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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-06-5

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Leseprobe aus Heft 4/2012

Lewitscharoff, Sibylle

ICH VERSUS WIDER-ICH
Selbstvorstellung in der Akademie der Künste


Hundert Euro für den, der überzeugend darlegen kann, daß er haarscharf als die Person nachts die Augen schließt und sich in die Kissen wühlt, von der gemeinhin angenommen wird, er sei ebendiese Person und keine andere.

Was gemeinhin als eine bestimmte Person mit Namen, Lebensdaten, etcetera verstanden wird, ist natürlich das, was im Paß verzeichnet ist und in einem kurzgefaßten Lebenslauf stehen könnte, vor allem aber sind es die abertausend, vielleicht Millionen Blicke, die diese Person von anderen Personen empfangen hat, welche sie fortlaufend interpretiert, einige davon ignoriert, Blicke, die zu einem immerzu leicht in Veränderung begriffenen Etwas versammelt werden, seiner nicht recht habhaft werdend, aber auch nicht bloß aus Luft bestehend, ein etwas, das die betreffende Person vielleicht als ihr Ich bezeichnen würde. Was immer dieses Ich sein mag, in seinen wesentlichen Teilen setzt es sich aus den verwandelten Blicken anderer zusammen.

Kommen wir zum Ich. Kommen wir zu mir. Will heißen, zu meinem Ich und Wider-Ich, wobei sich letzteres nicht aus den Blicken anderer zusammensetzt, sondern aus Blicken, die von meinem Inneren auf es geworfen werden. Es sind nämlich mindestens zwei Ichs, und sie vertragen sich nicht unbedingt. Ein Tag-Ich und ein Nacht-Ich, oder, genauer gesagt: ein Sitzen-Stehen-Gehen-Ich und ein Bett-Ich.

Es wird viel behauptet. Darum muß ich jetzt deutlicher werden.

Es wird zum Beispiel behauptet, ich, dieses geheimnisvoll hochmögende Ich, das jetzt vor Sie hintritt, sei in Stuttgart-Degerloch geboren, habe einen Bulgaren zum Vater und eine Schwäbin zur Mutter. Ein bulgarischer Vater ist wahrlich kein Sechser im Lotto, und eine kleinbürgerliche schwäbische Mutter mit blonden Locken und dezentem Silberblick auch nicht.

Es stimmt ja auch vorne und hinten nicht. Ungefähr mit zehn, vielleicht schon früher, aber davon weiß ich nichts Genaues mehr, habe ich mein wahres Ich entdeckt und seine Möglichkeiten auf dem Kopfkissen fortentwickelt und ausgeformt, zuweilen geschah es auch indolent hingefläzt in der Schulbank.

Frei herausgesprochen: an einem so öden Ort wie Stuttgart-Degerloch konnte ich nicht geboren worden sein, von so erzgewöhnlichen Eltern konnte ich nicht herstammen. Definitiv nicht! Da hätte ich mich ja gleich an einem Nagel im Universum aufhängen können. Nein. Mein Vater, mein richtiger, nicht der mir angedichtete Pseudovater – Sie hören, wenn von meinem richtigen Vater die Rede ist, wird die Stimme gleich anders – mein richtiger Vater war ein Abkömmling des Hauses Rothschild, ein Komponist und Ethnologe, den es nach Amerika verschlagen hat, und der wiederum von seinem Vater verstoßen worden war, weil er sich mit einer Indianerin zusammengetan hat, nämlich meiner Mutter. Lachen Sie nicht. Die Apachen, wie Karl May sie gezeichnet hat, sind ein ehrenwertes Volk. Halten wir fest: jüdischer schwerreicher Bankiersohn aus Frankreich, der sein Erbe ausgeschlagen hat, Indianerin.

Ich kann Ihnen nun nicht in allen Einzelheiten schildern, wie es dazu kam, daß alle, auch mein drei Jahre jüngerer Bruder, auf höchst grausame Weise ums Leben kamen, und ich als einzige Zuschauerin und Zeugin übrigblieb. Schon höre ich die üblichen kleinlichen Einwände. Es wird behauptet, ich hätte einen großen Bruder, acht Jahre älter, was ich jetzt nicht bestätigen kann und will. In puncto Familienvernichtung bin ich radikal – gewesen und geblieben. Familien verdienen es, vernichtet zu werden. Nur diese eine, kopfkissenerzeugte, hatte es eben nicht verdient, und daher rührt der wissende Glanz in meinen Augen, die Unbeugsamkeit meines Charakters, die Strafbefehle, die er aussendet, die Strafen, die er mit eigener Hand ausführt.

Genannt sei dieses bedeutsame Ich mein Wider-Ich. Wobei – merkwürdig, es kommt mir erst jetzt in den Sinn – dieses Wider-Ich ohne Namen auskommen muß. Es heißt jedenfalls definitiv nicht Sibylle Lewitscharoff. Es heißt aber auch nicht sowieso-sowieso-Rothschild. Weil mein verstoßener Vater in der Fremde einen anderen Namen angenommen hat. Aber welchen?

Kopfzerbrechen hat mir schon öfter bereitet, daß bei meiner Wider-Familie, bei den werdenden Schritten meiner sich aus ihr entwickelnden Ichheit, die historischen Zeiten etwas durcheinandergeraten – sie reichen von den amerikanischen Indianerkämpfen im 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, sie reichen in die sechziger und knapp in die siebziger Jahre hinein, was bedauerlich ist, weil sonst doch alles wie an der Schnur, mit kleinen Ausbuchtungen zwar, aber überaus logisch und plausibel erzählt wird. Auf Logik, zumindest die Logik der Gefühle und der von ihnen angeregten Handlungen, legt mein Wider-Ich allerhöchsten Wert. Nun, diese kleinen historischen Unschärfen wird man eben hinnehmen müssen, weil man einer so hochmögenden Persönlichkeit verzeihen muß, daß sie wilder als übliche Personen die Zeiten durchstreift und in den Zeiten blüht.

[...]

 

SINN UND FORM 4/2012, S. 571-574, hier S. 571-572