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Heftarchiv – Themen und Debatten

Träume, Taggedanken und Visionen

Einer der wirkungsvollsten Wege, der Wirklichkeit zu entfliehen, ist der Traum. Darin ähnelt er der Literatur. Der Schlafende, sagt Marguerite Yourcenar in ihrem Essay über "Träume und Schicksale" in Heft 6/2009, sammle wie der Dichter Worte: "Er verwendet sie mehr oder weniger glücklich, um sich etwas von sich zu sagen." Daraus erwächst die Faszination der belgischen Autorin dafür, "wie das Schicksal des einzelnen den Traum prägt, die unnachahmliche Legierung, die entsteht, wenn ein Träumender allgemeine seelische und sinnliche Elemente nach seinen eigenen chemischen Gesetzen verbindet und sie mit den Bedeutungen eines Schicksals auflädt, das einmalig ist. Es gibt Träume, und es gibt Schicksale: mich interessiert der Moment, wenn ein Schicksal sich durch Träume offenbart."

Der Dichter Paul Gurk erlebte seine Visionen, das Heraustreten aus der Realität, als Segen und Fluch. 1937 schreibt er einem Brief: »Ich habe ja auch die ganz seltene Gabe oder Belastung der Fähigkeit völliger Verwandlung mit totalem Verlust des Zeitempfindens. (…) Das Aufhören der Zeit habe ich oft, besonders bei einem Schweben im Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachen. Ich bin dann ›nicht da‹ und werde gewöhnlich für dumm oder idiotisch gehalten. Und doch sind diese unmeßbaren Zeitstückchen im Zwischenreich der wahre Odem der Liebe, der die Seele erfrischet.« (Vorbemerkung zu "Die Vision des Paul Gurk von den Wolken", Heft 2/2019).

Auf William Beckfords 1780 unternommener "Reise durch Deutschland", die unter dem Titel "Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens" in Heft 4/2018 erschienen ist, verschmelzen Traum und Wirklichkeit in der Natur und leiten den Autor in ein poetisches Labyrinth: "Voll solcher angenehmer Träumereien wanderte ich durch die Uferwiesen und wußte kaum, wohin ich ging: Manchmal führte mich ein buntschimmerndes Insekt vom Weg ab, und noch öfter taten es meine eigenen sonderbaren Phantasien. Durch beiderlei Ablenkungen war ich ganz und gar verwirrt und hätte mein Boot nie wiedergefunden, hätte mir nicht ein alter deutscher Naturkundler, der in den Felsen Fossilien suchte, seinen Ort gewiesen."

 

MARGUERITE YOURCENAR Träume und Schicksale
Seit meiner Jugend (an Kinderträume kann ich mich bis auf zwei oder drei kaum erinnern) begleitet mich durch mein nächtliches Leben ein Dutzend verstörender oder gütiger Träume, die wie musikalische Motive erkennbar und wie diese unendlich variierbar sind.

6/2009
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PAUL GURK Die Vision des Paul Gurk von den Wolken. Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer
Sehr gegen meinen Wunsch erscheinen meine Bücher, wenn sie die gehörige Länge haben, als Romane. Ich schreibe keine Romane. Mir ist das viel zu langweilig, wenigstens soweit das in der heute üblichen Technik geschieht. (...) Ich arbeite aber mit Visionen und habe demgemäß die Blitzlichtaufnahme, die Röntgenaufnahme.

2/2019
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WILLIAM BECKFORD Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens. Reise durch Deutschland (1780). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer
Visionen umspielen mich, und in feierlichen Augenblicken verfalle ich in poetische Trance. (...) Diejenigen, die ich liebe, sind abwesend. Einsam und verlassen suche ich Zuflucht in Luftgesprächen und rede mit Geistern, deren Stimmen im Sturmwind murmeln.
4/2018 | zum Text