle Barone der Magna Charta aufnimmt. Tatsächlich aber weist sein Stammbaum mütterlicherseits auf unbedeutende schottische Aristokraten zurück und väterlicherseits auf skrupellose Haudegen, die seit dem 17. Jahrhundert mit freundlicher Unterstützung der Krone in der Karibik Zuckerproduktion, Sklaverei und Menschenhandel betreiben. So akkumuliert sich das größte bürgerliche Vermögen Englands, das der zehnjährige William Beckford nach dem Tod des Vaters erbt. William Beckford der Ältere, auf Jamaika geboren und vom Adel als »Rumford Sugarcane« verspottet, hatte sich in London als mächtiger Politiker etablieren können. 1929 benennt man im Stadtbezirk Camden eine Grundschule nach ihm. 2020 teilt die Bezirksverwaltung mit, die Schule erhalte auf Anregung der Bewegung »Black Lives Matter« einen anderen Namen. 2021 hindert die britische Regierung den Rat der Londoner City daran, die überlebensgroße Statue des älteren William Beckford aus der Guildhall zu räumen, da es darum gehe, »unser Erbe zu bewahren und zu erklären, nicht zu entfernen«. Erklärungen für das Erbe des jüngeren William Beckford, das im Tower-Museum von Bath ausgestellt ist, sucht Robert Beckford im Auftrag der BBC. Er fragt sich, welche Art von Mann wohl täglich einen solchen Turm besteigt, um sich seiner Kunstsammlung zu erfreuen, die sorgsam abgestimmt ist auf Design und Dekoration des prächtigen Gebäudes. Die Antwort lautet: ein Mann, der in einer Phantasiewelt lebt.
(...)
SINN UND FORM 4/2022, S. 534 -539 , hier S. 534 f. - 5/2023 | Gewölk. Gedichte
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Heißenbüttel, Helmut
Wiedersehen mit mir selbst in früherem Zustand. Knut Hamsun: Das letzte Kapitel
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Als ich vor einiger Zeit im Schaufenster eines Antiquariats ein Buch von Svend Fleuron sah, war es, im Bruchteil von Sekunden eigentlich, genau in dem Moment, in dem ich Titel und Autor bewußt identifizierte, als ob ich weit zurück in die Zeit entführt würde, ins Vergangene, das bis zu diesem Moment ein Vergessenes gewesen war. Ich sah mich selbst, wie alt? sechs? sieben? acht? in einem großen Raum stehen, neben meinem Vater, der etwa Mitte Dreißig gewesen sein muß. Er beugte sich dem Schalterfenster zu, vor dem er stand, gab einen Zettel ab und bekam nach einer Weile eins oder mehrere Bücher durch den Schalter zugeschoben. Ich hatte meinen Vater in die öffentliche Bücherei begleitet, so würde ich heute sagen, wo er Bücher lieh, die er lesen wollte, und darunter waren auch solche von Svend Fleuron. Daß ich an einem dieser Titel, den ich als »Strix der Uhu« erinnere, hängenblieb, daß gerade er Erinnerung weckte, muß daran gelegen haben, daß er innerhalb der Familie sprichwörtlich verwendet wurde.
Worum geht es, wenn ich ein solches und in vielen Punkten sehr unscharfes Erinnerungsbruchstück rekapituliere? Nicht um die Fakten. Mein Vater stammte vom Lande, war ein Liebhaber von Natur- und Tierschilderungen, ich selber habe mit »Mümmelmann« von Hermann Löns lesen gelernt. Das hat sich, was meinen Vater betrifft, bis zu seinem Tod gehalten und nur wenig in Richtungen verlagert, die wiederum von meiner Leseneugier beeinflußt waren, das hat sich, was mich betrifft, weit weg bewegt, wenn auch gerade da, wo ich am fernsten Punkt angelangt schien, wiederum etwas von jenem Alten auftauchte, es ist, in einem ganz bestimmten Sinn und unumkehrbar, autobiographisch geworden. Das Auftauchen und die Identifikation eines solchen Titels im Schaufenster eines Antiquariats, heißt das, bringt nicht einen Prozeß in Gang, der auch nur entfernt mit literarischen, ästhetischen oder kritischen Gesichtspunkten zu tun hat, sondern Klappen lockert in meinem inneren Computer, so daß er Daten zur Verfügung stellt, die nicht Fakten, sondern Bilder, Geräusche, Gerüche, ja Ahnungen sind.
Will ich also die Lektüre von Büchern, die frühe, kindliche vor allem, auf eine Stufe stellen mit Schlagern, Gerüchen, Landschaftserinnerungen, Stimmen, Bildern? Lesen nichts anderes als etwas, das sich mit den Zufällen dieses oder jenes Lebensalters, dieser oder jener besonderen Phase der Entwicklung verbunden hat und nun mithelfen kann, das Vergangene zu reproduzieren? Nicht bloß mich daran zu erinnern, denn das hat ja auch seine mechanische Seite, von der dem Gedächtnis, gleichsam auswendig gelernt, gesagt wird, das war so oder so, sondern es wiedererscheinen zu lassen, eben in dem Sinne, in dem die Psychoanalyse von Reproduktion spricht? Was wiedererscheinen zu lassen? Was erscheint denn da, was halluziniert sich mir?
Das sind vorgreifende Fragen, und ich will vor allem eins nicht, sie vorauf beantworten. Denn auch dies, dies Fragenstellen ohne Antwort, gehört zu dem Versuch, etwas auf die Spur zu kommen, was sich im allgemeinen allzu rasch unter gängigen Floskeln verbirgt oder dahin zurückzieht. Der Titel eines im Schaufenster eines Antiquariats entdeckten Buchs ruft fast unmittelbar ein bestimmtes Erinnerungsbild wach. Wenn ich das Bild zu durchdringen versuche, schwemmt anderes herauf, es bildet sich eine Kette, die wiederum nach allen Seiten ausstrahlt, es entsteht ein Geflecht, in das ich mich zurücksinken lassen kann, in dem ich etwas zu haben glaube, das einmal war, das sich nur im Speicher meines Gedächtnisses abgebildet hat, dessen Details wie Zusammenhänge ich aber niemals im Sinne einer nachprüfbaren Faktizität, Datierung oder Feststellung sicher sein kann, denn es sind nur Bilder.
Indem ich so weiterzukommen versuche, rede ich aber nicht nur über den phänomenologischen Prozeß der Erinnerung, mache ich nicht nur, mag sein, täppische philosophische Stolperschritte, sondern ich rede zugleich auch schon über etwas, was das betrifft, durch das mein Versuch in Gang gebracht worden ist. Ist denn nicht Schrei ben, Dichten, Bücher-Verfassen schon von sich aus so etwas wie dieses Festhalten von dem, was sich gar nicht halten läßt, unaufhörlich verrinnt? Und ich brauche hier gar nicht Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« zu bemühen, die ja nur wortwörtlich zu fassen sucht, was auch sonst Literatur bestimmt, ich brauche nur einen Augenblick zu überlegen, was denn für mich, und da kann ich nur wieder ganz und gar subjektiv sein, der Unterschied ist zwischen den Märchen der Brüder Grimm, dem »Rübezahl« von Musäus, dem »Wirtshaus im Spessart« von Wilhelm Hauff oder den Kasperlstücken von Franz Pocci. Und das ist nicht etwas, das Inhalt, Stoff, Erzählweise, Stil betrifft, die Unterschiede lassen sich wiederum nur in Bildern, Assoziationen, Gerüchen, Erinnerungen beschreiben.
Ich will das, was diese Märchen angeht, nicht weiter ausführen, obwohl sich da für mich ein ganzes weites Panorama öffnet, in dem ich völlig andere Dinge sehe, völlig andere Empfindungen habe, wenn ich Rübezahl folge oder dem Fischer und seiner Frau oder Jorinde und Joringel oder dem Zwerg Nase oder vor mich hin sage: »Spißi, spaßi, Kasperladi, hicki, hacki, Carbonaci. Trenschi, transchi, Appetiti, fressi, frassi, fetti, fitti.« Worauf es mir ankommt, ist, diesen einen Punkt deutlich zu machen, daß ich nicht kritisch lesen kann, wenn Literatur selbst, von den Anfängen meiner Leseerfahrung an, ein Erinnerungsspeicher ist.
Da ich schon dabei bin. Ich weiß, daß ich an einem frühen Weihnachtsfest die »Schatzinsel« von Stevenson geschenkt bekam und gelesen habe. Dieses Buch ist später verlorengegangen. Ich lebe, wenn ich zurückdenke, in bestimmten Erlebnissen, sinnlichen Eindrücken, Schaudern, Ängsten, Überraschungen, Freuden, fast, als sei das, auf irgendeinem Abweg, eigenes Erlebnis gewesen. Spät erst habe ich versucht, die »Schatzinsel« wiederzulesen. Ich fand nichts darin von dem, das ich erinnerte. Nicht nur war der innere Glanz verlorengegangen, es war ein anderes Buch. Die Erzählung hat sich mir eingeprägt wie ein Traum, der jedoch in dem Text, der einst diesen Traum ausgebildet hat, nicht wiedererkennbar ist. In meiner frühen Schulzeit gab es etwas, das sich »Deutsche Jugendbücherei « nannte, herausgegeben vom Dürer-Bund, das waren Hefte von 32 Seiten Umfang, Novellen, Ausschnitte, Berichte aus Wissensgebieten für Jugendliche. Dort las ich über eine Forschungsreise in Tibet von Wilhelm Filchner. Um die gleiche Zeit muß meine Mutter mir zum erstenmal ein Mittel gegen Erkältungen gegeben haben, das sich Rheila-Perlen nennt. Auch heute noch, wenn ich Rheila-Perlen lutsche, befinde ich mich, automatisch, in Tibet.
Einem Tibet natürlich, das es, in der sogenannten realen Welt, nie gegeben, das sich allein in mir, in meiner Phantasie, ausgebildet hat. Umgekehrt ist es das, was in den Versuchen, Realität in Sprache, in Zeichen für Bilder und Vorstellungen, also in Phantasie zu verwandeln, die Literatur bestimmt, das eigentlich Literarische ausmacht. Ich habe also nicht auf der einen Seite etwas Eindeutiges, das dann durch den Filter des Lesens hindurchgeht und auf der anderen Seite wiederum als etwas Eindeutiges, Lesefrucht, Eindruck, Begeisterung, Entrückung, kritisches Bewußtsein usw. herauskommt. Sondern die Wechselbeziehung zwischen dem, was in die Literatur einfließt, und dem, was sich mir mitteilt und was sie in mir bewirkt, in mir anregt, verstört, öffnet, was aber auch mit Hilfe der Literatur an innerer Landschaft gebildet, erfahren und wiedererfahren werden kann, ist von äußerster Zweideutigkeit, in seinen wechselweisen Einflüssen und Prozessen oft nur schwer zu durchschauen und beschreibbar manchmal nur, indem man, auf zweiter Ebene sozusagen, Literatur daraus macht.
(…)
SINN UND FORM 6/2017, S. 786-794, hier S. 786-788
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Katharina Wagenbach-Wolff und die Friedenauer Presse, S. 532 Leseprobe
Henneberg, Nicole
ST. PETERSBURG UND BERLIN Katharina Wagenbach-Wolff und die Friedenauer Presse
Literarische Leidenschaften und spektakuläre Entdeckungen prägen das Leben von Katharina Wagenbach-Wolff, in deren Biographie sich das zwanzigste Jahrhundert spiegelt: Ihre Großeltern erlebten den industriellen Aufschwung im Rußland der Jahrhundertwende, wurden nach der Oktoberrevolution enteignet und gingen nach Deutschland ins Exil – ihr Vater war damals fünfzehn Jahre alt. Sie selbst überstand den Bombenkrieg in Berlin und erfuhr später, als Buchhandels- und Verlagslehrling in Frankfurt, den Neubeginn der fünfziger Jahre. Zurück in Berlin, geriet sie mit ihrem damaligen Mann Klaus Wagenbach ins Zentrum der 68er Bewegung, lernte Ulrike Meinhof kennen und erlebte hautnah den politischen Sog der Roten-Armee-Fraktion. Sie lächelt, wenn man sie auf eine ihrer typischen Eigenschaften anspricht: ihren Eigensinn. 2014 feiert sie ihren fünfundachtzigsten Geburtstag, aber an Ruhestand denkt sie nicht. Die weitläufige, mit geerbten Antiquitäten eingerichtete Berliner Altbauwohnung in der Carmerstraße ist zugleich Sitz ihres Verlags, der Friedenauer Presse – auch diese räumliche Einheit hat, wie alles in ihrem Leben, Tradition. Es sind besondere Bücher, die hier entstehen, Gesamtkunstwerke vom Umschlag über den Druck bis zur Bindung. Schon auf den ersten Blick spürt der Leser, daß diese Bücher nicht nur schöner aussehen, sondern auch aufmerksamer gelesen werden wollen – dafür belohnen sie mit geistigen Abenteuern und echten Entdeckungen. Isaak Babels »Reiterarmee« erschien hier erstmals unzensiert, genau wie seine »Kriegstagebücher«, die damals selbst in der Sowjetunion nicht vollständig vorlagen. Außerdem widmet sich der Verlag der Pflege vieler verfemter Schriftsteller, etwa von Leonid Dobyčin, einem der wichtigsten russischen Prosaautoren des zwanzigsten Jahrhunderts.
Seit fünf Generationen hat die aus Petersburg stammende Buchhändler- und Verlegerfamilie mit Büchern zu tun; Katharina Wagenbach-Wolffs Tochter Nina kümmert sich heute im Wagenbach-Verlag um Werbung und Vertrieb, um den Bereich also, für den ihre Mutter in dem von ihr und Klaus Wagenbach 1964 gegründeten Verlag sechzehn Jahre lang zuständig war. Damals war er eine Bastion anarchistischen und radikal-sozialistischen Denkens, was den Großeltern Wolff nach der Erfahrung des bolschewistischen Terrors sicher Schauder über den Rücken laufen ließ. Sie hätten manche Irrtümer aufklären können, waren dazu aber zu höflich, und der Schwiegersohn hütete sich, mit ihnen darüber zu diskutieren.
Anfang der fünfziger Jahre lernte Katharina Wolff ihren späteren Mann in Frankfurt kennen, der damals bei ihrem Vater, Geschäftsführer des jungen Suhrkamp Verlags, in die Lehre ging. Letzterer war zunächst alles andere als glücklich über diese Begegnung. Er habe seinem Lehrherrn die Tochter geklaut, erzählt Klaus Wagenbach amüsiert: »Katia kam als wohlerzogene junge Dame aus der Schweiz und ging dann in die Berufsschule. Dort haben wir uns kennengelernt. Sie hat mich schwer beeindruckt, ich kam ja mehr von unten, mein Vater war ein Bauernkind. Ihre Eltern haben gemault, meine auch: Sie war russisch-orthodox, das war für meine katholische Mutter natürlich ein Affront.«
Der schon damals politisch hellhörige Wagenbach erkannte sofort, daß er in eine spezielle Familie mit einer schmerzlichen Geschichte geraten war, deren Mitglieder so zurückgezogen lebten, weil sie als Staatenlose in der Zeit des Nationalsozialismus nur einen Nansen-Paß besaßen, also höchst gefährdet waren. Man merkte dieser Familie die über lange Jahre ständig erfahrene Sorge an. Wie dünn das Eis wirklich war, wußte allerdings niemand: Der Großvater Wolff, Katharinas Lieblingsopa, stammte aus einer jüdischen Familie, und für den obligatorischen »Ariernachweis« waren seine Papiere gefälscht worden. Auf einem Kinderfoto sitzt die neunjährige Katharina auf einer Gartenbank neben dem lächelnden Ludwig Wolff, einem würdigen Herrn mit scharf geschnittenem Gesicht und großem Schnurrbart. Beide sind von Kopf bis Fuß weiß gekleidet – das Bild wirkt wie auf einer Datscha in der Nähe Petersburgs aufgenommen. Er nannte sich »Herr Kommerzienrat«, was auf die Berliner Bekannten großen Eindruck machte. Doch die traumatische Erfahrung der Enteignung und die Morddrohungen seiner Arbeiter hat er nie überwunden. 1917 gelang Wolffs die Flucht, nur kamen sie als Besitzlose an. Die Bolschewiki hatten an der Grenze unbemerkt den Gepäckwagen abgehängt.
Katharinas Vater, Andreas, hatte zwar auf einem Petersburger Gymnasium Deutsch gelernt, doch er tat sich schwer mit der Sprache und behielt zeitlebens seinen weichen, baltischen Akzent. In Wiesbaden, der ersten Exilstation der Familie, und dann in Leipzig absolvierte er eine Buchhändlerlehre und arbeitete anschließend zwei Jahre im Berliner S. Fischer Verlag. 1931 gründete er im ruhigen Stadtteil Friedenau, der damals noch wenig Ähnlichkeit mit dem späteren Dichterbiotop hatte, eine Buchhandlung samt Leihbücherei. Einer seiner Stammkunden, der Theaterkritiker Friedrich Luft, erinnerte sich später: »Die Vorstadt war idyllisch, zutiefst kleinbürgerlich, jedem Fortschritt abhold – und stramm deutschnational. Schwarzweißrote Fahnen hingen, wenn geflaggt wurde, von den hübschen Balkonen. Daß Kurt Tucholsky einmal für kurze Zeit in unserer Kaiserallee gewohnt hatte, konnte ich gar nicht glauben.« Der Erfolg von »Wolff’s Bücherei« beruhte auf der Ausstrahlung des versierten Buchhändlers, einer »literarischen Natur«, wie Friedrich Luft anmerkte, der sich in diesem Laden wie im Wohnzimmer eines Bücherfreundes fühlte und es zu schätzen wußte, daß man hier die verbotenen Bücher aus den Exilverlagen ausleihen konnte – noch heute sieht man im »Zauberberg« in der Bundesallee die Falltür, die ins geheime Lager im Keller führt. Eine Aura »liberaler Exotik« umgab die Familie, was Luft tief beeindruckte. Er war auch oft in der Wohnung in der Wilhelmshöher Straße zu Gast, dann wurde der Samowar angeheizt und die Gastgeberin buk Blinis.
Aus dem Nichts hatte Katharinas Urgroßvater Moritz Wolff ein Verlagsimperium geschaffen, das zuletzt siebenhundert Angestellte beschäftige und auf der Basilius-Insel Verlagshaus, Druckerei und Schriftgießerei vereinte. Erst nachmittags ging er in seine Buchhandlung am Newskij-Prospekt, der Petersburger Lebensart entsprechend, nach der man zwischen elf und zwölf Uhr frühstückte und wichtige Geschäfte nach dem Abendbrot erledigte. In seinem winzigen Arbeitskabinett trafen sich – unter den mißtrauischen Blicken der Geheimpolizei – die wichtigsten Autoren der Stadt: Gontscharow, Dostojewskij, Turgenjew und Leskow. Letzterer brachte oft junge Autoren mit und rühmte Wolff als »unübertroffenen Zaren der russischen Bücher. Seine Armee ist gestreut von Jakutsk bis Warschau, von Riga bis Taschkent, in seinen Händen hält er das Schicksal der russischen Literatur.« Von ihm muß jenes Buchhandel-Gen stammen, das die Familie seither prägt. Eine Konstellation, die in Verlagsfamilien häufig vorkommt, meint dazu Katharina Wagenbach-Wolff.
Sie wuchs, 1929 geboren, unbeschwert in Friedenau auf, besuchte eine öffentliche Schule und hatte viele Freunde. An den alljährlichen Weg zur Gestapo, um die Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, erinnert sie sich allerdings noch genau, weil ihre Mutter immer furchtbar nervös war. Und noch einen Kummer gab es: Sie durfte nicht in den BDM, was sie unbedingt wollte, da alle ihre Freundinnen dorthin gingen. Zwar schaffte sie es, ihre Mutter in einen Laden zu schleppen, wo es BDM-Uniformen gab, aber die weigerte sich, eine zu kaufen. Eine Zeitlang ging Katharina heimlich zu den Treffen mit, aber die martialischen Lieder und pathetischen Feiern stießen sie bald ab.
Als in den letzten Kriegsjahren die Bombenangriffe auf Berlin immer bedrohlicher wurden, übersiedelte die Familie in ein winziges Fischerhäuschen in Caputh, wo der Freund Peter Suhrkamp sie oft besuchte. Er kam mit dem Fahrrad aus dem nahen Potsdam. 1944 war er schwerkrank aus dem KZ Sachsenhausen entlassen worden. Unter anderem hatte die Denunziation eines falschen Freundes, dem er Briefe an Hermann Hesse anvertraut hatte, zu seiner Verhaftung geführt. Nun saß er mit Andreas Wolff im Garten und schmiedete Verlagspläne. Doch noch war der Krieg nicht vorbei. Der Vater informierte die russischen Fremdarbeiter im Dorf über die Nachrichten der BBC und lieh ihnen russische Bücher. In den letzten Kriegstagen – die SS hatte in unmittelbarer Nähe einen großen Stützpunkt – bezog die russische Armee Stellung auf der gegenüberliegenden Seeseite. »Als die Russen kamen, fingen sie an, von Gatow aus auf das Dorf zu schießen. Da fuhr mein Vater mit einem Fremdarbeiter im Boot hinüber, ging zu den russischen Offizieren und bat sie, nicht mehr zu schießen – im Dorf seien keine SS-Leute mehr«, erzählt Katharina Wagenbach-Wolff. Davon, daß das Dorf dank der Initiative von Andreas Wolff unzerstört blieb, wollen bis heute weder die Caputher Bürger noch die dortige Heimatforschung etwas wissen – nach dem Krieg verdächtigte man den Retter sogar, russischer Spion gewesen zu sein.
In Frankfurt, wohin die Wolffs Peter Suhrkamp wegen der Papierknappheit und der schwierigen Arbeitsbedingungen in Berlin gefolgt waren, erlebte man die Euphorie und die Hoffnung der Nachkriegsjahre viel intensiver als im größtenteils zerstörten und von den Siegermächten geteilten Berlin. Katharina, die nach Kriegsende zwei Jahre in Lausanne studiert hatte und fließend Französisch sprach, begann eine Lehre bei den Frankfurter Heften. Der Verlag gehörte Eugen Kogon, dessen Buch »Der SS-Staat« wenige Jahre zuvor erschienen war. Er engagierte sich schon damals für ein geeintes Europa, war chronisch überarbeitet und entsprechend kurz angebunden. Ganz anders Alfred Andersch, der im Verlag die Reihe »Studio Frankfurt« herausgab und sich gern mit dem Lehrling unterhielt. 1953 holte er eine unbekannte Debütantin namens Ingeborg Bachmann in den Verlag, die für ihren Gedichtband: »Die gestundete Zeit« den Literaturpreis der Gruppe 47 erhielt. Diese Gedichte beeindruckten die spätere Verlegerin und spielten dreißig Jahre später eine entscheidende Rolle bei der Wiederbelebung der von ihrem Vater Andreas Wolff 1963 begründeten Friedenauer Presse. Ingeborg Bachmann sei kindlich aufgeregt gewesen und habe keine Korrekturzeichen gekannt – der Lehrling Katharina Wolff konnte ihr helfen und verstand damals, wie existentiell für einen Autor sein Buch sein kann.
Einige Jahre später verlor Klaus Wagenbach seine Lektorenstelle bei S. Fischer, weil er mit dem Briefkopf des Verlags dagegen protestiert hatte, daß ein DDR-Autor nicht zur Messe kommen durfte. Die Mauer war gerade gebaut worden, und weil Ost- und Westautoren ihn gleichermaßen interessierten, entstand der Plan, in Berlin einen Verlag zu gründen – eine Idee, die den Eltern Wolff so wenig gefiel wie die Manieren und politischen Ansichten des Schwiegersohns. Außerdem war Katharinas Vater als erfahrener Geschäftsmann besorgt, daß die junge Familie mit inzwischen drei Kindern nicht genug Geld verdienen würde.
Ein Verlag für Literatur aus Ost- und Westdeutschland mußte zwangsläufig zwischen alle politischen Fronten geraten. Als fataler Irrtum erwies sich auch die Hoffnung des jungen Verlegers, daß sich für die DDR-Intellektuellen die Lage – als eine Art Bonus für ihr Eingesperrtsein – nach dem Mauerbau entspannen würde. Wagenbach erinnert sich an Ulbrichts »furchtbare Rede« im Dezember 1965, daß die DDR ein sauberer Staat sei und keine Anarchisten dulde. »Wenn das Wort Anarchisten fällt, das weiß ich als alter Anarchist, dann müssen die Lyriker aufpassen. Denn die Lyriker sind natürlich die größten Anarchisten, die haben da nichts zu lachen. Und so war es auch.« Schnell wurde auch Wagenbach zur unerwünschten Person und bekam kein Einreisevisum mehr, also mußte seine Frau die Kontakte aufrechterhalten. Sie war oft bei Wolf Biermann in der Chausseestraße 131 zu Gast, wo mittels eines über die Grenze geschmuggelten Tonbandgeräts die Aufnahmen seiner ersten Schallplatte entstanden, die dann, weil kein westdeutsches Label einen kommunistischen Liedermacher herausbrachte, im Wagenbach-Verlag erschien. Schon der Lyrikband »Die Drahtharfe« war dort gedruckt worden, das Manuskript hatte Biermanns Mutter Emma in den Westen geschmuggelt. Doch oft mußte eben auch die Frau des Verlegers Kurier spielen, dafür band sie sich, nach einem Tip von Biermann, die Manuskripte mit Zellophanpapier auf den Bauch und hörte erst damit auf, als die Leibesvisitationen sich zu häufen begannen. In der Chausseestraße lernte sie alle wichtigen Leute kennen, von Stephan Hermlin bis zu Franz Fühmann. Im November 1976, am Tag nach der Ausbürgerung Biermanns, nahm sie an jenem Treffen in Hermlins Villa teil, bei dem die folgenreiche Protestpetition verfaßt wurde. Im Verlag gingen derweil die Meinungen darüber, was gedruckt werden sollte, immer weiter auseinander, dazu kamen grundsätzliche politische Differenzen. Der Streit wurde immer heftiger, denn es ging um die Macht, im wesentlichen also um das Programm. Die eine Fraktion wollte linksradikale und militante Schriften bis hin zu RAF-Texten, die andere eine »dokumentarische Literatur«. Unerläßliche Fähigkeiten fürs Lektorat, wie etwa Fremdsprachenkenntnisse, brachte dagegen kaum jemand mit.
Und der Alltag in der Jenaer Straße 6 war nervenaufreibend. Familie und Verlag teilten sich eine Wohnung und jeden Tag standen Genossen vor der Tür, die ganz selbstverständlich das Familienauto ausleihen, übernachten und essen wollten. Der magische Satz hieß: Du bist doch auch Genosse! In der riesigen, wilhelminischen Achtzimmerwohnung bewohnte die Sekretärin ein Zimmer, zwei waren Verlagsräume, die restlichen Zimmer teilte sich die fünfköpfige Familie. Es herrschte »ein ungeheurer Elan«, erzählt Katharina Wagenbach- Wolff, die damals über ein Jahrzehnt Kinder, Haushalt und Arbeit unter einen Hut brachte. Sie hielt eisern an bürgerlichen Ritualen fest, kochte jeden Tag und versammelte abends alle um den Tisch. Sogar Stoffservietten gab es, worüber sich Otto Schily, der langjährige Anwalt des Verlags, doch sehr wunderte: »Richtig manierlich eßt ihr hier!« Gleichzeitig entwarf sie Plakate für den Verlag, die weithin gerühmt wurden. Mit Layout und Druck hatte sie Erfahrung, während ihrer Frankfurter Lehrjahre hatte sie auch in einer Druckerei gearbeitet.
[…]
SINN UND FORM 4/2014 S. 532-541, hier S. 532-537
Henrich, Dieter
- 2/1990 | Andenken, Erinnerung, Gedächtnis - über Hölderlins Gedicht »Andenken«
- 2/1992 | Das Ende einer Befangenheit? Intellektuelle in der Bundesrepublik nach der deutschen Teilung
Hensel, Kerstin
- 5/1983 | Gedichte
- 1/1985 | Gedichte
- 5/1987 | Herr Johannes
- 3/1990 | Drei Texte
- 4/1994 | Tanz am Kanal
- 2/1996 | Zwei Erzählungen
- 1/1997 | Lämmerdeern
- 6/1999 | Drei hohe Lieder
- 2/2006 | Gedichte
- 1/2015 | Die toten Aromen der Zeit. Gedichte
- 4/2015 | Der hochgelehrte Kauz. Begegnung mit Karl Mickel
- 4/2017 | Besuch bei Bobrowski
- 2/2018 | Der Einbruch der Nacht in den Morgen. Zu Wolfgang Hilbig
- 5/2018 | Rollfeld. Gedichte
- 6/2020 | Gruß aus Bitterfeld. Gedichte
- 4/2022 | Neue Xenien. Gedichte [Gabriele Helen Killert, Kornelia Koepsell, Kerstin Hensel, Dirk von Petersdorff]
Henselmann, Hermann
- 5/1982 | Konrad Wolf zum Gedenken
Henze, Hans Werner
Herbert, Zbigniew
- 3/1966 | Polnische Lyrik
- 1/1970 | Akropolis
- 5/1998 | Gedichte
- 5/2004 | Die Kunst der Empathie. Gespräch mit Renata Gorczynska
- 4/2005 | Ein Gespräch über das Schreiben von Gedichten
- 5/2013 | Ein Fels der im Meere wächst und nicht benannt werden will. Gedichte
Herbst, Alban Nikolai
Herchet, Jörg
- 6/1979 | Paul Dessau zum Gedenken
Herder, Johann Gottfried
Hering, Ludwik
- 4/2016 | Spuren
Herling-Grudzinski, Gustaw
- 4/1996 | Gespräch mit Leszek Szaruga
- 4/1996 | Tagebuch während der Nacht geschrieben
- 3/1999 | Tagebuch 1984-1987
Hermann, Judith
- 4/2017 | Helden der Gegenwart
Hermlin, Stephan
- 2/1949 | Gedichte
- 3/1951 | Gedichte
- 4/1951 | Olga Benario
- 2/1952 | Die Jugend
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 6/1955 | Rede über Mickiewicz
- 1/1956 | Über Heine
- 4/1958 | Die Straße
- 5-6/1960 | Auskunft. Zum sechzigsten Geburtstag von Anna Seghers
- 1-2/1965 | Willi Bredel
- 1-2/1965 | In einer dunklen Welt
- 5/1965 | Aus der Budapester Pen-Diskussion über Tradition und Moderne
- 5/1965 | Kassberg
- 3/1968 | Lektüre (I)
- 3/1968 | Corneliusbrücke
- 4/1968 | Lektüre (II)
- 6/1968 | Lektüre (III)
- 1/1969 | Lektüre (IV)
- 2/1969 | Lektüre (V)
- 3/1969 | Lektüre (VI)
- 4/1969 | Lektüre (VII)
- 5/1969 | Lektüre (VIIII)
- 6/1969 | Lektüre (IX)
- 1/1970 | Lektüre (X)
- 3/1970 | Scardanelli
- 3/1971 | Ankündigung
- 6/1971 | Wie ich zur Literatur kam
- 4/1975 | Ein Plädoyer?
- 4/1975 | Die einen und die anderen
- 6/1977 | Briefe zu Annemarie Auer
- 6/1978 | Abendlicht
- 1/1982 | Für Lew Ginsburg
- 1/1982 | Ein Wort von Paul Valéry
- 6/1982 | Hölderlin 1944
- 4/1983 | Ein Mord in Salzburg. Nach den Aufzeichnungen des Journalisten S.
- 6/1983 | Zu einer Erich-Arendt-Ausstellung
- 5/1984 | Für Anna Seghers
- 2/1985 | Ein berühmter Schriftsteller
- 3/1985 | Doktor Dubois
- 6/1985 | Brief an Max Walter Schulz
- 5/1986 | Meine Zeit
- 2/1987 | Das Hier ist es
- 2/1987 | Begrüssung
- 1/1988 | Meinungen zu einem Streit - Von älteren Tönen, S. 304 Leseprobe
Hermlin, Stephan
Meinungen zu einem Streit - Von älteren Tönen
Im Sommer dieses Jahres erhielt ich einen dreizehnseitigen Brief. Der Schreiber ist mir seit langem bekannt. Er bedenkt mich in jedem Jahr mit ein oder zwei langen Briefen, die ich nicht beantworte. Ich bin im allgemeinen ein zuverlässiger Korrespondent. Hier mache ich eine Ausnahme. Meine Aversion gegen den Briefschreiber ist wohlbegründet, sie beruht u.a. auf meinem Widerwillen gegen Demagogie und Erpressung.
Den erwähnten letzten Brief leitet ein Satz ein, demzufolge ich vor kurzem behauptet hätte, in der DDR existierten keine ungedruckten Manuskripte. Es gäbe aber zumindest eines, nämlich einen ungedruckten Aufsatz von ihm, dem Briefschreiber; wenn ich diesem Aufsatz nicht zum Druck verhelfen würde, sehe er sich gezwungen, mich angesichts meiner angeblichen Behauptung öffentlich zu desavouieren. Nun wäre das für mich nicht weiter schlimm, umso weniger, als niemand mir eine solche alberne Behauptung nachweisen könnte. Nein, ich hatte in Wirklichkeit behauptet, bei uns sei manches Tabu gefallen und habe im Laufe der letzten Jahre nicht nur eine Reihe Klassiker der Moderne eine Heimstatt gefunden, sondern seien auch umstrittene Werke aus unserem Lande gedruckt worden. Mit gutem Grunde sprach ich von Fortschritten, und daran halte ich fest. Weitaus schlimmer als die angedrohte Desavouierung wäre für mich der Gedanke, von dem Briefschreiber irrtümlich belobigt zu werden wegen der inzwischen erfolgten Veröffentlichung seines Aufsatzes. Aus diesem Grunde möchte ich ausdrücklich feststellen, daß ich den Druck des erwähnten Aufsatzes mit keinem Wort und keiner Geste begünstigt habe und er also einer Fürsprache von meiner Seite gar nichts verdankt.
Was die Zeitschrift »Sinn und Form« anbelangt - denn um diese handelt es sich - , so gehöre ich ihrer Redaktion nicht an und ihren Redaktionsbeirat verließ ich vor genau fünfundzwanzig Jahren, aus Solidarität mit dem damals abgesetzten Chefredakteur Peter Huchel. Seither gebe ich der Redaktion manchmal Ratschläge, wenn ich etwas Schönes gefunden habe. Zu mehr bin ich nicht befugt. Zum Druck jenes Aufsatzes von Wolfang Harich in Nummer 5 von »Sinn und Form" hätte ich die Redaktion nicht ermutigt. (...)
- 2/1990 | Gespräch mit Ulrich Dietzel 1983
- 2/1995 | Gespräch mit Stephan Suschke
Hermsdorf, Klaus
- 4/1957 | Zu den Briefen Franz Kafkas
- 4/1988 | Ein Traum - Zu Franz Kafkas Briefen an Paul Kisch
- 2/2007 | Meine Reise zu Franz Kafka. Erinnerungen eines DDR-Germanisten
Hernández, Miguel
- 3-4/1965 | Gedichte
Herrmann-Neiße, Max
- 1/2015 | Die Kellnerin.
Mit einer Vorbemerkung von Klaus Völker, S. 5 Leseprobe
Herrmann-Neiße, Max
Die Kellnerin
I.
Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig dazu gesprochen, daß der ersprießliche Vorgang nicht unnötigerweise gestört würde, auch war man ohnehin noch morgendlich maulfaul, zur unternehmungslustigen Wachheit des Tages nicht bereit. Hatten sich also die beiden Eheleute wie zwei faule, dampfende Massen einander gegenüber gelagert, der Mann auf dem Sofa, hemdsärmlig, vor sich auf rotbeblümter Tischdecke den tiefen Teller voll Aufgewärmtem, Suppe, Fleisch, Gemüse von gestern Mittag zu einem Brei verkocht, dicke Bissen Brotes nun noch hineingebrockt und das Rauchende dann in sich geschaufelt, an der anderen Seite des Tisches Frau Bertha, zottlige Haare unfrisiert um das frisch geaschte, verdunsene Gesicht, die Augen kindlich blöde blinzelnd, mit weißgestärkter, knallender Untertaille vorläufig die schaukelnden Rundlichkeiten garniert, die prallen nackten Arme auf der Tischplatte breit aufgelümmelt, Kaffee schlappernd, eine Semmel in die Flüssigkeit tunkend und das triefende Gebäck mit Geschmatz ins Maul sich pappend. Über dem Ganzen der Dunst warmer, eben erst verlassener Betten, Küchengeruch, Schweiß der Nachtruhe und des Tages und der Haussegen. Die beiderseits stier, als habe man eben erst vor, wirklich hinzusehen, und nur spärlich, stockend, in großen Zwischenräumen quält sich aus dem Gähnen, Schnaufen, Kauen, Sichräkeln ein belangloses, mißtöniges Hin und Her von Geräuschen, der träge Versuch einer Art Gespräch: »Die Klosen hatte gestern schon wieder ein neues Kostüm und einen neuen Hut! Das kann der Mann doch von seinem Bissel Heizergehalt garnicht schaffen! Das geht doch wohl nicht mit rechten Dingen zu, da steckt was dahinter, das kannst Du mir glauben! Man munkelt ja auch schon lange Verschiedenes. Der Stadtrat Bulze soll beteiligt sein …« – »Und er selber, der Klose, treibts auch auffällig: er lebt über seinen Stand hinaus. So geht doch kein Heizer angezogen! Da müßte ich als Lokomotivführer wer weiß wie nobel gekleidet sein! Er sumpft auch die Nächte durch, wenn er frei hat. Und in Lokalen, wo unsereins weiß Gott doch nicht hingehört, im ›Schwan‹, im ›Kaiserhof‹, in Liebigs Hotel. Dann liegt er besoffen und kommt nicht zum Dienst!« Und allerlei Landläufiges vom Wetter, von den Preisen, von Zeitungsneuigkeiten, von Hochzeiten, Taufen und Sterbefällen. Bis Finger einmal auf seine Uhr sieht, »Verpucht, nu ist’s aber Zeit!« jappst, eine letzte Ladung Fraß hinunterjagt und schwerfällig aufsteht, sich vollends zurechtzumachen. Indessen streicht die Frau Frühstücksbrote, füllt die Kanne mit Kaffee und verstaut alles im schwarzen, hölzernen Handkoffer. Finger, in Uniform, die Mütze auf dem Kopfe, nimmt den Kasten, klatscht der Seinen zum Abschied wohlwollend derb auf die gewichtige Hinterfront und gibt, schon in der Tür, noch Aufträge: »Vergiß nicht, den Zivilanzug in Ordnung zu bringen, die Schuhe zum Besohlen zu tragen, meine Kragen zu plätten, die grauen Socken zu stopfen, schreib der Schwägerin zum Geburtstage, dann schickt sie auch was vom Schweineschlachten, und bezahl morgen früh die Miete, Geld laß ich dir soviel da, daß du auskommst. Na dann, Adieu!« Und die Holzstiegen herunter stapft sein gewichtiger Schritt.
Auf der Straße gibt sich Finger einen besonderen Ruck, stramm und zielbewußt, wie man als pflichtgetreuer Beamter zum Dienst geht. Dreht sich auch noch einmal um, richtig, guckt ihm seine Bertha wie üblich aus dem Fenster nach, er winkt hinauf, nicht zu enthusiastisch, sonst bilden sich die Frauenzimmer wer weiß was ein und die Leute auf der Gasse lächeln womöglich über ihn, eher etwas streng, wie der Lehrer zum Schüler, der in die Ferien geht, »Mach deine Hausarbeit ordentlich, und gutes Betragen bitt’ ich mir aus!«, mahnend: »Wir sprechen uns wieder! Ich werde streng prüfen!«, aber das Weib läßt ihren immer noch schlecht verwahrten Busen in der knallenden Untertaille fast auf den Bürgersteig fallen, winkt wie verrückt, als gälte es einen Abschied auf Tod und Leben, girrt noch etwas nach, was er garnicht mehr dem Wortlaut nach verstehen kann, fuchtelt und wabbelt. Wo die Wilhelmstraße endet, biegt er um die Ecke, grinst, nimmt den Kurs nicht mehr weiter zum Bahnhof, schwenkt leichten Tritts, wie auf Kommando »Rührt euch!« schmunzelnd in Mutter
Böhms Frühstückstube.
Als Finger vom Hausflur aus die Tür öffnet, die in den dumpfen, am Tag fast dunklen Raum führt, der hinter der Wittfrau Böhm Laden, »Kolonial- und Delikateßwaren«, liegt, schallt es ihm entgegen: »Hurra, der Seemann ist da!« – »Hast du doch Wort gehalten, Gustav!« – »Na, da setz dich mal ran! Und Mutter Böhm, noch’n Doppelstöckigen!« Finger gibt zurück: »Wenn ich sage, ich komme, dann komm’ ich auch, und wenn alle Stricke reißen! Ich werde doch an Ottos Geburtstag nicht fehlen!«, und eh er Platz nimmt, geht er auf den vierschrötigen Bullenbeißer, der in der Mitte der Kumpane thront, zu und entledigt sich seiner Gratulation: »Na, Otto, da wünsch ich Dir noch weitere 45 Jahre, und daß es immer so gut geht, wie bisher, du weißt schon, wie ich’s meine, jedes Jahr einen neuen zukünftigen Rekruten für die deutsche Armee! In alter Frische!« Und wie er ihm die Hand schüttelt, grölen schon alle im Chorus: »Hoch soll er leben! Hoch soll er leben! Er lebe hoch!« und dann lachen sie sich erst mal gründlich eins, kippen die vollen Schnapsgläser, wischen sich die Bärte und setzen sich aufs neue in Positur. »In diesem Sinne hab ich dir auch ein kleines Geschenk mitgebracht«, und Finger übergibt ein Päckchen, man drängt sich neugierig in die Nähe, als Otto es auszupacken beginnt. Eine papierene Umhüllung nach der andern ist abzuschälen, es nimmt gar kein Ende, Otto wird allmählich ungeduldig, die andern amüsieren sich königlich, und wie man schon meint, das Päckchen bestehe überhaupt nur aus papierenen Hüllen ohne Inhalt und die Fopperei gelungen nennen will, kommt doch zuletzt noch ein kleinwinziger Gegenstand zum Vorschein und erweist sich zum allgemeinen Gaudium als ein Stehaufmännchen. Mit gemachter Entrüstung, im Grunde doch geschmeichelt, gebärdet sich das Geburtstagskind Otto Bulze da, und schon lenkt Finger ein: »Na, nichts für ungut, Otto, ich hab dir auch was Reelles mitgebracht«, und wirft ein größeres Paket auf den Tisch, das dabei von selbst sich öffnet und eine Menge Wellwürste herausfallen läßt. »Mein Schwager Linka in Riemertsheide hatte doch Schweineschlachten, da hat er mir was abgelassen!« – »Dein Schwager soll leben! Mutter Böhm, nehmen Sie mal gleich die Schweinerei an sich und braten Sie sie uns mal draußen, da hätten wir gleich was Wurschtiges zum Verbeißen beim Trinken, aber die Emma soll sie nicht anbrutzeln lassen!« – »Nu, sage mal, Gustav, wie hast du die Würschte bloß vor Deiner Ollen in Sicherheit gebracht? Und vor allem, wie hast dus angestellt, dich heut früh zu drücken und hierher zu kommen? Da ist sie doch sonst immer mächtig hinter dir her, daß Du erst wieder loskommst, wenn es richtig zum Dienst geht!« – »Dies mal hab ich sie doch bemogelt. Ich sagte, ich müßte den Vorzug fahren, der ginge um 11Uhr15 vormittags; nu denkt sie, ich gondle längst in der Welt rum, dabei fängt mein Dienst erst wieder abends um 11 an.« – »Ein toller scheinheiliger Knabe, der Gustav! Der schwindelt mit der unschuldigsten Miene!« – »Was brauchen die Weiber auch alles zu wissen!« – »Und daß da draußen Schweineschlachten war, davon hat sie erst überhaupt keine Ahnung. Ich ging gestern Nachmittag raus nach Kartoffeln, da sagte mein Schwager, er hätte geschlachtet, er hätte vorzeitig schlachten müssen, das Schwein hatte sich’s Bein gebrochen, da ließ ich mir gleich ein paar Würste einpacken, die hab ich zuhause nicht weiter gezeigt. Meine war froh, daß ich Kartoffeln mitbrachte und überdies noch ein paar Pfund Äpfel.«
Den Bulze wurmt jetzt doch plötzlich die weiter nicht böse Anspielung von vorhin, er empfindet sie auch selbst nicht als böse, aber er muß sich halt rächen, und fragt nun: »Wie steht’s denn überhaupt bei euch, Gustav, ist immer noch nichts Kleines in Aussicht? Ihr müßt mal dem Storch bissel Zucker hinstreuen, er findet wohl so den Weg nicht zu euch?« Diesmal geht das Gepruste auf Fingers Kosten los, das eiserne Figürchen, das er dem Bulze zum Spottgeschenk machte, muß nun sogar gegen ihn selbst herhalten, wird ihm als löbliches Beispiel vorgewiesen, und er wüßte kaum, wie sich wehren, erschiene nicht in diesem Augenblick der Teller mit den gebratenen Würsten und wäre nun fürs nächste durch Mundlecken, Schmatzen, Würgen, anerkennendes Gerülps, nachher schwer Aufatmen, sich lüften, in den Zähnen stochern und mit der Zunge im Maul herum scheuern jeder vollauf beschäftigt. Fand zuerst das Geburtstagskind, Otto Bulze, seines Zeichens Geldbriefträger, die Sprache wieder, denn er hatte schon ein reichliches Festfrühstück zu Haus hinter sich, brauchte sich also bei den Würsten nicht mehr so lange zu verweilen, und fragte, indes er mit den Augen zwinkerte: »Und wer zahlt nun die nächste Runde Winschelburger? « Wollte Gustav Finger in der Seligkeit seines Freiheitsgefühles schon »Ich« sagen, als von der andern Ecke des Tisches her der Küster der Garnisonkirche, eine Feldwebelvisage mit Kaiserwilhelm-Vollbart trompetete: »Ich schlage vor, wir knobeln sie aus!« Wäre es der Reihe nach weitergegangen, daß jeder in der Runde einmal zum Bezahlen drankam, so hätte er jetzt dergleichen tun müssen; als gewesener Sergeant im Nassauern erfahren, wußte er solchen Zumutungen geschickt auszuweichen und war noch stets gratis dabeigewesen. Dafür stellte er bei solchen Festivitäten im Vertilgen desto mutiger seinen Mann, und er, der sonst stundenlang bei einem kleinen Biere saß, soff, fraß und qualmte für Zehn, wenn es auf Regiments Unkosten ging. Beim Würfelspiel hatte er zumindest wenigstens die Chance, zu gewinnen, und im übrigen die Fertigkeit, dem Glück ein wenig aufzuhelfen. Und da noch einige andere Kumpane um ihre Spendierpflicht ebenso herumzukommen hofften, die sich freilich nicht getraut hätten, so offenkundig dem an sie gerichteten Appell sich zu entziehen, fand der Vorschlag Anklang. Und als die fette Frau Böhm schwerfällig davonwatschelte, den ledernen, abgegriffenen, fettigen Würfelbecher zu holen, hemmte sie der Geldbriefträger erst noch einmal in ihrem Lauf mit der Weisung: »Erst geben Sie aber noch mal jedem eine Zigarre aus der Aurora-Kiste, Sie wissen schon! Standesgemäß zu 10 Pfennig!« Denn er seinerseits wußte, was er sich als Geburtstagskind schuldig war, das durch die Anwesenheit so vieler lieber Saufkumpane geehrt wurde; die heut getrunkenen Biere kommen sowieso auf seine Rechnung, er hatte extra ein Fäßchen Helles anstecken lassen, und wenn er nun noch jedem einen Glimmstengel spendierte, hatte er getan, was offiziell von einem noblen Gastgeber erwartet wurde, sein Beitrag zu dem heutigen Beisammensein war damit erledigt, und er konnte dann dem weiteren Verlauf des Tages mit dem ruhigen Gewissen eines Menschen entgegensehen, der das Geschäftliche, soviel auf seinen Teil kam, beglichen hatte. Von dem drallen Dienstmädchen, die zur Feier des Tages heut nach unten beordert war – der schiefschultrige Kommis und die beiden spitalgesichtigen, rothändigen Stifte bedienten draußen das Ladengeschäft –, wurden inzwischen die Teller und Bestecks abgeräumt, die Bierseidel neu gefüllt, wobei es nicht ohne allerlei mehr oder minder handgreifliche Zwiste abging, die das vom Lande stammende Mensch in Erwägung der später abfallenden Trinkgelder mit einer gewissen derben Jovialität quittierte. Dann wurde also gewürfelt, und die anzügliche Natur gewisser Würfeltouren wie »Ums Loch, ins Loch«, »Semiramis mit Hängetitten« brachten es von selbst mit sich, daß die Unterhaltung in ein sozusagen frivoles, ja ohne Umschweife gemeines Fahrwasser geriet. Mutter Böhm kannte und respektierte dieses Stadium, verschanzte sich hinterm Ladentisch, beorderte das Dienstmädchen oben in die Küche, ließ die Lehrlinge die gewünschte Zufuhr an Alkohol besorgen und begnügte sich damit, von da ab das Verzehrte doppelt anzukreiden. Denn sie wußte erfahrungsgemäß, jetzt oder nie sei für sie ein lohnender Profit zu machen.
[…]
SINN UND FORM 1/2015, S. 5-40, hier S. 5-12
Herrmann, Max
- 3/1961 | Das pantomimische Spiel
- 1/2015 | Die Kellnerin.
Mit einer Vorbemerkung von Klaus Völker, S. 457 Leseprobe
Herrmann-Neiße, Max
Die Kellnerin
I.
Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig dazu gesprochen, daß der ersprießliche Vorgang nicht unnötigerweise gestört würde, auch war man ohnehin noch morgendlich maulfaul, zur unternehmungslustigen Wachheit des Tages nicht bereit. Hatten sich also die beiden Eheleute wie zwei faule, dampfende Massen einander gegenüber gelagert, der Mann auf dem Sofa, hemdsärmlig, vor sich auf rotbeblümter Tischdecke den tiefen Teller voll Aufgewärmtem, Suppe, Fleisch, Gemüse von gestern Mittag zu einem Brei verkocht, dicke Bissen Brotes nun noch hineingebrockt und das Rauchende dann in sich geschaufelt, an der anderen Seite des Tisches Frau Bertha, zottlige Haare unfrisiert um das frisch geaschte, verdunsene Gesicht, die Augen kindlich blöde blinzelnd, mit weißgestärkter, knallender Untertaille vorläufig die schaukelnden Rundlichkeiten garniert, die prallen nackten Arme auf der Tischplatte breit aufgelümmelt, Kaffee schlappernd, eine Semmel in die Flüssigkeit tunkend und das triefende Gebäck mit Geschmatz ins Maul sich pappend. Über dem Ganzen der Dunst warmer, eben erst verlassener Betten, Küchengeruch, Schweiß der Nachtruhe und des Tages und der Haussegen. Die beiderseits stier, als habe man eben erst vor, wirklich hinzusehen, und nur spärlich, stockend, in großen Zwischenräumen quält sich aus dem Gähnen, Schnaufen, Kauen, Sichräkeln ein belangloses, mißtöniges Hin und Her von Geräuschen, der träge Versuch einer Art Gespräch: »Die Klosen hatte gestern schon wieder ein neues Kostüm und einen neuen Hut! Das kann der Mann doch von seinem Bissel Heizergehalt garnicht schaffen! Das geht doch wohl nicht mit rechten Dingen zu, da steckt was dahinter, das kannst Du mir glauben! Man munkelt ja auch schon lange Verschiedenes. Der Stadtrat Bulze soll beteiligt sein …« – »Und er selber, der Klose, treibts auch auffällig: er lebt über seinen Stand hinaus. So geht doch kein Heizer angezogen! Da müßte ich als Lokomotivführer wer weiß wie nobel gekleidet sein! Er sumpft auch die Nächte durch, wenn er frei hat. Und in Lokalen, wo unsereins weiß Gott doch nicht hingehört, im ›Schwan‹, im ›Kaiserhof‹, in Liebigs Hotel. Dann liegt er besoffen und kommt nicht zum Dienst!« Und allerlei Landläufiges vom Wetter, von den Preisen, von Zeitungsneuigkeiten, von Hochzeiten, Taufen und Sterbefällen. Bis Finger einmal auf seine Uhr sieht, »Verpucht, nu ist’s aber Zeit!« jappst, eine letzte Ladung Fraß hinunterjagt und schwerfällig aufsteht, sich vollends zurechtzumachen. Indessen streicht die Frau Frühstücksbrote, füllt die Kanne mit Kaffee und verstaut alles im schwarzen, hölzernen Handkoffer. Finger, in Uniform, die Mütze auf dem Kopfe, nimmt den Kasten, klatscht der Seinen zum Abschied wohlwollend derb auf die gewichtige Hinterfront und gibt, schon in der Tür, noch Aufträge: »Vergiß nicht, den Zivilanzug in Ordnung zu bringen, die Schuhe zum Besohlen zu tragen, meine Kragen zu plätten, die grauen Socken zu stopfen, schreib der Schwägerin zum Geburtstage, dann schickt sie auch was vom Schweineschlachten, und bezahl morgen früh die Miete, Geld laß ich dir soviel da, daß du auskommst. Na dann, Adieu!« Und die Holzstiegen herunter stapft sein gewichtiger Schritt.
Auf der Straße gibt sich Finger einen besonderen Ruck, stramm und zielbewußt, wie man als pflichtgetreuer Beamter zum Dienst geht. Dreht sich auch noch einmal um, richtig, guckt ihm seine Bertha wie üblich aus dem Fenster nach, er winkt hinauf, nicht zu enthusiastisch, sonst bilden sich die Frauenzimmer wer weiß was ein und die Leute auf der Gasse lächeln womöglich über ihn, eher etwas streng, wie der Lehrer zum Schüler, der in die Ferien geht, »Mach deine Hausarbeit ordentlich, und gutes Betragen bitt’ ich mir aus!«, mahnend: »Wir sprechen uns wieder! Ich werde streng prüfen!«, aber das Weib läßt ihren immer noch schlecht verwahrten Busen in der knallenden Untertaille fast auf den Bürgersteig fallen, winkt wie verrückt, als gälte es einen Abschied auf Tod und Leben, girrt noch etwas nach, was er garnicht mehr dem Wortlaut nach verstehen kann, fuchtelt und wabbelt. Wo die Wilhelmstraße endet, biegt er um die Ecke, grinst, nimmt den Kurs nicht mehr weiter zum Bahnhof, schwenkt leichten Tritts, wie auf Kommando »Rührt euch!« schmunzelnd in Mutter
Böhms Frühstückstube.
Als Finger vom Hausflur aus die Tür öffnet, die in den dumpfen, am Tag fast dunklen Raum führt, der hinter der Wittfrau Böhm Laden, »Kolonial- und Delikateßwaren«, liegt, schallt es ihm entgegen: »Hurra, der Seemann ist da!« – »Hast du doch Wort gehalten, Gustav!« – »Na, da setz dich mal ran! Und Mutter Böhm, noch’n Doppelstöckigen!« Finger gibt zurück: »Wenn ich sage, ich komme, dann komm’ ich auch, und wenn alle Stricke reißen! Ich werde doch an Ottos Geburtstag nicht fehlen!«, und eh er Platz nimmt, geht er auf den vierschrötigen Bullenbeißer, der in der Mitte der Kumpane thront, zu und entledigt sich seiner Gratulation: »Na, Otto, da wünsch ich Dir noch weitere 45 Jahre, und daß es immer so gut geht, wie bisher, du weißt schon, wie ich’s meine, jedes Jahr einen neuen zukünftigen Rekruten für die deutsche Armee! In alter Frische!« Und wie er ihm die Hand schüttelt, grölen schon alle im Chorus: »Hoch soll er leben! Hoch soll er leben! Er lebe hoch!« und dann lachen sie sich erst mal gründlich eins, kippen die vollen Schnapsgläser, wischen sich die Bärte und setzen sich aufs neue in Positur. »In diesem Sinne hab ich dir auch ein kleines Geschenk mitgebracht«, und Finger übergibt ein Päckchen, man drängt sich neugierig in die Nähe, als Otto es auszupacken beginnt. Eine papierene Umhüllung nach der andern ist abzuschälen, es nimmt gar kein Ende, Otto wird allmählich ungeduldig, die andern amüsieren sich königlich, und wie man schon meint, das Päckchen bestehe überhaupt nur aus papierenen Hüllen ohne Inhalt und die Fopperei gelungen nennen will, kommt doch zuletzt noch ein kleinwinziger Gegenstand zum Vorschein und erweist sich zum allgemeinen Gaudium als ein Stehaufmännchen. Mit gemachter Entrüstung, im Grunde doch geschmeichelt, gebärdet sich das Geburtstagskind Otto Bulze da, und schon lenkt Finger ein: »Na, nichts für ungut, Otto, ich hab dir auch was Reelles mitgebracht«, und wirft ein größeres Paket auf den Tisch, das dabei von selbst sich öffnet und eine Menge Wellwürste herausfallen läßt. »Mein Schwager Linka in Riemertsheide hatte doch Schweineschlachten, da hat er mir was abgelassen!« – »Dein Schwager soll leben! Mutter Böhm, nehmen Sie mal gleich die Schweinerei an sich und braten Sie sie uns mal draußen, da hätten wir gleich was Wurschtiges zum Verbeißen beim Trinken, aber die Emma soll sie nicht anbrutzeln lassen!« – »Nu, sage mal, Gustav, wie hast du die Würschte bloß vor Deiner Ollen in Sicherheit gebracht? Und vor allem, wie hast dus angestellt, dich heut früh zu drücken und hierher zu kommen? Da ist sie doch sonst immer mächtig hinter dir her, daß Du erst wieder loskommst, wenn es richtig zum Dienst geht!« – »Dies mal hab ich sie doch bemogelt. Ich sagte, ich müßte den Vorzug fahren, der ginge um 11Uhr15 vormittags; nu denkt sie, ich gondle längst in der Welt rum, dabei fängt mein Dienst erst wieder abends um 11 an.« – »Ein toller scheinheiliger Knabe, der Gustav! Der schwindelt mit der unschuldigsten Miene!« – »Was brauchen die Weiber auch alles zu wissen!« – »Und daß da draußen Schweineschlachten war, davon hat sie erst überhaupt keine Ahnung. Ich ging gestern Nachmittag raus nach Kartoffeln, da sagte mein Schwager, er hätte geschlachtet, er hätte vorzeitig schlachten müssen, das Schwein hatte sich’s Bein gebrochen, da ließ ich mir gleich ein paar Würste einpacken, die hab ich zuhause nicht weiter gezeigt. Meine war froh, daß ich Kartoffeln mitbrachte und überdies noch ein paar Pfund Äpfel.«
Den Bulze wurmt jetzt doch plötzlich die weiter nicht böse Anspielung von vorhin, er empfindet sie auch selbst nicht als böse, aber er muß sich halt rächen, und fragt nun: »Wie steht’s denn überhaupt bei euch, Gustav, ist immer noch nichts Kleines in Aussicht? Ihr müßt mal dem Storch bissel Zucker hinstreuen, er findet wohl so den Weg nicht zu euch?« Diesmal geht das Gepruste auf Fingers Kosten los, das eiserne Figürchen, das er dem Bulze zum Spottgeschenk machte, muß nun sogar gegen ihn selbst herhalten, wird ihm als löbliches Beispiel vorgewiesen, und er wüßte kaum, wie sich wehren, erschiene nicht in diesem Augenblick der Teller mit den gebratenen Würsten und wäre nun fürs nächste durch Mundlecken, Schmatzen, Würgen, anerkennendes Gerülps, nachher schwer Aufatmen, sich lüften, in den Zähnen stochern und mit der Zunge im Maul herum scheuern jeder vollauf beschäftigt. Fand zuerst das Geburtstagskind, Otto Bulze, seines Zeichens Geldbriefträger, die Sprache wieder, denn er hatte schon ein reichliches Festfrühstück zu Haus hinter sich, brauchte sich also bei den Würsten nicht mehr so lange zu verweilen, und fragte, indes er mit den Augen zwinkerte: »Und wer zahlt nun die nächste Runde Winschelburger? « Wollte Gustav Finger in der Seligkeit seines Freiheitsgefühles schon »Ich« sagen, als von der andern Ecke des Tisches her der Küster der Garnisonkirche, eine Feldwebelvisage mit Kaiserwilhelm-Vollbart trompetete: »Ich schlage vor, wir knobeln sie aus!« Wäre es der Reihe nach weitergegangen, daß jeder in der Runde einmal zum Bezahlen drankam, so hätte er jetzt dergleichen tun müssen; als gewesener Sergeant im Nassauern erfahren, wußte er solchen Zumutungen geschickt auszuweichen und war noch stets gratis dabeigewesen. Dafür stellte er bei solchen Festivitäten im Vertilgen desto mutiger seinen Mann, und er, der sonst stundenlang bei einem kleinen Biere saß, soff, fraß und qualmte für Zehn, wenn es auf Regiments Unkosten ging. Beim Würfelspiel hatte er zumindest wenigstens die Chance, zu gewinnen, und im übrigen die Fertigkeit, dem Glück ein wenig aufzuhelfen. Und da noch einige andere Kumpane um ihre Spendierpflicht ebenso herumzukommen hofften, die sich freilich nicht getraut hätten, so offenkundig dem an sie gerichteten Appell sich zu entziehen, fand der Vorschlag Anklang. Und als die fette Frau Böhm schwerfällig davonwatschelte, den ledernen, abgegriffenen, fettigen Würfelbecher zu holen, hemmte sie der Geldbriefträger erst noch einmal in ihrem Lauf mit der Weisung: »Erst geben Sie aber noch mal jedem eine Zigarre aus der Aurora-Kiste, Sie wissen schon! Standesgemäß zu 10 Pfennig!« Denn er seinerseits wußte, was er sich als Geburtstagskind schuldig war, das durch die Anwesenheit so vieler lieber Saufkumpane geehrt wurde; die heut getrunkenen Biere kommen sowieso auf seine Rechnung, er hatte extra ein Fäßchen Helles anstecken lassen, und wenn er nun noch jedem einen Glimmstengel spendierte, hatte er getan, was offiziell von einem noblen Gastgeber erwartet wurde, sein Beitrag zu dem heutigen Beisammensein war damit erledigt, und er konnte dann dem weiteren Verlauf des Tages mit dem ruhigen Gewissen eines Menschen entgegensehen, der das Geschäftliche, soviel auf seinen Teil kam, beglichen hatte. Von dem drallen Dienstmädchen, die zur Feier des Tages heut nach unten beordert war – der schiefschultrige Kommis und die beiden spitalgesichtigen, rothändigen Stifte bedienten draußen das Ladengeschäft –, wurden inzwischen die Teller und Bestecks abgeräumt, die Bierseidel neu gefüllt, wobei es nicht ohne allerlei mehr oder minder handgreifliche Zwiste abging, die das vom Lande stammende Mensch in Erwägung der später abfallenden Trinkgelder mit einer gewissen derben Jovialität quittierte. Dann wurde also gewürfelt, und die anzügliche Natur gewisser Würfeltouren wie »Ums Loch, ins Loch«, »Semiramis mit Hängetitten« brachten es von selbst mit sich, daß die Unterhaltung in ein sozusagen frivoles, ja ohne Umschweife gemeines Fahrwasser geriet. Mutter Böhm kannte und respektierte dieses Stadium, verschanzte sich hinterm Ladentisch, beorderte das Dienstmädchen oben in die Küche, ließ die Lehrlinge die gewünschte Zufuhr an Alkohol besorgen und begnügte sich damit, von da ab das Verzehrte doppelt anzukreiden. Denn sie wußte erfahrungsgemäß, jetzt oder nie sei für sie ein lohnender Profit zu machen.
[…]
SINN UND FORM 1/2015, S. 5-40, hier S. 5-12
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- 2/2016 | »Wir leben in einer Zeit der Übergänge.« Gespräch mit Achim Engelberg , S. 217 Leseprobe
Hertmans, Stefan
»Wir leben in einer Zeit der Übergänge«. Gespräch mit Achim Engelberg
ACHIM ENGELBERG: Mit Ihrem letzten Roman »Der Himmel meines Großvaters« gelang Ihnen der internationale Durchbruch. In mindestens neunzehn Sprachen ist oder wird das Buch verlegt. Sie reisen den Übersetzungen hinterher. Kommen Sie – jenseits von kleineren Arbeiten – noch zum Schreiben?
STEFAN HERTMANS: Ich beende gerade einen Roman, der im 11. Jahrhundert spielt und auf einem alten sephardisch-hebräischen Manuskript beruht, das sich in einer Sammlung in Cambridge befindet. Auf meine Protagonistin stieß ich durch ein Buch des Historikers Simon Schama. Nach drei Jahren Recherche weiß ich, daß sie 1070 geboren wurde, also vier Jahre nach der Schlacht bei Hastings, dem ersten Erfolg der französischen Normannen bei der Eroberung Englands. Auf den Straßen geißelten sich damals Flagellanten, um ihre Greueltaten in der Schlacht und bei den anschließenden Plünderungen zu büßen. Der Vater meiner Protagonistin ist ein vornehmer christlicher Normanne, sie aber verliebt sich in einen Juden, den Sohn des Großrabbiners von Frankreich, und flieht mit ihm 1090 – da ist sie zwanzig – neunhundert Kilometer nach Narbonne. Sie heiraten und geraten nach sechs glücklichen Jahren in eines der ersten Pogrome der Kreuzfahrer. Und genau in diesem Dorf in der Provence, in dem südöstlich vom Mont Ventoux gelegenen Monieux, habe ich seit zwanzig Jahren ein Haus.
ENGELBERG: Diese Pogrome waren der Auftakt für eine Mordserie, die sich bis in deutsche Lande zog. In Mainz starb fast die gesamte jüdische Gemeinde.
HERTMANS: In Monieux töteten Kreuzfahrer den Mann meiner Heldin und nahmen die Kinder mit. Diese Frau hat etwa hundert Meter von meinem Haus entfernt gelebt. Ich fand Überreste des rituellen Bades der Synagoge. Durch das Dokument, auf das ich mich stütze – es wurde 1888 in der Synagoge von Kairo gefunden –, wissen wir, daß sie auf der Suche nach ihren Kindern in Ägypten war. Vielleicht hoffte sie, weiter nach Jerusalem zu gelangen. Die jüdische Gemeinde half ihr. Ein Jahr später war sie in Nordspanien, wo man sie als Hexe verbrennen wollte. Sie entkam und ging wieder nach Monieux. Ich schreibe also die Geschichte meines Dorfes, aber aus der Perspektive eines Flüchtlings, der in anderer Richtung sein Heil sucht als die heutigen. Die Muslime waren gegenüber Juden und Konvertiten toleranter. Das ist eine tausend Jahre alte und zugleich aktuelle Geschichte.
ENGELBERG: Ihr Vorgängerbuch »Der Himmel meines Großvaters« birgt auch viel Autobiographisches und Dokumentarisches. Aus den Notizbüchern Ihres Großvaters erarbeiten Sie ein ebenso weites wie detailreiches Panorama. Nimmt, wenn Sie auf Ihr Werk schauen, das Autobiographische zu?
HERTMANS: Beides, das Dokumentarische und das Autobiographische, wird für mich immer wichtiger. Ich komme aus einer Generation, die an der Universität studierte und dort Vorbilder fand in Dichtern wie Samuel Beckett und Paul Celan, für die die Avantgarde und Post-Avantgarde wichtig waren. Allmählich eröffneten sich mir andere Möglichkeiten. Mein erstes Buch hieß »Raum« und war beeinflußt vom Nouveau Roman.
ENGELBERG: Also von Autoren wie Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet.
HERTMANS: Ja, aber auch Marguerite Duras sollte man nicht vergessen. Dann vollzog ich eine postmoderne Wende und schrieb »Amselbach«, eine Parodie auf Romane wie die von Ernest Claes, die viel gelesen wurden und das schöne Flandern beschrieben. Sie prägten auch in Deutschland die Vorstellung von den Flamen als arkadisches Volk, das gemütvolle Bücher schreibt. Das haßte ich natürlich, aber gerade einigen deutschen Kritikern fiel die Parodie nicht auf, einer schrieb sogar, daß die flämische Literatur immer noch sehr ländlich sei. Das kam auch daher, daß man den Untertitel »Die Autobiographie eines Lügners « nicht mitübersetzt hatte. »Amselbach« ist ein Pastiche. Ich las zu dieser Zeit Witold Gombrowicz, »Ferdydurke« und anderes, und hatte eine Groteske über die Identitätskrisen der Flamen verfaßt. Das verstand man in Flandern oder in den Niederlanden gut, nicht aber in Deutschland. Es war ein Bruch mit der ländlichen Tradition.
Viel gelernt habe ich von Hugo Claus, aber ich gehöre natürlich zu einer anderen Generation. Er war Jahrgang 1929, ich bin 1951 geboren. Bei Claus findet man eine Mischung aus ironischem Manierismus und Naturalismus. Bei mir wird daraus ein post-experimenteller, ironischer Umgang mit der eigenen Autobiographie. Und nun endlich zur Antwort auf Ihre Frage: Als Intellektueller hatte ich damals Hemmungen, etwas Autobiographisches zu schreiben, aber ich hatte auch meinen Proust gelesen. Es gab natürlich im Buch auch eine nostalgische Sicht auf das, was ich als Jugendlicher in den sechziger Jahren erlebt habe. Ich schrieb eine Groteske auf einen »Roots«-Roman, hielt es aber für feige, zu verbergen, daß ich, wie Jacques Derrida sagt, doppelt gebunden bin. Ich stieß mich ab und wußte doch, da gehöre ich hin. Es war ein Buch gegen den Vlaams Blok, der ein unabhängiges Flandern will. Ich wollte zeigen, daß man auch ohne klare Identität leben kann.
ENGELBERG: Ein Einschnitt für Belgien war die Staatskrise, die der Kindermörder Dutroux im Sommer 1996 auslöste. Wenn ein Kriminalfall ein ganzes Land erfaßt, dann steckt dahinter mehr als ein Verbrechen. Auf solche Ereignisse reagieren Sie direkt mit Zeitungsartikeln, aber auch indirekt mit Romanen.
HERTMANS: Ja, der Roman ist für mich ein Mittel, um soziologisch-kulturell-allgemeinpsychologische Themen intuitiv auszuarbeiten. In der Dutroux-Periode schrieb ich »Wie am ersten Tag«. Ein dunkles Buch, in dem ich in drei Teilen eine Figur vom dreizehnten bis in die vierziger Lebensjahre schreckliche sexuelle Dinge tun lasse. Er vergewaltigt und tötet etwa eine Frau beim Halleluja von Monteverdi. Es war ein Buch über die dunklen Seiten des Erhabenen. Danach schrieb ich einen Thriller über die Wiederkehr der Chasaren, eines Volks, das im 10. Jahrhundert verschwunden ist und über das es diverse Theorien und Spekulationen gibt. In dem Buch stelle ich mir vor, sie kehrten als Terrorgruppe zurück. Das war ein Roman über Liebe in Zeiten von Paranoia und Terrorismus, er wird gerade verfilmt. »Lauter als Schnee« heißt er nach einer Metapher im Buch, daß das Blut lauter als Schnee auf den Boden fällt. Danach schrieb ich einen Roman über eine postfeministische Frau. Eine Penelope, die nicht mehr auf ihren Odysseus warten will. Einmal nennt sie sich eine umgekehrte Penelope, nachts in ihren Träumen webe sie Treue, aber tagsüber zerreiße sie wieder alles. Deshalb heißt das Buch »Das verborgene Gewebe«. Die Protagonistin ist eine in eine Krise geratene Schriftstellerin. Ich dachte dabei an Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek. Im Roman heißt sie auch Jelina. Sie ist völlig emanzipiert, ihr Mann Hans ist grün-alternativ, sanft und sorgt für das Kind. Die Frau hat männliche und der Mann weibliche Züge. Am Ende verläßt Jelina den Mann und ihr Kind für eine andere Zukunft. Ich empfinde es immer noch als eines meiner schönsten Bücher. Es ist wie ein Tagebuch einer Frau geschrieben. Jeder Autor möchte sich wie Flaubert mit »Madame Bovary« in eine Frau hineinversetzen. Sie sehen, alle meine Romane beschreiben gewisse Perioden unserer gesellschaftlichen Entwicklung.
ENGELBERG: International bekannt wurden Sie mit »Der Himmel meines Großvaters«.
HERTMANS: »Krieg und Terpentin« heißt er im Original, eine ironische Abwandlung von »Krieg und Frieden«. Vordergründig ging es um die Identität Flanderns. Ich fragte: Was hat der Erste Weltkrieg – der immer noch der Große Krieg heißt – mit dem Land gemacht? Was haben wir verdrängt? Ich versuche immer eine autobiographische Schicht einzubeziehen, weil sie meine Beziehung zum Thema zeigt. Ich bin kein überlegener Autor mit der Souveränität eines Thomas Mann oder Harry Mulisch. Für mich ist das fast altmodisch, ich muß mich outen wie W. G. Sebald, muß zeigen, daß ich in einem Thema lebe. Es gibt in all meinen Büchern das autobiographische Engagement, dann die fiktive Struktur, die Imagination der Erzählung, und als drittes das Reale, weil ich recherchiere und Aktuelles, Soziologisches einbeziehe. Diese drei Elemente zeigen für mich die Wahrheit des zeitgenössischen Romans. Das Autobiographische und das Gesamtgesellschaftliche verbinden sich mit dem Imaginären.
ENGELBERG: Und es gibt Auftritte von nicht mit Namen genannten Personen der Zeit- und Kulturgeschichte. Peter Handke zum Beispiel.
HERTMANS: Nein, nein. Die meisten Leute glauben, es sei Handke gemeint. Aber es ist Botho Strauß mit seinem Essay »Anschwellender Bocksgesang«. Wenn wir nicht mehr zu kämpfen lernen, sagt er sinngemäß, dann fehlt uns auch der Respekt vor dem Gegner.
ENGELBERG: Von Botho Strauß gibt es einen Band mit dem Titel »Die Fehler des Kopisten«. Auch bei Ihnen geht es um das Thema Original und Kopie. Mir scheint, der Roman ist eine eindrucksvolle Auseinandersetzung damit, nicht nur, weil Ihr Großvater Bilder alter Meister kopierte. Das Original ist der Fehler des Kopisten, wenn er sich emanzipiert.
HERTMANS: Zunächst ist mein Buch ein Roman über den Ersten Weltkrieg, dann ein Bildungsroman über einen kleinen flämischen Soldaten und schließlich ein Roman über eine erhabene Liebe, über den Pietismus in Flandern. Etwas tiefer kommt man zu der Schicht, die Sie ansprachen, Mimesis und creatio ex nihilo. Das sind die beiden großen Traditionen, die ich mein Leben lang an der Kunstakademie gelehrt habe. Seit der Romantik glauben wir, daß der Künstler wie Gott etwas völlig Originelles schafft. Er schafft – creatio ex nihilo – etwas Neues aus dem Nichts. Das wirkte damals wie ein Donnerschlag. Die ältere Tradition war die mimetische, sie galt noch in der Renaissance. Man muß die Alten nachahmen, um originell zu werden. Das meine ich noch immer. Ich habe immer ein bißchen über die Forderung der Postmoderne gelächelt, man müsse intertextuell sein. Das haben Dante und Petrarca schließlich auch schon gesagt.
ENGELBERG: Das ist sogar noch älter, denken wir an Ovids »Metamorphosen« …
HERTMANS: Natürlich. Ovid ist Postmodernismus. Intertextualität gab es schon immer. Und Derrida war ein alter hebräischer Schriftgelehrter. Wenn man diesen großen Raum der Literatur überblickt, wird man gelassener beim Streit der unterschiedlichen Schulen. In meinem Roman stellte ich meinen Großvater als Kopisten dar, der sein Leben in kleinen Details versteckt. So hat er in einer Kopie eines Velázquez-Gemäldes im Spiegelbild das Gesicht seiner frühverstorbenen, großen Liebe Maria Emelia gemalt. Er war kein Intellektueller, aber auf so etwas kam er. Indem er ein Detail änderte, wurde alles anders. Der nackte Frauenkörper konnte jetzt der seiner großen Liebe sein. Die Ironie des Buches ist, daß ich der letzte Kopist bin. Ich habe einige Details aus dem Leben meines Großvaters verändert, die niemand kennt. Mein Buch ist ein Alltags-Triptychon in einer katholischen Kirche. Der heilige Martinus als Kind, der heilige Martinus als Soldat, der heilige Martinus in der Wüste seiner späten Jahre. Was heißt Originalität im Leben? Manche glauben, sie seien unabhängige Subjekte. Aber wir sind geprägt durch Großeltern, Eltern, Geschwister, Freunde, Partner usw. Wir werden von allen Seiten beeinflußt und sind auch Kopien anderer Leben. Das ist ein philosophisches Thema im Buch, für mich das wichtigste.
ENGELBERG: Was sind Ihre weiteren Themen?
HERTMANS: Die Zeit. Die Proustsche Zeit. Die Uhr, die ich mit zwölf Jahren fallengelassen habe, ist eine Metapher. Man läßt die Zeit aus der Hand gleiten. Es ist mit unserem Gedächtnis wie mit Hegels Eule der Minerva, die erst bei anbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt. Also wenn es zu spät ist. Wenn unsere Großeltern gestorben sind, denkt man, man hätte dies und jenes noch fragen sollen. Dann müssen wir unsere Fantasie, Einbildungskraft und Einfühlung einsetzen. Bei Lesungen halte ich oft das Buch hoch und sage, das ist die reparierte Uhr. Die Geschichte der Zeit im Buch ist zyklisch. Mein Großvater erinnert sich an seinen toten Vater. Während des Ersten Weltkrieges entdeckt er in Liverpool eine Kirchenmalerei des Verstorbenen, die ihn darstellt. Das ist wie ein spätes Liebeszeichen. Immer wieder gibt es Zyklen, gibt es Kopien. So ist auch meine Großmutter eine unzulängliche Kopie ihrer Schwester, der großen Liebe meines Großvaters. Diese Wiederholungsthematik findet sich in der Malerei, im Buch und in den Kriegserfahrungen. Der Besuch der Gelatine-Fabrik mit den vielen toten Tieren nimmt natürlich die Verwesung im Krieg vorweg. Das Buch hat mehrere Wendungen, einschließlich des Remarque-Zitats am Anfang: »Die Tage stehen wie Engel in Gold und Blau / Unfaßbar über dem Ring der Vernichtung. / Jeder hier weiß, daß wir den Krieg verlieren.« Hier deute ich an, daß das Buch für Flandern so etwas sein soll wie das von Remarque für die deutsche Literatur. Es ist keine Familienchronik, sondern eine Dekonstruktion und Rekonstruktion. Ich habe die Uhr zerspringen lassen, um sie wieder zusammenzusetzen.
(...)
SINN UND FORM 2/2016, S. 217-235, hier S. 217-221
- 2/2016 | Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität, S. 217 Leseprobe
Hertmans, Stefan
Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität
»Der Himmel meines Großvaters« basiert auf der Geschichte, genauer den Aufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, in deren Mittelpunkt seine Erfahrungen und Erlebnisse im Ersten Weltkrieg stehen. Er hat diese im wesentlichen zwischen 1963 und 1979 niedergeschrieben – also fast ein halbes Jahrhundert später, und mußte sich dabei oft traumatischen Erinnerungen stellen, die er sein Leben lang mit sich herumgetragen hat. Ich habe mein Buch, das noch einmal dreißig Jahre später entstanden ist, ganz bewußt als Roman bezeichnet. Dennoch wurde es in weiten Kreisen als historisches Dokument gelesen (...)
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
SINN UND FORM 2/2016, S. 229-235
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Hiemer, Horst
THEATERLEBEN Geschichten und Erfahrungen
Aus dem Deutschen Theater
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versachlichte sich die Theaterarbeit. Auch die Bühnenbilder änderten sich, und der Souffleurkasten, der kleine Hügel in der Mitte des Proszeniums, Relikt des alten Hoftheaters, angestammter Platz der Souffleuse, er verschwand. Sie saß nun, je nach Bühnenbau, in der Gasse neben dem Feuerwehrmann, in der Seitenloge oder sogar in der ersten Reihe.
In den sechziger Jahren inszenierte Benno Besson am Deutschen Theater Sophokles’ »Ödipus, Tyrann« in einer Neuübersetzung von Heiner Müller. Es war die erste Probe, die sogenannte Konzeptionsprobe, eine theoretische Übung. Und Besson erläuterte, wie das Regieteam in den schwierigen Vorbereitungen auf diese Arbeit noch die ganze letzte Nacht hindurch geschuftet hätte, um die für die Aufführung gültige Fabel zu formulieren, was ja bedeutete, sich über die Sicht auf das Stück zu einigen.
Dann folgten von seiten der Regie, des Bühnenbildners und der Dramaturgen Erläuterungen über die Literatur und Philosophie der Antike, über die Antike schlechthin und die Weltgeschichte überhaupt. Eine Flut gesammelten Wissens. Und nachdem die Schauspieler alles über Sophokles, Marx, die griechischen Philosophen, das Schicksal des Menschen, die Weltordnung und die gegenwärtige Politik gehört hatten, saßen sie stumm da, von soviel Wissenskraft wie erschlagen. Obendrein wurden sie nun aufgefordert, ihre Meinung zu sagen. Es entstand eine lähmende Pause. Bis endlich – zur Freude von Besson – Fred Düren, auf den eine Riesenrolle mit langen Textpassagen wartete, er sollte den Ödipus spielen, bis Düren also den Finger hob und sagte: »Eine Frage, Benno. Wo sitzt die Souffleuse?«
***
Schon auf der Konzeptionsprobe kündigte Besson an, daß Reiner Bredemeyer die Musik zur Inszenierung schreiben werde; sämtliche Chöre der Thebaner würden durchkomponiert. Die Proben begannen ohne Musik. Wochen vergingen, und keine Noten waren zu sehen. Besson mahnte. »Brede, wir können ohne Musik die Chöre nicht erarbeiten.« Die Zeit drängte, Besson drängte. Wieder verging eine Woche. Besson stellte ein Ultimatum. Und Bredemeyer versprach für den nächsten Vormittag die Musik.
Große Spannung am nächsten Morgen. Gegen elf Uhr wurde die Bühne geräumt, ein Klavier in die Mitte geschoben. Bredemeyer erschien. Zum allgemeinen Erstaunen ging er jedoch nicht zum Klavier, sondern verschwand sogleich, um irgendwas auf der Hinterbühne zu suchen. Nach einer Weile sah man ihn wieder, wie er einen Zementblock mit Eisenhenkel heranschleppte, den die Bühnenarbeiter zum Beschweren von Versatzstücken verwendeten. Noch immer ging er nicht ans Klavier. Er schob den Block an die Rampe, kramte in seiner Jacke einen U-Bahn-Fahrschein hervor, starrte, kurzsichtig wie er war, lange darauf, sang zwei, drei seltsame Töne, hob den Block empor und ließ ihn krachend niedersausen. Dann steckte er den Fahrschein wieder in die Jacke, kam nach unten und setzte sich.
Besson, der schon einiges Absonderliche in seiner Theaterpraxis erlebt hatte, war baff. »Brede, ist das alles?« Bredemeyer nickte. Das war alles. Denn was er da vorgeführt hatte, war der wunderbare Grundrhythmus für die Trommeln, die in dieser Inszenierung den Chor führten und die Aufführung begleiteten.
***
Später gastierte das Deutsche Theater mit »Ödipus, Tyrann« in Zürich. Aus politischen Gründen erlaubten die DDR-Behörden nicht, die Bundesrepublik zu überfliegen. Obgleich Devisen knapp waren, flogen wir den Umweg über Wien. Dort bestiegen wir eine kleine Swiss-Air-Maschine, die uns schließlich nach Zürich brachte. Auf dem Wiener Flugplatz sah man riesige Reklametafeln – Swiss-Air sei eine einzigartige Fluglinie, Swiss-Air hätte alles an Bord, was man sich nur wünschte. Klaus Piontek, immer vornweg mit seinem Temperament, winkte während des Flugs eine junge Stewardeß heran. »Sagen Sie, gnädiges Fräulein, man liest hier dauernd die Reklame, Sie hätten alles an Bord?« – »Ja, das ist wahr.« Animiert von ihrer Schönheit, fragte er frech: »Haben Sie auch Präservative?« Und sofort antwortete das Mädchen im schönstem Schweizerisch: »Nein, mein Herr, wir sind ein Kurzstreckenflugzeug.« Ich habe nur einmal in meinem Leben Klaus Piontek perplex erlebt, das war in diesem Augenblick.
***
Nach der Absetzung von Wolfgang Langhoff inszenierte der neue Intendant Wolfgang Heinz in den sechziger Jahren am Deutschen Theater den Hamlet. Die Inszenierung gefiel uns nicht. Damals gefiel uns eigentlich überhaupt nichts, außer Brecht. Horst Drinda war Hamlet. Er gefiel uns auch nicht. Wir meinten, er sei eine Fehlbesetzung, zu alt, und in seiner Spielweise das größte Übel. Eberhard Esche war Fortinbras, ich spielte den ersten Schauspieler. In Halle hatte ich bereits den Romeo gespielt, und ein Kritiker schrieb, das sei kein Romeo, das sei eher ein Hamlet. Sicher wollten wir beide, ohne es uns einzugestehen, den Hamlet spielen. Vielleicht wollten wir auch die Tradition der Spaßmacher, der witzigen Vorfälle aus der Geschichte des Deutschen Theaters, die uns die Alten überlieferten, fortsetzen. Jedenfalls waren wir beide uns einig, daß irgendwas geschehen mußte. Nur was? Nach längerer Beratung kamen wir auf die Idee, am Schluß der Hamlet-Premiere an der Max-Reinhardt-Büste auf dem Vorplatz des Theaters einen Kranz niederzulegen, der das ganze Unternehmen lächerlich machen sollte.
In einem Brief bat ich meine gebrechliche Großmutter, wohnhaft in Altenburg in Thüringen, in ein Beerdigungsgeschäft zu gehen und eine mit Goldlettern bedruckte Kranzschleife mit folgender Aufschrift zu bestellen: »Dank Dir! Horst Drinda, Nationalpreisträger«. Das Wort Nationalpreisträger ganz unten, klein, aber doch auffällig.
Die Premiere nahte. Wir hatten den schönen Plan fast vergessen, da erhielt ich von meiner wunderbaren Großmutter ein Päckchen mit der gewünschten Schleife. Und wir besorgten einen Kranz. Unweit des Deutschen Theaters befand sich die jugoslawische Botschaft. Ständig patrouillierten Volkspolizisten in dem Terrain. Das Niederlegen des Kranzes erwies sich als schwierig, aber zwischen dem Auftritt des Fortinbras am Ende des Abends und meinem mit der Ankunft der Schauspieltruppe in der Mitte des Stücks war genügend Zeit. Wir hockten also in den Büschen, bis sich eine günstige Gelegenheit bot, und legten den Kranz an die Stele.
Nun begann das Debakel. Mit Premierenschluß, nach gewohnt langem Applaus, verließ die Masse der Zuschauer das Theater. Der Vorplatz wurde zu diesem Zeitpunkt immer von mehreren Scheinwerfern erleuchtet, ein Extrascheinwerfer war auf Max Reinhardt gerichtet. Vor der Stele bildete sich eine Menschentraube, es begannen Diskussionen. Die Leute waren sich uneinig. Ein Teil fand den ehrerbietigen Gruß an den Ahnherrn des Theaters hoch anständig; ein anderer mokierte sich und fragte, in welcher Weise denn Reinhardt Anteil an der Inszenierung gehabt hätte und wie er denn Drinda bei der Erarbeitung der Rolle hätte helfen können. Einig aber war man sich darin, daß der Nationalpreisträger dort nichts zu suchen hätte, das sei geschmacklos.
Ansammlungen von Bürgern wurden in der DDR als hochgefährlich betrachtet. Standen mehr als drei Leute beisammen, galt das als Gruppenbildung. Der Kranz wurde also schleunigst requiriert und in der Pförtnerloge verstaut. Die Premierenfeier begann. Esche und ich betraten siegessicher das Kellerrestaurant. Das Geschehnis war in aller Munde, doch sehr bald begriffen wir, welchen Skandal wir heraufbeschworen hatten. Es wurde berichtet, daß man schon eifrigst nach den Tätern fahnde, die Kriminalpolizei sei bereits eingeschaltet. Wir, die wir uns im Vorgefühl des großen Spaßes als tolle Witzbolde gefeiert wähnten, wurden leichenblaß und hielten die Klappe. Jede Aufdeckung hätte unsere fristlose Entlassung bedeutet. Und dabei hatten wir doch gerade erst am Theater angefangen.
Frühmorgens legte ein Unbekannter den Kranz vor die Tür des Intendantenbüros. Neuerliche Verwirrung. Wolfgang Heinz, dem man den Vorfall bislang verschwiegen hatte, kam wie immer pünktlich zur Arbeit, sah das Corpus delicti, meinte, mit der Aufschrift »Dank Dir! Horst Drinda, Nationalpreisträger « sei er gemeint, war erst erstaunt, dann empört und vollführte eine solch gewaltige Stimmübung, daß der Stuck von der Decke fiel.
Die kriminalistischen Untersuchungen und auch die Nachforschungen der Staatssicherheit dauerten Wochen. Im Abschlußprotokoll wurde den Mitgliedern des Hauses verkündet, es hätte sich um einen Anschlag des Gegners gehandelt. Nach umfassenden Ermittlungen habe sich eindeutig erwiesen, daß die Kranzschleife nicht im Osten hergestellt wurde, sondern in Westberlin, auf dem Territorium des Klassenfeinds.
***
Wie Wahlen in der DDR abliefen, daran wird sich noch mancher erinnern. Ein ausgeklügeltes Ritual. Man wurde aufgefordert, offen vor allen zu wählen. Das Betreten der Wahlkabine galt schon als konterrevolutionärer Akt. Oft lagen dort nicht einmal Stifte. Die Parteien standen, brüderlich vereint, auf einer gemeinsamen Liste. Sie hieß »Die Kandidaten der Nationalen Front«. Die Wahlmöglichkeiten waren so beschränkt wie das Warenangebot in den Läden. Das Ergebnis waren meist 97 oder gar 98 bis 99 Prozent Ja-Stimmen. Wahrscheinlich genau der Bevölkerungsanteil, der grundsätzlich nur Westfernsehen sah. Bewußt gesteuerte Unklarheit herrschte darüber, was man mit dem Wahlzettel anstellen mußte, damit er als Gegenstimme gewertet wurde. Fred Düren betrat das Wahllokal, nahm die Unterlagen zur Hand, studierte die Namen, faltete sorgsam seinen Zettel, hob ihn in die Höhe, steckte ihn für alle sichtbar in die Pappurne, ging betont feierlich zum Tisch des scharf beobachtenden Vorstands und sagte besorgt, indem er sich vertrauensvoll zum Wahlleiter hinabbeugte: »Hoffentlich gewinnen Unsere.«
[...]
SINN UND FORM 5/2012, S. 694-710
Hierro, José
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- 1/1959 | Gedichte
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Hilbig, Wolfgang
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Hilbig, Wolfgang
»Aber lassen wir die Ironie, es geht um das Heiligste» Briefe an Ursula Großmann. Mit unveröffentlichten Gedichten
Vorbemerkung
Wenn 2020 der siebente und zugleich letzte Band der Werkausgabe Wolfgang Hilbigs erscheint, werden in erster Linie seine zu Lebzeiten veröffentlichten lyrischen, erzählerischen und essayistischen Texte vorliegen. Editorisch noch weitgehend unerschlossen sind hingegen das unveröffentlichte Werk und die umfangreiche Brief- und Postkartenkorrespondenz des 1941 im thüringischen Meuselwitz geborenen Autors. Der gelernte Bohrwerkdreher, der viele Jahre als Heizer arbeitete, war ein eifriger Briefeschreiber, noch häufiger verschickte er Postkarten, besonders Kunstpostkarten. Einige der Briefe und Karten werden vom Marbacher Literaturarchiv und vom Wolfgang-Hilbig-Archiv der Akademie der Künste aufbewahrt, der überwiegende Teil seiner Korrespondenz aber befindet sich in Privatbesitz.
Die Korrespondenz zwischen Hilbig und Ursula Großmann begann im Sommer 1968. Den ersten, nicht erhaltenen Brief schrieb Großmann, nachdem sie seine legendäre Annonce in der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« (Nr. 7/ 1968) gelesen hatte. Anderthalb Jahre später, im Januar 1970, kam der Briefwechsel zum Erliegen. Die Gründe dafür können nur vermutet werden. Hilbig arbeitete ab 1970 als Heizer im Dreischichtsystem. Möglicherweise hatte er einfach keine Zeit mehr. Während von ihm siebzehn Briefe, eine Brief- und eine Postkarte erhalten sind, gingen die Briefe Ursula Großmanns – bis auf einen, der als Durchschlag vorliegt – verloren.
Auf ihren Namen wurde ich bei Recherchearbeiten zu meiner 2017 erschienenen Hilbig-Biographie aufmerksam. Im Archiv der Akademie der Künste fand sich der Entwurf eines von Hilbig an Großmann adressierten Schreibens, das ich zitierte. Darauf stieß Großmann bei der Lektüre des Buches. In einem Telefonat erfuhr ich, daß sich noch weitere von Hilbig verfaßte, bislang unbekannte Briefe in ihrem Besitz befinden. Einige Briefe aus diesem Konvolut werden hier erstmals veröffentlicht.
Sie sind insofern bemerkenswert, als sie Aufschluß über eine Lebensphase des Autors geben, aus der nur wenige Zeugnisse bekannt sind. Nach seiner Entlassung aus dem Grundwehrdienst der NVA im Oktober 1963 – ein Brief Hilbigs, in dem er sich kritisch über die Zustände in der Armee geäußert hatte, rief das MfS auf den Plan – schickte er verschiedenen Verlagen in Ost und West seine Gedichte. Doch weder der Rowohlt Verlag noch der Ostberliner Union Verlag konnten sich 1964 entschließen, diese Texte zu veröffentlichen. Johannes Bobrowski, damals Lektor im Union Verlag, ließ Hilbig im Oktober 1964 immerhin wissen, er besitze Talent, und ermunterte ihn, in »ein, zwei Jahren« erneut etwas einzusenden. Hilbig schickte seine Gedichte zwei Jahre später an »Sinn und Form«, erhielt aber auch von dort im März 1966 einen ablehnenden Bescheid. Und auch bei dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen »Kursbuch« versuchte er sein Glück: »Ich habe mich mit solchen Anliegen schon an mehrere Zeitschriften und Autoren aus der DDR gewandt, die Antworten waren teils ablehnend, teils (in letzter Zeit) blieben sie einfach aus.« Enzensberger fand zwar »sympathisch«, was ihm der Lyriker aus dem Osten schrieb, aber die Texte schienen ihm dennoch »unbrauchbar«.
Hilbig reagierte auf die Ablehnungen radikal: Er verbrannte 1965 einen Teil seines Frühwerks – das ihm, wie er es formulierte, »peinlich war« – und zählte fortan nur das zu seinem eigentlichen Werk, was er nach dieser Zäsur geschrieben hatte. Frühere Texte gehörten nur dazu, wenn sie von ihm überarbeitet wurden. Über die schwierigen Lebensumstände der sechziger Jahre schrieb er im Entwurf eines Lebenslaufs: »Ablehnungen, Depressionen, Ablehnungen.« Er hatte weder Erfolg mit seinem Versuch, Leistungssportler zu werden, noch mit seinem Antrag, als Matrose auf einem Schiff der Deutschen Seereederei die Weltmeere zu befahren.
Anerkennung fand Wolfgang Hilbig zunächst nur als »inoffizieller« Lyriker. Denn die Motorbootlesung auf dem Leipziger Elsterstausee, auf der er am 26. Juni 1968 seine Gedichte vor einem begeisterten Publikum vortrug, wurde vom MfS als »illegale Zusammenkunft « eingestuft. Siegmar Faust, der damals als Schiffsführer arbeitete, hatte junge Lyriker dazu eingeladen. Außer Hilbig kamen unter anderen Gert Neumann und Andreas Reimann. Zur Eröffnung zitierte Faust Abschnitte aus dem Programm der KPCˇ und empfahl deren liberale Kulturpolitik der DDR zur Nachahmung. Wenige Wochen später, am 21. August 1968, wurden die Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz von den Panzern des Warschauer Pakts niedergewalzt. Seit dieser Lesung war der Name des Heizers aus Meuselwitz in den literarisch interessierten Kreisen Leipzigs ein Begriff.
In der DDR führten die Prager Ereignisse dazu, daß sich die bereits seit dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 angespannte kulturpolitische Lage noch verschärfte. In dieser Situation einen Verlag für seine Gedichte zu finden, war schwierig. Hilbig versuchte es dennoch und schrieb an die »NDL«: »Darf ich Sie bitten, in einer Ihrer nächsten Nummern folgende Annonce zu bringen: ›Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte. Nur ernstgemeinte Zuschriften an: W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstr. 19 b‹.« Es ist erstaunlich, daß seine Annonce überhaupt abgedruckt wurde, da die Zeitschrift über keinen Inseratenteil verfügte. Und es war in der Redaktion offenbar auch niemandem aufgefallen, daß sich Hilbig ausdrücklich an »deutschsprachige« und nicht nur an DDR-Verlage wandte. Post allerdings erhielt er weder von Ost- noch von Westverlegern. Der einzige Brief kam aus der Heidenauer Kantstraße. Absenderin war die 1927 geborene Ursula Großmann, ebenso wie Hilbig Mitglied in einem Zirkel schreibender Arbeiter (Dresden-Nord). Wie Hilbig hatte sie nur die Grundschule besucht (1934 – 42). Nach dem Pflichtjahr (1943 / 44) begann sie eine Lehre als Damenschneiderin, da ihre Lehrwerkstatt im Februar 1945 beim Angriff auf Dresden total zerstört wurde, konnte sie die Lehre aber nicht abschließen. Nach dem Krieg besuchte sie zunächst die Handelsschule in Pirna und begann wenig später eine Ausbildung als Neulehrerin. Von 1946 bis 1952 unterrichtete sie in der Heidenauer Goethe-Schule. 1952 – nach der Geburt ihres Sohnes – erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, woraufhin sie für drei Monate zu ihren in Westdeutschland lebenden Eltern fuhr. Als sie in die DDR zurückkehrte, wurde sie wegen politischen Fehlverhaltens aus dem Schuldienst entlassen und erhielt Berufsverbot. Lehrerin konnte sie in der DDR nicht wieder werden. Als sie den ersten Brief an Hilbig schrieb, befand sie sich in der Ausbildung zur bibliothekarischen Mitarbeiterin und arbeitete in der Stadtbibliothek Heidenau. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie noch heute in Heidenau. Ihr Interesse an der Literatur ist ungebrochen, sie schreibt weiterhin Gedichte.
Michael Opitz
SINN UND FORM 1/2019, S. 61-83, hier S. 61-63
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Hill, Joe
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Hillich, Reinhard
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Hilpert, Heinz
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Hilscher, Eberhard
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- 4/2012 | Jüdisches Schicksal? Über Elisabeth Langgässer, S. 830 Leseprobe
Honigmann, Barbara
JÜDISCHES SCHICKSAL? Über Elisabeth Langgässer
Commystis commito.
Ist es eine Widmung oder ein Motto, das Elisabeth Langgässer ihrem Roman »Das unauslöschliche Siegel« voranstellt?
Es heißt auf deutsch: den Miteingeweihten gewidmet. Die mystes sind die Eingeweihten.
Das ist es, was mir die Lektüre von Elisabeth Langgässers Texten so schwermacht, ich fühle mich nicht als Mit-Eingeweihte, also als eine, der das Buch gewidmet, für die es geschrieben worden ist.
Bei der immer wiederkehrenden Stendhalschen Widmung »to the happy few« hingegen, auch einem Motto, fühle ich mich selbstverständlich mit eingeschlossen, obwohl der Unterschied zwischen den happy few und den commystis nur eine Nuance ist, aber im Raum dieser Nuance geht es weniger geheimnisvoll, weniger dunkel zu. Vielleicht bin ich noch ein letztes Kind der Aufklärung, jedenfalls verspüre ich keine Neigung zum Mystischen, und am Judentum zieht mich seine helle, die Tagseite an und nicht die mystische, kabbalistische, von der so viele Nichtjuden merkwürdigerweise glauben, sie repräsentiere das Jüdische in besonderer Weise. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich bin also Jüdin. Der Langgässer-Preis stellt für mich eine gewisse Herausforderung dar. Das Werk Elisabeth Langgässers, ihre Person, ihre Lebensgeschichte erscheinen mir schwierig und problematisch. Natürlich muß ich sie in ihrem katholischen Glauben akzeptieren und tue das auch, aber den Kampf, der auf jeder Seite ihres Werks zwischen Gott, Satan, Vorsehung, Versuchung, Auferstehung, Gottheit Christi und den trotz Taufe noch immer schwankenden Juden und deren schließlich erfolgender gnadenvoller Erlösung und Wiedergeburt geschildert wird, und zwar in einer überzeitlichen, zauberischen Sprache, kann ich nicht mitkämpfen, auch deshalb nicht, weil alle diese Wörter geschrieben stehen, um die Botschaft Christi zu übermitteln, die schon viele Generationen meiner Vorväter und Vormütter nicht gehört haben und nicht hören wollten. Abgesehen davon, daß ich Texte mit Botschaften nicht sonderlich mag.
Aber auch andere Leser Elisabeth Langgässers werden, wenn sie des Lateinischen nicht mächtig sind, ihre Schwierigkeiten haben, die Widmung zu verstehen, eine Widmung, die sie, ob gewollt oder nicht, von vornherein ausschließt. Und sie werden wohl auch die unzähligen Referenzen und Metaphern aus der griechischen und römischen Mythologie nicht mehr in ihre eigene Sprache und Lebenswirklichkeit übertragen können und mit der christlichen Glaubensunterweisung nicht viel anzufangen wissen.
Den Namen Elisabeth Langgässer kannte ich nicht, bevor ich ihm in Cordelia Edvardsons Buch »Gebranntes Kind sucht das Feuer« begegnete. In der Bibliothek meiner Eltern, die meine frühen Lektüren bestimmte, gab es Ausgaben von Heine, Rilke, Brecht, den Manns und eine, wahrscheinlich nicht vollständige, Gesamtausgabe von Sigmund Freud, ich nehme an, die, die in England herausgegeben wurde, von wo sie meine Eltern mitgebracht hatten; meine Mutter schenkte sie dann einem befreundeten Psychiater in der DDR, der sich über dieses Geschenk sehr gefreut haben dürfte. Es gab auch den Roman »Die Thibaults« des Nobelpreisträgers von 1937, Roger Martin du Gard, eines französischen Schriftstellers des »renouveau catholique«, an dem sich Langgässer in den dreißiger Jahren stark orientiert hat, aber ihre eigenen Werke fand ich in der Bibliothek meiner Eltern nicht.
In der unerhörten Überlebensgeschichte ihrer Tochter – alle Überlebensgeschichten sind unerhört – ist sie mir dann, wie gesagt, zum erstenmal begegnet, also nicht als Autorin eines ihrer Werke, sondern in dieser, um es vorsichtig auszudrücken, schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung. In ihrem Buch erzählt die Tochter vierzig Jahre später, lange nach dem Tod Elisabeth Langgässers, die Geschichte, die ihre Mutter nicht erzählt hat, bzw. sie stellt richtig, was die Mutter aus ihrer Perspektive nur angedeutet hat. Sie hat das, bei aller Anhänglichkeit, deutlich und ohne metaphysische Überfrachtung getan, denn sie war aus Auschwitz zurückgekehrt, dem Ort, der viel dunkler war, als jedes mystische Erleben je sein kann.
Kurze Zeit nachdem Elisabeth Langgässer überhaupt vom Überleben ihrer Tochter erfahren hat, bittet sie sie in einem Brief, ihr doch ihre Erfahrungen in A. in Form eines schriftlichen Berichts mitzuteilen; wiedergesehen haben sie sich erst später und auch nur noch ein einziges Mal. Den Namen Auschwitz schreibt sie nicht aus. Kann sie es nicht, wagt sie es nicht, ist das schon eine Verharmlosung? Das wird es wahrscheinlich sein, denn sonst könnte sie in demselben Brief nicht behaupten: »In Wirklichkeit weiß ich ja alles, was ich aber brauche« (brauche!), »sind ganz reale Anschauungen!«
Alles in mir sträubt sich, wenn ich diese Zeilen lese, es bringt mich auf, ich empfinde es nicht nur als unsensibel, sondern eigentlich als unanständig. Aber es ist jetzt natürlich sehr leicht, aufgebracht zu sein, zu urteilen und gar zu verurteilen oder auch über einen noch früheren Brief Elisabeth Langgässers entsetzt zu sein, in dem sie 1933 darum bettelt, doch in die Reichsschrifttumskammer, aus der sie auf Grund der Rassengesetze ausgeschlossen worden war, wieder aufgenommen zu werden, und zwar mit dem Argument, ihre künstlerische Begabung käme einzig und allein aus der rein arischen Linie ihrer mütterlichen Herkunft und sie sei doch mit einem Arier verheiratet und die jüdischen Verlage hätten sie alle mehr oder weniger boykottiert. Als sie keine Antwort erhält, wendet sie sich mit denselben Argumenten noch einmal direkt an Goebbels, der ihr natürlich auch nicht antwortet. Und setzt dann weiter, mit mäßigem Erfolg, alles in Bewegung, um nur ja auf der Bühne der deutschen Literatur präsent zu bleiben. Das »innere Exil« sucht sie erst, als ihr kein anderer Weg mehr offensteht. Die Idee, auszuwandern, scheint ihr nie in den Sinn gekommen zu sein, obwohl Kollegen, enge Freunde und Bekannte, einer nach dem anderen, das Land verlassen.
In der Korrespondenz dieser Jahre erscheint sie übelnehmerisch und selbstgerecht. Ich verstehe: es ist eine schwere Zeit, sie möchte sich als Schriftstellerin behaupten, ihre Position ist unsicher und gefährdet und wird noch viel unsicherer und gefährdeter werden, ihre Anstrengungen um Anpassung nutzen ihr nämlich nichts, die Rassengesetze belegen sie für die Dauer des Dritten Reichs ein für allemal mit Publikationsverbot.
Zur gleichen Zeit, 1933, schreibt die Karmeliternonne Edith Stein ihre Autobiographie »Aus dem Leben einer jüdischen Familie«.
Es ist vielleicht unfair, diese beiden Figuren miteinander zu vergleichen. Der Vergleich drängt sich mir jedoch auf. Edith Stein war knapp zehn Jahre älter als Elisabeth Langgässer und offensichtlich eine sehr viel intellektuellere Frau. Sie promovierte bei Edmund Husserl und assistierte ihm zusammen mit Heidegger an der Universität Freiburg, ging durch Zeiten atheistischer Anschauungen und feministischen Engagements, interessierte sich also für »Frauenfragen«, in denen Elisabeth Langgässer besonders konservativ blieb, indem sie ein Ideal der Mütterlichkeit und Häuslichkeit verteidigte, dem sie im Leben eigentlich überhaupt nicht entsprach.
Edith Stein nahm 1922 mit 31 Jahren den katholischen Glauben an, in Bergzabern, nicht sehr weit von Darmstadt, wo Elisabeth Langgässer zur gleichen Zeit als Lehrerin arbeitete, und trat später in das Karmeliterkloster in Köln ein. Gleich 1933, nach den ersten antijüdischen Aktionen und Gesetzen, wandte sie sich in Briefen, die er vielleicht nie gelesen hat, an Pius XII., um ihn zu beschwören: »Wir fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält.« Als sie schließlich aus dem inzwischen nach Holland emigrierten Kloster mit ihrer Schwester zur Deportation abgeholt wird, soll sie zu ihr gesagt haben: »Komm, wir gehen für unser Volk.«
Dieses Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Volk hat Elisabeth Langgässer nicht gespürt, hat es wahrscheinlich auch nicht spüren können, denn vielleicht wußte sie ja lange gar nichts von der jüdischen Herkunft ihres Vaters. Insofern ist es schwer von einer wie auch immer gearteten jüdischen Identität überhaupt zu sprechen, zu der sie sich hätte bekennen können, auch wenn ihr dann eine übergestülpt wurde, für die sie teuer bezahlt hat.
[...]
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Horn, Eva
AIR CONDITIONING Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne
Ankunft in Changi Airport, Singapur. Ich betrete eine luxuriöse Teppichlandschaft mit großen Orchideeninseln, kühl und geordnet, die Abfertigung verläuft zügig. Dann öffnen sich die Glastüren nach draußen. Es sind nur ein paar hundert Meter bis zum Taxistand. Ich trete in etwas ein, das nicht Luft, sondern ein kompaktes Medium zu sein scheint. Etwas, das sich zwar atmen läßt, aber meinen Körper wie eine Art Gelee umschließt. Durch diese feucht-heiße Dichte zerre ich mein Gepäck, ungeduldig, eilig, zunehmend kurzatmig und mit pochendem Schädel. Ich schwitze und werde innerhalb von Minuten schlapp und dumpf, der Kopf dröhnt, Finger und Gesicht sind geschwollen. Als ich mich schließlich ins klimatisierte Taxi fallenlasse, schnappe ich nach Luft und genieße einen Moment lang die trockene Kälte auf meinem nassen Körper. Erst dampfe ich noch die angestaute Hitze aus, dann wird die Haut im kalten Luftstrom schnell ungesund klamm. Eben noch einem Hitzekollaps entronnen, krame ich jetzt mit kühl-feuchten Gliedern benommen nach einer Jacke.
In dieser frösteligen Luft, mindestens 10 Grad Celsius unter der Außentemperatur, so weiß ich einige Wochen später, verbringt man heute in tropischen Städten den Großteil seiner Zeit. Nutzt man das Geflecht der U-Bahn-Schächte und Shopping-Malls, kann man Singapur, wo das ganze Jahr um die 30 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit herrschen, weitgehend in klimatisierten Zonen durchqueren. Ist man doch einmal »draußen«, muß man lernen, was jeder Bewohner Singapurs, so eilig er seinen Geschäften nachgehen mag, verinnerlicht hat: Schatten suchen, Mittagszeit vermeiden, nicht zuviel essen – und vor allem: sich langsam bewegen. Aber den Rest der Zeit verbringt man in Klimakapseln bei knapp 20 Grad und künstlich getrockneter Luft, immer eher zu kühl als zu warm. Und dort kann man sich genauso hektisch bewegen, wie man es aus den Arbeitswelten von Berlin, London oder New York gewohnt ist.
Der Aufstieg dieser Stadt in drückend warmem Klima zu einem der wichtigsten Wirtschaftszentren Südostasiens wäre nicht denkbar ohne eine Technologie, die es erst seit weniger als hundert Jahren gibt: Air conditioning. Nicht zufällig nannte der Singapurer Publizistik-Professor Cherian George seine Heimatstadt die »Air Conditioned Nation«, und natürlich gilt das gleiche für etliche andere Metropolen wie Dubai, Shanghai, Bangkok, Mumbai oder die sich mit Rentnern füllenden Großstädte des amerikanischen Sun Belt von Florida bis Kalifornien. Dabei wurde Air conditioning Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst nicht zur Erhöhung des menschlichen Komforts entwickelt. Die ersten Klimaanlagen dienten hitze- und feuchtigkeitsempfindlichen Produktionsprozessen, wie Druckverfahren oder Fleischverarbeitung. In den zwanziger Jahren zog die Klimaanlage in die amerikanischen Kinos und Kaufhäuser ein, die in der erstickenden Sommerhitze unter starkem Kundenschwund litten. Seit den fünfziger Jahren erobert die Klimatechnik von den USA aus die Privathaushalte und Großraumbüros der ganzen Welt. In Singapur geht über die Hälfte aller verbrauchten Energie in Kühlanlagen. In den USA haben nur noch fünf Prozent der neueren Bauten keine zentrale A/C. Indien und China sind explodierende Wachstumsmärkte für Klimatechnologie, und selbst in Mitteleuropa gibt es praktisch keine neueren Hochhäuser mehr, die keine Klimaanlage besäßen. Stan Cox, der ein Buch über den Siegeszug des Air conditioning in den USA geschrieben hat ("Losing our Cool«, 2012), schätzt, daß heute eine Trillion Kilowattstunden Strom jährlich für Kühlung verbraucht werden. Niederländische Forscher erwarten gar eine Verzehnfachung dieses Verbrauchs bis 2050. Auch in Deutschland boomt der Einbau von Klimaanlagen nicht nur in öffentlichen Gebäuden wie Krankenhäusern; seit den Hitzewellen von 2003, 2006, 2010 und 2013 werden sie auch zunehmend in Privathäusern installiert.
Air conditioning erfüllt einen der ältesten Menschheitsträume: eine Welt ohne Hitze oder Kälte, ohne Regen, Schnee oder Schwüle, ohne Staub und Wind. Die künstliche Klimatisierung erzeugt einen Raum ohne Wetter und ohne Temperaturextreme, eine Sphäre ohne meteorologische Überraschungen und saisonale Rhythmen. Sie temperiert einen Raum gemäß der immer schmaler werdenden menschlichen Komfortzone. »Gerade richtig«, wie es im englischen Märchen von »Goldilocks« heißt, weder zu warm noch zu kalt, weder zu naß noch zu trocken. Natürlich heißt das nicht notwendig Kühlung. Menschheitsgeschichtlich bedeutete das Projekt einer Temperierung der Umgebung zunächst, sich schützende Behausungen zu suchen oder zu bauen, eher Kapseln der Wärme als der Kühle. »Insulation« nennt das Peter Sloterdijk und sieht darin die grundlegende Geste eines menschlichen In-der-Welt-Seins, das sich lebbare »Sphären« schafft, in denen es vor feindlichen oder unangenehmen Einflüssen geschützt ist. Kleidung wird hergestellt, um ein wärmendes Mikroklima um die Haut zu legen. Steinhäuser erzeugen eine Modulation des Wohnklimas, indem sie sommers kühlen und winters Wärme speichern. Mit dem Übergang zum Ackerbau beginnt der Mensch schließlich, auch die ihn umgebenden Landschaften zu verändern. Er bewässert Felder, rodet Wälder oder legt Feuchtgebiete trocken, um darin wohnen, Pflanzen anbauen und Vieh halten zu können. Aus nassen Wäldern werden Steppen und Felder, aus Schwemmgebieten fruchtbares Ackerland, mit Folgen für deren Klima. Schon Johann Gottfried Herder bestimmte 1784 den Beginn jeder Kultur als Modulation des Klimas durch den Menschen: »Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirkt. Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren’s nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert.« (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit II, Buch 7)
Nicht nur prägt das Klima den Menschen, sondern er ändert sich selbst, indem er das Klima ändert und seinen Lebensformen anpaßt. Was sagt Air conditioning über uns? Der Mensch schafft sich seine Welt, indem er für sich komfortable Atmosphären schafft. So beginnt das Anthropozän – jene Epoche, in der der Mensch seinen unauslöschlichen Abdruck in den geologischen Schichten der Erde hinterlassen hat – vielleicht nicht erst, wie Paul Crutzen vorgeschlagen hat, mit der industriellen Revolution, die um 1800 durch die Dampfmaschine ihren Aufschwung nahm. Seit ihrer Seßhaftwerdung nach der Eiszeit ändern Menschen Landschaften und ihr jeweiliges Mikroklima durch Kulturtechniken. Zivilisation beginnt als Herstellung einer dem Menschen zunehmend angepaßten, von ihm bearbeiteten und genutzten Natur. Klima-Kontrolle ist damit nicht ein Produkt der Komfortgesellschaft des 20. Jahrhunderts, sondern Kern des zivilisatorischen Projekts, sich von den Fährnissen der Natur zu befreien, gerade da, wo sie sich uns nicht als greif- und gestaltbares Ding, sondern als flüchtige Atmosphäre zeigt. Diese Atmosphäre umfängt und durchdringt uns unausweichlich. Die Überraschungen des Wetters und der unerbittliche Gang der Jahreszeiten sind seit alters her Inbegriff dessen, was der Mensch weder planen noch beeinflussen kann. Das Wetter ist eine Bühne der Götter und ihrer Launen, das Klima eine Kraft, die Körper und Geist der Menschen prägt. Oder wie Herder schön wortspielerisch formulierte: »das Klima neigt«. Hitze neigt uns zur Schlaffheit, Kälte zur Bewegung. Schon Hippokrates wußte um den starken Einfluß klimatischer Faktoren auf Körper und Geist, auf Lebensweise und Krankheiten an einem gegebenen Ort: die Winde, die dort wehen, Böden, Wasserquellen, Temperaturen, ungute Dämpfe oder Feuchtigkeit, die Bedeutung der Jahreszeiten. Wer die Wirkungen des Klimas nicht kennt, versteht weder die Prozesse des menschlichen Körpers noch die Eigenheiten und Unterschiede zwischen den Gesellschaftsformen in verschiedenen Klimazonen. So gesehen ist Klima das, was einen Ort von anderen unterscheidet und die Eigenart der Menschen wie ihre Lebensform an einem gegebenen Ort bestimmt. Der Rechtsphilosoph Montesquieu dachte diesen Gedanken im 18. Jahrhundert weiter, als er die Gesetze und sozialen Institutionen der verschiedenen Zivilisationen auf das Klima bezog, in dem sie angesiedelt waren ("Vom Geist der Gesetze«, 1748, XIV. Buch). Hitze, so meinte er, mache den Körper schlaff und den Geist feig und träge, rege aber auch die Phantasie und erotische Begierden an. Kälte dagegen mache straff, stark, kühn, gesetzestreu und phantasielos, aber auch relativ unempfindlich gegen sinnliche Reize. Also brauchten Völker heißer Zonen andere Gesetze und Regierungsformen als die Bewohner kalter Zonen. Institutionen wie Polygamie, Sklaverei oder Despotie im hitzedurchwirkten Orient, die kältegewöhnte Europäer meist höchst befremdlich finden, verstand Montesquieu als Reaktionen auf das heiße Klima. Eine Erfindung wie die romantische Liebe begriff er als ein Mittel, die erotisch unlustigen Nordeuropäer doch noch zur Fortpflanzung anzuregen.
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SINN UND FORM 4/2015, S.455-462, hier S.455-458
- 6/2020 | Was vom Tag übrigbleibt. Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge, S. 455 Leseprobe
Horn, Eva
Was vom Tag übrigbleibt. Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die Stirnfalten, und ich glänze ungut. Von leicht oben sehe ich etwas mitleiderregend aus, schutzbedürftig, großäugig, nicht besonders schlau. Also, das habe ich schnell gelernt: am besten im diffusen Licht und freundlich gucken. Am Fehlen jenes Narzißmus, der Selfiemachern von allen Seiten vorgeworfen wird, kann es nicht liegen; eher an der technischen und visuellen Unbegabtheit meiner Generation, die ihr erstes Smartphone erst mit vierzig in der Hand hielt. Obwohl mich Freunde und Familie immer wieder auffordern, ihnen Selfies von meinen Reisen oder von Begegnungen mit Leuten zu schicken, die berühmter sind als ich, frage ich mich, warum man überhaupt solche Bilder schießen soll. Die Selfie-Culture, ohne die Facebook aussähe wie eine Seite aus »Sinn und Form« und ohne die es Instagram und Pinterest nicht gäbe, wird in letzter Zeit arg kritisiert. Wer sich ständig ablichtet, sei von sich selbst besessen, führe eine visuell optimierte Individualität vor, bei der es nur darum gehe, das eigene Leben perfekt in Szene zu setzen. Permanent ausgelebter Narzißmus, den man der ohnehin als verzogen und unreif geltenden Generation der Millennials nun auch noch anhängt. »Selfie – How the West became Self-Obsessed« reimt sich griffig die These des britischen Journalisten Will Storr in seinem Buch über Selfie-Culture. Mit Blick auf Kim Kardashians Youtube-Anleitungen, wie man das »perfekte Selfie« schießt, scheint das oberflächlich zu stimmen. Es geht um Selbstinszenierung, das Vorführen eines perfekten Lebens. Kardashian steht stark geschminkt in einem figurbetonten Abendkleid inmitten ihres zimmergroßen, begehbaren Kleiderschranks und gibt gar keine Tips, außer dem, daß jede selbst herausfinden solle, von welcher Seite sie am besten aussehe.
Aber vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Das Selfie ist ja gar nicht das perfekte Porträt – das würde ein Photograph zweifellos besser machen als der eigene Arm. Es ist ein Dokument. Eine Momentaufnahme: »Das bin ich hier«, »So sehe ich jetzt gerade aus«, »Diese Person habe ich getroffen«. Der Beleg dafür, daß etwas wirklich passiert ist. Pics or it didn’t happen ist das heimliche Motto all der unzähligen, nicht immer schmeichelhaften Schnappschüsse, die jeden Tag millionenfach gepostet werden. Beweisstücke, Dokumente, Belege einer Wirklichkeit, die sonst – unphotographiert – eigentlich nicht stattgefunden hat. Sie sind der Versuch, etwas festzuhalten – für sich und für andere –, was sonst einfach flüchtig vorbeigezogen wäre, existent lediglich in der ungreifbaren und unbeweisbaren subjektiven Erinnerung. »Die Sache ist dagewesen«, hat Roland Barthes einmal die Essenz der Photographie auf den Punkt gebracht. Eine Licht-Spur der Wirklichkeit. Aber was heißt es, wenn eine Medientechnik der Dokumentation und Spurensicherung plötzlich überall und jederzeit zur Verfügung steht? Was tun wir damit?
Ganz offensichtlich geht es weniger um eine lustvolle Selbstinszenierung, eher um ein Festhalten der Gegenwart. »Was man von der Minute ausgeschlagen, / Gibt keine Ewigkeit zurück«, schreibt Schiller. Heute heißt das, diese Minute zuallererst einmal medial festzuhalten. Man feiert eine Party und verbringt die Hälfte der Zeit damit, Photos von sich und anderen Gästen zu schießen. Man verreist und vergißt nicht, vor jeder pittoresken Landschaft erst einmal sich selbst aufzunehmen. Man sieht einen Unfall oder eine Schlägerei und hält sofort mit dem Handy drauf. Früher schoß man sorgfältig inszenierte Urlaubsfotos, die dann meist in Schubladen herumlagen. Mit den allgegenwärtigen Smartphones ist nun in jedem Moment unseres wachen, wenngleich nicht immer nüchternen Lebens das Dokumentationsgerät dabei. Besoffene Reden, peinliche Mißgeschicke und stocklangweilige Vorträge werden gefilmt und ins Netz gestellt.
Symptomatisch ist das Photographieren von Essen. Schon vor zehn Jahren gab es gelegentlich einsame Esser in hochpreisigen, gern als experimentell beschriebenen Restaurants, die jeden Gang sorgfältig ablichteten. Damals dachte ich, das seien Leute von irgendeinem Foodblog, die dem Gault Millau Konkurrenz machen. Heute sieht man das auch in kulinarisch unambitionierten Bierkneipen, wo fröhliche Trinker ihren Stapel Spareribs mit Fritten knipsen. Ganz offensichtlich geht es dabei nicht um eine Ästhetik des Essens. Es geht darum, das Allervergänglichste im Bild festzuhalten: »Diese exotische, phantasievolle, fettige oder auch nur bizarre Speise habe ich gegessen.« Eine Bekannte hat eine Zeitlang Hundefutter gepostet – selten bekam sie so viele Likes und freundliche Kommentare. Angeblich veröffentlichen 63 % der Leute zwischen dreizehn und dreißig ihr Essen in verschiedenen sozialen Medien. Dokumentieren und Zurschaustellen sind untrennbar verkoppelt. Wer diese Inszenierungen verächtlich als »Foodporn« beschreibt, versteht – wie im Fall des Narzißmusvorwurfs gegen die Selfie-Culture – bestenfalls die Hälfte. Es geht um das Festhalten des Flüchtigsten, Fragilsten und zugleich des Üppigsten, Luxuriösesten – des Genusses selbst. Die Obst- oder Fisch-Stilleben des 17. Jahrhunderts waren nichts anderes: Sie feierten Fülle, Genuß, Schönheit, aber immer im Moment ihres Schwindens. Genau darum sind Lebensmomente mit Seltenheitswert, wie Feste oder Reisen, klassische Sujets des Dokumentationszwangs, aber längt nicht die einzigen. Neu ist, daß das Dokumentieren mittlerweile auf die gewöhnlichsten Alltagsvollzüge ausgedehnt wird: Kochen und Essen, Schminken und Haareföhnen, der Gesang noch unentdeckter Nachwuchsstars im heimischen Schlafzimmer, das lustige Treiben der Haustiere, die tägliche Yoga-Praxis. Nichts bleibt ungefilmt, nichts ungepostet. Pics or it didn’t happen.
Natürlich ist es alles andere als neu, festzuhalten, was vom Tag übrigbleibt. Früher schrieb man Tagebuch oder lange Briefe, gelegentlich auch Tätigkeitsberichte, die, nie gelesen, Aktenordner füllten. Interessant in diesem Zusammenhang ist vor allem das Tagebuch, gerade weil es (zumeist) keinen Adressaten und keine offizielle Funktion hat. Es geht einzig darum, in der Notiz die Zeit, das gelebte Leben, vielleicht auch Gedachtes zu einzelnen Sätzen zu kristallisieren, zu Beobachtungen, kleinen Berichten, Herzensergüssen, Bonmots, Geständnissen, endlosen Lamentos. Den Geschmack der Tage festhalten. Manche haben dabei fast mehr dokumentiert als gelebt. Der Schweizer Ästhetik-Professor Henri-Frédéric Amiel hat im späten 19. Jahrhundert 17 000 Seiten Tagebuch geschrieben, nebst sechzehn Büchern. Der Orientalist und Dichter Friedrich Rückert schrieb ständig kleine Gedichte, gerade auch in Situationen tiefster Verzweiflung. Seine »Kindertodtenlieder«, über vierhundert Gedichte, die er nach dem Tod seiner zwei jüngsten Kinder schrieb, entstanden in wenigen Wochen, in denen der Dichter sich ruhelos und nie ohne Schreibzeug durchs Haus bewegte und praktisch permanent schrieb. Ähnlich Ernst Jünger, der neben seinem ausufernden literarischen Werk noch über ein Dutzend Tagebuch-Bände herausgebracht hat. Nichts, was ihm durch den Kopf fliege, bleibe unaufgeschrieben und unpubliziert, höhnte sein Bekannter Carl Schmitt 1949, natürlich in seinem eigenen Tagebuch »Glossarium«: »Entsetzliche Sparsamkeit der ihre Einfälle restlos verwertenden Vollmonade.« Jünger verwurstete den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Gespräche mit berühmten Zeitgenossen, Spaziergänge, Reisen, Lesefrüchte und seine Gedanken über die Zeitläufte. Kaum gedacht, ging es zu Klett-Cotta.
Der englische Marine-Staatssekretär Samuel Pepys schrieb im 17. Jahrhundert alles auf, was ihn umtrieb: seine Arbeit, politische Ereignisse, das Pestjahr 1665 in London, den Brand im folgenden Jahr, seine Ehestreitigkeiten, Gesundheitsprobleme und kleinen Affären. Anders als Jünger, der in jeder seiner kalkulierten Gesten nicht nur für eine Öffentlichkeit schrieb, sondern wohl auch für sie lebte, ist Pepys’ Tagebuch für niemanden als ihn selbst verfaßt. Ein Notat gelebten Lebens, aber wohl auch eine Art, sich der Ereignisse, Gefühle, Unsicherheiten und Zweifel zu entledigen, die es begleiteten. Ein Logbuch vielleicht nicht der Innerlichkeit, aber der Privatheit. Und anders als Jünger, der sich stets als wichtigen Zeugen und Kommentator des Jahrhunderts verstand, überließ Pepys die Entdeckung seiner in einer Kurzschrift verfaßten Notizen auch der Nachwelt. Er ließ die Aufzeichnungen binden und reihte sie einfach unter die anderen dreitausend Bücher seiner Bibliothek, die er seinem Neffen vermachte.
Tagebücher, schreibt Arno Dusini, sind materialisierte Zeit. Seine Studie »Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung« schmückt ein Bild aufgespießter toter Fliegen. Sind die Notate der Tagebuchschreiber die toten Fliegen ihres Lebens? Eingefangen, aufgespießt, getötet – aber immerhin zum Werk geronnen? Dann wäre Tagebuchschreiben nur eine Vorübung zur Autobiographie, zur großen Selbstinszenierung des Autors à la Jünger. Die aufgespießten Fliegen des eigenen Lebens als Ornament, als großes Narrativ der eigenen Unvergleichlichkeit. Dieser Monumentalismus trifft natürlich nicht das, was heute passiert. Das heutige Dokumentieren ist eher ein Stoffwechselprodukt, ein »Abfall für alle« – wie es ein anderer großer Selbstdokumentierer, Rainald Goetz, nannte. Hipster, der er war, schrieb er diesen »Abfall« des Jahres 1998 in Form eines Blogs – damals nannte man das noch »Netztagebuch«. Der Blog ist längst aus dem Internet verschwunden, das Buch, 850 Seiten dick, gibt es noch bei Suhrkamp. Goetz ging es um das »JETZT«, den festgehaltenen Alltag, die Telefonate, Partygespräche, Arbeit, To-do-Listen, Fernsehabende, Lektüren und viele längere, meist verachtungsvolle Auslassungen über diesen und jene – ein unredigierter Textstrom, der gedruckt oft wie Lyrik aussieht, aber weiß Gott keine ist. Als Buch ist das ungenießbar, außer vielleicht für Zeithistoriker. Als Blog, damals, als man noch mühsam mit fiependem Modem ins Netz ging, war es ein unabdingbarer Teil meines Frühstücks. Stoffwechsel eben. Es floß aus dem Netz wie aus dem Wasserhahn, das wunderbare, aufregende Nachwende-Berlin in Echtzeit. Eine Geschichte des flüchtigen Jetzt, der gehetzte, von Zeitangaben im Militärformat (1708 für acht Minuten nach fünf) durchsetzte Monolog eines Schnellsprechers.
»Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet. Tagebuch, Reflexions-Baustelle, Existenz-Experiment. Geschichte des Augenblicks, der Zeit, Roman des Umbruch-Jahres 1998.
Schließlich war, ein Traum, der wahr geworden ist, das Buch entstanden, das ich bin. Das ich immer schreiben wollte, von dem ich immer dachte, wie könnte es gelingen, das einfach festzuhalten, wie ich denke, lebe, schreibe. Von seiten des Todes her gesehen. – Was mir also gefällt, am Buch Abfall:
der Realismus, der Ideen-Vorrang, die Banalität der Dämonie des Alltags, das Schreiberleben, die Stille, der mediale Lärm, die Fiktionalität der auftretenden Personen, die argumentative Pedanterie, das Tasten, das urteilsmäßige Rumholzen, die Gleichwertigkeit aller Dinge, die Poetologie, die ästhetische Theorie, strukturell fragmentarisch, fragmentiert von Zeit, die Zeitmaschine, das Jahr, die Minutendinger und ihre Plausibilität, die Sekundengedanken: der Wahn, Tag für Tag, die Erzählung, Zahlen und Ziffern, Alles ist Text, und über und unter und in allem: Melancholie.
Keiner weiß, was als nächstes passiert. Davon erzählt ›Abfall für alle‹. Wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht. Augenblick. Moment. Und jetzt?«
Im Buch ist das der Klappentext. Ich habe es mir nicht gekauft, sondern nur kurz das Bibliotheksexemplar angeguckt. Die Seiten fallen heraus, billige Bindung, auch egal, sogar passend. Bemerkenswert ist aber der Bezug auf den Tod. Goetz dokumentiert sich im Vorgriff auf jenen Moment, wo man schon tot ist, aber noch einmal zurückschaut, »wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht«. Um das zu schreiben, muß man natürlich daran denken, wie es weitergeht und wie es ist, wenn man tot ist.
Die Ironie an der Sache ist, daß dies eine alles andere als neue Pose ist. Sie stammt direkt aus der Romantik, den »Erinnerungen von jenseits des Grabes« eines anderen Hipsters und Kultautors, aber nicht des »Umbruchjahres 1998«, sondern der Französischen Revolution: François-René de Chateaubriand. Zum Schreiben seiner Lebenserinnerungen bedient er sich der pathetischen Fiktion, er schaue aufs eigene Leben zurück, wie es war, als man noch nicht tot war. Als auch die anderen noch nicht tot waren, die Freunde, die Familie und die Geliebten, die Opfer der Revolution, der Kriege, der Schwindsucht, des Alters geworden sind. In jedem erinnerten Jetzt seiner Jugend, das der alte Chateaubriand heraufbeschwört, sieht er nichts als Tod und Vergänglichkeit. »Dort«, heißt es über eine Bekannte, die er als junger Mann am Hof traf, »begegnete mir die Baronin von Montmorency, jung und schön. Jetzt gerade liegt sie im Sterben.« Alles verweist immer auf ein künftiges Ende – eins, das er (im Gegensatz zu Goetz) aber schon kennt. Goetz schaut aus der Gegenwart auf die Gegenwart, aber mit einer Reflexion auf eine Zukunft, in der man tot sein wird. Chateaubriand dagegen, ganz Romantiker, schreibt jeder Gegenwart, aus der Zukunft auf sie zurückblickend, ihre Endlichkeit ein. Veröffentlicht werden sollte das Ganze darum erst nach seinem Tod, ursprünglich sogar erst fünfzig Jahre danach. Eine heute kaum nachvollziehbare Vorstellung von Geschichte. Wer interessiert sich fünfzig Jahre später für die Helden der Großeltern? Chateaubriand denkt Gegenwart noch sub specie aeternitatis. Genau das können wir heute nicht mehr. Gegenwart ist ein reißender Fluß, ein festes Ufer gibt es nicht. Darum fühlt sich Goetz’ fetter Suhrkamp-Band nun, über zwanzig Jahre später, wo wir wissen, wie es weiterging, wirklich wie »Abfall« an, nicht etwas, das nebenher ab- und anfällt, sondern wie etwas, das man wegwirft, weil es alt geworden ist. Die Relikte eines gehetzten Anschreibens gegen die verfließende Zeit in einem manisch-lebendigen Berlin, das es heute nicht mehr gibt. Abfall, versteinert oder zu toxisch, um zu zerfallen. Ein mumifiziertes Jetzt.
[…]
SINN UND FORM 6/2020, S. 758-767, hier S. 758-763 - 5/2023 | Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten, S. 455 Leseprobe
Horn, Eva
Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten
Wer heute »vier Jahreszeiten« googelt, findet entweder Vivaldi oder eine Hotelkette, schlimmstenfalls auch noch ein paar handgestrickte Gedichte oder Bildmotive mit fallenden Blättern. Jahreszeiten sind banal wie Wettergespräche, peinlich wie die Rede vom »Wonnemonat Mai«, langweilig wie alles, was so erwartbar ist wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Gelegentlich ist die Rede von untypischen Jahreszeiten, aber das ist mittlerweile so unoriginell wie der Reflex, jedes schlechte Wetter auf den Klimawandel zu schieben. Immerhin hat es der Frühling im Sommer 2022 mal in die Nachrichten geschafft. Zwei Mitglieder der italienischen »Letzten Generation« hatten sich in den Uffizien an ein Kunstwerk geklebt, das nicht besser gewählt sein konnte: Sandro Botticellis »Primavera«.
Botticellis Bild ist die wohl bekannteste Jahreszeiten-Allegorie, die je gemalt wurde. Im Zentrum steht Venus, die Göttin der Liebe, auf einem blumenübersäten Rasen in einem Orangenhain, neben der Gruppe der drei tanzenden Grazien. Rechts verfolgt der Westwind Zephyr die Nymphe Chloris, die sich, nach Ovid, in die Göttin Flora verwandelt, die blumengeschmückte Frauenfigur im Vordergrund. Flora ist eine der Vegetationsgottheiten, mit Hilfe des Windgotts bewirkt sie das Austreiben und Blühen der Pflanzen im Frühjahr. Links steht Merkur und schiebt mit seinem Stab dunkle Wolken zur Seite. Was das Gemälde aus dem 15. Jahrhundert zeigt, ist Klima – und insofern eine passende Folie für die Klimagerechtigkeitsbewegung.
Vielleicht aber gerade deshalb, weil Botticellis Bild eine Idee von Klima und Natur vorführt, die von unserer heutigen Vorstellung denkbar weit entfernt ist. Es ist eine anthropomorphe Natur, deren Kräfte durch Götter und Göttinnen verkörpert werden, über deren Köpfen ein kleiner, blinder Amor schwebt. Liebe regiert die Natur. Nicht zufällig ist der Schauplatz ein Hain von Orangenbäumen, die zugleich Blüten und Früchte tragen. Botticellis Frühlingsbild zeigt nicht allein den Frühling, sondern, ganz grundsätzlich, eine pulsierende Natur, die in Zyklen und Phasen organisiert ist, Natur als Wandel und ewige Wiederholung.
Heute leuchtet uns gerade noch die Assoziation von Frühling, Naturerwachen, jugendlicher Grazie und Liebe ein. Gelegentlich reden wir von erotischen Anwandlungen als »Frühlingsgefühlen«, aber im Grunde sind die Jahreszeiten längst dem Verdikt des Kitsches verfallen. Dabei waren sie einmal ein zentrales Thema der Literatur, der Kunst und Musik, von Hesiods »Werken und Tagen« über Ovids »Metamorphosen« bis zu dem Langgedicht »The Seasons« (1726 – 30) des Schotten James Thomson, das zur Vorlage für Haydns Jahreszeiten-Oratorium (1801) wurde. Nicht zu vergessen natürlich Vivaldis Violinkonzerte (1725), denen man heute in jeder Telefonwarteschleife lauschen darf, Poussins letzter Gemäldezyklus »Les saisons« (1660 – 64) und Hölderlins späte und rätselhafte Scardanelli-Gedichte (ca. 1807 – 43). Immer noch schön sind Rilkes Winterstimmungen und Herbstgleichnisse. Und auch Peter Maffay hat 2011 eine Art Kinderlied zum Thema beigesteuert. Von der Renaissance bis zur Aufklärung schmückten die Jahreszeiten Gobelins, Gebäude, Möbel, sie inspirierten Musik, sie strukturierten Almanache und Gesundheitsratgeber. Aber was waren sie, bevor sie zu Hotelketten und Kitschmotiven herabsanken?
Jahreszeiten gaben den Takt des Lebens vor, indem sie die Rhythmen der Natur mit den Zeitmodellen des Menschen verbanden. Die Zeit der Natur ist zyklisch, mit diesem regelmäßigen Takt vermittelt sie einen Sinn für den richtigen Moment: »Halte die Maße ein, denn alles hat seine Stunde«, heißt es bei Hesiod. Und dabei geht es nicht nur um Aussaat oder Seefahrt, sondern auch ums Heiraten, Geschäftemachen, Häuserbauen. Alles menschliche Handeln muß seinen rechten Zeitpunkt finden, wie es im Alten Testament heißt: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit, pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit …« (Pred. 3,1) Die Maße dieser Naturzeit einzuhalten heißt den richtigen Moment, den Kairos abwarten zu können, kommen zu sehen und zu ergreifen. Es heißt, ein Zeitmaß zu respektieren, das nicht einfach eines der menschlichen Entscheidungen ist.
Die zyklische Zeit bedeutet aber auch, immer wieder neu anfangen zu können, Schuld und Schulden zu vergeben. Der Neubeginn jedes Jahres (traditionell eher am Frühlingsanfang als in der dunkelsten Zeit des Jahres, dem heutigen Neujahr) bedeutet auch einen Neubeginn der Gemeinschaft. »Anläßlich dieses Zeiteinschnitts, den das ›Jahr‹ bedeutet, erleben wir (…) die Vernichtung des vergangenen Jahres (…), eine Annullierung der Sünden und Fehler des Individuums und der Gemeinschaft im ganzen«, schreibt Mircea Eliade. Die Rituale des Jahresanfangs stellen »die mythische und primordiale Zeit wieder her (…), die ›reine‹ Zeit, die Zeit, die im ›Augenblick‹ der Schöpfung war«. Genau das, so scheint es, ist die heimliche Bedeutung von Frühlingsfesten, Sommersonnenwenden oder auch des dunkelsten Tages im Jahr: Weihnachten, welches das Konzil von Nicäa 325 listig auf den heidnischen Feiertag des Sol Invictus – der unbesiegt wiederkehrenden Sonne – legte.
Die Kultur der Jahreszeiten zielt darauf, menschliche Kultur mit der zyklischen Zeit der Natur in Einklang zu bringen. Und zwar gerade deshalb, weil die menschliche Zeit eine andere Form hat als die sich immer wieder regenerierende Natur. Menschen wachsen, altern, sterben, sie akkumulieren und verlieren unwiederbringlich. Ihre Zeit ist linear und irreversibel, stagnierend oder sprunghaft, leer oder voll. Natürliche Zeit dagegen ist pulsierend, zirkulär, regelmäßig, und damit in gewissem Sinne endlos. Die Zeit der Natur ist Ausdruck einer kosmischen Ordnung, die man berechnen kann; die Zeit des Menschen ist unregelmäßig, hoffnungslos verstreichend, stets zu kurz. Der Tod ist ein Ende, der Untergang in der Natur die Rückkehr in einen ewigen Zyklus von Materie: Omnia mutantur, nihil interit. Alles verändert sich, nichts geht zugrunde, schreibt Ovid in den »Metamorphosen«. So ist die intensive kulturelle Anverwandlung dieser Rhythmen durch Feiertage der Versuch, an dieser Ordnung der Natur teilzuhaben.
Darum werden Jahreszeiten mit kultureller Bedeutung aufgeladen: der Frühling mit Jugend, Liebe und Aufbruch, der Sommer mit dem Höhepunkt des Lebens, Energie und Freude, aber auch Arbeit und Anstrengung, der Herbst mit Verfall und Melancholie, aber auch mit Ernte, Reife und Zufriedenheit, der Winter schließlich mit Zerstörung oder Tod, aber auch mit einer Fülle von Festen. So ist der Winter die vielleicht ambivalenteste Jahreszeit: Es ist die Zeit des schlechten Wetters, der Not und Tristesse, aber auch der Innenräume, des Zusammenkommens, der Lichterfeste und sozialen Wärme. Bezeichnend ist, daß gerade das Barock, das unter den eisigen und langen Wintern der »Kleinen Eiszeit« litt, den Winter mit seinen langen Nächten auch als Zeit erotischer Aktivitäten zu feiern wußte. Johann Christian Günther schwärmt unzweideutig: »Der Schönen in den Armen liegen, / Wenn draußen Nord und Regen pfeifft, / Macht so ein inniglich Vergnügen«.
Insgesamt ist der Zyklus der vier Jahreszeiten nicht selten ein Anlaß, über das Verhältnis von menschlicher Geschichte und anderen Formen der Zeit nachzudenken. So malt Nicolas Poussin zwischen 1660 und 1664 die Jahreszeiten als eine Serie von biblischen Szenen, die verschiedene Episoden des Alten Testaments zugleich im Licht verschiedener Jahres- und Tageszeiten präsentieren. Das Frühlingsbild zeigt das Paradies am Morgen, der Sommer die Begegnung von Ruth und Boas auf dem Erntefeld mittags, der Herbst die Rückkehr der Kundschafter aus dem Gelobten Land am Nachmittag, der Winter die Sintflut in einer blitzdurchzuckten Nacht. Die Zyklen der Natur bilden hier den Rahmen für menschliches Handeln. So faltet Poussin die Geschichte des Volkes Israel in eine Geschichte der Natur zwischen Paradiesgarten, Kairos, Hoffnung und Katastrophe ein. Bemerkenswert ist, daß die Schlange im Paradiesbild fehlt, aber dafür untypisch im Winterbild der Sintflut auftaucht. Das Ende verweist zurück auf den Sündenfall des Anfangs. Aber, so weiß man, nach dem Winter der Sintflut folgt gleichwohl ein Neuanfang. Das zeigt eine andere Seite der zyklischen Zeitform. Sie kann viele verschiedene Arten von Zeit integrieren: menschliche Geschichte mit ihrer linearen Zeitlichkeit, die Zyklen der Jahres- und Tageszeiten, den Kairos des richtigen Augenblicks, aber auch den Einbruch einer Zeit Gottes, die der menschlichen Zeit Anfang und Ende setzt.
(…)
SINN UND FORM 5/2023, S. 633-640, hier S. 633-636
Horn, Peter
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Horstmann, Ulrich
WIDER DAS HERUMDOKTERN AN DEN NOTAUSGÄNGEN Selbstmord und Sterbehilfe. Eine Polemik
Nach knapp zwei Jahrtausenden scheinen wir angesichts der offenbar unausrottbaren menschlichen Neigung, die biologische Aufenthaltserlaubnis vorzeitig zurückzugeben, wieder bei der stoischen Liberalität eines Seneca angekommen zu sein. Inzwischen verbietet den Advokaten des selbstbestimmten Todes niemand mehr den Mund. Sie haben uneingeschränktes Rederecht; Gebrauchsanleitungen zum Selbstmord werden im Buchhandel vertrieben oder sind per Internet abrufbar, Organisationen wie EXIT oder DGHS können medienwirksam für ihre Sache eintreten. Warum sich also die Stunde des Triumphs vergällen und noch einmal polemisch das Wort ergreifen, nachdem von einem Montaigne, Hume, Lichtenberg, Schopenhauer, Nietzsche, einem Jean Améry, Hermann Burger und E.M. Cioran alles auf das eindrücklichste gesagt und geklärt worden ist? – Weil die Bevormunder keineswegs die Segel gestrichen haben, die Roßkuren für Lebensmüde mitnichten ad acta gelegt sind. Und weil auch Zeitlupenpendel die Eigenschaft besitzen, zurückzuschwingen.
Die Wissenschaft ist, Gott sei’s geklagt, gegenüber dem Suizid jedenfalls ebenso verständnislos, ebenso hartherzig und kaltschnäuzig wie die Theologie. Zur Veranschaulichung der in der aktuellen Forschung herrschenden Ignoranz zwei schlagende Beispiele. Wie definiert der Fachmann das Krankheitsbild, das einen Suizidversuch auslöst? Wir greifen nach dem Besten, was der Markt zu bieten hat, dem von Keith Hawton und Kees van Heeringen herausgegebenen »International Handbook of Suicide and Attempted Suicide«. Hier findet sich die Diagnose »terminal malignant alienation«. Sie macht Eindruck, weil sie offenbar in Anlehnung an onkologische Vorgaben, also den »terminal malignant tumor«, formuliert worden ist. Trotzdem tendiert der Erkenntniswert gegen Null und ist jenem der ironischen Einlassung des Berliner »Milljöh"-Zeichners Heinrich Zille, die Armut komme von der Poverté, kaum überlegen. Imponiervokabeln ersetzen auch hier die Einsicht und verschleiern das schlicht Tautologische von ›bösartiger Entfremdung im Endstadium‹ und Existenzabbruch. Zum zweiten geht in die Pseudo-Ätiologie eine Unterstellung ein, die der christlichen Behauptung, Selbstmord sei Sünde, an Dogmatik und Basta-Mentalität in nichts nachsteht, nämlich die, daß es sich beim Suizid um die Folge einer (psychischen) Erkrankung handle. Der so ganz selbstverständlich Pathologisierte sieht sich erneut seines Selbstbestimmungsrechts und seiner Rationalität beraubt und statt in das Büßergewand des Gottesfernen in die längst pharmazeutisch entstofflichte Zwangsjacke des Psychiatriepatienten gesteckt. Aus dem furor diabolicus der mittelalterlichen Seelsorge ist damit unter der Hand der furor therapeuticus ihrer säkularen Nachfolgeinstitution geworden. Alles hat sich geändert – und nichts ist anders geworden.
Einem kahlköpfigen Friseur, lautet eine scherzhaft verpackte Lebensweisheit, kann man die Wirksamkeit der von ihm angepriesenen Haarwuchsmittel nicht glauben. Er handelt bei seiner Werbekampagne offenbar weniger im Interesse der Kundschaft als in dem seines Geldbeutels. Aber nicht nur dieser Geschäftsmann hat eine Glatze; die auf Selbstmordverhütung eingeschworenen Experten laufen mit dem gleichen Makel und Handicap herum. Die Statistik zeigt unmißverständlich: Psychiater weisen im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung ein um den Faktor sieben erhöhtes Selbstmordrisiko auf. Das läßt weder ihre Problemeinsicht noch ihre Behandlungskompetenz in einem sonderlich vorteilhaften Licht erscheinen. Es gibt sogar einige schwarze Schafe im Metier, die von einer Art Nullsummenspiel ausgehen, das heißt ihrer Disziplin unterstellen, sie treibe für jeden geretteten Suizidanten einen anderen Menschen in den Selbstmord, der ohne ihre Intervention nicht Hand an sich gelegt hätte. Ein entsprechender Verdacht kann sich zum Beispiel auf den irritierenden Befund berufen, daß Antidepressiva wider Erwarten keinen Beitrag zur Senkung der Suizidhäufigkeit geleistet haben. Da das medizinische Modell Depression als einen der Hauptauslöser von Selbsttötungsimpulsen identifiziert, hätte das Gegenteil eintreten müssen. Die einzig plausible Erklärung ist das Eingeständnis von ›Kollateralschäden‹, das heißt unerwünschten Nebenwirkungen des verschriebenen Heilmittels, oder drastischer, die Auslösung des fatalen Ereignisses durch den Versuch, es zu verhindern. Für die Suizidprävention durch eine geradezu paramilitärisch organisierte Überwachung von Risikogruppen oder die Zwangseinweisung nach Selbstmordversuchen – CPSP (Coercive Psychiatric Suicide Prevention) – gilt das gleiche wie für die Medikation: Trotz des hohen personellen und finanziellen Aufwands ändern alle drei Interventionsverfahren nichts an der über Jahrzehnte und Generationen erstaunlich konstanten Zahl von Todesfällen.
Mit anderen Worten, die ihn krank schreibende Disziplin ist hilflos gegenüber dem Selbsttödler – so die ironische Begriffsprägung Hermann Burgers – und richtet, nicht anders als die vorwissenschaftliche Heilslehre des Christentums, mit ihrem Aktionismus mehr Schaden an, als sie Gutes tut. »Kein Therapeut«, schreibt etwa Thomas Bronisch, »kann einen Patienten langfristig von einem Suizidversuch oder Suizid abhalten. Der Therapeut muß mit der Kränkung fertig werden, daß er nicht um jeden Preis Leben erhalten kann.« Das liegt nicht zuletzt an der diffusen Phänomenansprache. Wie der Laie, dem wir das vielleicht noch durchgehen lassen, sieht sich die Psychologie und Psychiatrie nämlich außerstande, den Selbstmörder im Vorfeld seiner Tat eindeutig zu identifizieren. Den vom nahen Ende gezeichneten Krebspatienten erkennt keineswegs nur der Onkologe auf den ersten Blick, und bei den meisten anderen Todkranken ist das genauso. Der Terminator seiner selbst aber erweist sich als bestens getarnt, er bewegt sich unter Lebensfrohen wie ein Fisch im Wasser und ist oft bis auf Stunden, bis auf Minuten, ja vielleicht sogar Sekunden vor dem Ausstieg nicht von den ›Normalen‹ zu unterscheiden. Wie erklärt sich diese psychologische ›Unschärferelation'? Durch zu grobe, gegenstandsfremde und falsch kalibrierte Beobachtungsverfahren? Nur zum Teil, denn der Vergleich mit Heisenbergs aus der Quantenmechanik abgeleitetem Theorem trägt noch weiter. Das Teilchen selbst verhält sich unberechenbar genau wie der Suizidant.
Bis zum letzten Augenblick ist er hin- und hergerissen zwischen der stärksten uns von der Evolution eingepflanzten Kraft, dem Selbsterhaltungstrieb, und dem im geheimen über Wochen, Monate, Jahre mit Negationsenergie aufgeladenen Gegenprinzip des Todeswunsches und Willens zum Ende. Gegen die biologische Urgewalt, die uns am Leben hält und ans Leben kettet, hat auch Verzweiflung nur dann eine Chance, wenn sie geballt auftritt, das heißt punktuell angreift und sich gleichsam explosionsartig an einem Tiefpunkt der Vitalitätskurve entlädt. Ob und wann der erreicht ist, entscheidet die Intuition des Aufopferungsbereiten, dessen »Jetzt!« folglich mit den behavioristischen oder anderen berechnenden Persönlichkeitsmodellen der ›Seelenkunde‹ nicht einholbar ist. Es gehört zur Definition des Selbstmörders, daß er sich außer Reichweite der Rachegelüste weltlicher und geistlicher Machthaber, der Rehabilitationsprogramme und Fitneßkuren der Medizin befindet und daß ihn die Krankheitsbilder und Definitionen, für die er und seinesgleichen die Datenbasis abgeben sollen, verfehlen. Deshalb sind die Theologen, die Juristen, die Therapeuten allesamt arm dran. Es gibt keinen, sei es mit geringem, sei es mit hohem Aufwand identifizierbaren Selbstmördertyp. Man schnüffelt, befragt, läßt berichten, man entwirft Täterprofile und schult menschliche und unmenschliche Spürhunde. Und dann ist der nächste, der sich davonmacht und ontologische Republikflucht begeht, der Kollege.
Wenn es Anzeichen für die wachsende Bereitschaft zum Geltenlassen, für die Auflösung des Engstirnigen ins Großherzige gibt, dann kommen diese Impulse nicht aus den Kernbezirken der Suizidologie und schon gar nicht aus dem psychiatrischen Alltag, sondern von Fachvertretern, die lebensgeschichtlich gleichsam Hautkontakt hatten mit dem Sog ins Nichts, weil sie selbst in suizidalen Episoden am Tod vorbeigeschrammt sind oder es in ihrer Familie oder dem engsten sozialen Umfeld einen Fall von Selbstmord gab. Während die Kollegen mit Problemen und Diagnosen befaßt sind, machen ihnen das Betroffensein und die Betroffenheit klinische Neutralität unmöglich und zwingen sie zur Parteinahme – nicht für die Objektivitätsstandards ihrer Wissenschaft, sondern für einen Patienten, der in diese Rolle womöglich gar nicht hineingehört. Stellvertretend für solche mit einem gerüttelt Maß an Spezialisten-Know-how angereicherten Innenansichten soll an dieser Stelle Thomas Joiners »Myths about Suicide« (2010) vorgestellt werden.
In seinem Buch nimmt sich Joiner, dessen Vater Hand an sich gelegt hat, die landläufigen Anschwärzungen und Diffamierungen der Reihe nach vor und hebelt sie weniger durch Appelle als durch harte Fakten aus, wie sie eine Suizidologie zur Verfügung stellt, die Nachvollziehbarkeit und Vernunft nicht mehr nur für sich reklamiert, sondern auch der anderen Seite zugesteht. Zwei der schlimmsten Vorwürfe an die Adresse der irdischen Nestflüchter sind Feigheit und Egoismus, womit die angebliche Weigerung gegeißelt werden soll, sich den Herausforderungen des Lebens und seinen unvermeidlichen Krisensituationen zu stellen und Eigeninteressen hinter der Sorge um den Nächsten zurücktreten zu lassen. Joiner widerlegt diese Anklagen. Der Selbstmörder hat es mit dem übermächtigsten Gegenspieler zu tun, der sich vorstellen läßt, dem Selbsterhaltungstrieb, und mit seinem furchteinflößenden Alliierten, der Todesangst. Angesichts dieser biologischen Allgewalt müßte ein Feigling kuschen und am Leben bleiben. Der Selbstmörder aber tut das Gegenteil und begehrt auf. Wie ist das möglich? Nach Joiner allein durch ein meist unfreiwillig absolviertes jahrelanges Training. Risikogruppen wie Alkoholiker und Anorexia-nervosa-Patientinnen werden diesem ›Aushärtungsprozeß‹ automatisch unterworfen: »Bei anorexischen Frauen ist die Sterblichkeit extrem hoch. Sie begehen so häufig Selbstmord, weil die zu ihrer Krankengeschichte gehörende Selbstaushungerung sie an Schmerzen gewöhnt und sie gegenüber der Todesfurcht abstumpft. Die Fähigkeit, einem zentralen Lebensinstinkt, dem Hunger, Paroli zu bieten, versetzt sie in die Lage, dem Leben selbst die kalte Schulter zu zeigen.«
[...]
SINN UND FORM 5/2012, S. 605-613
Horvath, Otto
Hossinger, Karl
- 5/1972 | Edmonde Charles-Roux, »Elle, Adrienne«
Hotta, Yoshie
- 5/2005 | Die grausame Schönheit der Berge
Houmann, Börge
- 5/1981 | Sechzig Jahre mit Martin Andersen Nexö
Hrabal, Bohumil
- 2/2019 | Taschentuchtricks. Ein Interview-Roman (1987/ 1990). Zusammen mit László Szigeti
- 6/2019 | Novembersturm (1989)
Hrubín, Frantisek
- 2/1959 | Neue tschechische Lyrik. Hiroshima
- 3/1961 | Drei Gedichte
- 4/1967 | Gedichte
- 4/1975 | Drei Träume
Hryhurki, Iwan
- 2/1977 | Fangzeit
Hsün, Lu
- 1/1954 | Gedicht ohne Thema
Hubay, Miklós
- 1/1969 | Menschliche Tat auf moderner Bühne
Huber, Wolfgang
- 2/2017 | »Seid männlich und seid stark«. Trauerpredigt auf Dieter Janz
Hübner, Anja S.
- 4/2011 | Gespräch mit Klaus Demus und Detlev Schöttker über Paul Celan
- 5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch, S. 474 Leseprobe
Hübner, Anja S.
DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
Hübner, Anja S. und Schöttker, Detlev
- 5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch, S. 672 Leseprobe
Hübner, Anja S.
DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
Hübner, Uwe
- 4/1997 | Nachgefragt
Huchel, Peter
- 4/1950 | Das Gesetz
- 2/1951 | In der Heimat. Für Johannes R. Becher zum 22. Mai 1951
- 4/1951 | Chronik des Dorfes Wendisch-Luch
- 3/1952 | Chronik. Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 5/1953 | Eine Herbstnacht
- 2/1955 | Chaussen, Chaussen. Chronik: Dezember 1942
- 3/1955 | Für Ernst Bloch. Zu seinem siebzigsten Geburtstag
- 6/1957 | Lenz
- 2/1959 | Gedichte
- 1/1962 | Gedichte
- 2/1962 | Gedichte
- 5-6/1962 | Gedichte
- 1/1982 | Memorial
- 6/1988 | Späte Gedichte
- 1/1999 | Korrespondenzen aus der Huchel-Zeit
Huder, Walter
Huder, Walther
- 2/1959 | Gedenkwort für Georg Kaiser
- 5-6/1960 | Der Epiker Georg Kaiser
- 4/1961 | Die politischen und sozialen Themen der Exil-Dramatik Georg Kaisers
- 1/1962 | Stefan Zweig
- 5-6/1962 | Besuch in Güstrow
- 4/1966 | Alfred Kerr. Ein deutscher Kritiker im Exil
Huebschmann, Heinrich
- 2/2012 | »Wissen Sie noch einen Ausweg?« Gespräche mit Eduard Spranger, Carl Friedrich von Weizsäcker, Gustav von Bergmann, Wilhelm Westphal, Wilhelm Bitter, Viktor von Weizsäcker, Theodor Litt und Werner Leibbrand (1942), S. 213 Leseprobe
Huebschmann, Heinrich
»Wissen Sie noch einen Ausweg?»
Gespräche mit Eduard Spranger, Carl Friedrich von Weizsäcker, Gustav von Bergmann, Wilhelm Westphal, Wilhelm Bitter, Viktor von Weizsäcker, Theodor Litt und Werner Leibbrand (1942)
Vorbemerkung
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte der Heidelberger »Arzt für Innere und Erinnerungsmedizin« Heinrich Huebschmann (1913–1995) eine klare Handschrift, eine, die man beschwingt nennen konnte. Und so klar und beschwingt war auch das, was er schrieb und sagte, und es war von bemerkenswerter Originalität: »Die Sprechstunde ist heute zur Stechstunde entartet« oder »Auch in den Kliniken müßte die Hochrüstung eingedämmt werden«. Die Lust am Widerspruch gehörte zu seinen Wesenszügen, sie war für ihn eine Art Wünschelrute, mit der er sich auf die Suche nach der Wirklichkeit begab. Die nachstehenden Aufzeichnungen zeigen dies am Beispiel seiner Galilei-Kritik, sie zeigen seine Haltung gegen eine Naturwissenschaft, die das Meßbare zum Hauptkriterium erhebt und so zu einer mechanischen Sicht des Lebens kommt. Damit wird auch verständlich, warum Heinrich Huebschmann seine ärztliche Tätigkeit nach der Heidelberger Schule ausrichtete, deren Hauptvertreter Viktor von Weizsäcker in zahlreichen Veröffentlichungen die Beschränktheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes aufgezeigt hatte, das nicht die alleinige Grundlage für die Behandlung kranker Menschen sein könne. Das Ziel war also eine neue Medizin, die bislang vernachlässigte Faktoren – wie die Biographie und die Emotionen des Patienten – einbezieht. Ein Zeugnis dieser Bemühungen ist Huebschmanns Monographie »Psyche und Tuberkulose« von 1952, die als Habilitationsschrift geplant war, vom Klinikchef aber mit der Begründung abgelehnt wurde: da stehe so viel Neues drin, das könne er bei der Fakultät nicht durchsetzen. Solche Nackenschläge machten dem jungen Arzt, der 1945–52 als Assistent Richard Siebecks an der Heidelberger Ludolf-Krehl-Klinik arbeitete, schwer zu schaffen, aber sie verbitterten ihn nicht. Er blieb der Mann, der klar und beschwingt schrieb und redete, der seine Zuhörer – vor allem die jüngeren – durch seinen Widerspruchsgeist affizierte und sie anregte, Grenzen zu überschreiten. Und im Gespräch mit ihm merkten sie, daß er nicht nur anregend war, sondern selbst auf Anregungen gedankenreich reagierte.
Bis zu seiner Niederlassung als Internist und Eheberater beim evangelischen Gemeindedienst in Heidelberg-Handschuhsheim 1966 erstellte Huebschmann Gutachten für psychisch Erkrankte, die im Nationalsozialismus verfolgt worden waren. Auch als Kassenarzt blieb er der medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers verpflichtet und veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Psychosomatik, etwa 1974 das Buch »Krankheit, ein Körperstreik«.
"Fälle und Probleme. Anthropologische Vorlesungen in der medizinischen Klinik« ist der Titel einer kleineren Schrift Weizsäckers, die 1969 im Antiquariat an der Heidelberger Heiliggeistkirche 2,50 DM kostete. 2003 fand sich am selben Ort im selben Regal das gleiche Buch, allerdings für 2,50 EUR. Während mir 1969 die Schrift wie eine Erlösung vorkam, weil man darin endlich etwas über den kranken Menschen erfuhr, der im bis dahin absolvierten Medizinstudium gar nicht vorkam, war sie 2003 dem japanischen Philosophen und Übersetzer Weizsäckerscher Texte Seishi Ischii eine bibliophile Kostbarkeit. Die 68er-Generation der Heidelberger Medizinstudenten suchte nach Alternativen zu Schulmedizin und Ordinarienherrschaft. Und die Begegnung mit dem dreißig Jahre älteren Heinrich Huebschmann war insofern ein Erlebnis, als Vertreter jener Generation, die wir für all die Mißstände verantwortlich machten, nur selten in der Lage waren, sich auf ein wirkliches Gespräch einzulassen. 1980 fand parallel zum offiziellen Ärztetag in Berlin der erste Gesundheitstag statt, 1984 ein weiterer in Bremen und schließlich 1989 eine Vorlesungsreihe zur Medizin im Nationalsozialismus. Diese Nach-68er-Initiativen verdankten auch dem Querdenker Huebschmann wichtige Denkanstöße. Es ging uns nicht mehr nur um anklagende Revolte, sondern um Differenzierung und Dokumentation. Erschwert wurde dies durch die Erfahrung, daß es sich bei bestimmten Phänomenen im »Dritten Reich«, die in verschiedenen Bereichen auch dreißig Jahre später noch fortbestanden, nicht um ausgrenzbare Pathologien, sondern eher um eine Normopathie handelte. Huebschmann wußte, wovon er sprach, war er doch Zeitzeuge und Zeitgenosse. Die Diskussion über Themen der 1989er-Vorlesungsreihe war für ihn Anlaß, mir die Protokolle seiner 1942 geführten Gespräche zu übergeben.
Heinrich Huebschmann • Dr.Med. • Heidelberg
Arzt für Innere und Erinnerungs-Medizin (Psychotherapie)
Allerseelen 1989
Lieber Herr Rimpau, (…) Hier ist also die Aufzeichnung meines Breslauer Gesprächs mit V.v.W. [Viktor von Weizsäcker]. Vom Nationalsozialismus ist nicht die Rede. Das ist sicher typisch. Aber ich meine, man muß das in einem größeren Rahmen sehen. Ich schicke Ihnen deshalb außerdem die Aufzeichnungen von sieben anderen Gesprächen im selben Monat, in der Hoffnung auf Ihr Interesse. Die anderen drücken sich viel deutlicher aus. Aber es sind eben doch seltsame Leute, diese Akademiker, mit ihrem Wissen und ihrer Verleugnung von Wissen. (…)
Es freut sich auf das Wiedersehen Ihr Heinrich Huebschmann
Die Aufzeichnungen vom September 1942 wurden unmittelbar nach den Gesprächen handschriftlich verfaßt und sicher erst nach 1977 abgetippt. Huebschmann hatte 1989 per Hand Ort, Adresse, Datum und Namen des jeweiligen Gesprächspartners vermerkt, im Typoskript stand für die Namen nur der Anfangsbuchstabe. Und auch wenn er eine Veröffentlichung der Gespräche wohl nicht ins Auge gefaßt hatte, wird er um die Bedeutung dieser einzigartigen Dokumente gewußt haben. »Ist alles falsch, was wir bisher gelernt haben in unserer gesamten menschlichen Kultur?«, fragt Werner Leibbrand im letzten der Gespräche, am 30. September 1942. Eine Antwort konnte auch Heinrich Huebschmann nicht geben. Aber die Frage beschäftigt uns bis heute.Wilhelm Rimpau
HEINRICH HUEBSCHMANN. DR.MED. 6900 HEIDELBERG 1. BIETHS-STRASSE 48
ARZT FÜR INNERE UND ERINNERUNGSMEDIZIN (PSYCHOTHERAPIE)
GESPRÄCHE 1942
mit Eduard Spranger in Berlin am 13. September
Carl Friedrich v.Weizsäcker « 14. September
Gustav v. Bergmann « 14. September
Wilhelm Westphal « 16. September
Wilhelm Bitter « 17. September
Viktor v.Weizsäcker Breslau 26. September
Theodor Litt Leipzig 29. September
Werner Leibbrand Berlin 30. September
Für heutige Leser von Aufzeichnungen aus dem Jahre 1942 bedarf es einiger Erläuterungen. Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen damals und auf die heutige Aktualität der Gesprächsinhalte.
Die in den Überschriften von mir formulierten Charakterisierungen der Dialogpartner stammen aus der damaligen Zeit. Sie geben etwas von dem Eindruck wieder, den diese damals auf mich machten.
Es wäre nötig, sie genauer vorzustellen. Ich verzichte darauf in der Hoffnung, daß sie wenigstens teilweise bekannt sind und daß sie sich in den Gesprächsaufzeichnungen selber darstellen.
Ich muß von mir selber berichten. Denn ich war es, auf dessen Wunsch und Veranlassung die Gespräche stattfanden, auf einer eigens zu diesem Zweck unternommenen Besuchsreise.
Geboren 1913, bin ich als normaler Medizinstudent im Glauben an die Naturwissenschaft erzogen worden. Mein Vater war Pathologe. Für ihn war wissenschaftliche Grundlage das anatomische Präparat.
"Pathologie«, ein gutes griechisches Wort, heißt: Leidenslehre. Allgemeine Pathologie in diesem Sinn ist zum Thema meines Lebens geworden. Insofern betrachte ich mich durchaus als Sohn meines Vaters.
Nach dem Staatsexamen 1936 und Medizinalpraktikantentätigkeit wandte ich mich der Vitaminforschung zu. Denn, nicht wahr, »Vitamin«, darin steckt die »vita«, das Leben. Ich glaubte, auf diese Weise dem Leben zu dienen. Ich ging nach Heidelberg an das Kaiser-Wilhelm-, heute: Max-Planck-Institut für medizinische Forschung unter dem Chemiker Richard Kuhn, der mir auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im Jahre 1936 mit einem Vortrag über das periodische System der Elemente großen Eindruck gemacht hatte.
Aber es kam anders.
Im September 1939 begann Hitler seinen Krieg. Millionen mußten einrücken. Ich blieb zu Hause.
Ein Kollege, neun Jahre älter, fragte mich: »Wie haben Sie das gemacht?«
Das war im Mai 1940. Hitler stand auf der Höhe seiner Macht. Polen war niedergeworfen. Norwegen war besetzt. Frankreich der Erbfeind, wich vor den angreifenden Deutschen zurück. Die Kriegsgegner wurden immer stiller. Wer siegt, bekommt recht. Das lehrt die Geschichte.
Hielt der Kollege mich für fahnenflüchtig, für einen Drückeberger? Ich bekam es mit der Angst. Ich sagte aber dann die Wahrheit.
Im Juli 1939 war ich, 26jährig, zum Wehrdienst eingezogen worden. Ich hatte mich selbst zum Wehrdienst gemeldet – der Gedanke an Krieg lag fern –, nicht, weil ich für Hitler war, sondern weil ich den Zeitpunkt meiner Einberufung selber bestimmen wollte; an Verweigerung dachte ich nicht, sie wäre überdies lebensgefährlich gewesen.
Ich habe eine Neigung zu Bronchialasthma auf allergischer Grundlage. Zu den Auslösern gehört Stroh. Wir Rekruten in der Kaserne hatten auf Strohsäcken zu schlafen, die man uns selber vorher mit Stroh hatte stopfen lassen. Gleich in der ersten Nacht bekam ich schwere Atemnotanfälle. Der Regimentskommandeur meinte, man könne ja Petroleum in mein Bett gießen, wenn ich es nicht riechen könne. Der Revierarzt war anderer Meinung. Nach vier Tagen war ich entlassen, wegen Wehruntauglichkeit.
Was würde der Kollege dazu sagen? Würde er mich für minderwertig halten?
Zu meiner größten Verblüffung lautete sein Urteil ganz anders. Er sprach seine Anerkennung aus.
Selber zum deutschen Widerstand gehörend, wie ich später erfuhr, sah er in meiner Erkrankung eine Leistung des Ungehorsams gegenüber einer totalitären Macht, die es zu bekämpfen galt. Mir lag dieser Gedanke fern. Man hatte doch nicht seiner Neigung, sondern seiner Pflicht zu folgen! So war ich, bürgerlichpreußisch, erzogen worden. Meine Bronchien hinderten mich an der Erfüllung meiner Pflicht. Gewiß, da war das Stroh. Aber es war mein Körper, der handelte. Er verweigerte die Vorbereitung auf einen Krieg, den ich nicht bejahen konnte. Er war gleichsam klüger als mein Kopf. Der Leib war an Einsicht dem Bewußtsein voraus.
Diese Selbsterfahrung enthielt eine ganz neue Krankheitslehre, eine ganz neue Pathologie.
Der genannte Kollege wurde einer meiner Hauptlehrer: Wilhelm Kütemeyer.
Während des Hitlerkrieges war ich »notdienstverpflichtet« als »Hilfskassenarzt « zur Vertretung von Kollegen, die an die Front mußten. Sechs Jahre Landpraxis lehrten mich, daß man Kranke nicht nur mit Chemie und Chirurgie behandeln kann, sondern sie anhören und mit ihnen sprechen muß. Der zunehmende Mangel an Medikamenten, die immer drückender werdende Last des Krieges, die Nachrichten vom Tod der Männer, die Schicksalsverbundenheit mit der Bevölkerung schufen besondere Voraussetzungen dafür. Unauslöschlich hat sich mir eingeprägt, wie Machthaber mit Machtlosen umgehen, wie die Machtlosen dann aber doch auch mitmachen und zu Opfern bereit sind: Gegen Stalin waren wir ja alle.
Ich nahm mir aber auch Zeit zu treiben, was man heute »Grundlagenforschung« nennt.
Das ganze Deutsche Reich war zu einer einzigen, riesigen Kriegsmaschine geworden. Sie funktionierte glänzend. Daß sie das tat, verdankte sie nicht nur dem Militär. Mindestens ebenso wichtig waren Industrie und – Wissenschaft. Mich beschäftigte dabei die Naturwissenschaft und das, was man deren »Fortschritt« nennt. Ich ging deren historischen Wurzeln nach, und ich stieß auf Galilei.
Noch heute hängt sein Bild im Ärztehaus Karlsruhe neben dem von Ahnherren und Vorbildern der Medizin wie Hippokrates, Paracelsus, Albert Schweitzer. Ich las einen Vortrag von Max Planck über »Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft« im November 1941 im »Goethesaal des Harnack-Hauses der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu Berlin«.
Planck spricht da vom Atom-Spaltungsprozeß und davon, daß der Gedanke an die Konstruktion einer Uranmaschine nicht zu den bloßen Utopien zu rechnen sei und daß man deren Energieabgabe bremsen müsse. »Sonst könnte es passieren, daß sie für die betreffende Örtlichkeit, ja für unseren ganzen Planeten zu einer gefährlichen Katastrophe werden würde.«
Eine Generation später, 1977, schrieb Carl Friedrich v.Weizsäcker in »Der Garten des Menschlichen«, er sehe den geraden Weg von Galilei zur Atombombe.
Daß ich bei meiner Grundlagenforschung noch vor Hiroshima auf Galilei stieß, war also durchaus begründet.
Galilei galt als Märtyrer der Wissenschaft, weil er von der römisch-katholischen Kirche gemaßregelt wurde. Ich studierte die Akten des gegen ihn gerichteten Prozeßverfahrens und fand, daß es töricht von der Kirche war, Galilei auf mathematischem Gebiet entgegenzutreten, denn da hatte Galilei recht, daß aber die Kirche durchaus recht darin hatte, daß sie mit Galilei und seinem mechanistischen Weltbild Unheil heraufkommen sah.
Ich hatte mich bei meinen Dialogpartnern 1942 brieflich angemeldet und dabei meine Galilei-Studien erwähnt.
Dies möge zur Vorgeschichte und Erklärung von Gesprächsinhalten genügen. Die Gesprächspartner gehörten, mit Ausnahme von C.F. v. Weizsäcker, der Generation meines Vaters an. Persönlich bekannt waren mir Eduard Spranger – seine Ehefrau war Cousine meiner Mutter und Patentante von mir – und Viktor v.Weizsäcker von seiner Heidelberger Zeit her. Andere kannten meinen Vater. Dieser war Ordinarius an der medizinischen Akademie in Düsseldorf und Sekretär der medizinischen Hauptgruppe der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte.
Beweggrund meiner Gesprächsreise war, angeregt und ermutigt durch Wilhelm Kütemeyer, mir ein Bild zu machen von dem, was maßgebende Wissenschaftler und Akademiker während der Hitler-Kriegs-Zeit dachten.
Die Gespräche sind nicht nach Tonbändern, sondern nach dem Gedächtnis aufgezeichnet. Manches mag nicht richtig wiedergegeben sein. Aus meiner Erinnerung heute würde ich sagen, daß das meiste stimmt.
Was meine eigenen Äußerungen betrifft: Ich gestehe, daß ich heute manches anders sagen würde. Der etablierten Kirche gegenüber bin ich kritischer geworden. Es geht mir da wie vielen Zeitgenossen. Ich sehe aber auch, was heute viele Christen aus ihrem Glauben heraus bei Behinderten und Kranken tun, unbekümmert darum, was die »Welt« dazu meint. Auf der anderen Seite sehe ich den enormen Fortschritt der Medizin. Dort, wo die modernen Mittel angewandt werden können, ist die sogenannte Lebenserwartung erheblich gestiegen. Man fragt nicht, was für ein Leben erwartet, verlängert wird. Aber man glaubt an die Medizin. Wer heute Angst hat, geht nicht zum Pfarrer, sondern zum Arzt. »In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, wir haben Tabletten.« So lautet das Evangelium nach Johannes 16/33 heute. Das halte ich nicht für gut.[...]
SINN UND FORM 2/2012, S. 213-253
Huelle, Paweł
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Hughes. Langston
Hugo, Victor
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- 6/1963 | Die Poetik Wladimir Majakowskis. (Das lyrische Weltbild der russischen Revolution)
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Nachgeholte Beiordnungen
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Schattenriß auf Kalkgrund...
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- 6/1972 | Eine Vorwegnahme modernen Menschentums
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- 6/2000 | Goethe am Hacken
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- 6/2001 | Lehrjahre eines Dozenten
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Huysmans, Joris-Karl
- 2/2017 | »Man muß gelebt haben, um schreiben zu können«. Paul Verlaines religiöse Gedichte, S. 204 Leseprobe
Huysmans, Joris-Karl
»Man muß gelebt haben, um schreiben zu können« Paul Verlaines religiöse Gedichte
Ich habe auf diesen wenigen Seiten keineswegs vor, das Werk Verlaines aus literarischer Sicht zu behandeln. Diese Arbeit ist schon oft geleistet worden, und ich selbst habe vor langer Zeit, als sich niemand um den sturmverschlagenen Dichter bekümmerte, auf das einzigartige Werk dieses Mannes, der, nach Victor Hugo, Baudelaire und Leconte de Lisle, die Dichter unserer Zeit am nachhaltigsten geprägt hat, 1884 in »Gegen den Strich« Bezug genommen und es zu erklären versucht.
Heute, aus Anlaß einer rein religiösen Verssammlung mit Auszügen aus den Bänden »Weisheit«, »Liebe«, »Glück« und »Intime Liturgien« sowie einigen posthumen Stücken, möchte ich mich allein aus katholischer Sicht mit Verlaine beschäftigen, das Mißverständnis zwischen ihm und jenen Gläubigen ausräumen, die seine Person und seine Bücher immer noch beargwöhnen, dann nach Möglichkeit erläutern, warum er entgegen ihrer Annahme kein unbußfertiger Sünder war, und schließlich beweisen, daß die Kirche auf ihren größten Dichter seit dem Mittelalter stolz sein müßte.
In der Tat hat er als einziger nach Jahrhunderten die Töne der Demut und Unbefangenheit, der klagenden und zaghaften Gebete, den Jubel des kleinen Kindes wiedergefunden, die seit der Rückkehr jenes stolzen, Renaissance genannten Heidentums vergessen waren.
Und diese fast volkstümliche Ungeniertheit, diese zutiefst rührende Zerknirschung hat er in eine seltsam beschwörende Sprache mit Umwegen und Ellipsen übersetzt, eine unkomplizierte und unkastrierte Sprache, die sich zugleich neuer oder verjüngter Rhythmen bedient und den von Victor Hugo und Banville begonnenen Bruch mit den alten Waffeleisen der Metrik vollendet, um sie durch ganz eigentümliche Gußformen, spezielle Druckplatten, hingetupfte Striche und treffende Abzüge zu ersetzen.
Nachdem er in seinen ersten Versuchen von Baudelaire und Leconte de Lisle, in manchen Gedichten von Banville und, wollte er bestimmte Kümmernisse des Gefühlslebens etwas gezierter ausdrücken, von Frau Desbordes-Valmore, die er vielleicht mehr als billig liebte, ausgegangen war, zögerte Verlaine nicht, das unvermeidliche Joch dieser Anfänge abzuschütteln, und resolut bezeugte sich seine Persönlichkeit »darin, daß er halblaut, in der Dämmerung gleichsam, vage und köstliche Geständnisse auszudrücken vermocht hatte; er allein konnte gewisse verwirrende Jenseitigkeiten der Seele, ein leises Flüstern der Gedanken, gemurmelte, unterbrochene Geständnisse ahnen lassen, daß das Ohr, das sie vernahm, zögernd verharrte, der Seele die Wehmut weiterzugeben, die durch das Geheimnis dieses mehr geahnten als erfühlten Hauchs entfacht wurde«.
Und unmittelbar nach diesen Zeilen aus »Gegen den Strich« zitierte ich als Beispiel eine inzwischen berühmte Strophe aus den »Galanten Festen«. Man könnte das Sonett »Mein vertrauter Traum« aus den »Saturnischen Gedichten« ergänzen, dessen Schlußterzett entschieden ein Wunder ist:
Ihr Blick hat sich wie der von Statuen erzeigt
Und aus ihr spricht das ferne, ruhige, tiefe Beben
Von mancher lieben Stimme kurz bevor sie schweigt.Doch diese Art der Bezauberung handhabt er nicht nur in solchen weltlichen Stücken; wir finden sie auch in »Weisheit« wieder, sogar im vorliegenden Band:
Von Herbstseufzern erfüllt sind die Gefilde,
Der eintönige Abend wird so milde,
Wo eine schwerfällige Landschaft ruht.Oder auch hier:
So daß mein untätiges Herz das delikate,
Enorme Mittelalter anzusteuern hatte,
Fern von fleischlichem Sinn und trister Leiblichkeit.Erzeugen die letzten Verse dieser beiden Terzette nicht eine Art schmachtender Auszehrung und einen melancholischen Taumel, wie eine Beschwörung, deren okkulter Zauber uns entgeht? Unter allen Dichtern ist Verlaine sicherlich derjenige, der bis zu den äußersten Grenzen der Dichtkunst gegangen ist, dorthin, wo sie sich verflüchtigt und das Reich der Musik beginnt.
Victor Hugo, Théophile Gautier, Leconte de Lisle, Banville, um nur die vier zu nennen, sind in der Literatur ebenfalls bis zum Äußersten gegangen und haben die Grenze zur Malerei erreicht. Ihre Worte malen, suggerieren Schattierungen und Linien vielleicht besser als die wirklichen Farben der Maler. Verlaine ist auf anderem Wege zur Morgengabe der musikalischen Kunst gelangt, deren Ausdruckskraft Schmerzens- und Freudenschreie, Bewunderung und Furcht beredter zu übersetzen vermag, und gerade ihre ungenauen und fließenden Konturen befähigen sie mehr als die Dichtung zum Ausdruck konfuser Empfindungen der Seele, ihres vagen Verlangens, flüchtigen Behagens und ihrer subtilen Qualen.
Verlaines Persönlichkeit war schon in seinen ersten Büchern ganz enthalten; er bewahrte sie auch nach der Konversion; er stellte die von ihm geschaffene Form in den Dienst seiner Buße, denn sie war bereit und er geeigneter als jede andere, die rührenden Annehmlichkeiten der Umkehr zu erzählen, und so vermochte er dem Erlöser einen Strauß mystischer Blumen von derart köstlichem Duft darzureichen, daß man, um ein ähnliches Aroma zu finden, bis zu François Villon und auch Gaston Phoebus zurückgehen muß, diesem Grafen de Foix, dessen Gebete ähnlich ungezwungene Entschuldigungen und anrührende Klagen sind.
Ich brauche das Leben Verlaines nicht zu erzählen; er hat es in einer Tirade mehr fehlerhafter als launiger Prosa teilweise selbst beschrieben; es genügt zu sagen, daß er sich in einer der finstersten Krisen seines Daseins bekehrt hat.
Von dieser Bekehrung, die sich während seiner Haft im Gefängnis zu Mons ereignete, hat er in einem Band mit dem Titel »Meine Gefängnisse« berichtet:
»O Jesus, wie machtest du es, daß du mich gewannst?
Ah!
Eines Morgens trat der gute Direktor persönlich in meine Zelle ein.
›Armer Freund‹, redete er mich an, ›ich bringe Ihnen eine schlimme
Nachricht. Fassen Sie sich! Lesen Sie!‹"Es war das gegen ihn und zugunsten seiner Frau ergangene Urteil über Trennung von Bett und Besitz durch das Zivilgericht an der Seine.
Und Verlaine fügte hinzu: »Ich warf mich über mein armes Bett und brach in Tränen aus.«
Und wie unter einem Peitschenschlag warf er sich nach der ersten Bestürzung zu Füßen des Kreuzes nieder und krempelte mit Hilfe eines wackeren Priesters, des Gefängnisseelsorgers, dem er beichtete, sein ganzes Leben um.
Damals schrieb er »Weisheit«.
Nach Verbüßung seiner Haftstrafe verließ er Belgien und kehrte nach Frankreich zurück. Die Öffentlichkeit kannte ihn kaum. – Niemand ahnte, daß ein katholischer Verlag dieses wunderbare, in einem Gefängnis entstandene Buch drucken würde. Nur wenige Exemplare, wenn überhaupt, gelangten in den Handel; der Titel erschien nicht einmal im Katalog der frommen Buchhandlung, die sich darauf beschränkte, ihr Markenzeichen und ihren Namen auf den Einband zu drucken. Allmählich setzte sich die Sammlung in der literarischen Welt durch und wurde auch von den Weltlichen gelesen; die Katholiken ignorierten sie weiter, und als sich später einige trauten, kursierten die ärgerlichsten Gerüchte über den armen Dichter. Man sprach von Trunksucht, unsäglichem Verkehr, Besuchen in zweifelhaften Hotels, Krankenhausaufenthalten; mehr bedurfte es nicht, um die Echtheit einer Bekehrung in Abrede zu stellen, die wirklich erfolgt war, mochte es dem schwarzgalligen Esel Doumic, der darin nur »eine Form von Zerrüttung, einen Fall trauriger Sinnlichkeit« sehen wollte, gefallen oder nicht.
Warum verschweigen, daß die Außenseitersituation Verlaines in der Welt der Gläubigen, die ihn nicht gelesen hat, fortbesteht? Ich habe Biedermänner sogar beklagen hören, daß man sich überhaupt mit der religiösen Dichtung eines Mannes abgebe, den ein anderer griesgrämiger Gaul, ein Herr Nordau, jüdischer Arzt mit einem Fimmel für Geisteskrankheiten, wie folgt darstellte: »Wir sehen einen abschreckenden Entarteten mit asymmetrischem Schädel und mongolischem Gesicht, einen impulsiven Landstreicher und Säufer, der wegen eines Sittlichkeitsverbrechens im Zuchthause gesessen hat, einen schwachsinnigen emotiven Träumer, der schmerzlich gegen seine bösen Triebe ankämpft und in seiner Noth manchmal rührende Klagetöne findet, einen Mystiker, dessen qualmiges
Bewußtsein Vorstellungen von Gott und Heiligen durchfluten, und einen Faselhans, der durch unzusammenhängende Sprache, Ausdrücke ohne Bedeutung und krause Bilder die Abwesenheit jedes bestimmten Gedankens in seinem Geiste bekundet.«
In diesem Porträt, worin der deutsche Quacksalber vor allem seinen Haß auf die Mystiker stillt, die er als die »schlimmsten Feinde der Gesellschaft« darstellt, wird immerhin eine Wahrheit ausgesprochen, nämlich daß Verlaine »schmerzlich gegen seine bösen Triebe ankämpft«. Ja, er hat gekämpft; er wurde meist besiegt; na und? Welcher Katholik wähnt sich im Recht, den ersten Stein auf ihn zu werfen?
[…]
Aus dem Französischen von Frank Stückemann
SINN UND FORM 2/2017, S. 204-212, hier S. 204-207
- 4/2019 | In Hamburg und Lübeck, S. 204 Leseprobe
Huysmans, Joris-Karl
In Hamburg und Lübeck
Hamburg
Der in Paris so langweilige Regen ist anderen Orten eine Zierde. Fällt er in Europas Norden aus aschfarbenem Himmel hartnäckig und fein auf die großen, dem Handel geweihten Städte, so mildert er das grobe, manchmal unheimliche Aussehen ihrer Fabriken und Häfen; er läßt sie unter dem dünnen Flor seiner Fäden verschwimmen, dient als sachter Schleier, der allzu vulgäre und zu markante Gesichtszüge veredelt.
Solche Gedanken kommen mir oft, wenn Böen die Fenster zum Klirren bringen, und dann entsinne ich mich eines riesigen, im Nebel verlorenen, von Schauern verschrammten Hafens, dann denke ich zurück an Hamburg. Und ich durchlebe am Kamin wieder jene ruhigen Stunden an der Elbe. In Hamburg ist der Fluß über alle Maßen breit; er wäre ein Meeresarm, wenn man ihn ließe, doch der Kommerz zerteilte ihn in zahllose sich kreuzende Straßen mit verketteten Pfählen aus schwarzem Holz – Straßen, die statt von Häusern von Dampfschiffen gesäumt sind und deren schmaler Fahrdamm ein Treffpunkt der Kanaljugend, von Schaluppen und Barken, ist.
Überall, in alle Richtungen erstrecken sich Ziegeldocks, die Renaissanceschlösser nachäffen, von Gischt verschmiert, vom Rauch der Maschinen geschwärzt, von Schienen, von Güterzügen eingefaßt, so weit das Auge reicht, im Gänsemarsch, im Gleichschritt. Und man kann Meile um Meile an den Ufern entlanggehen, Stege überqueren und Brücken passieren; es folgen immer neue Docks auf diejenigen, die man gerade hinter sich gelassen hat; die Schuppen und Hallen marschieren unaufhörlich mit, und endlich begreift man, daß man nie ans Ende kommt. Sie können den Horizont absuchen, er erweist sich wie Ihr Standort als Gestrüpp von Masten, als Hochwald von Schornsteinen, gespickt mit Kränen, die in Schiffsbäuchen wühlen und hier wie dort in aller Ruhe gigantische, in Sackleinen verpackte und eisenbereifte Ballen hervorholen, Trauben von Tonnen aller Art, von kurzen und gedrungenen Branntweinfäßchen über blaue und vergipste Petroleum- und Leinöltonnen bis hin zu schweren Fuderfässern voller Talg. Und auf die Scheffel und Oxhofts Wein folgen Kisten, gewaltige Kisten mit Klavieren, welche neben Torferdehaufen abgeladen werden, in deren zerbröselnder Masse Queckenfasern zum Vorschein kommen.
Die Hafenarbeiter und Entlader tragen die Farben der Substanzen, die sie auftürmen, und die dazu passende Livree, schwarz von der Kohle, weiß vom Gips, gelb vom Schwefel, der sie bepudert, schneebedeckt, wenn sie Stierhörner zu Hügeln aufschütten oder in Salz konservierte Tierhäute zu Ebenen ausrollen. Man spürt eine ungeheure und stille Anstrengung; diese verbissene Arbeit geschieht lautlos; die Menschen sind gezähmt, ins Joch gespannt; kaum daß gelegentlich der Elefantenschrei das Weite suchender Steamboats ertönt, das Geräusch der Ketten an den Kränen, das Knarren der Blockrollen, mit denen Frachtstücke und Ballen in Bauten gehievt werden, die mit ihren in jedem Stockwerk aufklaffenden Toren wie gestapelte Keller aussehen.
Und der Regen fällt ohne Unterlaß, treibt mit seinen Peitschenschnüren die Pfützen im Pflaster vor sich her, sticht Nadeln ins Wasser der Hafenbecken, kariert den Himmel mit graubraunem Garn; man sieht die Gegend nur noch durch einen schmutzigen Musselinvorhang; alles verlischt und verraucht; und wenn man das Ufer verläßt, um über den Fahrdamm zum Gehweg zu flüchten, merkt man, daß jeder Platz im Hafen dem Profit zum Opfer fiel.
Selbst unter den Läden, an denen man vorbeikommt, tun sich knapp überm Boden weitläufige, mit Vorräten vollgestopfte, eng mit Nahrungsmitteln bepackte Lagerräume auf, zu denen ein paar Stufen hinabführen: Schinkenkeulen und köstlicher Dung sind zu erkennen, Garben von Aalen mit goldpolierten Asphaltleibern, Bündel getrockneter Lachse, die aussehen, als wären sie mit rosa Harz bestrichen, große Zuber mit Fischen, deren Silber sich in der Marinade löst; und in dieser gärenden Lake unterscheidet man glasige und fahle Zitronenscheiben mit leuchtenden Schalen, zinnoberrote, vom Pfeffer grün angelaufene Paprikaschoten.
Für das schwelgerische Auge ist das eine Gala der Farben; letztlich wird aus jeder Ecke dieser Stadt Gewinn geschlagen, wird in jeder Ecke etwas verkauft; oben wie unten wird geklaut; und richtet man, statt in die Proviantkeller einzutauchen, den Blick nach oben, so erscheinen auf den Dächern die Markzeichen der Seele dieser Stadt, dieses gewaltigen Protestanten- und Judennests, in dem nie von Gott die Rede ist.
Der Kommerz wirft sich wie ein Sperber auf die Stadt. Die Dachfirste verfangen sich im unglaublichen Wirrwarr der Telefonleitungen; es sind bizarr geformte Apparate, alberne Kitharen, sonderbare Harfen, komplizierte Instrumente, deren Namen und Handhabung man nicht kennt. Das Firmament wird zu einem riesigen Notenpapier, als dessen Noten die Porzellanbecher der Telegrafen fungieren; eine barbarische, unverständliche, weiß auf grau gravierte Partitur; und es kommen einem böse Gedanken über dieses Hamburg, das abends wollusttrunken ist und von Dirnen strotzt, diese Stadt des Schuftens und der Freude voller, aus ihren Republiken geflüchteter, Südamerikaner, Menschen aus Caracas, wie Möbel mit Nußschalenbeize poliert, rosige und blonde Lutheraner mit Goldbrillen und grausige Beschnittene; denn selbst im Hafen, zwischen den Büros der Reeder und den Kontoren der gehobenen Unterwelt, öffnen sich Ritzen, die in Parks voller Gesindel und verlauste Hasenwäldchen führen. Und dort im abendlichen Regendämmer, im Spülsteinmief schlüpft eine Schar Gören aus den Mauerspalten, verteilt sich über den Fahrdamm und spielt. Es sind schuftende Arbeiterkinder, und Not und Sauferei sind derart, daß es an Brot fehlt und nur Bettelei bleibt. Ich erinnere mich an eine Kleine mit wergartigem Haarknoten, kleiebemehltem Pappmachégesicht, die mit ihren schmutzigen Patschhändchen nach Groschen haschte, welche eine Mutter ihr vom Hochsitz schwungvoll zuwarf. Bitterste, durch billigen Fusel noch vermehrte Not und wahnsinniger, durch unbeschreibliche Gefräßigkeit und rauschende Feste kaum verminderter Überfluß, das ist Hamburg.
Ein Restaurant, in dem ich täglich schmauste, hielt freilich die Mitte zwischen den Extremen; es strahlte bürgerliche Ausgewogenheit aus, nicht zu ärmlich, nicht zu reich, und brachte die friedvolle, zutiefst schlemmerhafte, still behagliche Seite des Deutschen zum Vorschein.
Der Ort war bezaubernd und heimelig, ohne Spiegel und Vergoldungen, in warmen Brauntönen à la Rembrandt. Wie überall gab es Büsten der Kaiser Wilhelm und Friedrich, wuchtige Anrichten, auf denen schwere Fleischteile zerlegt wurden, und Regalbretter, auf denen Humpen mit wappengeschmückten Zinndekkeln aufgereiht waren. Die Speisen und Getränke waren tadellos und die eingekellerten Rheinweine verdienten höchstes Lob; doch das eigentlich Besondere der Schenke bestand darin, daß man sich im Bauch eines ankernden Schiffes wähnen konnte. Die Decke war niedrig, der Saal voller Ecken und Winkel, und die eng beieinanderstehenden Fenster glichen Bullaugen.
An bestimmten Tagen, wenn die Luft aus Wasserstaub bestand, konnte man sich einbilden, in einem Aquarium zu sitzen und hinter den Scheiben in trüber Flüssigkeit schwimmende Fische zu erblicken, vorgetäuscht von wehenden zweizackigen Fähnchen an den Masten der Barken, die gegenüber, am Ende der Straße, in den Hafen geschleppt wurden.
Und man sah zu, ruhig, entzückt, glücklich, vor Regen und Wind geschützt zu sein und sich trocknen zu können. Wie oft fand ich Gefallen daran, die Leute, die mich umgaben und deren Sprache ich nicht verstand, unter die Lupe zu nehmen!
Sie gliederten sich in mehrere gut zu unterscheidende Typen: Die einen waren klein und beleibt, blaß und aufgedunsen, mit Billardkugelaugen und langen gelben Bärten, Köpfe, die nach Kavallerieoffizier oder Apotheker stanken; andere waren groß und rosig mit zweifarbigen Bärten, rostbraune Ähren und frische Butter, tiefe Augen hinter runden Brillen, Pianistenstrubbelköpfe auf Metzgerschultern; wieder andere waren vom Typ Orang-Utan, mit roten Ohren, flußgleichen Bärten, aus den Händen sprießenden roten Haaren und aus den Ohrlöchern wie aus einem Graben hervorquellenden Büscheln; und wieder andere waren brünett mit gekenterten Augen, kahlen, von der Druckstelle des Hutbands rosa umrandeten Schädeln, Seegrasbärten, den Physiognomien von in die Politik gegangenen unzufriedenen Architekten, Kneipengelehrten, Straßenkreuzungsdenkern. In der erstaunlichen Kapazität ihrer Begierden waren sie alle einander gleich. Ihre Mägen waren Schlünde. Nie sah ich Menschen so langsam, so methodisch, so ausgiebig kauen.
Kaum hereingekommen, schnitten sie riesige Brotscheiben ab, gaben Essig, Öl, Pfeffer und Salz darauf, banden die Gewürze mit einer Senfschicht und schlangen dieses Senfpflaster als Aperitif hinunter; hierauf versenkten sie mehrere Gänge, als Vorspeise nahmen sie ein mächtiges Beefsteak zu sich, auf dem zwei Spiegeleier lagen. (…)
Ein Freund ist eingetreten, dessen Anwesenheit mich von diesen Erscheinungen ablenkt, und während wir das Hamburger Nationalgericht essen, eine Suppe von unbestimmtem und säuerlichem Geschmack, die mit Kräuterbouillon gemacht wird und an deren Oberfläche Aal- und Räucherspeckbrocken, Erbsen und Backpflaumen, Karotten und Birnen schwimmen, sagt er lachend: »Schauen Sie mal!« Und er holt eine Fotografie aus der Tasche, die den Kaiser Wilhelm darstellt, wie er nach seinem Tod von Engeln in den Himmel entrückt wird, und reicht sie mir. Mit Backenbart und Helm sieht er wie ein kriegslüsterner Amtsdiener oder ein seraphischer Quartiermeister aus. Ach, die dümmliche katholische Bildersymbolik ist liebenswert verglichen mit der Militärfrömmelei der Protestanten! »Wohlgemerkt«, ergänzt mein Freund, den meine Fassungslosigkeit amüsiert, »wohlgemerkt, dieses Porträt hat sich hier ungeheuer gut verkauft. Und in der Tat befriedigt es die hurrapatriotische Gefühlsseligkeit ebenso wie das unklare Bedürfnis nach Frömmigkeit, das in der havarierten Seele dieser Stadt trotz allem fortbesteht. Luther hat nicht gut daran getan, uns Deutschen die Verehrung der Seligen und der Gerechten wegzunehmen. Da wir sie nicht entbehren können, sind wir offensichtlich gezwungen, unsere Generäle und Könige seligzusprechen, kurz: uns dem Schmuggel mit Heiligen zu ergeben.«
[...]Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 4/2019, S. 485-493, hier S. 485-488
- 6/2020 | Das Berliner Aquarium
Hwan, O San
- 4/1951 | Fackel der Befreiung