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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 1/2008

McCormick, John

Eine andere Musik


Diejenigen, die in relativ wohlhabenden westlichen Gesellschaften leben, vor allem aber wir Amerikaner, neigen dazu, sich zu ihren Ansichten über Gott, die Moral und die Wirtschaft zu beglückwünschen - eine Haltung, die es erlaubt, die weniger »Fortgeschrittenen« darüber zu belehren, wie sie ihr bedauernswertes Los verbessern könnten. Folglich sind wir die Herren der Wirklichkeit. Und wir haben die Bankkonten, die das belegen. Eine Schwachstelle in dieser Logik wird jedoch ausgespart, wenn es um das Problem des Alters geht. Wir mögen dem Alter mit seiner Häßlichkeit und seinem Todesgeruch nicht ins Auge sehen. Wie Simone de Beauvoir in ihrem Essay »Das Alter« (1970) schreibt: »Amerika hat das Wort Tote aus seinem Vokabular gestrichen: man spricht von lieben Dahingegangenen; ebenso vermeidet man jeden Hinweis auf hohes Alter.« Die Presse und andere Medien versichern uns, was in der Geburtsurkunde stehe, sei nicht wichtig, wir seien so jung, wie wir uns fühlen. Wenn wir im Spiegel nicht so jung aussehen, wie wir uns fühlen, können wir uns mit Nasenkorrekturen, Fettabsaugen, Magenresektionen, Brustvergrößerungen, Lidoperationen, Haarersatz, Haarfärben und anderen pharmazeutischen und chirurgischen Eingriffen helfen - alles Maßnahmen der Massenhypnose, um der Natur zu trotzen. Aber der Natur kann man nicht trotzen. Es kommt eine Zeit, wo das Alter nicht mehr zu leugnen ist, wo Eltern und Großeltern so unübersehbar alt und vielleicht hinfällig, oft verwirrt oder einfach demenzkrank sind, daß ihre verzweifelten, aber begüterten Nachkommen für sie »Heime« oder Spezialkrankenhäuser suchen, damit sie ihren unsterblichen Kindern ja nicht zu Gesicht kommen. Für die Armen bedeutet Alter häufig einsames Dahinvegetieren in einem einzigen Zimmer und, öfter als wir es wahrhaben wollen, Tod in Kälteperioden oder ungewöhnlich heißen Sommern.
Das Alter kann heutzutage Verbesserungen in der Medizin und im Gesundheitswesen vorweisen, einschließlich Kampagnen gegen Rauchen oder übermäßiges Essen und Trinken, mit dem Ergebnis, daß unzählige Menschen hundert Jahre und älter werden. Früher gratulierte die Queen den hundertjährigen Jubilaren mit einem Handschreiben; jetzt sind ihrer so viele, daß sie nur noch einen gedruckten Standardbrief schickt. Nach einer unbestätigten Statistik gibt es 40000 über hundertjährige Japaner. Die Tatsache, daß viele Menschen sehr alt werden, scheint den Amerikanern noch nicht ins Bewußtsein gedrungen zu sein. (Und bis vor kurzem wurden betagte Japaner, die in abgelegenen Dörfern lebten, auf einen Berg geschickt, um dort zu sterben - oder sie gingen freiwillig dorthin.) Ganze Gesellschaften begreifen erst jetzt, daß die Folgen der Langlebigkeit gar nicht abzusehen sind. Auf Grund des technischen Fortschritts braucht man weniger Kinder als früher, aber diese gesünderen wenigen müssen die Sozialkosten für eine riesige, in die Jahre gekommene Bevölkerung zahlen. Das Alter ist weltweit zu einem politischen Problem geworden.
In den Vereinigten Staaten wurden die heute über Vierzigjährigen aller Klassen dazu erzogen, das biblische Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren« zu befolgen, was sie im allgemeinen auch taten, wenn nicht Scheidung, Trunksucht oder Schulden dazwischenkamen. Kinder und auch etliche Jugendliche konnten akzeptieren (worin eine humanistische Erziehung sie bestärkte), daß Alter und Erfahrung eine Form von Weisheit darstellten, die man, außer bei Rebellen, in der ganzen Bevölkerung verbreiten müsse. Wir wissen, daß ebenso wie in alten Stammesgesellschaften und einigen modernen Stämmen Alter auch für die alten Griechen Herrschaft und Weisheit bedeutete. In »Der Staat« spricht Platon vom Anspruch der Älteren, »daß sie zu befehlen haben, die Jüngeren aber zu gehorchen haben«. Aristoteles hat gewiß Zweifel an der Weisheit der Alten, ebenso Aischylos in »Agamemnon«: »Und der Alternde schleicht, wenn herbstlich bereits / Hinwelkte das Laub, dreifüßigen Pfad, / Und an Schwäche dem Kind gleich, irrt er einher, / Wie ein tagaufsteigendes Traumbild.
Als selbst öffentliche Schulen noch Latein im Lehrplan hatten und manche sogar als Pflichtfach, quälten wir uns mit Cicero, der Hauptquelle für die Kunde vom Alter in »De Senectute«. Cicero, der 44 n.Chr. zweiundsechzig Jahre alt war, wählte ebenso wie Cato der Ältere die Dialogform für seine Gedanken über das Alter, die allesamt weder originell sind noch solches vorgeben. Das Alter entbindet von physischen Pflichten und Vergnügungen, besonders von sexuellen. Hier finden wir die klassische Verbannung der Frau in die inneren Gemächer und die Beschränkung auf die Betreuung der Kinder; ein notwendiges Übel, bestätigen die Griechen, die die Homosexualität respektierten, aber physische Liebe zwischen Frauen für eine Form von Irrsinn hielten. Die Römer nannten dieses Unglück passio, was physische und seelische Qual und Leiden bedeutet. Das Alter, heißt es bei Cato, entbehre »der Schmausereien, der reichlich besetzten Tafeln und des wiederholt gefüllten Bechers«. Doch es entbehre »auch der Trunkenheit, der Unverdaulichkeit und schweren Träume«. Es zieht uns von der Tätigkeit ab, es entkräftet den Körper; es beraubt uns fast aller Freuden und es ist dem Tod nicht mehr fern. Der Tod ist etwas Natürliches, da jede Lebensspanne von der Natur gestaltet wird. Das Alter erzwingt Geisteskraft und gesunde Sinne, Eigenschaften, die es uns ermöglichen, von anderen unabhängig zu sein. Reichtum hilft den Alten, ein anständiges aufgeklärtes Leben zu führen mit dem Wissen, daß der Tod zu jeder Stunde eintreten kann. Über die Armen verliert Cicero kein Wort. Seine Forderung, geistig regsam zu sein, sowie andere Äußerungen erscheinen im Jahr 2007 nach Christus richtig und lebenswert, doch indem er erklärt, daß gerade die Alten über »Verstand, Einsicht und klugen Rat« verfügen, zollt er lediglich überkommener »Weisheit« Tribut, während er dem zutage liegenden gesunden Menschenverstand Gewalt antut. Zu Ciceros Zeit konnten die Alten die Jungen möglicherweise etwas lehren; heute kann man Kindern und Jugendlichen höchstens noch Fakten vermitteln, niemals aber eine universelle moralische Erfahrung. Das ist die Aufgabe der Kunst oder, selten, der Religion. Wo die Alten Katastrophen befürchten, sehen die Jungen Abenteuer und fröhliches Wagnis. Offensichtlich ist das ein Maß der Entfernung zwischen den hierarchischen Sklavenhaltergesellschaften und unseren offiziell egalitären Industriegesellschaften.
Spontaneität und Freude am Unbekannten sind typisch für junge Menschen. Das hohlwangige Alter zaudert und ist vorsichtig, denn jeden Augenblick kann eine Katastrophe hereinbrechen. Erfahrung bremst die Neigung, aufs Ganze zu gehen, das Unbekannte zu wagen. Wer einem religiösen Glauben mit seiner Verheißung ewigen Lebens anzuhängen vermag, wird relativ glatt ins Alter hinübergleiten. Für Skeptiker jedoch kann das Alter ein harscher Abstieg in den Zynismus sein, verbunden mit übermäßigem Interesse an Nachrufen. Na, ich hab‹ ihn überlebt, egal ob ich ihn kannte oder nicht, sagt der Zyniker. Für den Nichtzyniker bedeutet vorgerücktes Alter eher eine spürbare Zunahme im Sinne von lacrimae rerum, ein tiefes Bewußtsein unserer Unfähigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen, wenn wir sie zu interpretieren versuchen, und mit Außenpolitik und Religion in Frieden zu leben. Verbittert sehen wir vielleicht, wie unsere Kinder unsere Irrtümer und Fehlentscheidungen wiederholen. Ciceros Einlassungen über das Alter mögen im Lichte heutiger Realitäten überheblich und nutzlos erscheinen. Schauen wir also, ob in der späteren Literatur wirkliche - im Gegensatz zur behaupteten - Weisheit zu finden ist.
Jonathan Swift war vor dem saeve indignatio seiner Altersverwirrung der unprätentiöseste und vernünftigste Mensch, den man sich vorstellen kann. 1706, mit dreiundvierzig Jahren, schrieb er folgende Notizen als Leitfaden für sich selber - sie wurden 1745 in seinem Nachlaß gefunden:

 

Keine junge Frau heiraten.
Nicht mit jungen Leuten verkehren, es sei denn sie wünschen es.
Nicht launisch oder mürrisch oder argwöhnisch sein.
Nicht über die jeweiligen Sitten oder Witze oder Moden oder Menschen oder Kriege spotten etc.
Kinder nicht zu gern haben oder zu nahe an sich heranlassen (von fremder Hand gestrichen).
Nicht denselben Leuten immer wieder dieselbe Geschichte erzählen.
Nach nichts Begierde tragen.
Auf Anstand und Sauberkeit achten, um nicht unangenehm aufzufallen.
Mit jungen Leuten nicht zu streng sein, sondern ihren jugendlichen Torheiten und Schwächen mit Nachsicht begegnen.
Sich nicht beeinflussen lassen oder dem Klatsch über Dienstboten oder andere Gehör schenken.
Nicht zu oft Ratschläge erteilen und nur diejenigen beunruhigen, die es wünschen.
Ein paar gute Freunde anflehen, mir zu sagen, welche dieser Regeln ich nicht befolge oder mißachte und in welcher Weise, und mich entsprechend bessern.
Nicht zuviel reden, auch nicht über mich selbst.
Mich nicht meiner einstigen Schönheit oder Kraft oder meiner Erfolge bei Frauen rühmen etc.
Nicht auf Schmeicheleien hören oder mir einbilden, eine junge Frau könnte sich in mich verlieben.
Nicht selbstherrlich oder starrsinnig sein.
Nicht alle diese Regeln befolgen wollen, damit ich nicht keine davon befolge.

 

Drei Jahre später, mit sechsundvierzig, notierte Swift einen weiteren Gedanken: »Das spätere Leben eines weisen Mannes geht damit hin, daß er die Torheiten, Vorurteile und falschen Ansichten ablegt, die er sich im früheren Leben angeeignet hat.« Er will damit sagen, daß die Alten weise sein können - wahrscheinlich die einzige zweifelhafte These, die seinen höchst gesunden Menschenverstand beeinträchtigt hat. In unserer Zeit beharren die Alten für gewöhnlich auf ihren »Torheiten, Vorurteilen und falschen Ansichten«.
[...]
Aus dem Englischen von Elga Abramowitz

 

SINN UND FORM 1/2008, S. 66-69