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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 2/2008

Schuster, Gerhard

Harry Graf Kessler - eine »blosse Person»? Zur Geschichte seines Nachlasses


Es war der freundliche Wunsch der Canitzgesellschaft Berlin, zum Auftakt ihres Seminars über Harry Graf Kessler jemanden zu hören, der sich früh und lange mit diesem Thema beschäftigt hat, um so etwas Authentisches über die Wiederentdeckung dieses Autors in den letzten drei Jahrzehnten zu erfahren. Was ich Ihnen bieten kann, sind Details über eigene Unternehmungen und Erlebnisse, die mit der Erforschung der Figur und des Werkes zu tun haben. Sie führen aber vielleicht auch auf Grundtatsachen jeder biographischen Recherche.
Kessler gehört nicht zu denjenigen Figuren der Zeitgeschichte, die nach 1945 vollkommen verschwunden waren und erst mühevoll ins öffentliche Bewußtsein zurückgeholt hätten werden müssen. Freilich, die sogenannte Wissenschaft, zumal an deutschen Universitäten, hat sich kaum um ihn gekümmert. Aber es gab eine aktive Erinnerung auf Grund von Publikationen, die ihn als Schriftsteller im besten Sinne greifbar machten - seine „Notizen über Mexico« (1898), die Memoiren „Gesichter und Zeiten« (1935) und vor allem das Rathenau-Buch (1928). Besucher des „Rosenkavaliers« stießen auf die seltsame Widmung im Textbuch, wonach Hofmannsthals Komödie für Musik der „Mitarbeit« Kesslers „so viel verdankt«. Und nicht zuletzt gab es die Produktion der Weimarer Cranachpresse aus zwanzig Arbeitsjahren: Homers „Odyssee«, Vergils „Eclogen«, Shakespeares „Hamlet« und viele kostbare kleine Drucke. Wer die Spezies internationaler Sammler kennt, der weiß, daß sie das intensivste Gedächtnis haben. Je rarer ein Gegenstand, desto genauer beachten sie ihn, geben sorgsam weiter und lassen nichts untergehen. Schon gar nicht in Magazinen oder Depots.
Dennoch blieb der Umriß Kesslers seltsam verschwommen. Das lag auch daran, daß ein quasi berufsloser Mensch - nicht nur Schriftsteller und nie so recht Diplomat, nicht bloßer Dandy, aber auch politisch von unklarer Linie - sich in die Erinnerungsmuster der Nachkriegszeit kaum fügen wollte. In der Konsolidierungsphase der Bundesrepublik waren solche Profile als „Helden nach rückwärts« nicht zu gebrauchen. Denn während Thomas Manns Tagebücher nach innen weisen, den Schlüssel für das entstehende Romanwerk und die Selbstpeinigung ihres Verfassers liefern, verbergen Kesslers Tagebücher einen personalen Hohlraum. Man erfährt vieles, vielleicht zu vieles, und das in einem kaleidoskopischen Durcheinander. Aber wer schreibt da eigentlich?
Erstmals hat ihn Albert Vigoleis Thelen in seinem Romanbericht „Die Insel des zweiten Gesichts« (1953) lebensvoll porträtiert. Die Epochenkenner und die Bibliophilen, die Hofmannsthal-Spezialisten und die Rathenau-Forscher haben dann nicht mehr abgelassen von dieser Gestalt. Es ist der Initiative des Verlegers Rudolf Hirsch (1905-1994) zu danken - seinerzeit Leiter des Insel-Verlags, mit dessen Geschichte Kessler seit seiner Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker (1905) verbunden ist -, daß man nach dem Verbleib des Nachlasses fragte. Das führte zu langwierigen Verhandlungen mit der Familie, speziell mit Kesslers 1877 geborener Schwester Wilhelma („Wilma«) und ihrem Sohn Jacques, der in Paris als bankrottierender Besitzer der Éditions de Cluny lebte, einem (vom Onkel mitfinanzierten) Vorläufer der Éditions de la Pléiade bei Gallimard. Achtzigjährig ist Jacques de Michel-Duroc Marquis de Brion am 15. März 1988 verstorben, und wie ihn habe ich mir immer Fontanes Herrn von Stechlin vorgestellt, falls er in den Reichstag gewählt worden wäre: ein bei Begegnungen, in Briefen und Telefonaten bis in seine letzten Lebenstage höchst erinnerungslustiger und zugleich ganz gegenwartshungriger Mensch.
Fritz Arnold (1916-1999), später Lektor bei Hanser und ein inspirierter Vermittler zwischen deutscher und französischer Literatur (sein Vater war der Karikaturist Karl Arnold, der Schöpfer des „Steuermännleins«), hat gern erzählt, wie er Ende der fünfziger Jahre mit Wilma und Jacques de Brion unter den Arkaden des Palais Royal wegen der Tagebücher Kesslers verhandelte - oder vielmehr darum feilschte. Ein Gebirge von Austern, zu denen nur ein bestimmter Chablis möglich war, türmte sich, wurde abgetragen und wieder aufgetürmt. Der Eiweißschock Arnolds, der als gebürtiger Münchner Austern nicht besonders mochte, war ebenso groß wie die Rechnung, über deren Empfänger bei Mutter und Sohn kein Zweifel bestand. Der Verhandlungserfolg war kostspielig, aber von bleibendem Wert - auch wenn es nicht um mehr ging als um die Einwilligung von Rechteinhabern in eine künftige Publikation.
Denn was man erhielt, waren nicht etwa die Tagebücher Kesslers als publikable Manuskriptenmasse, sondern das, was die Schwester Wilma davon noch „auffinden« konnte. Bei jedem philologisch Arbeitenden ruft eine solche Auskunft Gänsehaut hervor. Wolfgang Pfeiffer-Belli (1900-1980), den Rudolf Hirsch mit der Herausgabe betraute, hat bei den nachgeborenen Kessler-Experten keinen guten Ruf. Willkürliche Textauswahl wirft man ihm vor, Eingriffe, Lesefehler und sogar Kürzungen - all das ist selbstverständlich ganz unerlaubt und ganz unzünftig. Aber was für Arbeitsbedingungen! Der Ärmste wurde im Nachgang zur spektakulären Austernmahlzeit mehrfach nach Ascona bestellt, wo er in einer Pension zu hausen hatte, und von dort ins Chalet der Baronin Dora von Bodenhausen zitiert, jeweils spätnachmittags zur Teezeit. Die Witwe von Kesslers 1918 verstorbenem Freund Eberhard von Bodenhausen war Wilma de Brions beste Freundin - bei aller postumen Diskretion, die uns auferlegt ist, muß erwähnt werden, daß sie schon Hofmannsthal auf die Nerven ging und sogar der hartschalige Rudolf Borchardt der „Faslerin« am liebsten auswich. Die Damen durchblätterten die Tagebücher im Hinblick auf ihre Publikation und wahrscheinlich auch in der steten Angst, auf Peinlichkeiten zu stoßen (dabei sind Intimitäten so lautstark überschwiegen, daß man sich wundert, warum das für Thomas Mann unmöglich gewesen sein soll). Dieses Duo infernale übermittelte dem Herausgeber einzelne Hefte, aber nicht etwa in chronologischer Reihenfolge, sondern so wie sie aus der Kommodenschublade kamen. Pfeiffer-Belli, den das Umfangslimit des Verlags ebenso bedrängte wie der Abgabetermin, exzerpierte und notierte, ohne jemals das Ganze in Ruhe zu überblicken, und hatte sich obendrein knapper Zeitvorgaben zu unterwerfen; denn schließlich störte dieser deutsche Gast. So kam es, daß in der einbändigen Edition von 1961, die später mehrere, auch verbesserte Auflagen erfuhr, ganze Kalenderjahre zwischen 1918 und 1937 mit großen Lücken oder überhaupt nicht vertreten sind; das Jahr 1924 fängt gar erst mit dem Monat November an. Trotzdem hat Pfeiffer-Bellis Ausgabe den Ruhm Harry Graf Kesslers als eines singulär aufmerksamen Zeitzeugen begründet. Das sollte uns zur Ehrenrettung dieses Herausgebers genügen.
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SINN UND FORM 2/2008, S. 278-280