Leseproben aus den zuletzt erschienenen Heften:
Adorno, Theodor W.
5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger
Vorbemerkung Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio besonders für Studierende die Verbindung zur deutschsprachigen Wissenschaft und Kultur vor 1933 wieder her, die wesentlich von Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund geprägt wurden. (...)
LeseprobeAngarowa, Hilde
3/2021 | Die Rückkehr. Aus einem Reisetagebuch (1957). Mit einer Vorbemerkung von Andreas Tretner
Vorbemerkung
Annähernd dreißig Jahre war Hilde Angarowa, geborene Schießer, Deutschland ferngeblieben, bis sie sich im März 1957 das erste Mal wieder nach Berlin, Hauptstadt der DDR, wagte. »Germania begrüßt seine treulose Tochter«, so eröffnet sie ihr Reisetagebuch. Als junge Bildhauerin hatte sie 1929, frohgemut und frischvermählt mit einem rotblonden Sibirjaken, die Stadt gen Moskau verlassen; zurück kam sie als gestandene Übersetzerin russischer Literatur.
Ihre »Lehrjahre« für diesen Beruf erscheinen beispiellos dramatisch, hart an den Abgründen deutsch-russischer Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie war schon da, als die Garde deutscher Kommunisten nach der Machtergreifung ins sowjetische Exil kam, war dabei, als die Sowjetunion in den Großen Terror (...)
Beck, Herta
6/2021 | Besuch bei Erich Fried
»Wenn du schon nach London fährst, besuch Erich Fried. Gewinne ihn für unseren Beirat.« Mario gab mir die Adresse. 24, Dartmore Road.
Ich wollte in den Semesterferien nach London fahren und dort die Hausbesetzerszene kennenlernen. Wir hatten in Heidelberg mal eine Villa besetzt, die Frauengruppe, es sollte ein autonomes Frauenzentrum werden, statt Abriß. Ein Chaos, das nach wenigen Tagen mit der Räumung endete. Das ist nun fast ein halbes Jahrhundert her.
Fried gehörte zu einer Gruppe bekannter Linker, deren Namen man oft unter Resolutionen und Aufrufen las, wie Drewitz, Gollwitzer, Abendroth. Eine solche Gruppe sollte unser selbstverwaltetes revolutionäres Studentenwohnheim in Heidelberg nun vor der bevorstehenden Auflösung durch die Univerwaltung retten. Frieds (...)
Bönt, Ralf
5/2022 | Über Unwissende. Versuch zum Verlust der Gegenwart
Das Ende der Vormoderne:
Die Erosion der Kirche und die Notwendigkeit von Religion
Schon bevor der russische Präsident seinen heillosen Krieg gegen die Zukunft anfing, war auch im Westen die Vorstellung von ihr verlorengegangen. Mehr noch, mit den Kirchen und der Wissenschaft waren in Deutschland die vermeintlichen Vertreter von Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig unter Legitimationsdruck geraten, weil es am Verständnis dafür mangelt, worin der Unterschied zwischen beiden besteht. Inmitten einer Pandemie mit ihren bedrohlichen Unwägbarkeiten wendeten sich mehr Menschen als je zuvor von den Kirchen ab, statt dort etwa Halt zu suchen. Gleichzeitig wurden in diesen Tagen Geistliche in großer Zahl für schwerste Vergehen an jungen Menschen verantwortlich gemacht, die (...)
Borchardt, Rudolf
3/2023 | Fortsetzung der Lebenserinnerungen. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Schuster
Vorbemerkung Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 und 1928 veröffentlicht, aber ungekürzt im Gesamtumfang von 120 Buchseiten unter dem vom Verfasser bei Georg Gottfried Gervinus geborgten Titel erst postum erschienen (Prosa VI 1990, zuletzt 2002 mit Nachwort von Gustav Seibt), galt bisher als »vollendet«, wenngleich im chronologischen Gerüst naturgemäß nicht abgeschlossen. Literarisch gleichrangig steht dieser Bericht über den Zeitraum zwischen 1877 und 1885 neben Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« – einsetzend mit Reflexionen über den »Sinn der Autobiographie«, gefolgt von Details zur jüdischen Familien- und Gelehrtengeschichte als Beispiele für die (...)
LeseprobeBreisky, Arthur
5/2020 | Harlekin – kosmischer Clown. Eine Einführung in das Leben der Dichter. Mit einer Vorbemerkung von Hans-Gerd Koch
Der verschollene Arthur Breisky. Eine Vorbemerkung Amerika war für den jungen Franz Kafka ein verlockendes Ziel. Reiseberichte und Erzählungen von Verwandten, die dorthin gereist oder gar ausgewandert waren, regten seine Phantasie an. Schon in jungen Jahren versuchte er sich an einer Erzählung, die in Amerika spielen sollte: »Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. (…) In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses beschrieben, vor allem seine Stille und Kälte; über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil es der gute Bruder war.« (Tagebuch, 19. November 1911) Über die in der Eintragung (...)
LeseprobeCzapski, Józef
4/2023 | Tumult und Gespenster
(…)
Cannes. Das Schiff ist gerade erst aus Genua eingelaufen. Auf den Wellen schaukelt eine riesige, weise Schmuckschatulle mit einem roten Streifen am Schornstein und einem grünen dort, wo es die Wellen berührt: »Giulio Cesare«. Schiffsreisen liegen mir überhaupt nicht. Ich kann Schiffe nicht leiden, nicht einmal die schönsten. Die überlangen Flure und Treppen, überall ein eigenartiger Geruch (Lack? Schmiere?), die Enge der Kabinen – auch der ärmste Schlucker wohnt auf Erden geräumiger –, das sanfte Schaukeln, auch wenn der Kreuzer stillsteht – mir wird schon aus bloßer Angst, seekrank zu werden, leicht übel. Nervosität, das normale Reisefieber. Wo sind die Kisten? Wo steht welcher Koffer? Hektisches Suchen, um die »beste« Liege auszuwählen, obwohl alle (...)
Darsow, Kurt
3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Peter Rühmkorf 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker (...)
Detering, Heinrich
4/2022 | Könige und Communismus. Eine Erinnerung an Bettine von Arnim 437
Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis zum »Weberlied«. Aber auch so handfest agitatorische Texte wie die Dichtungen Georg Weerths – dieses »ersten Dichters des deutschen Proletariats«, wie Engels ihn genannt hat –, die »Lieder aus Lancashire« von 1845 etwa oder das »Hungerlied « ebenfalls aus der Zeit des schlesischen Weberaufstands 1844, lassen sich lesen als drastisch sozialrealistische Seitenstücke zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos betont unpolitischem »Wunderhorn« (1805 – 08). Sie ergänzen die »Volkslieder« substantiell um die dort absichtsvoll ausgesparten Arbeiterlieder aus der Frühindustrialisierung. Von der Herkunft der revolutionären Lieder (...)
LeseprobeEnzensberger, Hans Magnus
5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger
Vorbemerkung Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio besonders für Studierende die Verbindung zur deutschsprachigen Wissenschaft und Kultur vor 1933 wieder her, die wesentlich von Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund geprägt (...)
LeseprobeErnst, Rudolf
4/2022 | Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook
Tony Buddenbrook mit ihrer charmanten Naivität und ihrem ausgeprägten Standesbewußtsein ist für viele Leser von Thomas Manns »Buddenbrooks« die heimliche Heldin des Romans. Der Verlust ihrer großzügigen Mitgift als Folge des »Bankerotts« ihres Ehemanns ist für sie, die sich in so hohem Maße über ihren Status und das Vermögen ihrer Familie definiert, ein Schicksalsschlag. Daher sind die Hintergründe dieses Wendepunkts in ihrem Leben von besonderem Interesse. Sie erklären sich durch reale Vorgänge, denen die Romanhandlung nachgebildet wurde. Bisher blieb die Frage offen, wie es überhaupt zu diesem Unglück, dem Verlust der Mitgift durch die Pleite des ersten Ehemanns von Tony Buddenbrook alias Elisabeth Mann kommen konnte. Wie war es möglich, daß so erfahrene Kaufleute (...)
LeseprobeEstis, Alexander
1/2021 | Keinen Roman schreiben. Miniaturen
Keinen Roman schreiben Die erste Voraussetzung, um keinen Roman zu schreiben, ist eine rege Phantasie. Ein Mensch mit schwacher Vorstellungskraft verfällt leicht auf die Idee, sich einen Roman ausdenken zu müssen. Das ist verständlich; so viele schreiben Romane. Unzählbar sind die Anleitungen, wie man einen Roman schreibt, keine einzige rät, wie man sich dessen enthält. Denn es gibt hierzu keinen Königsweg, keine sichere Methode. Man ist auf sich gestellt, an den Schreibtisch geworfen, vor das leere Blatt, das zum Roman verführt. Jetzt hilft es nicht, sich unterm Tisch zu verstecken; man muß die Sache mit Geist angehen. Denken muß man. Es sind schon vielbändige Monographien verfaßt, ganze Philosophien erschaffen worden aus dem Wunsch heraus, am Romanschreiben vorbeizukommen. (...)
LeseprobeFontaine, Naomi
5/2020 | Nutshimit
Nutshimit ist das Landesinnere, das Land meiner Vorfahren. Jede Familie kennt ihr Waldstück. Die Seen sind Straßen. Die Flüsse zeigen den Norden an. Wer unvorsichtig ist und zu tief in den Wald eindringt, kann sich an den Zugschienen orientieren. Nutshimit, ein Ritual für Karibu-Jäger. Klare Luft, für die Alten unverzichtbar. Seit ihre Beine an Kraft verloren haben, zieht es sie nur noch zum Atmen in die Wildnis. Nutshimit, ein unbekanntes, aber nicht feindseliges Territorium für jemanden, der seinen Geist zur Ruhe kommen lassen will. Früher waren diese Wälder von Männern und Frauen bewohnt, die mit den Händen nahmen, was die Erde ihnen schenkte. Sie leben nicht mehr, aber sie haben auf Felsen, Wasserfällen und grünen Fichten ihren Abdruck hinterlassen, ihren (...)
LeseprobeGissing, George
1/2023 | Bücher und das ruhige Leben
(…)
IV.
Es regnete fast den ganzen Tag, dennoch war es für mich ein Tag der Freude. Ich hatte gefrühstückt und war in eine Karte von Devon vertieft (wie liebe ich doch gute Karten!), um eine Reiseroute zu erkunden, die ich im Auge hatte. Da klopfte es an meine Tür, und Mrs. M. trug ein großes Paket in braunem Papier herein, das, wie ich mit einem Blick sah, Bücher enthalten mußte. Die Bestellung hatte ich vor einigen Tagen nach London geschickt, aber nicht erwartet, daß meine Bücher schon so bald eintreffen würden. Mit pochendem Herzen legte ich das Paket auf den Tisch und behielt es im Auge, während ich das Feuer unterhielt; dann nahm ich mein Federmesser und öffnete die Sendung mit zitternden Händen, feierlich und bedächtig.
Es ist ein Vergnügen, (...)
Greg, Wioletta
2/2021 | Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte
OSTERGEDICHT
Kalter April. Die Küken reiften
in dem Käfig unter der großen Glühbirne,
die wir Glucke nannten.
Ich gab ihnen kleingeschnittenes Futter:
hartgekochte Eier, Schafgarbe, Wasser auf einem Deckel.
Ich schaute sie an – Geschöpfe, die nach Sand und
Schleim rochen, ausgeschlüpft aus einer Dunkelkammer,
die wie die Pausen in der Stromversorgung war.
Dieses Knistern in der Dunkelheit, wenn die Birne erlosch,
die steif werdenden Fleckchen, das Flimmern.
SCHWIMMUNTERRICHT
Ich war kaum sechs Jahre alt, als Vater
mir den ersten Schwimmunterricht gab,
mich mitten auf dem See vom Floß stoßend.
»Nur die Starken überleben«, sagte er,
als ich mit blauen Lippen (...)
Gröschner, Annett
2/2023 | Minutentexte
Für Alexander Kluge
1: Hartguß und Herzweiche oder der Elefant im Raum,
über den ich sprechen will
Mit den Zufällen ist es wie mit den Seelen von Häusern. Ich glaube nicht an sie, aber sie können mich trotzdem überwältigen. Nehmen wir das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23 mit seinen verborgenen Bewohnern. In der Villa kreuzen sich die Zufälle auf ganz besondere Art.
Ich liebe Bauakten, weil sie so unbestechlich auf ein Ergebnis hinauslaufen. Das Ergebnis ist ein Haus, das sich nach und nach der Bauakte entfremdet oder ganz und gar wieder verschwindet, worauf das nächste kommt und in die gleiche Akte eingespeist wird. In dieser hier klebte hinter dem Umschlag der Grundbuchauszug, auf dem der Name Louise Hildebrandt stand, geborene Gruson – die (...)
Große, Jürgen
3/2021 | Die Namen des Bösen
Präambel: Methodische Probleme der Dämonenkunde
In der politischen Publizistik sind Modernisierungstheoreme nach wie vor beliebt. Über ein Jahrhundert waren sie zumeist als Säkularisierungstheorien aufgetreten. In diesen ging es nicht einfach darum, dem politischen Gegner ein Modernitätsdefizit, gar intellektuelle Zurückgebliebenheit zu unterstellen. Säkularisierungstheoretiker erhoben auch den Anspruch, solche Defizite erklären zu können: Der moderne Mensch, zumal wenn geistig-moralisch schwach gebaut, leide an einem Sinnverlangen, das einst die Religion befriedigt habe. Doch sei die Zeit religiöser Sinngebung für Individuum und Gesellschaft unwiderruflich vorüber. Politische »Ideologien« seien Pseudoreligionen, Substitute für etwas, wonach »in der Moderne« (...)
Hartmann, Bernhard
3/2021 | »Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Irit Amiel
BERNHARD HARTMANN: Als Sie vor gut zwei Jahren einen Unfall hatten, habe ich Ihnen per E-Mail baldige Genesung gewünscht. Sie schrieben mir zurück: »Wir sogenannten Shoah-Überlebenden haben so etwas wie einen Sensor, einen Rettungsknopf in uns. Und immer, wenn uns etwas Schlimmes passiert, drücken wir diesen Knopf und dann ist wieder alles möglich.« Wie funktioniert das?
IRIT AMIEL: Bei mir vor allem so, daß ich nicht den Kopf verliere, wenn etwas passiert. Ich weiß, daß ich meine Kinder anrufen muß, Oni und Dita. Seit einiger Zeit habe ich auch einen echten Notrufknopf, mit dem ich den Krankenwagen alarmieren kann. Den Rest erledigt dann der Arzt … Als ich nach meinem Sturz operiert werden mußte, sah es so aus, als würde ich nicht mehr laufen (...)
Heinemann, Elke
4/2022 | Versuch über William Beckford im Jahr 2022
1
Social distancing, ein Schlagwort der Covid-19-Pandemie, läßt nicht von ungefähr an einen Mann denken, der 1760 in England geboren wurde und den größten Teil seines Lebens Abstand zu anderen gehalten hat. William Thomas Beckford, Schriftsteller, Baumeister, Komponist, Objektdesigner, Kunstsammler und Mäzen, im Brotberuf Millionenerbe, war ein Exzentriker, im Wortsinn ein »Sonderling«, wie der durch das britische Königreich tourende Exzentriker Hermann Graf von Pückler-Muskau 1828 zu berichten weiß: »eine Art Lord Byron in Prosa, der das prachtvollste Schloß in England baute, seinen Park aber mit zwölf Fuß hohen Mauern umgeben ließ und ebenso viele Jahre lang niemand den Eintritt darin verstattete. Nun, dieser Mann verauktionierte plötzlich jenes Wunderhaus, (...)
Horn, Eva
6/2020 | Was vom Tag übrigbleibt. Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die Stirnfalten, und ich glänze ungut. Von leicht oben sehe ich etwas mitleiderregend aus, schutzbedürftig, großäugig, nicht besonders schlau. Also, das habe ich schnell gelernt: am besten im diffusen Licht und freundlich gucken. Am Fehlen jenes Narzißmus, der Selfiemachern von allen Seiten vorgeworfen wird, kann es nicht liegen; eher an der technischen und visuellen Unbegabtheit meiner Generation, die ihr erstes Smartphone erst mit vierzig in der Hand hielt. Obwohl mich Freunde und Familie immer wieder auffordern, ihnen Selfies von meinen Reisen oder von Begegnungen mit Leuten zu schicken, die berühmter sind als ich, frage ich mich, warum man (...)
LeseprobeKeun, Irmgard
1/2020 | »Ich sehne mich zwar nach Ruhe, aber ich ertrage sie nicht«. Zwei unbekannte Briefe an eine Freundin. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Meitzel
Vorbemerkung »Ist Münzenberg tot? Was ist mit Irmgard Keun?« Als sich Nelly und Heinrich Mann am 11. Januar 1941 besorgt bei Hermann Kesten nach dem Schicksal der beiden Freunde erkundigen, ist Willy Münzenberg nicht mehr am Leben, aber auch die zweite Frage beruhte auf mehr als einer angstvollen Vermutung. Bereits am 16. August 1940 hatte der »Daily Telegraph« berichtet: »Fraulein Irmgard Keun, the novelist, is stated to have taken her life at Amsterdam.« Ein knappes Jahrzehnt zuvor war die junge, 1905 in Charlottenburg geborene Autorin mit den Romanen »Gilgi – eine von uns« (1931) und »Das kunstseidene Mädchen« (1932) auf Anhieb zur Bestsellerautorin geworden. In beiden Büchern porträtiert sie berufstätige neue Frauen, die unabhängig sein wollen und sich gegen (...)
LeseprobeKienlechner, Sabina
2/2021 | Die Mutter, das dritte Geschlecht
(...)
Die Menschen um sie herum, Arzt, Hebamme, Hebammenschülerin, Kindsvater und wer sonst noch dem Ereignis assistiert, erscheinen ihr ungewohnt plastisch, charaktervoller denn je, wie Titanen in ein Tun involviert, dessen taghelle Oberflächlichkeit ihr noch niemals aufgegangen war. Ihr eigener dunkler Blick ruht auf ihren geschäftigen Gesichtern: Wie aus tiefstem Meeresgrund blickt sie hinaus in das, was man Wirklichkeit nennt. Sie ist überzeugt, daß nie ein Strahl des menschlichen Geistes in diese physiologischen Tiefen vordrang oder jemals vordringen wird: aus denen aber doch soeben ein Mensch geboren werden soll. Alles, woran sie bisher geglaubt hatte, stürzt lautlos in sich zusammen, und vor Staunen wird der Frau ganz kalt.
Nach einer Weile überläßt sich die Frau (...)
Killert Gabriele Helen
Kleinschmidt, Sebastian
1/2022 | Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit
[…]
Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich spreche von der heraufziehenden Klimakrise, vom drohenden Versiegen des Golfstroms, von starken Stürmen, langen Dürren, großen Überflutungen, vom Auftauen der Permafrostböden, vom Schmelzen des polaren Eises und dem alptraumhaften Ansteigen des Meeresspiegels. Hier gewinnen die Voraussagen – nicht von Sehern, sondern aus der Forschung (der Schriftsteller Ulrich Horstmann nennt sie »das verhängnisorientierte wissenschaftliche Hochrechnungswesen«) – inzwischen tatsächlich den Charakter apokalyptischer Prophezeiungen. Und werden an manchen Orten schon Wirklichkeit und Wahrheit. Ende Juni 2021 wurden in der Ortschaft Lytton in der (...)
Knott, Marie Luise
6/2022 | Über Befangenheiten
In den letzten Jahren stand viel bislang kaum Hinterfragtes auf dem Prüfstand. Auch Hannah Arendt ist in die Kritik geraten. Einige Stimmen kritisierten ihre Ausführungen zum Kolonialismus in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Schließlich waren die Indigenen auch in Afrika keineswegs geschichtslos. Andere Stimmen fragten, wie es sein könne, daß die jüdische Denkerin, die Diskriminierung und Verfolgung am eigenen Leibe erfahren hatte, 1959 in ihrem Essay »Reflections on Little Rock« die gesetzlich erzwungene Integration von schwarzen Schülern mit dem Argument ablehnte, dies sei »um keinen Deut besser als die gesetzlich erzwungene Rassentrennung «. Arendt, kritisierte beispielsweise die Soziologin Kathryn T. Gines, habe sich den Kopf »weißer Mütter« zerbrochen, (...)
LeseprobeKohlhaase, Wolfgang
1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen? WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt (...)
LeseprobeKöpp, Ulrike
5/2022 | Der volkseigene Gartenzwerg. Über den Kampf gegen Kitsch in der frühen DDR
Im Sommer 1947 warb ein Plakat für den Besuch einer Ausstellung im Weimarer Schloß: »Gegen die Ausbeutung des Volkes durch Kitsch«. Den Initiatoren ging es offenbar ums Ganze. Den Schwung für ihr Unterfangen bezogen sie aus dem radikalen gesellschaftlichen Umbruch nach dem Untergang des Nazi-Reiches. So hatten die neuen politischen Machthaber mit der Bodenreform gerade für die Umsetzung eines alten lebensreformerisches Ziels gesorgt. Warum sollte da nicht auch die Stunde für die Kunsterziehungsreformer gekommen sein?
Die Malerin Lea Grundig erinnert sich an eine Begebenheit aus ihrer Schulzeit in Dresden, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Als Achtjährige war sie von ihrem Lehrer über Kitsch aufgeklärt worden und stiftete ihre älteren Schwestern umgehend dazu an, die Nippes (...)
Krechel, Ursula
6/2020 | Aufzeichnungen aus der Dunkelheit. Vom Träumen in Diktaturen
Wir träumen oder wir träumen nicht. Und nehmen an, daß Erinnerungen und Tagesreste eine Folie bilden, auf der Träume aufscheinen. Und gleichzeitig wundern wir uns nicht, daß Menschen, die einer persönlichen und objektiven Katastrophe entronnen sind, schlecht träumen oder aus Alpträumen aufschrecken. Wie wurde in Sarajevo, im Kosovo, in Bagdad geträumt, wie wird in Aleppo, in Damaskus, in Idlib, wie in Pjöngjang, wie in den fortgeschrittenen Überwachungsstaaten geträumt? Ein Traumforscher müßte sich auf den Weg machen und die Träume der Traumatisierten, der aufgeschreckten Schläfer sammeln. Doch es wäre ein problematischer Ansatz, verängstigten und eingeschüchterten Menschen ihr nächtliches Material zu entwinden und ins Licht der Beobachtung zu stellen. Traumatisierte (...)
LeseprobeLabatut, Benjamín
2/2022 | Die tote Stadt
Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli – »La ville morte« – nicht hören könne, ohne von heftigsten Gefühlen überwältigt zu werden, ein ihm selbst unerklärliches Phänomen. Die mit schmerzvoller Stimme gesungene Ballade, begleitet von den Klagelauten eines Akkordeons, besticht durch ergreifende Bilder: Als wir in die tote Stadt einzogen / Hielt ich Margot an der Hand / Ein Morgen, der nicht endete / schenkte uns sein totes Licht / Wir liefen durch die Straßen, von Trümmern / zu Ruinen und von Tür zu Tür / Was einmal Türen waren / grenzte an ein seltsam fremdes Land. Egal wie oft Dyson die Aufnahme abspielte, jedesmal zerfloß er in Tränen, er schämte sich, das (...)
LeseprobeLeggewie, Claus
1/2020 | Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington
»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der hohen Schule von Salamanca, Bulldozer, Planierungsmaschinen, Höhlenbohrer, Verstecke für die Angst, Unterstände für die Torheit, die alten Weinberge den Göttern und den Heiligen und dem Umsatz geweiht, das deutsche Vorfeld, die germanische Mitte, des Erdteils gebrochenes Herz, Maginots wiedererstandene Illusionen, die Kolonien der Feldoffiziere und Sergeanten mit dem Indianergesicht, Nachbarschaft und Isolierung, die Main Street mitgebracht …« Was für ein Eröffnungssatz! Der sich dann im gleichbleibenden Stakkato über zwei weitere Seiten erstreckt und, noch ganz unter dem Eindruck eines amerikanisch besetzten und beglückten (...)
LeseprobeLehr, Thomas
5/2022 | Der Freund, der zuhören konnte. Totenrede für Friedrich Christian Delius
Wenn ich mutig wie Christian wäre, würde ich seine Totenrede mit einem Geständnis beginnen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen! Schon sehe ich ihn schmunzeln, auf seine unnachahmliche Grandseigneur- Art, und es könnte sogar sein, daß er mir leicht und salopp mit der Hand auf die Schulter klopft.
»Allerdings«, würde er mir dann empfehlen, »solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen und also besser sagen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen, aber von den wichtigen die meisten. Und füge locker hinzu: Ich habe sie auch verstanden.«
Zurückhaltend, aber nicht falsch bescheiden sein, präzise, aber nicht pedantisch, nicht die Zuhörer oder Leser damit langweilen, daß man in die Breite wirtschaftet – solche Dinge hat mein großer Freund und (...)
Locke, John
6/2021 | Weihnachten in Deutschland (1665). Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff
Vorbemerkung
Der englische Philosoph John Locke, der sein schriftstellerisches Hauptwerk innerhalb weniger Jahre an der Schwelle zum 18. Jahrhundert veröffentlichte, war einer der wichtigsten Vordenker und Stichwortgeber der Aufklärung. Deren Zielsetzungen und politische Diskurse prägte er so nachhaltig wie kaum jemand sonst. Ausgangs- und Bezugspunkt seiner gesellschaftsverändernden Überlegungen war die »Glorreiche Revolution« von 1688 / 89, die er als Gefolgsmann des neuen Monarchen William III. nach Kräften unterstützte. Diese Befreiung von der absolutistischen Regierung des exilierten Stuart-Königs James II., die zu einem gewaltigen Modernisierungsschub führte, erhob Locke auch für andere Nationen zum Vorbild. Stets kreisten seine Schriften um die Frage, was (...)
Meerapfel, Jeanine
5/2023 | Eine Frau
Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerungen zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung dafür zu finden. Vielleicht geht es darum, mich so lange zu erinnern, bis ich vergessen kann.
Ich erfinde immer neue Ordnungssysteme, die ich dann wieder verwerfe. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach einer logischen Archivierung ein. Es ist, wie wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang bringt.
Andererseits birgt die Unordnung ein enormes Versprechen; sie verspricht eine Zeit, in der alles geordnet werden wird … eine zukünftige Zeit. Also bleibe ich dabei, die Erinnerungen durch eine (...)
Mensching, Steffen
5/2023 | Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden
1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. Als er 1950 aus dem Exil zurückkehrte, steckte in seinem Gepäck ein Exemplar der Studie, die er in den Jahren der Emigration handschriftlich bearbeitet hatte. Die Neuausgabe war eine der Illusionen, die er sich machte, als er in der jungen DDR, dem demokratischen Deutschland, wie der Dichter gesagt (...)
Nowka, Michael B.
5/2020 | Zweige verwandelt in Hände. Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers (1983 –1990)
Beschreibung eines geheimen Berufs Wir Harzer in der DDR waren Leistungslöhner. Und Langstreckengeher. Zehn bis zwanzig Kilometer pro Tag und mehr, je nach Baumdichte. Ich ging in meinen Revieren oft über feinstengliges, weiches Waldgras. Die vorjährige Schmiele war verfilzt und bildete noch grüne, kräftezehrende Luftpolster. Schützenlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg kreuzten die ausgetretenen, mit der Axt notdürftig gelichteten, kaum sichtbaren Arbeitspfade von Baum zu Baum. Fuchs- und Dachsbaue, Ameisenhaufen. Ich ging durch urwaldähnlichen Unterwuchs aus Vogelkirschen, Faulbaum, jungen Kiefern, Birken, Eichen und Robinien. Brombeerhecken und Wipfelbrüche umging ich. Herabgefallene, ins Gras eingewachsene Äste und alte, ebenfalls überwachsene Fuchsbaue waren (...)
LeseprobeOpel, Anna
6/2022 | New Yorker Recherchetagebuch
Vor den falschen Sachen Angst haben. Daß die Immigrationsbehörde am Flughafen JFK mich wegen irgendeines Formfehlers nicht einreisen läßt. Daß ich mit Corona auf dem Flur eines New Yorker Krankenhauses liege und weiße Kittel an mir vorüberflattern. Daß ich in einem Kühl-LKW auf meine Bestattung warte. Im Zinksarg ausgeflogen werde. Daß die Kreditkarte nicht funktioniert. Daß der Koffer zu schwer, zu groß, zu klein ist. Daß ich friere. Daß mein Handy gestohlen wird. Alles unbegründet. Ich hätte vor etwas völlig anderem Angst haben müssen.
Als ich mit einem Abstand von achtzig Jahren den Exilanten Erwin Piscator und Judith Malina hinterherreise, kriecht ein kilometerlanger Militärkonvoi aus Rußland auf die ukrainische Grenze zu, aber alle sagen: Nein, es wird schon (...)
Overhoff, Jürgen
4/2021 | Der Schmuckeremit. Jean-Jacques Rousseau und die exzentrische Betrachtung der Einsamkeit
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.
(Genesis, 2,18)
Der menschliche Atem ist seinesgleichen tödlich;
das gilt im eigentlichen nicht weniger als im übertragenen Sinn.
(Jean-Jacques Rousseau, Emile)
1
Seit es menschliche Aufzeichnungen gibt, wird an allen Orten und Enden der Welt von Einsiedlern berichtet, von freiwillig im Abseits lebenden Einzelgängern, die sich den verbindlichen Zusammenhängen von Gemeinschaft und Gesellschaft auf Dauer entziehen. In der Literaturgeschichte kommt diesen in selbstgewählter Abgeschiedenheit hausenden Gestalten sogar eine herausragende Bedeutung zu. Die ältesten Werke und Epen verdanken ihnen ihre Wirkung oder gar Entstehung. Das Grundbuch der altchinesischen Weisheitslehre, Lao Tses jahrtausendealte Spruchsammlung (...)
Paret, Christoph
1/2022 | Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’
Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen wollen: »Stillschweigen. Wie Sie zu Ihrer eigenen Schreibblockade werden«, »Das leere Blatt – eine Utopie«, »Schreib-Enthemmung? 120 geniale Tips sich zurückzuhalten«. Jedenfalls muß es mittlerweile als Ereignis allerersten Ranges angesehen werden, wenn ein Text einmal nicht geschrieben wird. So erklärt sich die Aufmerksamkeit, die der in Sinn und Form veröffentlichte Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno jüngst erfahren hat. Adornos angekündigte Kritik des Godesberger Programms der SPD ist nie erschienen, da mochte Enzensberger als Herausgeber des Kursbuchs noch so sehr drängen, bitten und ermutigen. (...)
LeseprobePerson, Jutta
1/2023 | Wortfeldmagie mit Wiedergängern. Kleine Dämonologie für Lothar Müller
Vor genau hundert Jahren schreibt Heinrich Mann eine Rezension für die Prager Zeitung »Bohemia«, die mit einem eher düsteren Bild der Gegenwart beginnt: »Diese Zeit hat alles, nur nicht Heiterkeit«, so der erste Satz, und der Kritiker des Jahres 1922 fährt fort: »Zuinnerst lebt die Gegenwart verdammt beladen mit schweren Fragen und hat das – niemals berechtigte – Gefühl, als seien sie unlösbar.« Dann aber folgt die 180-Grad-Wende: Ein Buch komme ihm gelegen, das vollkommen heiter und noch dazu auf der Höhe der Zeit sei, so Mann, nämlich die Geschichtensammlung »Dschinnistan« von Christoph Martin Wieland. Diese Geistermärchen, die gerade im »Verlag der Wiener Graphischen Werkstätte« neu herausgegeben worden waren, lassen gute und böse Dschinns zum Zuge kommen und (...)
LeseprobePonge, Francis
2/2020 | Die Nelke / Die Mimose. Mit einer Vorbemerkung von Susanne Stephan
Vorbemerkung
Im Herbst 1940 läßt sich Francis Ponge mit seiner Familie in Roanne westlich von Lyon nieder. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland war er zunächst eingezogen und in Rouen stationiert worden; als die Besatzer sich in Nordfrankreich etablierten, flüchtete er nach Süden in die »Zone libre« und traf nach einigen Irrfahrten in La Suchère (Haute-Loire) wieder auf seine Familie, die Ehefrau Odette und die fünfjährige Tochter Armande.
In Roanne finden sie Zuflucht, und Ponge kann eine Tätigkeit im Steuerbüro eines Monsieur Dugourd aufnehmen. Schon in Paris mußte er als Versicherungsvertreter arbeiten, nachdem er seine Anstellung bei der Verlagsgruppe Hachette aufgrund seiner politischen Ansichten (seit (...)
Poschmann, Marion
1/2021 | Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien
YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und erinnern hauptsächlich »Pflastersteine und Randsteine, (…) das Licht in Unterführungen und (…) den Schotterweg der Poppelsdorfer Allee und die Wirtschaftswege zwischen den Kopfsalatfeldern in Lessenich, (...)
LeseprobePrabala-Joslin, Avrina
3/2023 | Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum
Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn. Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn niemand da ist und sie sich einfach an den neuen Computer setzen kann. Damals waren Computer noch eine große Neuheit und sie gehörten zu den wenigen Leuten in der ganzen Stadt, die einen zu Hause hatten. Ihr Dad ist der Präsident von irgendwas. Nicht des Landes, nicht der Stadt. Es ist so etwas wie ein Geheimdienst, wie diese Bühnenarbeiter, die zwischen den Akten Möbel herumschieben. Blackouts. Sein Telefon klingelt ständig. Er sagt nicht »Chellaiya hier«, wenn er abhebt. Sagt nicht »Wiederhören«, wenn er auflegt. Sie findet, das sollte er. Zwei seiner Freunde sind vor kurzem gestorben. Ihre Mom ist Wissenschaftlerin. (...)
LeseprobeProchasko, Jurko
4/2008 | Mein Fenster zur Welt. Dankrede für den Friedrich-Gundolf-Preis
Es kam, wie es kommen mußte. Es kommt so: es kommt der Frühling, er ist noch jung. Der wilde Wein auf dem großen langen Balkon beginnt erst, Knospen zu treiben. Es ist ein ganz zartes Grün, ein blasser Schimmer vielmehr. Eine Ahnung. Die Rebe braucht ihre Zeit. Sie kommt spät. Junge Blätter an alten, faserigen Zweigen. Aber die Sonne ist schon stark genug, um die lange erwarteten Gerüche zum Leben zu erwecken: der warme körnige Verputz der Mauer, das alte Holz der Blumenkästen, die trockene, silbrige Erde in den Tontöpfen, der feine, spitze Staub auf der hölzernen Schwelle zwischen den beiden Türen, der winterliche Anflug an den Fensterscheiben, der wie Wachteleier gefleckte Balkonboden, die abblätternde Farbe an den Türen, außen rostrot, innen gelblichweiß. Der süßliche (...)
LeseprobeRegler, Gustav
4/2023 | Paris bei Nacht
Wenn dann der Mann von Radio Française bonne nuit gesagt hat, fast wie ein braves Kind bei einer Abendgesellschaft, zu der es noch fünf Minuten zugelassen wurde,
wenn die Geisterhäuser des Sacré-Cœur, des Panthéon, der Notre-Dame und des Napoleongrabes mit einem Ruck ihr Licht abdrehen und der Horizont noch unwirklicher wird ohne die unwirklichen Fassaden,
wenn sich clochards unter oder auf den Seinebrücken ihr Lumpenbett zurechtklopfen und noch einen letzten Schluck aus der Flasche nehmen,
wenn auf dem Pont Neuf die Lieblingstaube von Henri Quatre nah bei seinem gußeisernen Herzen den Kopf in die Federn steckt,
wenn das Barmädchen Suzanne auf ihre Nase eine kleine Wolke von Puder tupft, die Flaschen wegstellt und sagt: »Il fait tard«,
dann ist Nacht (...)
Reichl, Veronika
2/2022 | Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector
Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. Während ihre Eltern bei Wanderungen immerzu weiterwollten, weil sie an den Kaiserschmarrn in der Gastwirtschaft oder den Kuchen zu Hause dachten, konnte Katherina einem berückenden Sonnenuntergang kaum den Rücken zukehren. Es wäre furchtbar, wenn die Schönheit umsonst dagewesen wäre. Nur wenn Katherina sah, daß andere Menschen den Sonnenuntergang bewunderten, mochte sie weitergehen. So ging es ihr mit allem, was sie liebte. Katherina trauerte die letzten drei Wochen der Sommerferien darum, daß sie zu Ende gingen. Der kommende Tod ihre Oma machte sie schaudern, das kommende Sterben ihrer Eltern war zu schrecklich, um gedacht zu werden. (...)
LeseprobeRöckel, Susanne
4/2023 | Drei Bilder aus Vilnius
(…)
2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind Unterhosen zum Trocknen aufgehängt. Hundegebell ist zu hören. Habe ich mich verirrt? Ich suche jemanden, der mir Auskunft geben kann, aber alles ist wie ausgestorben. Zwischen den Kiefern steht ein (...)
Różycki, Tomasz
2/2021 | Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten
1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this way: it is that which is lost out of both prose and verse in translation« in polnischer Übersetzung zum ersten Mal las, fand ich sofort, dies sei einer jener wunderbaren und zugleich scheußlichen Sätze, in denen kein Wort ersetzt oder gar umgestellt werden kann. Ein Satz wie eine mathematische Gleichung mit einer Unbekannten. Und zugleich eine dieser Definitionen, die, statt etwas zu erklären, weitere Fragen provozieren und uns nicht sicherer machen, sondern leicht benommen und verloren zurücklassen. Wenn sie überhaupt etwas sagt, dann vor allem, was Poesie nicht ist – was sie sein könnte, bleibt offen. Eine Definition, die nichts (...)
LeseprobeRühmkorf, Peter
3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker und (...)
Sagnol, Marc
1/2020 | Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów
SAMBOR Am Fuße der Karpaten, an der Straße, die hinauf zu den Almen der Polonina führt, liegt die Stadt Sambor anmutig über dem Dnjestr, der hier noch ein schmales Flüßchen ist, bevor er breiter wird und sich in Mäandern durch die galizische Ebene schlängelt, um größere Städte wie Mogiljow Podolski und Jampol mit Wasser zu versorgen, und schließlich als mächtiger Strom bei der Festungsstadt Belgorod Dnestrowski ins Schwarze Meer mündet. Doch in Sambor deutet kaum etwas darauf hin, daß dieser schäumende Wasserlauf irgendwann solche Dimensionen annimmt, in seinem Verlauf von so vielen Bächen und Flüssen gespeist werden wird, wie der Strypa, dem Seret oder dem Sbrutsch in Podolien. Eine Brücke führt über den Dnjestr, dann überquert man einen weiteren Wasserlauf, die (...)
LeseprobeSchlaffer, Hannelore
2/2022 | Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen worden. Doch gibt es Romane, Jean Pauls »Titan« etwa, Kellers »Grünen Heinrich« oder die Erzählungen Stifters, die nicht die Dramatik der großen Leidenschaft vorführen, sondern den Zauber einer (...)
LeseprobeSchulze, Ingo
1/2022 | »Ich möchte Ihnen Hoffnung machen« Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung
Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs Griechenland) aufgerufen zu werden. Der Dozent, der schließlich die Tür öffnete und mich hereinbat, sagte, während ich aufstand und auf ihn zuging: »Ach, wissen Sie schon? Gestern ist Fühmann gestorben!« In diesem Augenblick brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte Franz Fühmann nie persönlich erlebt, war nie auf einer Lesung von ihm gewesen, ich hatte ihm nie geschrieben, ich hatte weder Fernsehbilder von ihm gesehen noch wußte ich, wie seine Stimme klang. Ich kannte nur einige seiner Bücher. Trotzdem lebte ich in der Gewißheit, in ihm einen wohlwollenden Leser zu haben, sobald ich nur etwas Selbstgeschriebenes vorzuweisen hätte. Ich (...)
LeseprobeSeiler, Lutz
2/2023 | Die Moosbrand-Geschichte
Grüne Schläfen
Woran ich mich erinnere: daß Schnee gefallen war am Abend der ersten »moosbrand«-Lesung im Spätherbst 1993. Die Adresse hieß An der Trift 5 in Wilhelmshorst. Elf Autorinnen und Autoren lasen ihre unveröffentlichten Texte und sprachen darüber, die meisten kannten sich schon aus den achtziger Jahren und waren befreundet, darunter Elke Erb, Thomas Böhme, Cornelia Saxe, Thomas Kunst, Nadja Gogolin, Jörg Schieke, Katrin Dorn, Klaus Michael. Einige kamen aus Berlin, einige waren aus Leipzig angereist – man würde übernachten, man nahm sich die Zeit.
Schon am Nachmittag, während unserer Wanderung über die Felder von Wilhelmshorst nach Langerwisch und Wildenbruch, hatte es zu schneien begonnen. Wir gingen die Chaussee nach Langerwisch hinunter; ich (...)
Stepanowa, Maria
1/2020 | Kein Zimmer für sich allein
Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann mir daher die Freiheit nehmen, mich als Schriftstellerin, ja als Dichterin zu betrachten. Letzteres ist eigentlich kein Beruf, sondern eher eine Art zu denken: nämlich eine, die den Reimen der äußeren Welt eine innere Bedeutung gibt. Ich schreibe auf Russisch, also in einer Sprache, in der die Tradition der gereimten Dichtung noch sehr lebendig ist. Wahrscheinlich deshalb sind Koinzidenzen und Korrespondenzen für mich ein wesentlicher Teil des kognitiven Prozesses – sie führen weiter als wir mit reiner Logik je kämen. Es mag zu diesen Koinzidenzen zählen, daß meine Vorlesung gerade auf den 9. Mai fällt, ein Datum, das in der russischen Wahrnehmung der letzten siebzig Jahre große Bedeutung hatte. Allerdings auch nur in der russischen (...)
LeseprobeStoffels, Hans
6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von somatischer (...)
Stoop, Paul
5/2021 | Der Schmerz der anderen. Susan Sontag am 11. September 2001
»Und wo warst du, als …?« Es gibt weltpolitische Ereignisse, die den mit Radio und Fernsehen aufgewachsenen Generationen dauerhaft in Erinnerung geblieben und auch Jahrzehnte später noch Gesprächsthema sind: »Ich war gerade in XY, als die Nachricht kam …« Der Tag des Mauerbaus, der Tag, an dem John F. Kennedy erschossen wurde, der Tag des Mauerfalls. Und zuletzt vor genau zwanzig Jahren die Terrorangriffe auf das World Trade Center und das Pentagon. Am 11. September 2001 schaute die ganze Welt zu, wie in einer Metropole zwei Wolkenkratzer, in denen Tausende Menschen arbeiteten, nach dem Angriff mit zwei gekaperten Passagierflugzeugen in Brand gerieten und einstürzten. Wer konnte, floh aus dem Gebäude, Hilfskräfte gingen unter Lebensgefahr hinein, verzweifelte Menschen (...)
LeseprobeTawada, Yoko
3/2023 | Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang
1
Die Zeit verwandelte ein Gebäude in ein organisches Wesen. Die Zeit, die als Regen, Wind und Sonne spürbar wird, verändert die Oberfläche jedes Bauwerks. Eine Außenwand aus Beton gewinnt langsam den Charakter von altem Ziegelstein, aus der Nähe betrachtet sieht sie aus wie verstaubtes Leder oder die Haut eines Nashorns; aus den Rissen im Beton wachsen zarte strohige Pflanzen; die mit Moos bedeckten schattigen Flecken treffen genau den graugrünen Ton der Stadtnatur. Das Gebäude bekommt dadurch den Anschein, ein Teil der Gegenwart zu sein, die auf natürliche Weise gewachsen ist. Die Vernunft hat ein solches Gebäude schon längst als eine bösartige Zelle der Geschichte diagnostiziert. Lassen wir es weiter stehen, vermehren sich möglicherweise unbemerkt seine Zellen. Sie (...)
Adorno, Theodor W.
2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes amerikanisches Bühnenwerk, »Lost in the Stars«, erlebte am Broadway nicht weniger als 281 Aufführungen und stand auch in seinem Todesjahr – ohne ihre Mitwirkung – noch immer auf dem Spielplan. Nun (...)
LeseprobeVesper, Guntram
1/2021 | Oberhessen
Seit vergangenem September, seit ich im Wald am Winterstein, hinter Ockstadt, jenseits der A5, auf der Suche nach Heidruns und meiner versteckten Stelle vom Sommer 1961 einen auf dem Rücken sich abstrampelnden Hirschkäfer beobachtet habe und nicht wieder aus der Hocke hochgekommen, sondern nach hinten gefallen bin und minutenlang, genau wie der Käfer, hilflos und verlassen im alten Laub gelegen habe, meine Rufe überdeckt, geschluckt vom Lärm der Autobahn, komme ich höchstens noch einmal in der Woche in die Stadt. Ich nehme, kurzatmig, mit Kreuzschmerzen, immer den Bus, Einstieg Dahlmannstraße, und beschränke mich, wenn ich nicht auch noch zu Calvör, Wiederholdt oder zum Friseur Müller am Nabel will, auf den Besuch des Antiquariats Pretzsch in der Gotmarstraße, die sich nur (...)
LeseprobeWackwitz, Stephan
1/2021 | Minsk. Widersprüche der Utopie
Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber nach, wie jene Städte, Landschaften, Atmosphären und Mentalitäten heute aussähen, wenn sich die kommunistische Union 1991 nicht aufgelöst hätte. Hätte das sozialistische Staatswesen, das noch vor dreißig Jahren eine globale Supermacht war, möglicherweise eine Chance gehabt, in veränderter Gestalt weiterzubestehen? Hätte es sich der Weltwirtschaft und den Einflüssen der konsumistischen Kultur vorsichtig öffnen, seinen Bürgern ein im privaten Rahmen selbstbestimmtes Leben ermöglichen, den quasireligiösen Geltungsanspruch des Marxismus-Leninismus sublimierend auflösen und so auf einem »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und (...)
LeseprobeWagner, Jan
5/2015 | Süßes Erschrecken. Über Eduard Mörike
Wer niemals seine Schritte nach Mergentheim und Wermutshausen lenkte, nie in Weilheim, Kirchheim, Pflummern und Ochsenwang gewesen ist, wer nie nach Urach und Teinach fuhr, auch nicht nach Köngen, Nagold oder Scheer, nie in Eltingen und Plattenhardt nächtigte, wer schließlich kaum zu sagen wüßte, wo genau auf der Landkarte Weinsberg, Möttlingen, Cleversulzbach und, ja: auch Fellbach zu finden sind, der wird, wenn er ein Kleingeist oder ein bornierter Großstädter ist, nur kurz müde lächeln und dann abwinken; ist er aber verständig, so ahnt er: auch dort ist die Welt. Und mag es sich auch nicht um London, Paris oder New York handeln – es braucht doch nicht mehr, als in jenen unvertrauten Orten vorhanden ist, um eine Welt zu erschaffen. (...)
Wiedemann, Barbara
6/2022 | »Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider«. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch
»2011 wurde bekannt«, so ist noch im Sommer 2022 im Wikipedia-Eintrag zu Ingeborg Bachmann zu lesen, »daß sich im Max-Frisch-Archiv in Zürich rund 250 zumeist handschriftliche Briefe Bachmanns an Frisch befinden, ebenso Kopien seiner Briefe an sie. Frisch hatte das Material für 20 Jahre nach seinem Tod gesperrt; nun we rden die Bachmann-Erben mit den Frisch-Erben darüber zu beraten haben, ob bzw. wann und wie diese Korrespondenz veröffentlicht werden soll.« So steht das, wohlgemerkt, nicht im Wikipedia-Eintrag zu Frisch, sondern in dem zu Bachmann, und zwar nach der Zusammenfassung dessen, was man über das Paar und dessen gemeinsame Zeit zu wissen meint. Ähnliche Informationen, die geeignet sind, Neugierde, Voyeurismus und damit das Kaufbedürfnis der geschätzten Leser (...)
LeseprobeWolf, Christa
6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Hans Stoffels 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von (...)
Wyleżyńska, Aurelia
5/2019 | »Über nichts schreiben, als was die Augen sehen«. Tagebuch aus dem besetzten Warschau (1939). Mit einer Vorbemerkung von Bernhard Hartmann
Vorbemerkung Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen überfielen, hatte Aurelia Wyleżyńska sich als Verfasserin mehrerer Romane, eines Parisführers und zahlreicher Beiträge für Tageszeitungen und Zeitschriften schon einen Namen gemacht. Gleichwohl waren es von allen Werken ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1939 –1944, von denen sie hoffte, daß sie für die Nachwelt erhalten blieben. Am 3. April 1944 notierte sie: »Das ist mein Testament … (…) Von Horaz bis Puschkin wollte jeder Schriftsteller sich ein Denkmal setzen. (…) Mein Wunsch ist es, dieses Tagebuch zu veröffentlichen. Zu Lebzeiten oder posthum.« Das Tagebuch enthält Biographisches, Reflexionen über Kultur und Literatur, vor allem aber Notizen von Streifzügen durch Warschau, die eindrückliche, oft (...)
LeseprobeZagajewski, Adam
4/2013 | Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Basil Kerski und Sebastian Kleinschmidt
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann (...)
LeseprobeZeller, Michael
3/2022 | Alter europäischer Boden. Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko
Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko Es fing damit an, daß eine Freundin wegen eines Wohnungsumzugs ihre Bücherregale durchforstete. Unter den aussortierten Büchern fielen mir zwei Auswahlbände in die Hände, »Russische Erzähler« hieß der eine, »Klassische Erzählungen Rußlands« der andere. Sie waren älteren Datums und fast ohne Lesespuren. In beiden Bänden entdeckte ich Geschichten von Wladimir Korolenko. Das überraschte mich. Denn die »Staatliche wissenschaftliche Bibliothek« der ostukrainischen Stadt Charkiw, in der ich schon mehrfach aus meinen Büchern gelesen habe, ist nach eben diesem Wladimir Korolenko benannt. Das konnte ja wohl nur heißen, daß auch dieser als russisch geltende Schriftsteller ein Ukrainer gewesen sein muß. Zu Hause begab ich mich gleich (...)
Leseprobe