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Leseprobe aus Heft 5/2001

Schlaffer, Hannelore

Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern


Tugenden

Das Alter wird heute als eine zweite Jugend begangen. Jugendlichkeit  aber war zu allen Zeiten der Traum der Alten gewesen, nur haben sie sich dies nicht eingestanden. Im zweitausendjährigen Diskurs über das Alter ist immer nur von dessen Vorzügen die Rede: von seiner Würde, seiner Weisheit, seiner philosophischen Gelassenheit. Bei genauem Hinsehen jedoch stellt sich heraus, daß diese Auszeichnungen nichts sind als Stilisierungen, mit denen die Alten versuchten, sich gegen die Jugend zu behaupten. Bis ins 18. Jahrhundert hat man sich solcher Selbstdarstellung befleißigt, hat den körperlichen Verfall hinweg geredet und sich zu geistigen Höhen emporgeschwungen. Erst im 18. Jahrhundert verdrängt die wissenschaftliche Beobachtung des alternden Körpers die Schönrednerei über die letzte Lebensphase.

Altersweisheit und Alterstorheit jedenfalls sind Eigenschaften, die nicht das Leben, sondern die Literatur hervorgebracht hat. Sie sind utopische oder satirische Überzeichnungen, die der letzten Lebensphase zugeordnet werden. Die Definition von Jugend differiert – in der Literatur so gut wie im Leben - je nach Epoche oder Land, die Definition des Alters hingegen blieb bis ins zwanzigste Jahrhundert unverändert. Jugend ist ein historisches Phänomen, Alter eine Konstante.

Tiere altern nicht, Tiere sterben. Das Alpha-Männchen, das seinen Platz räumen muß, ist besiegt, nicht alt. Vermutlich war für den Menschen ähnliches vorgesehen, und so ist der Altersdiskurs lediglich als der Versuch des Alpha-Männchens, den Angriff der Jugend abzuwehren. Wer über das Alter schreibt, behandelt es deshalb als einen Abschnitt im Leben des gesunden, denk- und handlungsfähigen Menschen. Das Ausblenden der Krankheit gehört zur Typologie der Gattung. Cicero betrachtet Krankheit als Schicksal, das Junge wie Alte ereilt. In früheren Jahrhunderten, als nur die Widerstandsfähigen ein hohes Alter erreichten, galten die Jungen sogar als anfälliger, ihre Leiden wurden als besonders heftig und gefährlich beschrieben.

In seiner Rede vor Kollegen der Universität und den Honoratioren der Stadt Wien mußte Johannes van Swieten, Leibarzt Maria Theresias, 1763 erst einmal eigens auf den Zusammenhang von Alter und Krankheit aufmerksam machen: »Sobald nämlich durch ein langes Leben die dickwandigen Gefäße unseres Körpers sich verengen, hören fast alle Funktionen auf oder nehmen ab, die Sinne werden stumpf, das Gedächtnis wird unsicher ...«. Er lenkte jedoch sogleich wieder in den althergebrachten Diskurs ein: »Aber es gibt ein frisches, ein rüstiges Greisenalter, und daß dieses geschützt und bewahrt werden muß, wird niemand bezweifeln.« »Senex«, also Greis, ist für ihn geradezu ein Adelsdiplom.

Seit der Antike wird das Alter als Utopie entworfen. Selbst Schopenhauer erklärte es zum eigentlichen Glückszustand des Menschen: Krankheit ist für ihn ein Defekt im philosophischen System; das Leben sollte so lange währen, bis es in höchstem Alter mit einem schmerzlosen, einem »sanften Tod« endet. »Erst zwischen neunzig und hundert Jahren sterben die Menschen, dann aber in der Regel vor Alter, ohne Krankheit, ohne Todeskampf, ohne Röcheln.« Die präzise Terminierung gehört zur Alterstypologie. In seinem Streben nach Genauigkeit hat sich der Mensch des Siebener- bzw. des Dezimalsystems bedient, um Lebenszeit und Lebensart einander zuzuordnen. Mit fündunddreißig beginnt der Grieche die sechste Lebensphase, die sich laut Solon folgendermaßen gestaltete:

Drauf im sechsten reift des Mannes Gesinnung und stählt
künftig mag er nicht mehr wirken an nichtigem Werk.
 Vierzehn Jahre hindurch, im siebten und achten Jahrsiebent, 
blühen in Fülle und Kraft Rede ihm und der Geist.
Auch im neunten noch manches, doch sinkt von der Höhe, 
kraftvoll männlichen Muts Weisheit und Wort ihm herab.Wem aber Gott das zehnte Jahrsiebent zur Neige vollendet,
ihn ereilt dann der Tod wohl zu schicklicher Zeit.

Bis heute skandiert das Dezimalsystem das Leben durch runde Geburtstage. Alle zehn Jahre werden Körper und Geist angewiesen, wie sie sich künftig zu halten haben. Die Seele, die Gott gehört, kommt nicht in die Jahre, der Körper aber, an den die Moderne stärker glaubt, muß an jedem zehnten Geburtstag beweisen, wie gesund er noch ist. Geburtstage führen die antike Utopie vom jugendlichen Alter fort. Dabei werden dem Jubilar im Zehnjahres-, mittlerweile sogar im Fünfjahresrhythmus, die seinem Alter entsprechenden Gesten vorgezeichnet. Die Feier ist die Initiation in den nächsten Lebensabschnitt.

Als Cicero 44 v. C. »De senectute« schrieb und damit der Nachwelt einen Grundtext lieferte, wollte er den Beweis für die Brauchbarkeit der Unbrauchbaren erbringen. Er stellt Altern als Läuterungsprozeß dar, die  Würde des alternden Menschen als eine Manifestation des reinen Geistes. Freigestellt von aller Praxis, überschaut dieser die Welt, als sei sie ein Fest: Alter ist Theorie als Lebenshaltung. Cicero nennt seine Schrift »Über das Alter« das Dokument seines Lebens. Ihre Abfassung habe nicht nur die Beschwerden des Alters beseitigt, sondern es sogar behaglich und angenehm gemacht. Ciceros Entwurf wird bis in die Neuzeit hinein nur um wenige Gedanken erweitert. Die philosophische Geistesverfassung, die dem Alter Würde und Wohlbefinden verleiht, setzt die Negation des Körpers voraus. Doch damit sich dessen Leiden wirklich in nichts auflösen, muß die Seele unsterblich sein. Sie absorbiert alle Eigenschaften der Jugend: Lebendigkeit, Erfindungskraft, Zukunft. Im 12. Brief an Lucilius schildert Seneca das Alter als eine Zeit, in der die Seele »voller Jugendkraft« ist und sich freut, »nicht mehr viel Gemeinschaft mit dem Körper zu haben«.

 

Die Freuden des Ackerbaus

Berühmte Männer, von Cicero bis Adenauer, waren Gärtner. Cicero zufolge werden »die Freuden des Ackerbaus ... in keiner Weise durch das Alter behindert und kommen andererseits ... dem Leben eines Weisen am nächsten. Man hat es dabei nämlich mit der Erde zu tun, die niemals den Befehl verweigert und niemals ohne Verzinsung das zurückgibt, was sie empfangen hat«.« Das ist die Haltung eines Grundbesitzers, der sich von seiner Liebhaberei sogar noch Gewinn erhofft. Der Garten der Moderne hingegen ist der stimmungsvolle Ort, wohin der Weise sich aus der Welt zurückzieht. Der Kreislauf von Werden und Vergehen gibt der Seele die Gewähr der Verjüngung. Jacob Grimm würdigt die weise Vorsorglichkeit der Greise, die »die stärkende Gartenpflege und Bienenzucht gern übernehmen, ihr Impfen, Pfropfen geschieht alles nicht mehr für sie selbst, nur für die nachkommenden Geschlechter, die erst des Schattens der Neupflanzung froh werden können.«

Die ewige Wiederkehr allerdings, derer sich der Greis beim Gartenbau vesichert, sieht sich in Frage gestellt durch das Nachlassen der Zeugungskraft, über das die Altersliteratur nur schwer hinwegzutrösten vermag. Hämisch durchstreicht die Natur die ideelle Deutung des Greises, indem sie ihm ihre hemmungslose Fruchtbarkeit entgegenhält. Wo alles liebt, Biene, Blume, Hase und Igel, schaut ein Liebesveteran nur zu. Entsagung ist des Gärtners Weisheit. Das Erlöschen der Liebeslust stellt die Utopie des glücklichen Alters mehr in Frage als Krankheit und Tod. Anders als diese äußeren Feinde gefährdet die Liebesunfähigkeit die Identität eines ganzen Lebens. Der verletzte Mannesstolz kompensiert die Beleidigung, indem er die intellektuelle Potenz aufwertet. Bereits Cicero kommt ohne solchen Trost nicht aus. Er stellt die Liebeslust unter Verdacht und rühmt ihr Versiegen als eine Segnung des Alters. Schopenhauer spricht ihm nach, indem er das Problem scheinbar sachlich, tatsächlich aber zynisch löst: «...jeder Genuß ist immer nur die Stillung eines Bedürfnisses: daß nun mit diesem auch jener wegfällt, ist sowenig beklagenswert wie daß einer nach Tische nicht mehr essen kann und nach ausgeschlafener Nacht wach bleiben muß. Viel richtiger schätzt Platon [...] das Greisenalter glücklich, sofern es den bis dahin uns unablässig beunruhigenden Geschlechtstrieb endlich los ist.«

 

Karikatur

Goethe hat im « Mann von funfzig Jahren« das Problem der falschen Jugendlichkeit als novellistische Tragikomödie behandelt. Die Liebe eines Fünfzigjährigen zu seiner blutjungen Nichte verstößt gegen das Gesetz der Natur. Als der überreife Liebhaber durch kosmetische Eingriffe seine Jugendlichkeit wiederzuerlangen sucht, erhebt der alternde Körper Einspruch gegen diese unangemessene Werbung: »Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er fürchtete, den zweiten zu verlieren. An eine künstlich scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter einem Dach befand. [...] Es ist ihm, als wenn der Schlußstein seines organischen Wesens entfremdet wäre und das übrige Gewölbe nun auch nach und nach zusammenzustürzen drohte.«

Alte Leute kennt die Literatur genug, doch sind sie, als Dienstpersonal, Eltern, Großeltern, Verwandte, immer nur Handlanger der Jugend, der die Poesie gehört. Die Jugend öffnet ihr Herz in der Lyrik, erlebt die Welt im Bildungs- und Abenteuerroman, trotzt Gespenstern im Schauerroman, kämpft fürs Vaterland im Epos, gegen ein mythisches Schicksal in der Tragödie und für das private Glück in der Komödie. Poesie ist Darstellung von Jugendlichkeit. Wo  sich das Alter einmischt, macht es sich lächerlich. Die Thematisierung des Alters in der Literatur erfolgt bis ins 19. Jahrhundert hinein lediglich als Posse. Die Vettel lauert ihrem Ehegespons mit dem Nudelholz auf in Schwank und Karikatur; der lüsterne Alte quält die junge Gemahlin mit seiner Eifersucht in der Novelle (die ursprünglich zu den komischen Gattungen zählte); das Verhältnis von Sein und Schein wird in der Satire aufs Korn genommen, und alte Geizhälse hocken auf ihren Schätzen in der Komödie. Die Jungen verlachen in »ihrer« Literatur die Alten, als hätten sie deren Trostbüchlein allesamt gelesen, indem sie ihnen gerade die Eigenschaften vorhalten, die dort so beflissen wegphilosophiert werden. Jacob Grimm hat aus der deutschen Literatur Assoziationen über das Alter und die Alten zusammengetragen: mürrisch, grämlich, eigensinnig, altfränkisch, ableibig, protzend, sauersehend, karger, Knicker, Erbsenzähler, Filz, Unke, betrübte Hausunke. In seinen »Totengesprächen« zeichnet Lukian die Ruine eines Menschen: »Ein hinfälliger Greis, der nur noch drei Zähne hat, der kaum noch lebt, der sich zum Gehen auf vier Sklaven stützt, dessen Nase ständig einen Tropfen ausschwitzt, dessen Augen voller Schleim sind, unempfänglich für alle Sinnesfreuden, ein lebendiges Grab, das Gespött der Jugend.« Noch abstoßender wirkt das Geschöpf aus Juvenals Satiren: »Statt der Haut dieses häßliche Leder, diese hängenden Backen, diese Runzeln gleich jenen, die eine Affenmutter in den düsteren Wäldern Thabarkas um ihr altes Maul kratzt [...] Die Alten sind alle gleich; ihre Stimme zittert wie ihnen die Glieder zittern; kein Haar wächst mehr auf dem kahlen Schädel; ihre Nase ist feucht wie bei kleinen Kindern. Sein Brot kann der arme Alte nur mit zahnlosem Kiefer zermalmen. Er ist seiner Frau, seinen Kindern und sich selbst dermaßen zur Last, daß er sogar einen Erbschleicher abstoßen würde.«

Die Gebrechlichkeit der Alten ist für die Jugend ein Spaß. Daher sind Molières »Eingebildeter Kranker« und »Der Geizige« die Komödien des Alterns. Nur Goethe vermag diesen Spott noch zu überbieten. Faust, auch er ein Mann von »funfzig« Jahren, sehnt sich nach jungem Blut, und die Verjüngungskur in der Hexenküche, in der Affen und Meerkatzen dem mißmutigen Gelehrten einen Trank brauen, entbehrt nicht der Komik.

 

Politische Taktik

Ciceros Schrift ist eine Apologie gegen diese jugendliche Frechheit, die meint, wegen ein paar körperlicher Gebrechen sich über die Alten lustig machen zu dürfen. In Cicero wehrt sich der Staatsmann, der seine Funktionen nicht verlieren will, gegen die Jugend. Alle Reflexionen über das Alter haben ihren konkreten und taktischen Ursprung im politischen Denken der Antike. Altersweisheit ist Staatsphilosophie. Archaische Gesellschaften organisieren sich nach dem Alter, der Älteste regiert den Clan. Doch auch noch in frühen Hochkulturen liegt die Verwaltung des Staates in den Händen der Alten. Das Wort Senat kommt von senex, den Alten, die ihm angehören. Bis heute finden wir Reste dieses Anciennitätsprinzips, wenn zum Beispiel ein Richter mindestens vierzig Jahre, ein Bundespräsident fünfundvierzig Jahre alt sein muß. Nicht zufällig bezieht Cicero seine Theorie in wichtigen Teilen aus Platos »Politeia«, die damit beginnt, daß Glaukon, Polemarchos, Adeimantos, Nideratos, junge Männer, die sich beim Fest getroffen haben, den uralten Kephalos aufsuchen, um in seinem Beisein ein Gespräch über den Staat zu führen. Diese Szene nimmt den idealen Staat vorweg, der ein friedliches Zusammenwirken von Jung und Alt sein soll. Aus Cicero spricht der Politiker, der Einfluß behalten möchte. In der politischen Krise, in der gerade die Jungen um Nachfolge Cäsars kämpfen, verkündet der Dreiundsechzigjährige apodiktisch: »Denn bei den Greisen findet sich Verstand, Vernunft und Klugheit; wären sie nicht gewesen, so hätte es gar keine Staaten gegeben.« Sparta ist in der Antike das Vorbild aller Altersrhetorik und sollte es bis ins 18. Jahrhundert bleiben. Dort trafen die vierzig Geronten, die »herrschenden Greise«, die wichtigen Entscheidungen des Staates. Einen Abglanz dieser Gerusia findet noch Jacob Grimm in der Preußischen Akademie der Wissenschaften.

Den Autoren der Altersliteratur geht es nicht um kümmerliche Reste von Lebensgenuß oder um eine schmerzlose letzte Stunde, sondern um Autorität. Ciceros Ton wird herausfordernd, ja geradezu auftrumpfend, wo er sich gegen die Jugend behaupten muß: »Der Alte tut nicht, was die jungen Leute tun, aber er tut etwas viel Wichtigeres und Besseres. Große Dinge vollbringt man nicht durch körperliche Kraft, Behändigkeit und Schnelligkeit, sondern durch Planung, Geltung und Entscheidung; daran pflegt man im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen.«

 

Aufstieg der Jugend

In der Antike versucht das Alter, die Jugend zu überbieten, in der Neuzeit wird die Jugend immer mehr zu seinem Maßstab. Weisheit, jene Tugend, die immer dem Alter zuerkannt und nie der Jugend zugestanden wurde, ändert damit ihre inhaltliche Bestimmung: sie gelangt von souveräner Überlegenheit zu Resignation. Dieser Richtungswechsel leitet Montaignes Essay über das Alter ein: »Unter allen großen menschlichen Taten [...] glaube ich den größeren Teil zu finden, wenn ich jene zähle, die sowohl im Altertum wie zu unserer Zeit vor dem dreißigsten Altersjahr verrichtet worden sind, als nachher.« Er verlangt kürzere Ausbildungszeiten, was nichts anderes bedeutet als das Verdrängen der Alten aus den öffentlichen Ämtern. Ihre endgültige Amtsenthebung geschieht im 18. Jahrhundert. Aufklärung und Revolution werden von den Jungen getragen, die politischen Theorien richten sich fortan auf die Zukunft. Nur wo sich die Verhältnisse nicht ändern, sind alte Männer besser für ein Amt geeignet als junge. Deshalb häufen sich im 18. Jahrhundert die Versuche, den Verlust der politischen Autorität durch neue Lebensmodelle zu kompensieren. Jacob Grimm etwa betont die Wichtigkeit des Historikers und Gelehrten. Sein Bild vom blinden Sänger, der die Geschichte eines Volkes aufbewahrt, bezieht sich nicht nur auf das entstehende Nationalbewußtsein, sondern auch auf das schwindende Selbstvertrauen der älteren Generation. Indem Grimm die Funktionen des alten Mannes als Sänger und Gelehrter poetisiert und intellektualisiert, beschwichtigt er die böse Ahnung, daß das Alter in der modernen Gesellschaft an Würde verlieren muß. Grimm selbst fürchtet nicht Pensionierung, Altersschwäche und Krankheit, er fürchtet allein den Verlust des Augenlichts, das das Ende all seiner geistigen Arbeit bedeuten würde. Diese trübe Aussicht bindet er in ein geschichtsphilosophisches Konzept des Verhältnisses von Glück und körperlichem Verfall ein: Die mündliche Kultur  der Antike und die schriftliche der Moderne  setzen je unterschiedliche körperliche Fähigkeiten voraus. Für den antiken Menschen bedeutet der Verlust des Gehörs den Ausschluß aus der Gesellschaft, für den modernen Menschen, so meint der in der Bibliothek vergrabene Grimm, wäre es katastrophal, zu erblinden.

Wenn es nichts nützt, sich der Würde des Geistes zu versichern, dann soll wenigstens der Leib frisch bleiben. Van Swieten ist der erste, der zum Altersdiskurs Empfehlungen zu Ernährung und Körperpflege beisteuert, die sich nur wenig von den Ratschlägen der heutigen Zeit unterscheiden. Nicht zufällig gilt van Swieten als Begründer der Geriatrie. Das Aufblühen der praktischen Disziplin bedeutet den Untergang der Rhetorik vom Alter. Der Senior, der nun den Geronten ablöst, ist ein Experte für Wohlbefinden, kein Wohl- und Schönredner mehr wie Cicero.

Van Swietens reformierter Greis ist Rotweintrinker und Causeur, der über die Politik, der er enthoben ist, nur noch räsoniert. Aus seiner Schule stammt Fontanes »Stechlin«, einer der typischen Romane über das Alter, die es im 19. Jahrhundert so reichlich gibt. Der alte Stechlin wird von allen Seiten gedrängt, in die Politik zu gehen, doch darüber scherzt er viel lieber bei seinen Gastlichkeiten. Die genealogische Tatsache allerdings, daß er als Aristokrat ein Gut zu vererben hat, macht ihn zu einem politischen Menschen, der die Tradition des preußischen Landadels fortführt und deshalb gegen die Austrocknung des Alterns nur seinen Humor, die »Feuchtigkeit« der Plauderei, einzusetzen braucht.

Was aber wird aus jenen Alten, die nichts zu vererben haben? Männer, die weder über ein Amt, noch ein Landgut, noch Humor und Geselligkeit verfügen, sehen sich im Alter in die Atmosphäre des Kinderzimmers verwiesen; sie fungieren als Großväter? »Der Wandel der Familie«, sagt Simone de Beauvoir, »hat die Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern verändert: statt einer Gegnerschaft hat sich zwischen ihnen ein Bündnis entwickelt; da der Großvater nicht mehr Familienoberhaupt ist, wird er zum Komplizen des Kindes.« Die Altersdiskurs des 19. Jahrhunderts betreiben die Idyllisierung oder Infantilisierung des Alters, indem sie die Unschuld des Kindes mit der wiedergewonnenen Unschuld des Greises ins Kinderzimmer einsperren.

Dem steht der Aufbruch der Jugend gegenüber, die sich in politischen Bewegungen und in der Bohème sammelt. Sie polemisiert gegen die Lüge, die die sparsame Lebensfreude des Alters mit naiver Kindlichkeit gleichsetzt. Dickens, obgleich in seinem Werk so viele Großväter und kinderfreundliche Alte vorkommen, polemisiert gegen die Sentimentalisierung des Alters: »Wir nennen es einen Zustand ähnlich dem der Kindheit, aber es ist ihr armseliges und eitles Trugbild [...]. Wo sind in den Augen des alten Mannes Licht und Leben, wie sie aus den Augen der Kinder lachen? [...] Stellt das Kind und den in die Kindheit zurückgefallenen Greis nebeneinander und errötet über diese Eitelkeit, die den glücklichen Anfang unseres Lebens verleumdet.«

 

Untergang der Hoffnung

Das zwanzigste Jahrhundert will, nachdem endlich der Körper als wissenschaftlicher Gegenstand in den Blick gerückt ist, die Hoffnungslosigkeit aller Rettungsversuche nicht mehr leugnen. Jean Améry präsentiert sich als gealterten Bohemien, der, anders als Stechlin, nichts zu vererben, und anders als die Großväter, keinen Familiensinn hat. Jeglicher soziale Bezug, der ihm den körperlichen Verfall verklären könnte, fehlt ihm: »Was da immer dem Alternden empfohlen wird, wie er sich mit dem Niedergang abfinden, ja diesem allenfalls sogar Werte abgewinnen könne – Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befriedung -, es stand vor mir als niederträchtige Düperie, gegen die zu protestieren ich mir mit jeder Zeile aufgeben mußte.« Hermann Hesse, der immerhin für die Welt die Heilsvorstellung einer pädagogischen Provinz gerettet hat, verliert, sobald er sich seiner Vereinzelung bewußt wird, jeden Glauben an die tröstende Kraft des Geistes: »Man stirbt ja so verflucht langsam und stückchenweise: Jeder Zahn, Muskel und Knochen nimmt extra Abschied, als sei man mit ihm besonders gut gestanden.« Die Beschreibung der Schwäche, die bislang den komischen Gattungen vorbehalten blieb, wird nun zum Ausgang aller Überlegungen über das Alter. Wo aber die Kraft zum Verspotten und zur Komödie versiegt, beginnt der Nihilismus. Am physischen Verfall scheitert aller philosophische Scharfsinn. Altern ist für Améry eine Problem der Identität. Das Ich spaltet sich in einen Körper, der der Welt gehört, und ein Bewußtsein, das vor dieser Welt kapitulieren muß.  Die Helle des Bewußtseins, in die der Tod das Subjekt taucht, muß seine Zerstörbarkeit mitdenken: »Ich bin Ich im Altern durch meinen Körper und gegen ihn: ich war ich, als ich jung war, ohne meinen Leib und mit ihm.« Der Untertitel von Amérys Buch »Revolte und Resignation« (1968) leugnet nicht die existentialistische Umdeutung des Studentenprotests, jenes letzten und erfolgreichen Aufstands der Jugend gegen die Gesellschaft der Erwachsenen. Seither hat die Jugend in allen Bereichen der Kultur die Herrschaft übernommen und erlaubt keine verschleiernden Reden über das Alter mehr.

Die Resignation führt bei Améry zu einer Umdeutung aller Tugenden des Alters. Die Erinnerungsfähigkeit, die die Voraussetzung für die Altersweisheit war, wird zu einem Zustand des Wahnsinns. Das Zeitgefühl wachse nur auf Kosten des Raumempfindens, das wegen der zunehmenden Bewegungslosigkeit immer mehr verloren geht. Zunächst scheint der greise Mensch sich damit zu trösten, daß sich  sein Kopf mit gelebter Zeit und mit « um so größerer Seinsdichte« fülle. Die Zunahme an Erinnerung aber bedeutet, in direkter Umkehrung zur traditionellen Alterstheorie, eine Auflösung der Ordnung. Wer die Zeit vom Räumlichen ablöst, wer sie verinnerlicht, verliert die Orientierung. Je mehr Vergangenheit sich im alternden Bewußtsein speichert, desto ungeordneter flutet zeit durch sein Inneres: »Belangreicher aber ist, daß der Raster, dessen er bedarf zur Kommunikation beim Zeitaufzählen, ihn wenig angeht, daß er >vor-fünf-Jahren< nicht anders spürt als >vor-fünfzehn<.  daß zwar die einzelnen Zeitschichten ihre spezifischen Gewichte für ihn wechseln, solcher Wechsel jedoch nichts zu schaffen hat mit der Chronologie. In diesem Sinne lebt, wer seine Zeit entdeckt, ganz und gar unhistorisch.« Damit hat Améry nicht nur, wie vor ihm schon geschehen, die politische Kompetenz der Jugend überlassen, er gesteht ihr auch das zuverlässigere Geschichtsbewußtsein zu. Selbst der Rettungsversuch Jacob Grimms, der den alternden Politiker zum Studium der Geschichte in die Bibliothek einsperren wollte, ist damit in Frage gestellt.

Da dem Chaos im Kopf des Alten die chronologische Ordnung von Geschichtsschreibung und Epos nicht mehr angemessen verfügbar ist, entdeckt Améry ein für ihn besser geeignetes Genre: die Lyrik. »Das Todesdenken wird zu einer monotonen und manischen Litanei, die eine unableugbare Ähnlichkeit hat mit gewissen Erzeugnissen moderner Poesie: Ich werde sterben sterben werde ich sterben ich werde werde ich sterben sterben ich werde ich werde sterben.« Dies »lyrische Todesgestotter«, das »todespoetische Geplapper« sei »der grundhäßliche Kitsch des abendbesonnten Idylls«.

Den Gewinn an Wahrheit, auf den Amérys Nihilismus insistiert, wollte das 20. Jahrhundert nicht mehr preisgeben. Die Autoren des von der Frankfurter Allgemeine Zeitung veranstalteten »Moses-Projekts« hegen keinerlei Illusionen mehr über das Alter. Lediglich ein Emeritus wie Odo Marquard zieht noch einmal alle Register des traditionellen Altersdiskurses. Peter Esterhazy hingegen parodiert dessen geheimes und ewiges Thema, den Wettbewerb zwischen Jung und Alt, indem er ihn auf das unbedeutende Spielfeld des Fußballplatzes verlegt: »Schon sind meine Gelenke [...] nicht mehr die alten. Diese metaphysische Dimension des Jammerns kenne ich als ausgedienter Fußballspieler. Als solcher habe ich Erfahrungen mit dem Körper, nämlich mit dem Altern, mit jener Hinfälligkeit der Zellen, die spätestens mit dreißig Jahren beginnt.« Der Agon mit der Jugend weicht  endlich nostalgischer Bewunderung und zaghafter Imitation.

In der langen Literaturgeschichte des Alterns lädt der moderne Totentanz nun auch die Frau dazu. Da Alternde immer versuchten, Ämter und Würden zu behaupten, brauchten die Rhetoriker des Alterns Frauen, die öffentliche Personen nie waren, nicht zu berücksichtigen. Erst der Nihilismus, der Vergehen und Sterben ernst nimmt, schließt die Frauen mit ein. Zu »Geschöpfen ohne Potentialität« (Améry) macht die Gesellschaft Frauen früher als biologisch nötig. Ihre Frühvergreisung hängt mit dem Verjüngungsprogramm der Männer zusammen. Frauen altern gewissermaßen stellvertretend für die Männer, die im Blick auf die ewige Jugend ihres Geistes den Verfall des Körpers lieber an der Frau beobachten. Alternde Frauen hingegen konkurrierten nicht um die Staatsmacht und nicht um kulturelle Kompetenz. Frauen haben in der Gesellschaft deshalb die Klage übers Altern übernommen. Sie ist der Basso continuo im Kampfgetöse, das die Männer aufführen. Die Pupille des Mannes ist der Spiegel, in dem die Frauen ihren Wert prüfen. Aus diesem Auge spricht kein Trost, und deshalb paßt das weibliche Reden über das Alter so gut in jene Resignation, in der sich die alten Männer im Laufe der Geschichte erst so spät erst üben.

Männer haben geredet, um bleiben zu können, was sie sind. Frauen beschwören nun, da sie zum Sprechen aufgerufen sind, ihr Altern als Metamorphose, als eine Verwandlung in der Abfolge der Generationen: Frauen verwandeln sich in jenes »ewig Weibliche«, das von Männern stets nur humoristisch gefeiert, tatsächlich aber tabuisiert wird: in die Mutter. Jenny Erpenbeck, erst dreiunddreißig Jahre alt, sträubt sich noch gegen diese Rückkehr zu den Müttern: »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher, sagen sie mir, und ich erschrecke. Ich weiß es selbst, mein Nacken ist ihr Nacken geworden, mein Schweiß ihr Schweiß, meine Brüste ihre Brüste. All das, was ich an ihr gehaßt habe, bin ich geworden. Ich hungere, ich will meine Mutter aus meinem Leib heraushungern [...] es hilft nichts, [...] Ich spreche wie sie, als hätte sie mich übergezogen, wäre in meine Haut geschlüpft und spräche aus mir.«

Die Mutter ersteht wieder in der Tochter, die Tochter geht in die soziale Abseitigkeit des Mütterlichen ein. Nicht immer wird diese Entrückung aus dem Blickfeld von Mann und Gesellschaft als ästhetische Abwertung erfahren. Für Monika Maron entsteht daraus eine glückliche Symbiose: Meine Mutter »tut mir leid, weil sie nun so ein altes Kinde haben muss. Aber irgendwie wohnt der Natur doch immer auch der Ausgleich inne. Meine Mutter sieht nicht mehr gut, was für sie natürlich eher unangenehm ist, ihr hoffentlich aber den Anblick ihres alten Kindes gnädig verschönt.« Der Spiegel, den das ästhetische Urteil der alternden Frau vorhält, ist im Auge der Mutter erblindet. Das alternde Kind kann das Alter vergessen, wenn die Mutter es anschaut und immer noch schön findet. Nicht ewige Jugend, sondern ewige Kindlichkeit ist der Trost der Frauen im Alter.

Heute findet das Tauziehen um die Gestaltung der letzten Lebensphase nicht  etwa zwischen den Greisen und den Jungen statt, sondern zwischen Männern und Frauen. Sie vertreten die zwei historischen Phasen des Diskurses: die Männer den alteuropäischen, der Altern als gesellschaftliche Situation behandelte, die Frauen den modernen, der es als persönliche, vor allem körperliche Erfahrung darstellt. Aktivität oder Sorge sind die Haltungen, die diesen historischen Positionen entsprechen.  Vom Fitneßprogramm bis zu den Busreisen, die die Alten durch die Welt führen, als seien sie junge Eroberer, reichen die Versuche der Männer, sich frisch zu zeigen wie eh und je und einen Terminkalender vorzuweisen, so voll wie ihre noch berufstätigen Kollegen. Vom Müsli und Rettichsaft bis zur Akupunktur reicht das Gesundheitsprogramm, mit dem die Frauen kundtun, daß sie um die Hinfälligkeit des Körpers wissen. Andererseits schließen sich Frauen, indem sie die Universitäten besuchen, an den Glauben der Männer von der ewigen Jugend des Geistes an.

Terminologie und Inhalt des Redens über das Alter sind verschwommen geworden. Nicht einmal der geschlechtsspezifische Unterschied bleibt in ihm gewahrt. Der Geront hatte einen jugendlichen Krieger als Kontrahenten, aber kein weibliches Pendant. Der Altersdiskurs von heute müßte, wenn überhaupt er noch über praktische Verhaltensregeln in Zeitschriften hinausginge, von dem/der SeniorIn sprechen.

SINN UND FORM 5/2001, S. 707-715