Printausgabe vergriffen
Leseprobe aus Heft 4/2007
Demus, Klaus
Ansichten der Natur. Gedichte
NACHTFLUG über dem großen
transatlantischen Kontinent:
droben der Ewigkeitswelt
bilderdurchstirnter Lichterraum
finstrer Unendlichkeit,
drunten der fließende
illuminierte Schwarzteppich,
archipelgleich organisiert
mit Korallenstöcken,
funkelnd im Ornament:
der Bauriß des Alls
über dem flüchtigsten
Planen Mensch – abgründig
kontrastieren die Hälften,
droben, drunten, der Nacht
in ihren Lichtern.
AUCH allen Gipfeln
wird es jetzt Abend –
die Täler drunten sind
längst in Schatten verloren;
aber hier droben
verläßt das Licht die Erde
nur wie das Kräfte-Abnehmen
das Leben: Alter; das
Ausdruck gewinnt seines
neuen Erfahrens, des
endlich-unendlichen Daseins
als Teil von Welt.
Die einsamer dunkelnden,
schärferen Formen
reißen die Einzelgestalt ab
vor entgoldeter Helle –
sie bleiben die dieser Zeit
gesetzten Türme der Erde;
und nur ein Tag hat sich
an ihnen verschwendet.
NACHTRIESELNS feinste Lichtsignale
im August: die Böden zittern.
Fern gehn Regenstürme nieder,
Quellen speisen die Torrenten,
Aufruhr brüllt durchs Dunkel.
Stadtgezähmte Wassernacht
– den ersten Schwall vergurgelt –
netzt bloß Hitze, läßt das Wort,
das Himmel zu der Erde spricht,
nur als Gelispel zu. Natur-
Geschick dringt kaum mehr in die Stadt.
Dennoch: der zugeteilte Rest
enthält in der Erscheinung alle
unsichtbare Wirklichkeit, den
Weltprozeß – der kleinsten
Wasserlachen Spiegelblitz
empfangner Witterung von droben
ist das Seinsereignis selbst:
nichts Größeres kann irgendwo
geschehn. Der Erde Regennacht,
wohl Sondergut der Weltphysik,
enthüllt dem Schaun fast letzten Grund.
EISBERGE im Mondlicht,
und die Fregatte, winzigklein,
auf Nordmeerpfaden –
hohe Entdeckerzeit spürt
die weißgebliebenen Stellen
auf in der Erde Bild:
Erkenntnis und Abenteuer
Ansichten der Natur
beseelen poetisch den Drang,
dem Wunderbaren der Welt
real zu begegnen. Wir sehen
die Nußschale einsam segeln
im Lichttraum der Polarnacht,
hoch überragt von phantastischen
Bergen aus Eis und zwischen
Trümmern besäten Meers;
und schaudern, nicht ohne Neid,
vor der Kühnheit und Einsamkeit.
WENN überm Weltmeer der Mond steht –
selige Breiten sind wach
in Stille, und schaumaufgerüstet,
niedergestrahlt durch ein Himmelsloch,
meilenweit Zauberei –
es greift aus dem Raum auf die Erde,
das niemand sieht, ein Erglänzen
nächtlich noch sonneher –
abseitig Schiffender Fahrt
mag sich darin bewegen:
unvorstellbar bleibt dennoch,
ungesehn, unbezeugt,
was auf der Weltsee der Mond
lichtberührend hervorruft.
AUF, auseinander, in weißen
duftigen Ballen geht, in der
Himmelsfeier der längsten Nacht,
die blendende, locker-gewölkige
Schar, und aus den Löchern,
abgründig, wie Wasserstellen
im Eis, schaut Weltraums
Urblau: am Punkt, da Erde
zur Sonne die Bahn umlenkt,
bricht erstmals aus Nebelgefängnissen Nacht sich die
Öffnung ins All – aller Rauhnächte
Wunderbarkeiten, finster noch,
bereiten sich schon vor der Tür.
SINN UND FORM 4/2007, S. 464-467, hier S. 464-466