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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-01-0

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Leseprobe aus Heft 5/2011

Kurzeck, Peter

»Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren«. Gespräch mit Ralph Schock


RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?

PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.

SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?

KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor »Übers Eis«, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: »Kein Frühling« zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und »Keiner stirbt« im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.

SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.

KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich »Kein Frühling« fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.

SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des »Oktober"-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.

KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.

SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim »Vermessen der Zeit« ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?

KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.

[...]

 

SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633