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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 4/2008

Zagajewski, Adam

Fragmente eines nicht existierenden Tagebuchs


Alles werde ich euch sowieso nicht erzählen. Schließlich komme ich aus der osteuropäischen Schule der Diskretion; wir sprechen nicht über Scheidungen und behalten unsere Depressionen für uns. Es passiert ja auch nichts. Das Leben fließt ruhig dahin, ringsum, vor dem Fenster, ein grauer, ungewöhnlich warmer Dezember. Ein paar Konzerte. Im Anwaltsklub in der Sławkowska-Straße gastierte eine ausgezeichnete junge Sängerin. Gestern dann ein sehr schönes Konzert mit Musik von Schostakowitsch (und dem ihm gewidmeten Streichquartett seines Biographen Krzysztof Meyer, »Au delà d'une absence«) - darunter die »Sieben Romanzen nach Worten von A. Blok für Sopran, Violine, Violoncello und Klavier« op. 127, die ich noch nicht kannte. Es spielten Studenten der Musikakademie, voller Enthusiasmus und technisch brillant. Das letzte Werk, eben diese Suite, hat M. und mich ungeheuer beeindruckt. Weil es ein Konzert zum hundertsten Geburtstag von Schostakowitsch war, herrschte eine besondere Atmosphäre. Die Studenten hatten Kerzen angezündet und nur wenige Spots eingeschaltet. Zudem spielten sie offensichtlich außergewöhnlich konzentriert. Das erlebt man oft bei sehr jungen, noch nicht durch Routine und Karriere verdorbenen Musikern, die begeistert, mit Leib und Seele bei der Sache sind.

Ein Gefühl der Freude fast jedes Mal, wenn ich auf dem Krakauer Markt stehe. Zu welcher Jahres- oder Tageszeit auch immer, ich bewundere die Majestät dieses Ortes, die seltsame kubistische Anordnung von Gebäuden, das Miteinander von Symmetrie und Asymmetrie, wie sich die italienische Leichtigkeit der Tuchhallen mit dem gotischen Ernst der Marienkirche verbindet, als seien es gigantische Bauklötze.

Eine Pressemeldung: Die Warschauer Nationalbibliothek hat mit staatlicher Hilfe für eine Million Dollar das Archiv Zbigniew Herberts erworben. Was in den USA eine Sache von Verhandlungen zwischen Bibliothek und Autor (oder seinen Erben) ist, war hier zunächst Gegenstand einer unerfreulichen öffentlichen Polemik - zuerst hatte sich die Beinecke Library in New York um Herberts Nachlaß bemüht, doch dann schlug eine Gruppe rechter Literaten Alarm und protestierte, wie mir schien nicht ganz aufrichtig, gegen »die Veräußerung des Erbes eines unserer großen Dichter an Ausländer«, bis sich letztlich die Rechtsregierung zum Erwerb bereit fand. Zbigniew Herbert, der freie Mensch und bedeutende Dichter, wurde zum Objekt eines politischen Gezänks.

In »Poetry« lese ich Michael Hofmann über Gottfried Benn. Zur gleichen Zeit veröffentlicht die Warschauer »Literatura na Świecie« eine umfangreiche Auswahl aus Benns Gedichten, Briefen und Skizzen - in einer dicken, ihm und Brecht gewidmeten Nummer. Beide starben 1956 und das eherne Gesetz der Jubiläen vereint sie fünfzig Jahre nach ihrem Tod - zwei Dichter, die davon abgesehen nichts miteinander verband. Benn spottete schon früh über die Anwendung der marxistischen Theorie auf die Literatur; mit dieser Haltung stand er im linken literarischen Berlin der Jahre vor Hitlers Machtergreifung allein auf weiter Flur, ein unbeugsamer Ästhet unter dogmatischen Menschheitsverbesserern ... Ab und an greife ich zu Benns Gedichten und fast immer elektrisieren sie mich ("Jena vor uns im lieblichen Tale ...«), genauso wie Passagen aus seinen Skizzen und fast alle Briefe an den Bremer Kaufmann Oelze. Diese Briefe sind ungeniert, mitunter etwas zynisch, manchmal blitzt ein Moment reiner Poesie auf. Benn, ein Kleinbürger durch und durch, der bescheiden wie ein Handwerker lebte (obgleich er Arzt war, Dermatologe, aber kein Modearzt, auch verdiente er nie viel), schätzte Oelze - den er idealisierte, verklärte und dessen gesellschaftliche Stellung er gewiß überbewertete - als Adressaten seiner Gedanken, Provokationen, Beobachtungen und Projekte.

Ich lese Karl Corinos dicke Musil-Biographie. Robert Musil, der Autor der »Verwirrungen des Zöglings Törless« und des »Mannes ohne Eigenschaften«, hielt zum Tode Rilkes eine wunderbare Rede - er war einer der ersten, die seine Größe erkannten. Corino schildert Musils tragikomischen Auftritt auf dem Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935. Er wußte nicht, daß es eine kommunistische Veranstaltung war und deshalb dort nur das Hitler-Regime, nicht aber die Sowjetunion kritisiert werden durfte. Musil verteidigte den Individualismus des Künstlers und warnte vor dem in einigen europäischen Ländern aufkommenden Kollektivismus. Er beharrte darauf, daß Kultur und Politik getrennte Bereiche seien; die Kultur sei ihrem Wesen nach hochempfindlich, unstet und unvorhersehbar, und selbst ein anständiges politisches System bringe nicht automatisch große Kunst hervor. Er wurde von jenen Teilnehmern ausgepfiffen, die keine durchdachte, ausgewogene Argumentation, sondern Propaganda erwartet hatten. Corino erwähnt auch die Armut, in der Musil lebte, und daß er in den dreißiger Jahren, als er für sich und seine Frau keine wirtschaftliche Perspektive sah, sogar an Selbstmord dachte. Musil wurde von Nazis und Kommunisten gleichermaßen attackiert - schon der Titel seines großen Romans, »Der Mann ohne Eigenschaften«, mußte sie gegen ihn aufbringen. Beide wollten schließlich einen neuen Menschentyp mit genau bestimmten Eigenschaften schaffen. Für die einen wie für die anderen war er ein Repräsentant der »untergehenden bürgerlichen Epoche«. (Man bedenke, daß diese Epoche keineswegs untergegangen ist - oder vielleicht untergegangen und wiederauferstanden.) Musil verbrachte seine letzten Jahre im Schweizer Exil, wo er noch bescheidener lebte als zuvor, in Armut und Isolation. Eine wichtige Figur war für ihn Thomas Mann, für den er eine, um es mit einem sehr deutschen Wort zu sagen, Haßliebe empfand. Mann hatte immer Erfolg, sogar das Exil war für ihn kein Unglück. Bekannte Musils berichten, daß er, sobald im Gespräch der Name »Mann« fiel, nervös zu zittern begann. Musil hat den »Zauberberg« perfekt charakterisiert: ein »Haifischmagen«. Damit meinte er, daß dieser große Roman unverdaute Stücke europäischer Denksysteme, Anschauungen etc. enthalte. Sein »Mann ohne Eigenschaften« basiert auf einem ganz anderen Prinzip: Hier sind alle Bezüge auf die politische und philosophische Realität mittelbar und mystisch, sie erscheinen als Anspielungen. Musil interessierte der »Möglichkeitsinn«, also das, was sich nur im Konjunktiv ereignet. Die Frage ist aber, ob - in diesem Punkt - nicht doch Mann recht hatte, der in den »Zauberberg« große Bruchstücke der geistigen Wirklichkeit Europas hineinrührte.
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Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

SINN UND FORM 4/2008, S.437-447, hier S. 437-439