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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-58-4

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Leseprobe aus Heft 2/2021

Greg, Wioletta

Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte


OSTERGEDICHT
Kalter April. Die Küken reiften
in dem Käfig unter der großen Glühbirne,
die wir Glucke nannten.

Ich gab ihnen kleingeschnittenes Futter:

hartgekochte Eier, Schafgarbe, Wasser auf einem Deckel.
Ich schaute sie an – Geschöpfe, die nach Sand und
Schleim rochen, ausgeschlüpft aus einer Dunkelkammer,
die wie die Pausen in der Stromversorgung war.

Dieses Knistern in der Dunkelheit, wenn die Birne erlosch,
die steif werdenden Fleckchen, das Flimmern.

SCHWIMMUNTERRICHT
Ich war kaum sechs Jahre alt, als Vater
mir den ersten Schwimmunterricht gab,
mich mitten auf dem See vom Floß stoßend.

»Nur die Starken überleben«, sagte er,
als ich mit blauen Lippen auftauchte
Jahre später. Er selbst war vorher

am Ufer desselben Sees gestorben.

Nach seinem Tod zog ich auf eine Insel,
die allmählich von der Landkarte verschwinden wird.

Ich kann nicht einschlafen, wenn es stürmt im September,
wenn Algen die Klippen stempeln und der Wind Lavendel
von der Erde löst. Wieder ertrinke ich und auferstehe.

VERSPÄTETE FÜTTERUNG DER BIENEN
Vater rührt mit dem Löffel die braune Melasse.
Luftbläschen entweichen aus dem Topf,
greifen seine geschwollenen Finger an.
Mit dem fertigen Karamel läuft er in den Garten,
wo zwischen Johannisbeersträuchern die Beuten schlafen

und der Frost die Bienen mit Stacheln durchbohrt.
Ihr Blut erstarrt in den Chitinkörpern.
In den unterteilten Augen schwindet der Glanz
und zerfließt zu einem unbegreiflichen Ganzen.


AM BOZY STOK IM JULI
Die Sonne heftet über das Wasser
die regenbogenfarbenen Broschen der Libellen.
Zwischen Steinen hindurch schlüpfen
silberne Unendlichkeitszeichen.
Die Kinder bauen einen Damm aus Erde,
suchen Schätze im Schlamm,
kratzen den Grind von Mückenstichen ab
und erklären den Kletten den Krieg.

Am Ufer ein sommersprossiger Charon,
der mit Papierschiffchen spielt.


VERSCHWUNDEN
Sucht mich auf dem Speicher unter der Plane,
unter den Blättern der Teichrose, auf dem Grund des Steinbruchs.

Ich sitze auf dem Kirschbaum und schlucke unreife Früchte.
Der Baum flüstert: »Ich verrate dich den Staren.«

KERNE
Ich gehe mit einem Korb Kirschen in die Papierfabrik.
Am Stahltor Schwefelradierungen,
ein Transparent über die Zukunft des Volkes.

Das Volk rödelt um den Holzbrei herum,
hat das noch warme Papier unter der Fuchtel,
das ernsthaft erst in den Ämtern reift.

Die erste Schicht kriecht aus dem PKS-Bus,
hält die Karten in die Stechuhr
wie kranke weiße Zungen.

Im Pförtnerhaus raucht Vater eine Zigarette,
über die Konsole gebeugt öffnet und
schließt er mit einem Knopfdruck das Tor.

Seit dem Tag, an dem ich entdeckte,
daß wir sterblich sind, 
floß zwischen uns nur noch Zeit.


IM SCHRANK VON GROSSMUTTER STEFANIA
In Baumwolle und Samt Blutspuren,
Salzkristalle von nicht ausgewaschenen Tränen
in Spitzenkrägen, gekauft auf dem Markt
von Siewierz bei einer bekannten Händlerin,
kupferne Broschen, wertvolle Erinnerungen.

Durch das Schlüsselloch fließt Wärme,
nach der sich die Sonnenblumenkerne sehnen,
lange verborgen in den Taschen des Mantels.
In von Borkenkäfern geschnitzten Gängen
wohnen Feen, die ein leises Wiegenlied summen.

Dort ist der Lavendelhimmel der überschrienen Kinder.

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall


SINN UND FORM 2/2021, S. 259-261