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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-15-7

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Leseprobe aus Heft 1/2014

Simon, Claude

Novelli oder Das Problem der Sprache


Vorbemerkung von Irene Albers

 

Was Claude Simon von anderen Autoren des Nouveau Roman unterscheidet, wird in kaum einem Text so deutlich wie in dem lange weitgehend unbeachteten Essay über Gastone Novelli (1962), der nun erstmals auf deutsch erscheint. Auch in Frankreich mußte er erst wiederentdeckt werden. Anlaß dafür war Simons später Roman »Jardin des Plantes« von 1997. Dieses explizit autobiographische »Porträt eines Gedächtnisses« enthält Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche, bei denen es immer wieder um das Verhältnis von Leben und Kunst geht. Die Literatur dient hier nicht der Darstellung von Erfahrungen, sondern der Suche nach einer Sprache für das »formlose Magma« der Erinnerungen. Simon schreibt in »Jardin des Plantes« über Brodsky, Picasso und Leiris, kommt aber auch immer wieder auf Novelli zurück, montiert die italienischen Titel von dessen Werken – »Ora zero«, »Vuole dire caos«, »Archivo per la memoria« – in seinen Text, beschreibt einzelne dieser Bilder, erinnert sich an gemeinsame Begegnungen und erzählt in einer für ihn ungewöhnlich zusammenhängenden Weise eine zentrale Episode dieses Lebens: die Flucht vor der Barbarei einer Zivilisation, die »sowohl Philosophen als auch Schlächter hervorzubringen vermochte wie jene, die ihn in Dachau gefoltert hatten«, nach Brasilien, zu den Amazonasindianern, und die Entdeckung ihrer aus unendlichen Varianten des Vokals »A« bestehenden Sprache. Man könne, sagt die Literaturwissenschaftlerin Brigitte Ferrato-Combe, »Novelli (nicht die reale Person, sondern das Bild, das Simon von ihm entwirft) als ein tragisches Double des Autors verstehen, der die gleichen Erfahrungen (Krieg, Gefangenschaft, Schmerz, Gewißheit des bevorstehenden Todes) in einer gesteigerten Form mit ihm teilte«. Ferrato-Combe ist es zu verdanken, daß Simons Novelli-Essay, von dem es nur eine englische und eine italienische Fassung gab, 2005 auf französisch in »Les Temps modernes« erschien. Die Übersetzung der italienischen Version hat Simon noch selbst durchgesehen.

Gastone Novelli (1925–1968) wurde in Wien geboren und wuchs in Italien auf. Mit achtzehn schloß er sich der Resistenza an, im Oktober 1943 wurde er von der SS verhaftet, zum Tode verurteilt und gefoltert. Dank der Intervention der Mutter wurde die Todes- in eine Gefängnisstrafe verwandelt; im Juli 1944 wurde er befreit. Nach dem Krieg studierte Novelli Sozialwissenschaften in Zürich, traf dort Max Bill und begann zu malen. 1948 reiste er zum ersten Mal nach Brasilien und befaßte sich mit der Sprache und Kultur der Amazonasindianer; 1950 bis 1954 lehrte er als Dozent in São Paulo und plante dort auch ein Wörterbuch des Guarani. Prägend für ihn waren die Auffassung von Kunst als einer eigenen Sprache und die Beschäftigung mit Paul Klee. Ab 1955 lebte er wieder in Rom, setzte sich mit Jackson Pollock, Robert Rauschenberg und Cy Twombly auseinander und reiste immer wieder nach Paris, wo er sich mit Malern wie André Masson, Hans Arp, Man Ray und Schriftstellern wie Tristan Tzara, Georges Bataille, Pierre Klossowski, Samuel Beckett, René de Solier und auch Claude Simon anfreundete. Er illustrierte Texte von Bataille ("Geschichte des Auges«), Beckett ("Wie es ist«) und Klossowski ("Das Bad der Diana«). Bei einer Ausstellung 1961 in der Pariser Galerie du Fleuve, die ihn in Frankreich bekannt machte, begegnete er Simon zum ersten Mal. Im Mai 1962 besuchte dieser ihn in seinem Atelier in Rom. In »Jardin des Plantes« gibt es die Erinnerung an eine Szene am Strand von Ostia, in welcher sich der Ich-Erzähler von Novelli einen Katalogtext erklären läßt: »Nach dem Vorwort hat er angefangen mir auch die Titel seiner Gemälde zu übersetzen. Ich habe ihm gesagt, das hätte ich verstanden, aber er hat trotzdem weitergelesen und plötzlich, als er gerade Vuole dire caos und Paura clandestina gesagt hatte, hörte er auf. Er hatte noch immer den aufgeschlagenen Katalog in Händen und schien die Titel für sich selbst zu lesen als er auf einmal sagte in Dachau habe man ihn an den Handgelenken aufgehängt bis er in Ohnmacht fiel. Vielleicht hätte er weitergesprochen aber in diesem Augenblick sind die beiden jungen Frauen, die Griechin und die Spanierin, aus den Wellen gestiegen und sich die Haare auswringend zu uns zurück gekommen. (…) Danach hat er mir gegenüber nie wieder seine Verhaftung, das Gefängnis erwähnt und was er im Lager durchgemacht hatte.«

Indem Simon Novellis Verstummen zum Thema macht, wird deutlich, daß seine biographischen Texte über den Maler als fiktionale Ergänzungen des Verschwiegenen zu lesen sind, daher vielleicht die unzutreffende Referenz auf Dachau oder (im Essay) auf Mauthausen sowie die mythische Stilisierung der Amazonasepisode als Begegnung mit einer elementaren »Ursprache«. Die Prägnanz, die Novellis Biographie und Ästhetik in Simons Bearbeitung gewinnen, zeigt sich besonders bei seinem Leser W. G. Sebald. Diesen haben die Passagen aus »Jardin des Plantes«, das er zu seinen Lieblingsbüchern zählte, so fasziniert, daß er sie in seinem Roman »Austerlitz« (2001) als Lektüreerinnerung des Erzählers beim Besuch der Festung von Berendonk zitierte (wo die Deutschen während des Kriegs Jean Améry folterten). Auf diesem Wege dürften sie mehr Leser gefunden haben als im Original, wobei die bei Simon vielfach gebrochene und gespiegelte Lebensgeschichte Novellis auf die Foltererfahrung in Dachau und den Aufenthalt am Amazonas reduziert wird; sein vielgestaltiges Werk wird auf die Bilder mit den »AAAA"-Reihen verkürzt, mit denen Novelli seinem Schmerz in einem lang anhaltenden Schrei Ausdruck verliehen habe.

Als der spätere Nobelpreisträger seinen Essay für den Katalog zur ersten Novelli-Einzelausstellung in Amerika – in der Alan Gallery in New York – schrieb, hatte er schon vier Romane veröffentlicht: »Der Wind«, »Das Gras«, »Die Straße in Flandern« und »Der Palast«. War er für die französischen Kritiker vor allem der Vertreter eines auf die Selbstreflexion der narrativen Form ausgerichteten Nouveau Roman, so erkannte man in Deutschland bereits, wie sehr »die Zeit, in der er steht und stand«, in seinem Werk »gegenwärtig« ist (so Jean Améry 1971). Der für »Die Straße in Flandern« vorgesehene Titel »Fragmentarische Beschreibung einer Katastrophe« könnte über fast allen Romanen Simons stehen. Immer wieder lassen sie den Leser teilhaben an der Suche nicht nach einem Sinn, sondern nach einer Sprache und einer Form für die körperliche und emotionale Erfahrung des Kavalleristen, der am 17.Mai1940 in einen Hinterhalt gerät und dem sicheren Tod entgegenreitet, sowie der des Kriegsgefangenen im Stalag IVB in Mühlberg an der Elbe oder einer verlustreichen Familiengeschichte. Das Material seiner Romane ist autobiographisch, aber er hat gesagt, daß weniger er dieses Material bearbeite, als daß es ihn bearbeite. Simons Experimente mit der Form des Romans und der Materialität der Sprache dienten nicht dazu, den »traditionellen« Roman zu überbieten: Ihm ging es viel grundsätzlicher um die Literatur nach der Katastrophe.

»Die Straße in Flandern« enthält eine vielzitierte Szene, in der die Hauptfigur Georges auf einen Brief des Vaters antwortet, der pathetisch die Zerstörung der Leipziger Bibliothek beklagt: »worauf ich sogleich geantwortet habe daß wenn der Inhalt der Tausende von Schmökern dieser unersetzlichen Bibliothek außerstande gewesen sei zu verhindern daß Dinge wie die Bombardierung die sie zerstört hatte geschehen, ich nicht einsähe inwiefern die Vernichtung durch Phosphorbomben dieser Tausenden von Schmökern und Papieren die offenkundig nicht den geringsten Nutzen gehabt hätten einen Verlust für die Menschheit bedeute. Folgt die detaillierte Liste der sicheren Werte, der absolut notwendigen Dinge die wir hier viel dringender brauchen als den gesamten Inhalt der berühmten Bibliothek von Leipzig, nämlich: Socken, Unterhosen, Wollsachen, Seife, Zigaretten, Wurst, Schokolade, Zucker, Konserven Fla…« (übersetzt von Eva Moldenhauer).

Novelli erscheint in dem nur wenig später entstandenen Essay als emblematische Figur einer solchen durch die Erfahrung des Krieges und des Lagers notwendig gewordenen »Rückkehr zum Konkreten«. Simon stellt seine Malerei in den für ihn zentralen Zusammenhang mit dem »Bankrott der westlichen Kultur«. 1977 kommt er in einem Gespräch mit Claud DuVerlie darauf zurück. Und er erinnert sich an ein Treffen deutscher und französischer Autoren 1976 im Literarischen Colloquium Berlin. Dort hätten die Deutschen von der sie prägenden Erfahrung der »Stunde Null« gesprochen, worauf er erwiderte, daß es diese Erfahrung nicht nur in Deutschland gab, »jeder in der westlichen Welt war mit der gleichen Situation konfrontiert, dem totalen Bankrott von zweitausend Jahren ›humanistischen‹ Denkens in den nationalsozialistischen Lagern auf der einen und in den Gulags auf der anderen Seite«.

Die Bedeutung von Simons Essay über Novelli besteht darin, daß er an diesem Nullpunkt »das Problem der Sprache« in den Mittelpunkt seiner Reflexionen stellt und dazu einlädt, seine Romane so zu lesen, wie er die Bilder des Malers liest. Das wird besonders deutlich, wo er die Phasen von Novellis Schaffen rekonstruiert. Nachdem dieser zuerst »große Flächen« gemalt habe, »auf die er einfache farbige, annähernd rechteckige oder quadratische Flecken verteilt(e)«, glichen seine späteren Bilder »Mauern, von denen der Kalk abbröckelt, auf denen Graffiti, einfache Hieroglyphen, Inschriften, Kritzeleien in anarchischer Unordnung ineinander übergehen, sich überlagern, sich verflüchtigen«, so daß piktorale Objekte entstehen, konkret und fleischlich. Simon stellt eine Verbindung zur Literatur her, indem er Novellis Erkundungen der Sprache mit Beckett, Barthes und Joyce in Verbindung bringt. Das Bild »Seconda sala del museo« von 1960 ("Zweiter Museumssaal«) stellt aus Simons Sicht eine Synthese dieser Verfahren dar. Es ist zweigeteilt: Auf der rechten Seite ist in der Spachtelmasse kaum etwas zu erkennen, während sich auf der linken Seite ein (an Klee erinnerndes) farbiges Schachbrettmuster befindet. Dessen Felder enthalten ein »Alphabet« aus abstrakten Körperformen, Buchstaben und Zeichen, ein »Inventar der sinnlichen Welt«. Novelli habe versucht, die Welt »anhand dieser Sammlung von Zeichen, diesem Alphabet ›geliebter Dinge‹ einzufangen«, die sich im anderen Teil des Bildes noch in einem formlosen Zustand befinden. Wer Simons Romane kennt, weiß, wie sehr der Gegensatz von Ordnung und Chaos, von Form und Formlosigkeit seine Texte prägt, und ist zugleich überrascht von dem, was er hier am Beispiel des Wortes »SEINS« ("Brüste«) entgegen den strukturalistischen Dogmen über Magie und Eigenleben der Sprache, über Einheit von Zeichen und Bezeichnetem auf der Ebene der konkreten lautlichen und graphischen Gestalt sagt. Simons Neuer Roman steht der konkreten Poesie des »langen Romans«, als den Novelli seine Bilder bezeichnete, vielleicht näher als gedacht.

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SINN UND FORM 1/2014, S. 82-90