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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-53-9

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Leseprobe aus Heft 3/2020

Rühmkorf, Peter

Die Widersprüche singen lassen. Aufgezeichnet von Gabriele Helen Killert


Empfangsbereit

Es ist ein eigenartiges Phänomen: Je tiefer man in sich hineinschaut, um so mehr Menschen können sich darin erkennen. Man muß es so subjektiv wie möglich halten, damit dieser Funke bei den Klienten zündet. Ich habe mich immer als Versuchsperson betrachtet, habe geschrieben, hinter mir ging sozusagen eine Gestalt, die mitschreibt. Ich habe überall Papier und Stift dabei, man kann nicht alles am Schreibtisch erledigen. Wenn man sich selbst so’n bißchen als Welt- und Zeitmitschreiber versteht, dann kommen aus dem Moment heraus wunderbare Formulierungen, kleine Quanten, so sprunghafte Wesen, auch im geselligen Gespräch.

Ich wage da gar nicht von Arbeit zu sprechen. Es geht morgens unter der Dusche schon los oder beim Rasieren, immer Blöckchen und Stift dabei, auf einmal kommt hier ein Einfall, der zieht den nächsten an, das entwickelt dann ein eigenes Magnetfeld, auf einmal beginnt es zu prasseln, ich sage: schnell raus aus der Dusche, die Sachen sofort notiert, es sind unberechenbare Kinder der Natur, solche Einfälle. Eigentlich ist mein Kopf den ganzen Tag zugange, sich irgend etwas auszudenken, ohne daß es mit Willensanstrengung verbunden ist. Wobei es manche Einfälle gibt, die schon eine gewisse Prädisposition haben, zum Beispiel wenn ich so’ne Phase habe, wo ich Gedichte schreibe, dann zieht dieser Vorgang Einfälle an, die bereits rhythmisch oder metrisch vorgekerbt oder -gewellt sind und die sich dann schon nach Vergesellschaftung im Gedicht sehnen und auch bereits diese Modulation haben. Wenn ein Gedicht im Werden ist, haben wir so eine Trägerschwingung, die ist einfach da und der passen sich die Einfälle an. Es ist auch viel Schutt dabei, der wird dann herausgesiebt.

Sehr leicht fallen einem Anfänge, auf den Schluß hin muß man etwas komponieren, aber es darf nicht »gemacht« sein, sondern ein Gedicht spitzt sich irgendwie zu, innerhalb des Gedichts sind so kleine Dramen. Mit dem Anfang ist ein Grundpunkt gesetzt, dann entwickeln sie sich weiter, weshalb das Wort Längsschnitt für mich so’ne große Rolle spielt. Ich weiß am Anfang noch nicht, wie ein Gedicht ausgeht. Meistens stellen sich Teile zu ersten Strophen ein, dann assoziiert sich eine zweite hinzu, dann viel, viel Material, das noch verteilt werden muß, und dann wartet das Gedicht am Schluß auf den erlösenden Punkt, auf sein Ausrufezeichen! Ich habe ja viele Ausrufezeichen in die Welt gesetzt. Komm raus! oder: Bleib erschütterbar und widersteh! oder: Laß leuchten! Es gibt keinen Autor, der so viele Ausrufezeichen in die Welt gesetzt hat wie ich. Zunächst hatte sich das Gedicht in seinen eigenen Fragezeichen verfangen, eins ans andere geheftet – alles ist fraglich –, bis am Schluß dann doch noch so etwas wie ein dezisionistischer Ruck durch das Gedicht geht und auf einen Leuchtpunkt zuführt.

 

Auflichtungsdramaturgie oder: Komik als Lastenaufhebungsprogramm

Die meisten Einfälle hat man bei Durchhängern, wenn es einem nicht so gutgeht, wenn die Fledermausschatten um einen herum bedrohlich erscheinen, diese Stimmungen ziehen viele Gedanken, Friedhofsgedanken an. Aber in mir ist eine Instanz, die will noch nicht auf den Friedhof, die will wieder raus aus der Grube, die will ans Licht, und das kann man fast in allen Gedichten nachvollziehen. Selten findet ein Gedicht seine Form im elegischen Rondo, auch das gibt es, daß es nicht aus sich herauskommt und in einem gewissen melancholischen Zirkel sich schließt. Was auch eine gewisse Art von Bewältigung ist, insofern als Kummer, Leid, Zorn doch irgendwie zum Lied finden. Aber: Ich habe immer gern positive Schlüsse konstruiert, weil ich nicht nur für den Schreibtisch und das aufgeschlossene Buch schreibe, sondern mein Leben lang öffentlich aufgetreten bin. Und wenn Gedichte am Schluß nur die schwarze Wand zeigen, gegen die der blutige Kopf rennt – glauben Sie, daß Sie einen Klatscher damit erzeugen? Nichts. Das Publikum schweigt betroffen, weiß nicht, was es machen soll. Soll es mit dem Autor in die Grube hineinstarren und das auch noch beklatschen? Das geht doch gar nicht.

Ich fühle mich bei Gedichten eigentlich immer im Zwiegespräch mit Lesern. Ich bin ein kämpferischer Agnostiker, und damit ist die Schwierigkeit größer, den Menschen am Schluß einen Leuchtpunkt mitzugeben – größer als früher, wo es hieß, Herr, laß uns ruhig schlafen und unseren lieben Nachbarn auch. In dieser Heilsgewißheit kann ich mich nicht wiederfinden. Ich sehe das Trostmodell, aber für mich ist es eher ästhetischer Natur. Das Gedicht möchte auch in seinen kummervollen Momenten nicht bei sich bleiben, sondern sich besprechen. Es sucht Leidensgenossen, die an den gleichen Widersprüchen leiden wie ich, der Kopf wird ja immer vom Widerspruch zerrissen.

Einer Gesellschaft, von der man meint, daß sie falsche Wege geht, möchte man wenigstens einen kleinen Club, eine Gemeinschaft der Gleichgläubigen entgegensetzen. Das war in der Romantik so, in der Klopstockzeit, daß man sich besucht und ausgetauscht hat. Man sucht die Seinen, möchte sie um sich sammeln. Gedichte sind gewissermaßen Magneten oder Angelhaken, man sagt: Kommt, hier ist einer von euch, der singt sein Lied, ist es auch das eure? Und manchmal merkt man, daß es höhere Volkslieder sind.

Komik ist im Grunde ein Lastenaufhebungsprogramm. Soll ich den Schmerz auch noch als Schmerz darstellen, soll ich losschreien, blutige Male vorweisen – oder soll ich mich über den Ernst der Lage lustig machen? Es ist eine uralte Bewältigungsform, das, was einen niederzieht, durch den Witz wieder in die Höhe zu kriegen. Kann man Komik nennen, Humor, Satire, Scherz und tiefere Bedeutung.

Es ist ein literarisches Programm, das über die Literatur hinausgeht und sagen möchte, die Lasten sind erträglich, Freunde, über diesen Schmerz kann man sich lustig machen. Da bist du mal abgerutscht, das ist einen Witz wert. Dazu gehört vielleicht die Hochseilmetapher. Man nennt mich einen Artisten, ich hab’ diesen Ausdruck ja oft genug im Bild zu fassen versucht, als Seiltänzer oder Bühnenmatador, auch als Narr, als Kasperl. Mein Vater war ja reisender Puppenspieler und meine Mutter war Lehrerin, Pastorentöchterlein. Wie das so ist, entspann sich ein Liebesverhältnis, und letzten Endes ging ich daraus hervor.

 

Seelenverwandte Vorgänger

Die Komik ist eine eigene Spezies, und ich hab’ mir da meine Verwandtschaften gesucht. Klopstock war kein komischer Autor, auch Whitman, den ich sehr verehre, war kein komischer Autor. Bei Majakowski sind wir schon auf der Grenze, wenn er sagt, jetzt will ich meine Wirbelsäule als Flöte benutzen. Selbst Kafka ist ja ein komischer Autor, ein tiefer Humorist.

Heine gehört in diesen Kreis. Ich habe ihn vergleichsweise spät entdeckt, nach dem Expressionismus. Und dann Benn: »Ich erlebe vor allem Flaschen und abends etwas Funk, / es sind die lauen, die laschen / Stunden der Dämmerung.« Das ist von einer diabolischen Komik, gerade in unseren Geselligkeitskreisen zitieren wir diese angeschnittenen Sachen von Benn besonders gern.

Neben Benn und Brecht – sie sind ja fast Antipoden, der Sänger des Ich und der Sänger der Gemeinschaft – gibt es noch ganz andere Geister. Auch Ringelnatz habe ich schon als Student gelesen, aber seine wirkliche Tiefe habe ich erst später entdeckt. Als ich über ihn schreiben mußte, dachte ich: Kinder, Kinder, das ist doch wahnsinnig tief und es ist auch nicht nur humoristisch. »Kuddeldaddeldu«, die »Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument «: süß, ein herrlicher Ton, ein Aufhebungston. Gerade seine letzten Gedichte sind doch sehr eingedunkelt, aber trotzdem, wenn es dann heißt: »Der Tod geht stolz spazieren, / Doch Sterben ist nur Zeitverlust. / Dir hängt ein Herz in deiner Brust, / Das darfst du nie verlieren« – das geht mir selbst so tief zu Herzen, das hat so was Positives, da wird bei mir eine innere Glocke angeschlagen.

SINN UND FORM 3/2020, S. 361-368, hier S. 361-363