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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-23-2

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Leseprobe aus Heft 3/2015

Nikolić, Jovan

LETZTE WORTE


Die Kindheit

 

Wie groß ist die Welt, wenn du klein bist. Die Menschen, der Hund, die Bäume und der Fluß. Der Himmel so fern und die Wolken ein so schöner und angenehmer Anblick, der ein unbestimmtes, aber grenzenloses Vertrauen zum Leben gibt. Die ganze Welt war vollständig hier, neben mir: meine Mutter, mein Vater und alle, die sich um mich kümmerten. Diese Welt, das waren auch unser Haus, mein Zimmer, darin mein Bett, mein Kopfkissen und meine Träume, grünes Gras und Blumen in der Ecke des Hofes, der Hund, ein Paar Katzen und mein Spielzeug. An gewissen Tagen, die vor Licht strahlten und unsere sonst so ruhige Straße mit Lärm füllten, hörte ich Gespräche zwischen Erwachsenen in einer mir vollkommen unverständlichen Sprache, und ich merkte mir erste bedeutende Wörter: Geburtstag, Neujahr, Weihnachten … Wie schön war es, ein Kind zu sein, jeder neue Tag war – ein Fest! Ich unterhielt mich mit meinen Spielsachen; sie waren kleine Schauspieler in meiner Fantasiewelt. Ich lehnte bunte Kasperle, steife Soldaten, lackierte Pferde und Artillerie ab. Ich mochte das Emaille im Auge der Puppen, Wangen, die vor Schminke glühten, prunkvolle Spitzen, goldene Kleider, geschmückt mit Federn und funkelndem Geschmeide … Eine große Aufregung überkam mich, wenn ich jemanden erblickte, der so alt war wie ich, aber kurzgeschnittenes Haar hatte. Dieser Jemand schaute mich an, blinzelte mit den Augen, redete und spielte mit mir bis zum späten Nachmittag. Ich sagte mir: Mit dieser Puppe werde ich immer spielen, auch wenn ich groß bin!

Der erste Spaziergang auf der Donaupromenade zeigte mir das Wunder der Bäume, die friedlich am Fluß standen. Auf ihren Zweigen saßen Vögel, und auf den Zweigen, die sich im Fluß spiegelten, saßen Fische. Auf einem Karneval sah ich einen Löwen. Mein Vater versicherte mir vergeblich, es sei nur ein Schauspieler, der sich als Löwe verkleidet habe, und lud mich ein, seinen Schwanz zu berühren. Starr vor Angst, traute ich mich nicht. Beim ersten Mal im Zoo sah ich viele Tiere in Käfigen. Die Gitter dämpften meine Angst vor den riesigen Elefanten, Giraffen, Zebras, Krokodilen, Nashörnern, Bisons, Affen und Löwen … Danach glaubte ich noch lange, daß hinter den Gittern in Wirklichkeit als Tiere verkleidete Schauspieler lebten, die abends, nachdem der letzte Besucher gegangen war, ihre Kostüme ablegten, Anzüge anzogen und nach der anstrengenden Arbeit nach Hause gingen, um sich zu erholen und in Ruhe mit ihren Familien Abendbrot zu essen.

 

Aus dem Serbischen von Zuzana Finger

 

 

Schuld

 

Ich entsinne mich, daß mich der Taxifahrer in diesem Traum zu einem unbeleuchteten Hauseingang brachte. Da ich kein Bargeld bei mir hatte, bat ich ihn, auf mich zu warten, bis ich Geld aus der Wohnung geholt hätte. Widerwillig stimmte er zu. Glauben Sie nicht, daß ich diesen Trick nicht kenne, aber egal, ich traue Ihrer Physiognomie. Mit eingeschaltetem Zähler wartete er in seinem Taxi. Ich lief die spiralförmige Treppe hoch, sperrte die Wohnung auf, nahm ein Bündel Geld aus der Schublade und wachte auf!

Ohne böse Absicht betrog ich den Mann, der mir sein Vertrauen geschenkt hatte!

Jetzt verfolgt mich der Gedanke, daß sich ohne Unterlaß und in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Schuld auf dem geträumten Taxameter, das vielleicht bis heute läuft, vergrößert. Wenn der Taxifahrer noch immer auf mich wartet, ist die Schuld inzwischen so sehr angewachsen, daß ich sie unter keinen Umständen begleichen kann. Ebensowenig wie all das, was ich nach den Gesetzmäßigkeiten meines Karmas hätte begleichen müssen, aber durch Faulheit und Fahrlässigkeit unterlassen habe. Wer garantiert mir, daß ich mich nicht irgendwann im Traum im selben Taxi wiederfinde? Würde der Fahrer die vertrauenerweckenden Gesichtszüge aus dieser Nacht Ende November 1994 wiedererkennen?

Was kann er alles von mir verlangen, damit ich meine Schuld bei ihm begleiche? Es beruhigt mich einigermaßen, daß ich beim Schlafengehen immer einen Amulett-Lederbeutel mit ein paar Münzen um den Hals trage. Nur der Teufel mag wissen, ob mich nicht ein dreiköpfiger Zerberus vom Rücksitz anknurrt oder der Taxifahrer auf den Namen Charon hört.

 

 

Letzte Worte

 

Auf der Jagd nach Flecken und Schlampereien. Mit der Zunge befeuchtete er die Finger, las sorgfältig Brösel, Papierfetzen und jeglichen Unrat vom Boden auf. Mit dem Finger fuhr er über die polierte Oberfläche der Zimmermöbel und betrachtete gründlich seine Fingerkuppen, ob sich Staubspuren daran fänden. Fettige Verneblungen glatter Flächen rieb er weg, putzte bereits Geputztes, räumte das Geschirr vom Tisch und die unordentlich verteilten Kleidungsstücke von den Stühlen, sammelte unter dem Bett vergessene Socken und Unterwäsche ein, schrubbte mit dem Schwamm das Spülbecken, stapelte die Kleider im Schrank erneut um und faltete die Handtücher im Badezimmer quadratisch zusammen.

Er tauschte den Aschenbecher nach nur einer Zigarette aus, stellte die Schuhe im Flur der Größe nach auf.

Jede Nacht ließ er das Tor unverschlossen, einen Fensterflügel offen, das Licht blieb bis zum Morgengrauen an. Er schlief mit dem Telefon neben dem Kissen, dazu leise Musik und einige aufgeschlagene Bücher auf dem Boden.

Eines Morgens, als er eine Tasse Kaffee trank, zwang er sich aufzustehen, um die Hemden an der Leine umzuhängen, ihre Ärmel mit Wäscheklammern zu verbinden, weil ihm schien, daß sie zu weit voneinander entfernt an einer halbleeren Leine hingen …

»Das kann ich gerade noch ertragen«, waren die ersten Worte, mit denen er seine Frau aus der Entbindungsklinik empfing, als ihre Tochter geboren wurde, »daß du etwas zur Welt bringst, was dein Geschlecht hat. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, daß ein männliches Wesen sein Geschlechtsorgan durch deine Vagina bringt.«

»Was, wenn ich einen Jungen empfangen hätte?«

»Dann wäre unser Sohn durch einen Kaiserschnitt geboren worden!«

Beim Sterben, als sie neben seinem Bett saß, nahm er ihre Hand, als wolle er um Vergebung bitten. Sie beugte sich leicht vor. Um Luft kämpfend, röchelte er: »Dir steht ein Haar aus der Nase.«

 

 

Gute Nacht

 

Vor der beginnenden Dunkelheit, wenn alle Pflichten im Haus getan sind und das Fieber des in die Nacht mündenden Tages abklingt, senken sich die Schatten in Hof und Garten auf die Bäume und Blumen, auf das daniederliegende Gras, und Düfte steigen auf. Durch die spaltbreit geöffneten Fenster spüren wir einen Kältestrom, und seltene Geräusche erfüllen die Stille. Jeder liegt in seinem Bett. Mutter als letzte, nach einem inbrünstigen, auf Knien verrichteten Gebet vor der Ikone der Muttergottes.

Wir sehen zu, wie der Widerschein der Flammen im Ofen die Zimmerdecke leckt. Im schwärzlichroten Rahmen der Ofentür knistern die Funken, und hier und da fällt Glut heraus, die der Vater mit drei bespuckten Fingern eilig zurück in die Feuerstelle wirft.

Auf dem zitronengelben Boden bleiben Glutspuren, schwarze Löcher wie erloschene Sterne.

Der Reihe nach sagen wir einander »Gute Nacht«, als ob wir uns für kurze Zeit trennten, als ob wir irgendwohin gingen, jeder auf seinem eigenen Weg.

Und alles wird auf einmal taub.

Mich überkommt ein wohliger Schauer, weil ich auch diese Nacht durch zauberhafte Traumlabyrinthe gleiten werde.

Aber ich fürchte die dichte Dunkelheit und die Einsamkeit in meinem riesigen eisernen Bett.

Ich lausche, wie die Möbel knarzen und wie das Haus auf dem Fundament arbeitet. Vereinzelt fernes Bellen. Das fließende Blut pocht in den Ohren. Vater und Mutter bereden sich flüsternd. Plötzlich denke ich an ihren Tod. Der Großvater sagte, daß jeder Mensch sterblich sei. Was mache ich ohne Vater und Mutter?

Schweigend zittere ich und schlucke das Weinen hinunter, um mich nicht zu verraten. Ich halte mich am Saum der schweren Decke fest, unter der ich nur die Nase hervorstecke, damit ich – noch bevor mich der Traum auslöscht –, nicht im dunklen Fluidum der Traurigkeit versinke, mit der ich von Geburt an beschenkt bin.

Sagt man, wenn man stirbt, auch »Gute Nacht"?

[…]

 

Aus dem Serbischen von Dagmar Vohburger und Dragoslav Dedović

 

SINN UND FORM 3/2015, S. 405-408