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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-13-3

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Leseprobe aus Heft 5/2013

Schock, Ralph

EIN EXIL, DAS KEIN ENDE NAHM
Über David Luschnat


Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, entschuldigen Sie diesen Brief (und bestätigen Sie mir bitte, daß Sie ihn erhalten haben). Es handelt sich um eine wichtige Sache, nämlich um einen Menschen. Der deutsche Schriftsteller David Luschnat, kein Kommunist, nicht einmal ein Jude, ein ganz harmloser Mann mit einigen seltsamen Ideen, ist aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat keinen ›Namen‹, kein Geld, er kann nicht einmal die Reise zur Grenze bezahlen. (…) Sie sind Schweizer, Journalist. Sie können Herrn Luschnat vielleicht beistehen. (…) Ich erröte bei dem Gedanken, daß ich ohnmächtig bin und auch bei dem, daß die Welt so böse, so vertrackt gemein ist. Herr David Luschnat hat nichts mehr getan, als Herr Thomas Mann: beide haben Deutschland verlassen. Beide sind Schriftsteller. Über ihren litterarischen Grad hat die Polizei nicht zu entscheiden. (…) Was ist das für eine Welt! Was ist das für ein Land, in dem so was möglich ist. Herr Luschnat hat keinen Nobelpreis! Deshalb wird er ausgewiesen! Spätestens am 4.XII. muß er das Land verlassen. Und er stirbt mit seiner Frau schon seit Hitler vor Hunger. (…) Er hat einen Rekurs gemacht, damit er bleiben kann, aber der wird abgewiesen, denn Herr Luschnat hat ja keinen ›Namen‹. Ich bin wütend, ich möchte Bomben schmeißen.« Doch auch Seelig, der Schriftsteller, Mäzen und Freund Robert Walsers, konnte die Ausweisung nicht verhindern.

Kennengelernt habe ich den damals Ausgewiesenen vier Jahrzehnte später, als ich über Gustav Regler zu arbeiten begann. Laut einer Notiz in der »Weltbühne « vom Januar 1933 plante die Berliner Ortsgruppe des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller (SDS) eine Anthologie zum Thema »Krieg«. Einige Beiträger waren genannt, darunter Regler. Weitere Manuskripte wurden erbeten an Herrn David Luschnat, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 37. Da die Anthologie nirgends nachweisbar war, wandte ich mich an den Herausgeber. An Regler könne er sich gut erinnern, schrieb er, wo die Beiträge für die Anthologie geblieben seien, wisse er aber nicht. Und er lud mich ein, ihn und seine Frau in Tourrettes-sur-Loup zu besuchen. Ich könnte in einem Cabanon auf ihrem Grundstück wohnen, auch einen großen Pool gebe es.

Nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz waren David Luschnat und Lotte, seine mehrere Jahre jüngere Frau, in dem bei Vence in den Meeralpen gelegenen Bergdorf untergekommen. Etwas außerhalb des Ortes lebten sie, bald mit Sohn und Tochter, in einem nur zehn Quadratmeter großen ehemaligen Stall, später immerhin auf eigenem Grund; das Geld für den Erwerb des steinigen, sonnenverbrannten Landes hatten ihnen in den vierziger Jahren amerikanische Quäker gespendet. Ihre Wohnsituation änderte sich erst Anfang der sechziger Jahre, als Lotte, die im Februar 1933 mit einem offenen Brief an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme ihre Stelle als Referendarin gekündigt hatte, von der Bundesrepublik eine Wiedergutmachung bekam: eine Pension, die dem entsprach, was sie nach Beendigung ihrer Laufbahn in der Position einer Studiendirektorin bekommen hätte. Damit bauten sie ein bescheidenes Häuschen, bestehend aus einem Schlafzimmer, in dem Lottes Bücher standen, einem Wohnraum, einem geräumigen Bad, einer Küche mit großem Gefrierschrank und Davids Arbeitszimmer mit Bibliothek, Manuskriptschrank und Schreibtisch.

Dem ersten Besuch 1975 folgten weitere, meist für mehrere Wochen, im Gepäck immer Dinge, die in Haushalt oder Garten gebraucht wurden. Ich führte kleinere Reparaturen aus, fällte einen krummen Baum und schnitt auf den oberen Terrassen des ein Hektar großen Geländes die Garigue zurück. Auf den unteren Terrassen bewirtschaftete Lotte ihren Garten, in dem sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang zu arbeiten begann. Danach drehte sie ihre Runden im Pool. Die beiden, seit Jahrzehnten Vegetarier, waren weitgehend Selbstversorger.

Er: klein, untersetzt, schlurfender Gang, lethargisch, melancholisch bis zum Fatalismus, tagsüber oft im abgewetzten Bademantel. Stundenlang in seiner Bibliothek vergraben. Das herunterhängende linke Augenlid schob er beim Lesen nach oben. Umständlich und abenteuerlich ungeschickt für jede handwerkliche Arbeit. Eines Abends bot er meiner Frau und mir auf Lottes Vorschlag hin das Du an. Alle vier Wochen telefonierte sie nach einem Taxi, das ihn zum Frisör brachte. Als er bei einer solchen Gelegenheit aus dem Dorf Marmelade mitzubringen wagte, brach ein Gewitter über ihn herein. Zwei Tage lang, bis das Glas leer war, gab es morgens, mittags und abends nichts anderes für ihn. Gleichwohl sagte er: »Ohne meine Frau wäre ich längst tot.«

Sie: schlank, groß und agil. Pfiffig, schlagfertig, unsentimental, zupackend, keck. Gelegentlich geradezu charmant. Typ Berliner Göre. Kurzes weißes Haar, hellblaue Augen, klarer Blick, das Gesicht voller Runzeln. Irritierend unprüde. Politisch bestens informiert, mit dezidierten Meinungen und bisweilen recht eigenwilligen Thesen über deutsche und französische Politiker oder den Nahostkonflikt. Ehe sie zu früher Stunde schlafen ging, löste sie das Kreuzworträtsel aus dem »Nice Matin«. Einmal hatte sie sich aus irgendeinem Grund über mich geärgert, deshalb gab es abends für mich nichts zu essen. Als sie wegen einer Archivrecherche über den Stauferkaiser Friedrich II. nach Italien reiste, richtete sie zu Hause für zwei Wochen alles her. Doch sie mußte bald zurück: David hatte sich, als er Scheite zu spalten versuchte, mit der Axt schwer verletzt. Dabei hatte sie ausreichend Brennholz zurückgelassen, doch er war der Meinung, es reiche vielleicht nicht. Mit einer Erziehungsfrage wandte sie sich einmal an Sigmund Freud in London, seinen Antwortbrief zeigte sie mir eines Abends. Auch sie schrieb, veröffentlicht ist kaum etwas. Ihre Autobiographie, an der sie gelegentlich arbeitete, trug – vielleicht mit einem Hauch von Selbstkritik – den Titel »Mit dem Kopf durch die Wand«. Sie stellte Horoskope, jedes Jahr orderte sie die Ephemeriden. Im Spätsommer reisten sie per Taxi nach Überlingen, um in der Buchinger-Klinik zu fasten, er drei Wochen, sie eine Woche länger.

Nachmittags trafen wir uns unter dem knorrigen Olivenbaum zum Gespräch. Einmal brachte ich ein Tonbandgerät mit, das Porträt Luschnats sendete der Saarländische Rundfunk am 14. Oktober 1978. Er erzählte aus seinem Leben: von der Geburtsstadt Insterburg, über die er eine Novelle schrieb. Vom Vater, einem Pfarrer, der eine freie Gemeinde gegründet hatte. Von der Mutter, die die Familie mit Nähen durchbrachte. Vom Gymnasium ("Marteranstalt«), von seiner Tätigkeit als Hilfsmonteur bei Siemens & Halske ("28 Pfennig die Stunde«). Am 3. Juli 1915 wurde er eingezogen, im September 1918 erlitt er eine Schußverletzung. Es sei zu gefährlich gewesen, die Kugel herauszuoperieren; später verkapselte sie sich, die rote Narbe am Hals blieb. Gelegenheitsarbeiten: Transportbegleiter, Frachtenkontrolleur, Korrekturleser, Seifenhändler, Aufkäufer leerer Ölfässer. »Aufkäufer leerer Ölfässer?« »Ja«, sagte er, »das war der Hunger.«

1918 wurde er Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, ab 1925 lebte er, »mehr schlecht als recht«, als freier Autor. In den folgenden drei Jahren erschienen drei schmale Hefte mit Lyrik: »Kristall der Ewigkeit«, »Die Sonette der Ewigkeit«, »Abenteuer um Gott«. Er selbst bezeichnete sich als religiösen Sozialisten und Pazifisten. Nachdrucke brachten u.a. die »Frankfurter Zeitung«, die »Sozialistischen Monatshefte« und die »Weltbühne«. Ein Band wurde im »Völkischen Beobachter« besprochen, den Beleg hatte er aufgehoben: Unverständnis, Spott, Verachtung. Die beiden 1927 erschienenen Sammlungen »Stimmen der Jüngsten« und »Anthologie jüngster Lyrik«, letztere mit einem Vorwort von Stefan Zweig und herausgegeben von Willi R. Fehse und Klaus Mann, enthalten Gedichte von ihm.

»Inzwischen begannen Militarismus, Antisemitismus und verwandte Strömungen immer weitere Volksschichten zu infizieren«, erzählte er. Auch den Schutzverband: »Der Hauptvorstand war gerne bereit, sich dem heraufdämmernden Hitler-Zeitalter irgendwie anzupassen.« Doch die große Mehrheit der Berliner Ortsgruppe, mit 900 Autoren ein Drittel aller SDS-Mitglieder, opponierte. Ab 1931 gehörte er neben Georg Lukács, Andor Gábor, Franz C. Weiskopf und Hermann Budzislawski deren Vorstand an. Wegen einer Kampagne zur Befreiung des wegen »literarischen Hochverrats« verhafteten Ludwig Renn und einer vom Hauptvorstand untersagten Goethe-Feier mit Erich Mühsam, Ernst Bloch und Lukács – beide hatte er mitorganisiert – warf man ihn aus dem Verband.

 

[…]

 

SINN UND FORM 5/2013, S. 707-714