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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-31-7

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Leseprobe aus Heft 5/2016

Saltzwedel, Johannes

Eine Finalgestalt des Zerfalls.
Rudolf Borchardts Erzählfragment »Paulkes letzter Tag»


Rudolf Borchardt ein Satiriker? Mögen Kenner dem gelehrten Sprachkünstler, der zwischen Bannrede und Minnelied, kulturhistorischem Weltentwurf und virtuoser Gelegenheitslyrik mühelos die Register wechselte, auch beinahe alles zutrauen: Schwungvolle Gesellschaftskritik scheint in seinem Œuvre zu fehlen. Gewiß, da gibt es Erzählungen, die auf höchstem sprachlichen Niveau den Tonfall des sogenannten modernen Menschen samt seiner Freude an geistreichen Pointen simulieren: Schon im »Gespräch über Formen« ist ein ganzes Zeitalter der Ästheten-Dialoge bestens präpariert zu besichtigen, auch in manchen Reden oder Zeitschriftenaufsätzen schimmert das dubiose Heute entlarvend durch, und in den schneidenden »Jamben« entlädt sich der Grimm oft in schnaubenden Karikaturen. Doch all das dient erhabenen Zwecken; Pathos und Gravitas behalten souverän die Oberhand.

Selbst im »Veltheim«, jener Geschichte von einem Hochstapler, der am Wirtshaustisch seine faustdicken Lügen über Reichtum und Macht auftischt, als habe sich da ein Berserker der Unmoral aus längst vergangenen Heldenzeiten ins geordnete Mitteleuropa der letzten Menschen verirrt, selbst in dieser Parabel der Inkommensurabilität wahren Dichtertums bleibt die Hauptfigur geradezu mythisch entrückt; mit Psychologie, Einzelheiten ihrer Handlungsweise oder gar Anekdoten wäre ihm nicht gedient.

Daß Borchardt schließlich doch zu einer Schreibstimmung fand, die identifikatorische Lektüre mit Lokalkolorit, präzise Epochenschilderung mit überzeitlicher Komik zu verbinden erlaubte, beruht wahrscheinlich auf dem schnödesten aller Gründe: Geldmangel. Das bisher unveröffentlichte Fragment »Paulkes letzter Tag«, geradezu idealtypisch für Borchardts Arbeitsmethode nach mehreren aufgegebenen Schreibansätzen bis zu einer Länge von einigen Druckseiten gediehen, ist außer der vergleichsweise mühevoll entstandenen, infolge allzu hochgemuter Erfolgserwartungen, unglücklicher Verlagsbeziehungen und katastrophaler Zeitumstände in ein demütigendes ökonomisches Fiasko mündenden »Vereinigung durch den Feind hindurch« (1937) das einzige erhaltene Überbleibsel eines Zyklus, der als Novellen-, dann gar als Zeitromanserie das Schicksal Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln sollte: »Die mageren Jahre«.

Lange hatte es bis zu diesem Plan gebraucht; war Borchardt doch schon während des Ersten Weltkriegs der Gedanke gekommen, seiner Gegenwart in großer Form den Spiegel vorzuhalten. Im Juli 1916 meldete er Hofmannsthal markig: »Der umfassende Roman, dem ich mich in den letzten Jahren auf so vielen radialen Bahnen zu nähern versuchte und immer schliesslich doch umsonst, hat sein Centrum gefunden. Ich will versuchen an dem Schicksale eines Deutschen, der sich zuerst falsch ins eigene Innere, dann, auf einer höheren Stufe des Falschen, ins Äussere, und schliesslich richtiger, wiewol zweifelnd wieder ins Innere zurückwendet, eine europäische Lebensbreite abzurollen, in der er nicht eben die Hauptperson, sondern höchstens die durchgehende ist.« Einzelzüge dieses Erzählprojekts – das gewiß auch in verkappter Konkurrenz zu Hofmannsthals seit 1912 in Arbeit befindlichem »Andreas"-Roman ersonnen war – blieben freilich noch im bedeutungsvoll Ungefähren: »Eine wunderbare Skala von Frauen schwebt mir vor, im Mittelpunkte des Buchs ein Verhältnis das auf dem Punkte ist, Ehe zu werden, am Ausgange Ehelosigkeit. Doch will ich nichts weiteres detaillieren, ich fände kein Ende da ich den richtigen Anfang nicht finde.«

Um den wäre Borchardt kaum verlegen gewesen, hätte nicht auch sonst so gut wie alles gefehlt. »Geschrieben ist noch kein Wort davon, es wird wol auch lange nichts zu Papiere kommen. Ich muss mich ganz meiner eigensten Arbeitsweise überlassen, die mir, nach Pausen der Negligenz, die lange nicht mehr aufgesuchten Personen und Elemente bereichert und entwickelt wiedergiebt.« (16. Juli 1916) Borchardt, zu dieser Zeit als Unteroffizier Nachrekonvaleszent in Heiligenberg überm Bodensee, scheint seinem koketten Andeutungston selber mißtraut zu haben, denn den Brief an Hofmannsthal sandte er nicht ab. Doch Parameter waren gesetzt: Ein Deutscher, Inneres und Äußeres, europäische Lebensbreite, Ehe und Ehelosigkeit – solche Koordinaten deuteten auf ein Schicksalspanorama vor dem Hintergrund der Gegenwart. 1929, in seinem letzten abgeschickten Brief an Hofmannsthal, umriß er konkret eine Hauptrolle nach dem Modell des gemeinsamen Freundes Eberhard von Bodenhausen: »In dem Romane der mir vorschwebt und an den ich allmählich zu gehen hoffe, hätte eine solche ernüchterte grosse Natur mit ihrem tonlosen Adel und ihrer langsam versagenden Festigkeit unter der Zeitenbürde wol ihre Stelle, – neben anderen, durch andere reflektiert, auf andere bezogen. Aber für sich allein würde sie einen Darstellungsraum veröden.«

All das blieb weiterhin tastende Überlegung, bis ihn im Mai 1931 Geldsorgen und zugleich wieder das Vorbild Hofmannsthals zu einem neuen Angebot an Herbert Steiner, den Redakteur von Martin Bodmers Zeitschrift »Corona«, bewogen: »Die erste der neuen Novellen ›Die Magren Jahre‹ will ich Ihnen reservieren, wenn sie ohne Striche, wie Hofmannsthals Roman, erscheinen kann. In der schönen Erzählung Th. Wilders sind mir und Anderen die Kürzungen sehr fühlbar gewesen. Jedenfalls können Sie auf reichliche und gewichtige Beisteuern von meiner Seite rechnen wenn Sie ihnen Raum gewähren können.«

Nach offenbar positiver Reaktion und verbindlicher Absprache ist die »Novelle« oder »Erzählung« Anfang Februar 1932 »zu ¾ niedergeschrieben und geht in etwa 10 –12 Tagen ab« – wenig später allerdings schützt Borchardt erst Krankheit, dann das langsame Abschreibetempo seiner Frau vor. Zwar meldet er Steiner: »Die zweite Erzählung ist im Zuge und entwickelt sich rascher«, doch er liefert auch die erste nicht, und Monate später will auf einmal die »Kölnische Zeitung« das Opus drucken. Noch im Dezember 1932, nachdem sich während des Sommers das Buch über Pisa »eigenmächtig eingedrängt« hatte, hält Borchardt die nun »zum Romane ausgewachsene Novelle ›Vereinigung durch den Feind hindurch‹« (Brief an Martin Bodmer) zurück; Anfang 1933 dürfte er dann nach dem Zeugnis der Briefe einen Teil des Manuskripts an Steiner gesandt haben, nur Tage bevor die ›Machtergreifung‹ jegliche Planungen unsicher machte. Ende 1935 gab er Steiner einen neuerlichen Wink mit dem Zaunpfahl, indem er schrieb, Rudolf Alexander Schröder habe bei seinem Besuch in Italien den »Roman grossenteils gehört«; dasselbe steht in einem für Hugo Schaefer bestimmten Briefentwurf. Zwar gab Marie Luise Borchardt der Absicht ihres Mannes, finanziell für die Familie »durch Durant und Novelle alles in Ordnung zu bringen«, schon im April 1936 keine Chance mehr, doch Steiners Besuch kurz darauf bewirkte immerhin, daß im Herbst das Manuskript abgeschlossen vorlag.

Die Publikationsgeschichte der »Vereinigung durch den Feind hindurch« bestätigte ihre Prognose: In Briefen und Briefentwürfen wechselten sich großspurige Behauptungen Borchardts gegenüber Bodmer, Bermann Fischer wolle »die ganze Reihe« der »Magern Jahre« abnehmen, mit endlosen, erbitterten Vorwürfen an Peter Voigt ab, der das Werk in Wien nur zu sehr unprofitablen Bedingungen unterzubringen vermocht hatte. Inzwischen aber schien jede noch so vage Möglichkeit, Geld zu verdienen, allen Einsatz wert, und so erfuhr Franz Blei im Frühjahr 1937 schon vor dem Erscheinen der »Vereinigung durch den Feind hindurch«, die »Romanserie« sei im Fortgang: »Den zweiten habe ich dieser Tage fertig und werde ihn irgendwie und irgendwem verkaufen – solche Bedingungen wie von Bermann bekomme ich an jeder Strassenecke. Er erscheint auf alle Fälle im Herbst.«

Natürlich wurde daraus nichts. Spätere Briefe indes zeigen, daß Borchardt trotz der immer widrigeren Zeitumstände und des überwiegend negativen Echos den Plan einer Buchreihe vor sich selbst zäh aufrechterhielt. So las Schröder, der im Juni 1937 als einer von ganz wenigen Freunden aufmunterndes Lob geäußert hatte, im August: »Inzwischen kommt nach dem Gartenbuche der neue Roman auf den Leisten, den ich Dir im Herbst hier vorlesen müsste. Der Plan umfasst 9 Romane ›Die magern Jahre‹ von denen der erschienene Bd I ist, und die durch die ganze deutsche Volksbreite zwischen 1919 und 33 hindurchgehen sollen, mit Ausnahme des Arbeiters, den ich nicht kenne, und mir nicht vorstellen will oder kann.«

Mit seiner Gesamtübersicht und den Erläuterungen legte Borchardt die Latte wieder einmal hoch: »Das Ganze muss neben allem Anderen geschrieben werden, nicht mehr als 6 –7 Wochen ist für jedes Buch verfügbar. Die Hauptarbeit daran ist ja nicht das Schreiben, sondern das Durchleben, das sich uncontrolierbar vollzieht, in freien Viertelstunden des Dösens.« Wie ernst er es mit dieser écriture automatique meinte, bei der alle Manuskriptarbeit bloße Nebensache sein sollte, wird aus dem Entwurf eines Briefes an Hugo Schaefer vom Frühjahr 1938 deutlich: »Die Serie ist abgelegt (…). Die Geschichten sind alle fertig und nur noch zu schreiben – wann, in welcher Sprache, findet sich wol.« Noch 1942 rechnete Borchardt das Projekt in einem weiteren nicht abgeschickten Brief an Schaefer zu »den Pflichtenposten, die man schuldig ist und zu liefern hat, und das Publikum, ob es Anfangs schimpft oder nicht, schliesslich doch zu nehmen, weil es gebraucht wird«. Auch der »grosse Roman (Umfang Krieg & Frieden), Zeit 1890 –1914, Titel schwankt noch« werde »laufend langsam weitergeschrieben « – womit Borchardt möglicherweise auf das gewaltige Romanfragment hinweist, das unpubliziert in Marbach liegt und unter dem Titel »Weltpuff Berlin« unlängst öffentlich diskutiert wurde.

[…]

 

SINN UND FORM 5/2016, S.590-599, hier S. 590-593