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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-32-4

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Leseprobe aus Heft 6/2016

Reif, Ruth Renée

Das Unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Efrat Gal-Ed über Itzik Manger


RUTH RENÉE REIF: Der »Prinz der jiddischen Ballade« wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen »jiddischen Baudelaire«, einen der größten Dichter jiddischer Sprache. In Ihrer Biographie entwerfen Sie ein lebendiges Bild seines Schaffens und seiner jiddischen Lebenswelt. Wie bewerten Sie aus heutiger Perspektive die Bedeutung seines Werks?

EFRAT GAL-ED: Itzik Manger war ein überaus origineller Künstler. Er schaffte es, eine eigene Stimme zu entwickeln, indem er verschiedene Formen der europäischen Literatur mit dem Jiddischen verschmolz. In den zwanziger Jahren übernahm er zum Beispiel die Ballade und goß das traditionell Jiddische in sie hinein. Das war völlig neu. Manger war mit der Weltpoesie vertraut. In seiner Lyrik setzte er neben romantischen auch symbolistische und expressionistische Stilelemente ein. Er leistete, was auch andere bedeutende Lyriker seiner Zeit leisteten. Nur hatte er das Unglück, dies in einer Sprache zu tun, die heute nur noch wenige Menschen lesen und sprechen.

REIF: Wie verbreitet war das Jiddische damals?

GAL-ED: Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde Jiddisch von etwa elf Millionen Menschen gesprochen. Über diese Sprachgemeinschaft hinaus war es aber nicht bekannt. Das hing vor allem mit dem Antisemitismus der dreißiger Jahre zusammen.

REIF: Wurden Mangers Texte zu seinen Lebzeiten in andere Sprachen übersetzt?

GAL-ED: Der Schriftsteller Alfred Margul-Sperber übersetzte bereits 1932 erste Balladen ins Deutsche, ebenso die Lyrikerin Rose Ausländer. Als Manger 1935 in Warschau unter dem Titel »Chumesch-lider« ("Fünfbuch-Lieder«) seine avantgardistischen Bibelgedichte herausgab, übertrug Mascha Kaléko einige Texte ins Deutsche, die neben ihrer Rezension in der »Jüdischen Rundschau« in Berlin erschienen. Nach Kriegsende kam es bis in die späten fünfziger Jahre zu keinen weiteren Übersetzungen. So blieb Manger die internationale Bekanntheit verwehrt.

REIF: »Niemandssprache« heißt Ihre Biographie. Sie greifen damit einen Ausdruck Itzik Mangers auf, der das Jiddische 1925 so bezeichnete. Warum schon damals?

GAL-ED: 1925 war Manger gerade vierundzwanzig. Er hatte seinen Militärdienst beendet und begann, für die jiddische Kulturföderation in Rumänien zu arbeiten, die aus einer Initiative des jiddischen Schriftstellers Elieser Steinbarg entstanden war. Manger reiste zwischen Bukarest, Jassy und Czernowitz hin und her, um Bildungsvorträge für die Jugend zu halten. Doch als junger Dichter wollte er auch veröffentlichen. Aus seinen Notizen hatte er jene Gedichte zusammengestellt, die er literarisch für gelungen hielt. Aber es mangelte an Verlegern, an literarischen Bühnen und vor allem an Geld. Angesichts dieser Schwierigkeiten griff Manger zu dem emphatischen Ausdruck »hefker«, was »herrenlos«, »vogel frei« oder »gesetzlos« bedeutet. »Jidisch is hefker« nannte er 1925 seinen Selbstverlag. Mit dieser Feststellung brachte er einerseits zum Ausdruck, daß Juden vogelfrei seien. Zum anderen war das eine Kritik an der jiddischen Gemeinschaft selbst, weil ihre Sprache weder Gesetze noch Traditionen habe und jeder mit ihr machen könne, was er wolle.

REIF: »Jiddisch, die wirkliche Volkssprache, wird gepflegt von den Arbeiterfreunden, den Sozialisten, Weltlichen«, zitieren Sie Alfred Döblin. War Mangers Entscheidung, Jiddisch als Dichtersprache zu wählen, ein politisches Bekenntnis zur Arbeiterschaft?

GAL-ED: Die Frage ist, ob er tatsächlich eine Wahl hatte. Er wuchs im multikulturellen Czernowitz auf. Jüdische Intellektuelle konnten zwischen Deutsch, Jiddisch und Rumänisch wählen. Sie identifizierten sich zumeist mit der deutschen Kultur und schrieben Deutsch. Das hätte auch für Manger nahegelegen. Er behauptete, anfangs deutsche Gedichte geschrieben zu haben. Ich habe aber bei meinen Recherchen kein einziges gefunden. Meine Vermutung ist, daß er seine frühen, stark von Germanismen geprägten jiddischen Gedichte als deutsche ansah. Denn ich bezweifle, daß er Deutsch so gut beherrschte, um Gedichte schreiben zu können. Das deutsche Gymnasium hat er ein knappes Jahr besucht, dann brach er die Schule ab und begann eine Schneiderlehre. Seine literarischen Kenntnisse erwarb er als Autodidakt. Rumänisch kam auch nicht in Frage. Das konnte er zwar sprechen, aber nicht schreiben. So blieb, als einzige Sprache, in der er sich wirklich ausdrücken konnte, seine Muttersprache, das Jiddische. In politischer Hinsicht war die Entscheidung für das Jiddische sicher ein Bekenntnis zur Arbeiterschaft. Manger kam aus dieser Schicht, wuchs in einem armen Schneiderhaushalt auf. Handwerker gehörten in der jiddischen osteuropäischen Gesellschaft zum Arbeitermilieu. Auch seine Haltung, vor allem in der Jugend, war antibürgerlich.

REIF: Fand Itzik Manger auch seine Leser unter den Arbeitern oder waren es doch eher die Intellektuellen, die sich für seine Gedichte und Balladen begeisterten?

GAL-ED: Die Arbeiter waren sein größtes Publikum. Nicht jeder konnte sich damals ein Buch kaufen; dazu waren Bücher zu teuer. Die Verbreitung der modernen jiddischen Literatur beruhte auf der Bekanntschaft mit den Autoren, die ihre Werke wie Handlungsreisende öffentlich vorstellten. Da gab es etwa in Belz die Kulturliga und in Warschau den Schriftstellerverband. Freitags kamen die Arbeiter aus den Provinzen und trafen im Verbandslokal mit den Schriftstellern zusammen. Die Delegierten aus der Provinz engagierten dann einen Autor, am kommenden Schabbat in ihre Stadt zu kommen, um über ein Thema zu sprechen und aus seinem Werk zu lesen. Vor diesem Hintergrund war ein Phänomen wie Itzik Manger möglich. Während seiner gesamten Jugend in Rumänien und auch später während der zehn Jahre, die er in Polen verbrachte, reiste er von Ort zu Ort, hielt Vorträge und rezitierte seine Gedichte. Die jiddische Intelligenz war ebenfalls von ihm begeistert, wie man in der jiddischen Presse nachlesen kann.

REIF: Itzik Manger betonte, ein säkularer Jude zu sein. Zugleich aber wurzeln viele seiner Stoffe in der religiösen Tradition. Wie ist dieser Widerspruch zu deuten?

GAL-ED: Diese Stoffe entstammen dem jüdischen Bücherschrank. Die hebräische Bibel und die Kommentarliteratur können als religiöse Texte betrachtet werden, doch für die damalige jiddische Intelligenz waren sie Kulturgut. Jiddische Dichter, die auf den Tanach, die hebräische Bibel, zurückgriffen, suchten damit nicht nur eine Anbindung an die eigene Volkstradition, sondern an etwas Universales. Denn die Schrift war auch Teil der abendländischen Kultur. Mit der Verarbeitung von Motiven, die jüdischen wie nichtjüdischen Kulturen gemeinsam waren, schlugen diese Dichter eine Brücke.

REIF: Tatsächlich verstand sich Itzik Manger als europäischer Dichter und betonte die Bindung des Jiddischen an Europa. Wie äußerte sich dieses Selbstverständnis?

GAL-ED: Die jiddischen Schriftsteller verstanden sich sowohl kulturell als auch politisch als Teil Europas. Jiddisch war das identitätsstiftende Medium der Minderheitskultur und zugleich die Voraussetzung ihrer europäischen Zugehörigkeit. Es entstand ›Jiddischland‹, eine ›Wortrepublik‹, die Jiddischsprechende weltweit vereinte. Gerade heute, da wir in der Kulturwissenschaft von Transkulturalität und Transnationalität sprechen, erscheint das kosmopolitische ›Jiddischland‹, wie es damals gelebt wurde, als großartiges europäisches Konzept. Manger gehörte der zweiten Generation moderner jiddischer Dichter an. Als Künstler fand er in den zwanziger Jahren zu seinem Stil. Da war die moderne jiddische Literatur gerade einmal sechzig Jahre alt. Manger hatte daher nur wenige Vorbilder. Mendele Moicher Sforim und Scholem Alejchem hatten keine Lyrik geschrieben, blieb also nur Jizchok Leib Peretz. Auf ihn konnte Manger sich beziehen. Hingegen waren expressionistische Dichter wie Melech Ravitch, Moische Broderson oder Uri Zvi Grinberg literarisch für ihn eher wie ältere Brüder. Manger orientierte sich bereits in den zwanziger Jahren an modernen jiddischen Dichtern in Amerika, darunter Impressionisten, Symbolisten und Mitglieder der avantgardistischen Gruppe »In sich«. Sie alle stammten aus Europa und arbeiteten in New York mit Konzepten der zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Literatur.
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SINN UND FORM 6/2016, S. 753-761, hier S. 753-756