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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-53-9

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Leseprobe aus Heft 3/2020

Klaue, Magnus

Dazwischentretend. Sexus und Reim bei Karl Kraus und Else Lasker-Schüler


Poetik des Fremdgehens

»Frau« und »Mann« sind im Werk von Else Lasker-Schüler Schimpfworte. In »Mein Herz«, dem 1912 veröffentlichten »Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen«, wird die Geste, mit der sich Frauen und Männer zu »Frauen« und »Männern« machen, zur Erniedrigung, durch die die Menschen sich selbst und einander um die ihnen innewohnende Souveränität, in der Metaphorik Lasker-Schülers: um ihre Königlichkeit betrügen. Lasker-Schülers Werk reagiert auf diesen wechselseitigen Betrug weder mit einer Mythenkritik, die jedes Bild auf sein Klischee, jeden Charakter auf seine Maske, jeden Schein auf einen Betrug reduziert, um die Wirklichkeit als restlos falsche zu entlarven, noch mit einer Gender-Ästhetik, die das witzlos ironische Herumhantieren in der Sphäre bloßen Scheins – der Stereotype und Rollenbilder – mit ästhetischem Ausdruck verwechselt. Vielmehr ist ihr Werk bis in die Zeit des Exils getragen von einer enthusiastischen Bejahung des Scheins, der über die Wirklichkeit nicht hinwegtäuscht, sondern sie mitträgt; der den Menschen nicht Sand in die Augen streut, sondern ihren Blick klarer macht; der sie nicht um ihr Glück betrügt, sondern selbst zur Erfahrung von Glück wird.

Der Betrug, durch den sich Frauen und Männer im gesellschaftlichen Umgang zu »Frauen« und »Männern« erniedrigen, wird in »Mein Herz« durch eine Art potenzierten Betrug, durch eine zweite Verzauberung beantwortet, mit der die Menschen in der einverständigen wechselseitigen Verführung den gesellschaftlichen Zauber zu bannen und abzuwerfen suchen. Diese entzaubernde Verzauberung, die Bejahung des Scheins im Namen einer Menschheit, die ihn als Täuschung nicht mehr nötig hätte, ist ein Grundimpuls von Lasker-Schülers Ästhetik. Das Ich von »Mein Herz« erinnert und imaginiert in einem der an »Herwarth« (Lasker-Schülers Spielname für Herwarth Walden) gerichteten Briefe einen früheren gemeinsamen Besuch im Café Kempinski am Berliner Kurfürstendamm: »Ich trank aus Deinem Glas Rotwein und Du machtest mir Komplimente meiner schmalen Fußgelenke wegen. Und versprachst mir seidene Strümpfe zu kaufen und eine seidene Feder für meinen Strohhut. Du hast so emsig süß zu mir gesprochen, namentlich wie ich mich genierte, noch etwas von der Auswahl der Konfitüren zu wählen. Und ich vergaß wirklich, daß ich Deine Frau war und machte mich über Deinen Drachen lustig, über ihre finstere Stirn. Aber ich werde nie Dein stutziges Gesicht vergessen; da wußte ich, daß Du schon öfters mit kleinen Mädchen bei Kempinski soupiert hattest, die Deine Frau ihrer fanatischen Galiläerstirn wegen verspotteten. Das hatte Dich immer wieder von den Leckermäulern abgebracht, denn Du wurdest barsch und unmutig zu mir, weil ich Deine ›Frau‹ beleidigt hatte.«

»Mein Herz« betreibt schon allein deshalb nicht einfach eine Dekonstruktion des bürgerlichen Liebesbegriffs, weil das Spiel darin ein positives Verfahren ist, das einlösen soll, was der Begriff und die mit ihm bezeichnete gesellschaftliche Praxis beschränken und neutralisieren. Die »süße« Sprache, von der (und die) das Ich spricht, meint eine intime Kommunikation, die sich auf eine Treue beruft, welche der gesellschaftlich akzeptierten Treue entgegensteht und im Widerstand gegen sie an Stärke zu gewinnen trachtet. Solche Treue folgt dem gemeinsamen Spiel und dessen Regeln statt Gesetzen, die dem Spiel äußerlich, ihm immer nur verordnet sind. Die Intimität, die diese Treue stiftet, beruht auf einer Abfolge geregelter Gesten und konventioneller Gefühle (Komplimente, Geschenke, das Sich-Genieren), die, indem sie ihren Zweck in sich selbst haben, die herrschende Konvention bannen. Darauf beruht die anästhetische Wirkung dieser Ästhetik: Indem er sich als wirklicher denn die Wirklichkeit setzt, sänftigt der ästhetische Schein deren Unmittelbarkeit und hebt ihre Formbarkeit in den Blick, die im Alltag vergessen wird; Konsequenz dieser Erinnerung ist das Vergessen des Drucks der Wirklichkeit im ästhetischen Spiel. Diese Treue und Intimität sind der vertraglich beschlossenen Treue und der ihr entsprechenden trüben Zweisamkeit entgegengesetzt. Das Sich-Betrügen um den Betrug verewigt nicht den falschen Schein, sondern schafft eine neue Wirklichkeit, die innerhalb der herrschenden existiert und zugleich gegen sie steht. Indem die Partnerin des Spiels »wirklich« vergißt, daß sie seine Frau ist, indem sie seine »Frau« beleidigt und sich über seinen »Drachen« lustig macht, weigert sie sich, das Urteil der Realität als letztes Wort über sich und ihre Liebe zu dulden, die erst dort wirklich wird, wo das »Verheiratetsein« nicht nur kurzzeitig vergessen ist, sondern buchstäblich verschwindet: »Sehnsucht nach Kempinski« habe sie, schreibt die Erzählerin, weil »wir beide dort so unverheiratet sind«. Daß Mann und Frau, als »Mann« und »Frau« bornierte Rollenträger ihrer selbst, wieder unverheiratet sind, statt sich nur so zu fühlen, daß sie den Bann der Ehe lösen können, ohne zu zerstören, was sie verbindet, wird möglich, indem jeder sich selbst mit dem anderen betrügt. Das Ich macht sich zum »Drachen«, den es mit dem Liebhaber hintergeht, der sich seinerseits zum gehörnten Ehemann macht, indem er sich seiner Frau als Liebhaber schenkt. Einander zu hintergehen, indem man miteinander eine Affäre beginnt, die die soziale Beziehung auflöst, wird wie in einer parodistischen Kontrafaktur von Kants »Metaphysik der Sitten« als wahrhafte Treue geadelt: Weil jede Liebe ein illegitimes Verhältnis ist, muß, wer einander treu sein will, miteinander fremdgehen.

Nichts wäre daher falscher, als in der Selbstdarstellung der Erzählerin als Mädchen, das sich mit Rotwein, Geschenken und »süßer« Sprache verführen läßt, nur ein weiteres problematisches Rollenbild auszumachen. Der Text beschreibt das Miteinander-Fremdgehen im Gegenteil als Selbstherrlichkeit des weiblichen Ich: »Bin weder in dem Lokal Deine Verehrerin, noch Deine Kameradin, noch Deine Angetraute. Du bist dort mein Liebhaber, erster Liebhaber, und ich fühlte wohl in den beiden Malen, wo wir dort saßen, daß auch in Dir verborgen wie in allen Männern das Talent zum Bonvivant steckt; aber ich auch nicht alleine die Dichterin und die Tino von Bagdad bin, nicht nur der Prinz von Theben, zu guterletzt nicht nur als Jussuf der Egypter existiert habe, sondern ich auch ein ganz kleines Mädchen sein kann, das zum ersten Mal von einem Herrn zu Kempinski zum Abendbrot mitgenommen wird und Geschmack an Kaviar und Ente mit Mirabellen findet, sich aber noch schüttelt entsetzt vor der Schnecke in der geöffneten Muschel.«

Ein ganz kleines Mädchen sein zu können, ist etwas anderes, als es sein zu müssen: Als Fähigkeit widerspricht es dem vermeintlichen Schicksal des Geschlechts, das nur erlitten werden kann. Deshalb steht das Ich genau in dem Moment, wo es ein ganz kleines Mädchen sein kann, dem Mann, der es als Bonvivant verführt, nicht mehr zur Seite, ist weder »Verehrerin« noch »Kameradin« noch »Angetraute«, sondern erhebt sich zur Selbstherrlichkeit, indem es ihn zu ihrem "ersten Liebhaber« macht. Die Metaphorik der Szene (das Entsetzen vor der Schnecke in der geöffneten Muschel) exponiert die sexuelle Polarität, die ins ästhetische Spiel übertragene »Geschlechterspannung« (Reimut Reiche) als Voraussetzung für die Souveränität der Geschlechter. Ästhetischer Schein, Mode, Spiel und Koketterie, die den Sexus, dessen Stilisierungen sie sind, reflektieren und dadurch überschreiten, werden zu Formen freier Selbstentäußerung. In diesem Sinn enthält die Bejahung des Scheins, wie sie sich in der für Lasker-Schülers Werk charakteristischen Idolatrie, dem Verliebtsein ins eigene Bild und das der anderen als verlebendigende Kraft, ausdrückt ("Ich sterbe am Leben und atme im Bilde wieder auf«, heißt es in »Mein Herz«), eine Spitze gegen die protestantische Bilderfeindlichkeit einer Frauenbewegung, die im Bild, im Rollenspiel und im Klischee immer nur Beschränkungen statt Herausforderungen erkennt. Daß die Regel, die Spielteilnehmer sich selbst geben, am Ende doch dem Gesetz zum Opfer fällt, das das Spiel begrenzt, hat seinen Grund nicht darin, daß der männliche Part im weiblichen Gegenüber nur Bilder und Rollen wahrnehmen würde, sondern gerade umgekehrt darin, daß er immer nur der Realität, aber nie den Bildern, nie dem Spiel die Treue hält.

»Stutzig«, »barsch« und »unmutig«, also bieder, phantasielos und kleinkariert, fällt der Mann, der kein Bonvivant sein will, obwohl er es könnte, von der Wirklichkeit des Spiels wieder zurück in die Welt, wie sie ist. Weil er in dieser Welt »schon öfters mit kleinen Mädchen bei Kempinski soupiert« hat, die seine Frau »ihrer fanatischen Galiläerstirn wegen verspotteten«, und weil er »seine Frau« gegen solchen Spott stets verteidigte, nimmt er ihr nun – als der anderen, die sie sein will, um nicht immer nur sie selbst zu sein – sogar die Selbstverspottung übel. Die »Galiläerstirn«, Emblem einer mythischen Vergangenheit, die zur sozialen Realität im Widerspruch steht, wird im Munde der anderen »kleinen Mädchen« von der Auszeichnung, für die sie in Lasker-Schülers Werk steht, zum Stigma. Indem der Mann diese Verkehrung nur zurückspiegelt und damit verdoppelt, schlägt er den ästhetischen Pakt aus, den die Erzählerin ihm anbietet, und besiegelt seine Kumpanei mit der Realität. Nicht daß er das »Mädchen« verführen will, ist die Kränkung, mit der er das Spiel zerstört, sondern daß er es nicht will und sich eben darum auch selbst nicht verführen läßt. Während die Figur der »Mama« als begeisterte Kolportage-Leserin in Lasker-Schülers Werk die in der Passivität verkapselte Sehnsucht nach einer »süßen« Welt vertritt und der »Papa«, der seine Fertigkeiten als Architekt in stets nutzlosen, aber immer lustigen Unternehmungen vergeudet, seine Autorität nicht durch Verbote, sondern durch frohe Selbstverschwendung erringt, ist es kennzeichnend für den »Mann«, immer nur sein zu wollen, was er ist, und sich gegenüber jeglicher Herausforderung »unmutig« zu zeigen – ein Wort, das sowohl Unfreundlichkeit wie Mutlosigkeit meint und damit festhält, daß es keinen Mut ohne Freundlichkeit gibt.

SINN UND FORM 3/2020, S. 370-382, hier S. 370-373