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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-01-0

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Leseprobe aus Heft 5/2011

Aragon, Louis

Heinrich von Kleist


Am 21. November 1811 entdeckte das Hausmädchen beim Gasthaus »Zum Stimming«, etwa anderthalb Kilometer von Potsdam entfernt in Richtung Berlin, ein Paar, das sich in einem Wäldchen am Ufer des Wannsees den Kaffee hatte servieren lassen. Mann und Frau waren von Kugeln durchbohrt, aber lächelten. Es waren die Ehefrau des Schatzmeisters der Brandenburgischen Landesbrandversicherungsanstalt, Henriette Vogel, und ihr Gefährte, der vierunddreißigjährige Dichter, Dramatiker und Romancier Heinrich von Kleist.

Es handelte sich nicht um das Schlußkapitel einer unglücklichen Liebe. Zwischen beiden hatte sich kein Roman abgespielt. Der Doppelselbstmord war seit langem beschlossen, die Begründung für jeden eine andere: Sie litt an einer unheilbaren Krankheit; er verzweifelte an einem Leben, in dem literarische Mißerfolge, eine verfahrene materielle Situation und eine durch die frühromantische Werther-Mode verstärkte Neigung zur Melancholie vor dem Hintergrund der vaterländischen Misere zusammenwirkten.

Wann immer von Kleist die Rede ist, der Vorfall am Wannsee wird das Gesagte unweigerlich überschatten. So wie bei Nerval die Laterne immer präsent ist, an der er sich erhängt hat. Oder wie Chattertons Selbstmord selbst bei denen bekannt ist, die seine Verse nie gelesen haben. In Frankreich werden die patriotischen Ausfälle des Dichters gegen Napoleon und seine Armee den Fall zusätzlich belasten. Denn so sind wir nun mal: Wir können es nicht ertragen, daß man von Franzosen begangene Verbrechen auch Verbrechen nennt, und unsere Historiker, unsere Kritiker betrachten den deutschen Patriotismus als abscheulichen Nationalismus, zu jener Stunde, da unsere Vorfahren ein überfallenes Land tyrannisierten, wohingegen unser eigener aggressiver Nationalismus ihnen höchstens als natürliche Folge der natürlichen Gefühle erscheint, die Jeanne d'Arc oder die Soldaten des Jahres II der Republik beflügelten.

Dabei ist Heinrich von Kleist eine ziemlich singuläre Figur, ein bewunderungswürdiger und bemitleidenswerter Mensch, dessen unentschlossenes und widerspruchsvolles Leben aber keineswegs vorbildlich war. Er ist ein Spiegel seiner Zeit, und deren Widersprüche lassen sich an seiner Geschichte ablesen. Das Exzessive seiner Werke wird nur dann verständlich, wenn man sie in den historischen Rahmen einfügt, in dem sie entstanden sind. Man sollte die Schwankungen dieses Geistes, die Etappen seines Lebens stets vor der Kulisse jener dreißig Jahre verfolgen, die zu den leidvollsten, bewegtesten der Weltgeschichte zählen: zwischen dem alten Friedrich von Preußen und Napoleons Herrschaft über Europa, mit den von ferne lodernden Flammen der Französischen Revolution und dem Gepolter der einstürzenden Bastillen, zwischen Kant und Fichte, der philosophischen Entwicklung der deutschen Weltanschauung, der wissenschaftlichen Morgenröte des neunzehnten Jahrhunderts mit Lamarcks erstem Schlag gegen die Doktrin der Unwandelbarkeit der Arten, der französischen Invasion und dem Erwachen der Romantik.

Geboren wurde Heinrich von Kleist im Herbst 1777 in Frankfurt an der Oder, als Sohn eines brandenburgischen Offiziers, dessen adeliges Erbe unter sieben Kinder verstreut wird. Selbstverständlich ist er zum Soldatenleben bestimmt: 1792 tritt der Fünfzehnjährige unter Friedrich Wilhelm II. in die Armee ein. 1799 verläßt er sie nach sieben Dienstjahren. In dieser Zeit, in der er im Krieg gegen die Franzosen eingesetzt wird, zeigt Kleist wenig Begeisterung für den Militärstand. Unmittelbar nach der Schlacht bei Valmy schreibt er folgendes Gedicht:

Der Höhere Frieden

Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen,
Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf,
Menschen, die im Busen Herzen tragen,
Herzen, die der Gott der Liebe schuf:

Denk ich, können sie doch mir nichts rauben,
Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt,
Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben,
Der dem Hasse, wie dem Schrecken, wehrt.

Nicht des Ahorns dunkelm Schatten wehren,
Daß er mich, im Weizenfeld, erquickt,
Und das Lied der Nachtigall nicht stören,
Die den stillen Busen mir entzückt.

Selten wurde eine Prophezeiung vom Propheten selbst so widerlegt! Von ihm, der seiner Schwester Ulrike am 25. Februar 1795 schrieb: »Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können!« Doch auch der Frieden, der im April 1795 zwischen Friedrich Wilhelm II. und der Französischen Republik in Basel unterzeichnet wurde, machte das Militärleben nicht annehmbarer für den jungen Mann, der 1798 im Entwurf eines Briefs, in dem er den König um seinen Abschied bitten wollte, schrieb: »Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei.«

1799 verläßt er das Heer, erfüllt vom Wunsch zu studieren, von einer glühenden Leidenschaft für die Wissenschaft. Er vertritt eine Art Stoizismus, der dem Menschen sein Glück zum Ziel setzt, dieses Glück aber von der sittlichen Leistung des Individuums abhängig macht. Er läßt sich an der Universität in Frankfurt an der Oder immatrikulieren. Er ist Theist, löst sich aber von der gängigen Religion. Zu diesem Zeitpunkt erfolgt die Verlobung mit Minchen oder Minette, Wilhelmine von Zenge, die bis zum Frühjahr 1802 hält. Eine sonderbare Verlobung übrigens, eine sonderbare Liebe, ebenso abstrakt wie die Moral des Studenten, und eher ein Ausblick auf das Leben, das Kleist sich vorstellt, als ein Ereignis dieses Lebens.

Damals ist Kleist besessen von seiner Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Bildung, er lehnt es ab, eine Arbeit anzunehmen, sich auf einen Beruf zu beschränken. Und so erscheint ihm die Heirat mit Minette erst sehr viel später möglich, wenn er sich festgelegt, eine Stelle und die Mittel zur Gründung eines Hausstands hat. Zu diesem Zeitpunkt sieht sich unser der Armee entronnener Pazifist als »Weltbürger«. Nichts läßt den Nationalisten ahnen, der er vier Jahre später sein wird.

[...]

 

 

SINN UND FORM 5/2011, S. 689-697