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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-08-9

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Leseprobe aus Heft 6/2012

Wagner, Nike

DIE LEHRE VOM ÜBERLEBEN
Rede auf Stéphane Hessel


»Il n’y a que du bon à dire de lui«, es gibt nur Gutes über ihn zu sagen, meinte neulich unser französischer Botschafter Monsieur Gourdault-Montagne über Stéphane Hessel. Er kennt ihn lange, nicht zuletzt aus eigener dienstlicher Erfahrung – als Hessel seinem diplomatischen Corps das Theaterspielen beibrachte, um dessen Teamgeist zu stärken. Andere – wie der »Canard enchainé« – nannten ihn einen »homme debout«, und in unseren Gazetten wird er zumeist als »Vater der Empörten«, als »moralisches Gewissen seiner Nation«,

aber auch als »Glückskind« oder »glücklicher Sisyphus« apostrophiert. In diesem Sommer hatte der 93jährige einen denkwürdigen Auftritt im überfüllten Konzertsaal des Kunstfestes Weimar. »Ein greiser Herr von enormer geistiger Elastizität«, hieß es dazu in der »Süddeutschen Zeitung «, »forderte dazu auf, eine würdige Gesellschaft aufzubauen.« Standing ovations.

Stéphane Hessel ist ein berühmter Mann. Die Journalisten belagern ihn, dringen gelegentlich bis zu den Abfalltonnen im Hof seines Pariser Hauses vor, um des alten Herrn, wenn er gerade – in weißem Hemd und Krawatte – seinen Müll entsorgt, habhaft zu werden. Er ist ein tatkräftiger Mann, vornehme alte Schule, aber keineswegs zimperlich. Er ist der Journalisten »neue Lichtgestalt« seit jenem Oktober 2010, als sein schmales Pamphlet »Indignez-vous!« zum Millionen-Bestseller in Frankreich wurde, mit ähnlichem Verkaufserfolg in anderen europäischen Ländern, inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Auf wenigen Seiten wird hier eine Grundhaltung zu den politischen und gesellschaftlichen Verirrungen der Gegenwart dokumentiert und zur Empörung über einen Finanzkapitalismus aufgerufen, der die Werte der Zivilisation bedroht, ablesbar an der wachsenden und immer brutaler werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Aber es geht auch um die Beilegung der Konflikte im Nahen Osten, was ohne Dialog zwischen Christen und Muslimen nicht möglich ist. Mit dem gegenwärtigen Israel geht er hart ins Gericht. »Ich mag ein schlechter Jude sein, denn ich gehe nicht in die Synagoge«, so Hessel andernorts, »ich lasse mir aber von niemandem meine Kritik an der Politik Israels verbieten.« Zugleich ist er Pazifist, plädiert für kompromißlose Gewaltlosigkeit.

Bald folgte seinem ersten Manifest ein zweites Bändchen, diesmal nicht in essayistischer, sondern in Interview-Form. »Engagez-vous!« Darin engagiert er sich für die Ausgeschlossenen, die Obdachlosen und Eingewanderten, für Umweltpolitik und Entwicklungshilfe. Schon mit dem Titel weht ein Stück »existentialistischer« Vergangenheit Frankreichs herüber: Sartre, den er 1939 in Paris kennengelernt hat, läßt grüßen, aber auch der Impetus des Londoner Widerstands de Gaulles ist spürbar, ein Mann, der im Leben Hessels eine große Rolle spielte. Sich empören und sich engagieren sind zwei Seiten einer Medaille. »Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz«, so Hessel. »Zu sagen: Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch. Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essentiellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.«

Gute und aufrechte Menschen gibt es überall. Sie haben bei uns den schlechten Ruf der »Gutmenschen«. Auch Empörte gibt es genug, wie wir durch unsere streitbaren »Wutbürger« wissen. Es gibt selbstverständlich auch viele Bestsellerautoren. Sogar das Alter Methusalems erreicht heute dank medizinischer Technik so mancher. Wo also liegt das besondere Verdienst des Stéphane Hessel, warum sieht die Académie de Berlin in ihm einen würdigen Kandidaten für ihren kostbaren Preis?

 

Zunächst: Nicht alle lieben Stéphane Hessel. Sein Engagement für die Palästinenser hat ihm eine Strafandrohung wegen »Aufrufs zum Rassenhaß« eingebracht, und auf Betreiben des Zentralrats der französischen Juden verweigerte ihm die École Normale Supérieure im Januar 2011 den Saal für einen Vortrag. Daß er sich einem Aufruf zum Boykott israelischer Waren anschloß, ist ihm verübelt worden. Vielfach wurden seine »Empörungs"-Broschüren auch aus politischer und literarischer Sicht verrissen.

Einerseits, heißt es gönnerhaft aus Frankreich: Wer würde ihn nicht mögen mit seinem entwaffnenden Lächeln, seinem ungeheuren Gedächtnis für Gedichte, seinen geschliffenen Manieren aus einer anderen Zeit, seiner Sanftheit? Andrerseits: die Broschüre, die heute seinen Weltruhm begründet, sei formal ein Machwerk, mit einer »faible plume« geschrieben und banal. Man sei erstaunt über den Mangel an Inhalt, wo doch ein Aktionsprogramm vorliegen solle oder eine Moralphilosophie. Hessel wird als politisch naiv bzw. überholt eingestuft. Empörung sei ja schön und gut, aber wir bräuchten Reflexion. Die Emotion sei eine folgenlose, also billige Form von Auflehnung und in sich verwaschen. Was soll ein Aufruf zu »allgemeiner« Empörung ohne präzise Zielformulierung, der alles in einen Topf wirft: die Empörung zugunsten der armen »Sans-Papiers« und gegen den wildgewordenen Kapitalismus ist doch nicht mit gleichem Maß zu messen wie die Empörung gegen die Nationalsozialisten! In der Tat – Hessel scheint da nicht wählerisch. »Worüber man sich empört, ist beinahe egal«, sagt er in einem Interview mit Jakob Augstein: Man könne die Umwelt schützen oder Tiere, solang man die Grundwerte verfolge: die Ökologie oder den Kampf gegen Armut und Gewalt.

Immer wieder einmal werden ihm auch »Überzeugungs-Naivität« und allzu simple, moralisierende Rhetorik angekreidet. In der Tat – es gibt so rührend einfache Sätze von Hessel wie: »Ich glaube an den Menschen.« Oder auch: »Ich baue auf die Institutionen. « Sätze, die man irgendwie nicht laut sagen kann. Zumindest fallen solche Vereinfachungen uns Deutschen schwer. »Es geht Ihnen ja ziemlich gut, den Deutschen«, gibt Hessel zu. »Aber schauen Sie, wie die Erde zerstört wird, die Wasservorräte privatisiert werden. Da muß man sich doch fragen: Was tue ich dagegen?«

Hessels Weltrettungsvorstellungen – durch Empörung und Engagement einerseits und die beharrliche Arbeit in internationalen Organisationen zugunsten einer zivilgesellschaftlichem »Weltregulierung« andrerseits – scheinen vielleicht »unterkomplex« angesichts einer an Komplexität und Undurchschaubarkeit schier erstickenden globalen Welt. Ist das das Geheimnis seines Erfolges? Daß einer mit klarer, einfacher Sprache spricht? Sicherlich wird sich dieser Sohn zweier schriftstellernder Eltern mit seinen Manifesten nicht den Nobelpreis für Literatur verdienen. Aber es geht um etwas anderes bei Stéphane Hessel, und in diesem »Anderen«, das der aufgeregte Journalismus vernachlässigt, liegt das Preis-Würdige dieses Mannes.

Wenn es so ist, daß die Académie de Berlin nach Kandidaten sucht, die eine kulturelle – oder auch politische – Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland spielen, die beide Länder gleichsam in sich aufgesogen haben, dann verkörpert Stéphane Hessel diese Forderung bis zum Wunderbaren, Wundersamen. Reale Verkörperung und symbolische Repräsentanz kommen in seiner Person zusammen, sein Fleisch und sein Blut und die Geschichte beider Länder.

[...]

 

SINN UND FORM 6/2012, S. 849-855