Timm, Uwe
geb. 1940 in Hamburg, Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste, lebt in Berlin und München. 2023 erschien »Alle meine Geister«. (Stand 2/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2025 | Das Schreiben ist eine Gegenwelt. Ein Gespräch mit Jörg Magenau über die Literatur als Abschweifung und Überfluß
- 2/2025 | Günter Herburger oder Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
JÖRG MAGENAU: Ein Schriftsteller schreibt Buch um Buch, und eines Tages blickt er auf ein Werk zurück, auf etwas Ganzes, das aus den einzelnen (...)
LeseprobeTimm, Uwe
Das Schreiben ist eine Gegenwelt.
Ein Gespräch mit Jörg Magenau über die Literatur als Abschweifung und Überfluß
JÖRG MAGENAU: Ein Schriftsteller schreibt Buch um Buch, und eines Tages blickt er auf ein Werk zurück, auf etwas Ganzes, das aus den einzelnen Titeln gewachsen ist. Kannst du dich an den Moment erinnern, als du zum ersten Mal bemerkt hast, nicht nur ein paar Bücher geschrieben zu haben, sondern ein Werk?
UWE TIMM: Ab wann hat man ein Werk? Wahrscheinlich kann man das selbst am wenigsten sagen. Ich wurde damit zum ersten Mal konfrontiert, als Dieter Wellershoff – der damals auch als Lektor für Kiepenheuer & Witsch arbeitete – zu mir sagte: Dein Werk muß doch gepflegt werden! Natürlich hatte ich den Begriff als Abstraktum vom Studium her im Kopf. Aber ich habe das nicht unmittelbar auf meine Bücher bezogen.
MAGENAU: Hat dich das erschreckt oder stolz gemacht?
TIMM: Eher war ich erstaunt, so plötzlich mit einem Werk konfrontiert zu sein. Die Bücher haben sich aus dem Leben heraus entwickelt. Man schreibt sie mit äußerster Kraft und Genauigkeit – und mit dem Vorsatz, daß sie dann fertig sind, wenn man sagen kann: Besser geht es nicht. Ich schließe keine Verträge ab, die mich unter Druck setzen. Ich gebe die Manuskripte ab, wenn sie fertig sind, und dann höre ich mir an, was die Lektoren oder Verleger sagen. Wenn sie mich überzeugen, ändere ich. Das ist der Arbeitsprozeß, in dem ich mich sehe. Und dann sind plötzlich viele Bücher da, Romane, Essays, Kinderbücher, und auf einmal werde ich auf der Straße gegrüßt. In Berlin passiert es mir oft, daß Leserinnen oder Leser mich auf der Straße ansprechen. Das ist merkwürdig, aber auch ein gutes Gefühl. Es zeigt doch, daß man nicht ins Leere schreibt.
MAGENAU: Das Werk entsteht aus dem Leben heraus, sagst du. Werk und Leben sind zwei Begriffe, die immer aufeinander bezogen werden, als ob sich das Leben eines Schriftstellers in seinem Werk verdinglichen würde. Deine Bücher haben viel mit Erlebtem zu tun, vom Studentendasein in der 68er-Epoche in »Heißer Sommer« bis zur Familiengeschichte, der Nachkriegszeit und dem Kürschner-Handwerk, wie es in dem jüngsten, autobiographischen Buch »Alle meine Geister« geschildert wird. Und dann steht das alles plötzlich neben dir als »Werk«, als etwas, das sich von dir abgelöst hat. Wie schaust du dann auf dieses Persönlich-Fremde?
TIMM: Ich habe nicht die Angewohnheit, diese Bücher wieder zu lesen. Mit wenigen Ausnahmen. Als »Heißer Sommer« in neuer Rechtschreibung wiederaufgelegt wurde, habe ich den ganzen Roman noch mal gelesen. Das liegt jetzt auch schon etwa zwanzig Jahre zurück. Das war ein Wiedererkennen. Nicht so sehr dessen, was ich damals erlebt habe, aber ich merkte, an welchen Stellen ich lange gesessen hatte, wo es Probleme gab und wo ich damals wie auf Erbsen herumgelaufen bin, um Lösungen zu finden. Es ist ein Wiedererkennen der Struktur in bestimmten Kapiteln. Schließlich hatte ich aber das Gefühl, es ist eigentlich ganz okay so, ich habe nichts zu revidieren und bin bei allen erkennbaren Schwierigkeiten zufrieden, daß es so geworden ist, wie es ist.
MAGENAU: Ist das auch eine Wiederbegegnung mit sich selbst in früherer Gestalt und mit den Empfindungen und Haltungen, die man damals hatte?
TIMM: Unbedingt, natürlich. Das gilt vor allem für das erste Buch, ich wußte, daß es eine Wette auf die Zukunft oder ein Sprung ins Dunkle war, aber nicht, ob es gelingen, ob es überhaupt je publiziert und wie es aufgenommen werden würde. Diese Fragen standen anfangs nicht so sehr im Vordergrund, doch je mehr ich mich dem Ende näherte, desto lauter wurden sie. Da hatte ich das Glück, Helmut Heißenbüttel zu begegnen. Dem lege ich ein Steinchen auf sein Grab, nicht weil ich daran glaube, daß es ein Nachleben gibt, sondern als Zeichen dafür, daß er gewichtige, sinnvolle Dinge getan hat. Heißenbüttel war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Dem hatte ich als völlig unbekannter junger Mann ein paar Texte zugeschickt, und er hat sofort reagiert, ein paar Ausschnitte aus dem Manuskript »Heißer Sommer« veröffentlicht und, obwohl er aus einer ganz anderen ästhetischen Ecke kam, zwei Radiolesungen verabredet. Damit konnte ich mehrere Monatsmieten bezahlen. Heißenbüttel hat mich motiviert weiterzumachen. Dann folgte von 1973 bis 1978 die AutorenEdition, die wir als linke, autonome Gruppe nach einer Idee von Uwe Friesel unter dem Dach von Bertelsmann gründeten. Autoren fungierten als Lektoren für andere, es gab demokratische Mitbestimmung über das Programm, auch über die Vorschüsse. Dann kam es zu einem Zensurfall. Es ging um den Roman »Die Herren des Morgengrauens« von Peter O. Chotjewitz. Bertelsmann lehnte das Buch aus politischen Gründen ab. Chotjewitz – er war der Wahlverteidiger von Andreas Baader in den Terroristenprozessen – ließ eine seiner Figuren träumen, daß Baader und Ulrike Meinhof im Stammheimer Gefängnis ermordet worden seien. »Die Herren des Morgengrauens « waren der Anlaß, daß Bertelsmann den Vertrag kündigte und das ganze Programm kippte, zu dem Heinar Kipphardt, Gerd Fuchs, Max von der Grün und viele gute Autoren gehörten. Auch Stefan Heym veröffentlichte in der AutorenEdition zum ersten Mal im Westen. Von 1978 bis 1982 wurde sie vom Athenäum Verlag weitergeführt. Nach der Kündigung zerstreuten sich die Beteiligten. Ich bin dann glücklicherweise bei Kiepenheuer & Witsch gelandet.
MAGENAU: »Heißer Sommer« ist 1974 noch in der AutorenEdition erschienen, also vor fünfzig Jahren. Auch das beschreibt die Dimensionen eines Werks. Das eigentliche Debüt war jedoch der Gedichtband »Widersprüche« von 1971. Der zeittypische Untertitel lautet: »Der vorherrschende Sprachgebrauch ist der Gebrauch der Sprache durch die Herrschenden«. Würdest du, von heute aus betrachtet, diese Gedichte zum Werk zählen oder ist das noch so eine Art Vorgeschichte?
TIMM: Doch, das gehört zu mir. Da sind ein paar gute politische Gedichte drin, die ich heute immer noch vertreten würde, »Lob der Idylle« ist so ein Gedicht und eine Paraphrase auf Klopstocks »Der Zürchersee«. Andere wurden eher zweckgebunden für Veranstaltungen geschrieben und entstammen der Zeit des Agitprop. Das gehört dazu, dieses Tasten und Ausprobieren. Ich wollte herausbekommen, ob ich mehr ins Lyrische hineinarbeiten sollte oder doch eher ins Epische. Und ich entdeckte, daß Schreiben auch etwas Lustvolles hat. Beim Erzählen, beim Schreiben höre ich meine innere Stimme und sage immer wieder nein, nein, nein – bis es irgendwann gut ist. Wesentlich war für mich die Feststellung, daß die Prosa die Form ist, in der ich mich ausdrücken kann, in der ich mich wohl fühle. Aber ich werfe gern weg. Früher habe ich die Seiten aus der Maschine rausgezogen und mit einer heftigen Bewegung in den Papierkorb gesteckt. Jetzt drückt man auf den Knopf und das Geschriebene verschwindet wunderbarerweise und ohne Reste, die durchgestrichen und überschrieben werden müßten. Das kommt später beim Lektorieren. Da begibt man sich dann wieder in den Text und bekommt ihn von außen gespiegelt.
MAGENAU: Das mit der Löschtaste ist allerdings bedauerlich für Institutionen wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Die haben dann ja gar nichts mehr zu sammeln. Was bleibt da noch für die Germanisten der Zukunft, die sich auch über die Vorstufen eines Werkes beugen wollen?
TIMM: Immerhin gibt es diese alten Texte, »Heißer Sommer«, »Morenga« und so weiter. Die liegen als Typoskripte im Archiv der Berliner Akademie der Künste. Dahin habe ich sie gegeben, weil ich Mitglied der Akademie bin und mich dort in der Nachbarschaft von Bertolt Brecht und Walter Benjamin gut aufgehoben fühle.
MAGENAU: Was das Werk bei aller Unterschiedlichkeit der Teile zusammenhält, ist nicht zuletzt der Name des Verfassers. Es gab Zeiten, in denen man gesagt hat, der Autor als Person sei völlig unwichtig: Wir haben nur Texte vor uns und beschäftigen uns mit Texten. Dem steht der Werkgedanke entgegen. Ein Werk gibt es nicht ohne die Person des Autors. Aber worin liegt das Gemeinsame? Gibt es eine verbindende Haltung oder vielleicht eine Schreibweise? Oder eine gemeinsame, zugrundeliegende Thematik? Warum spricht man von einem Werk, egal wie verschieden die einzelnen Bücher sind?
TIMM: Das ist eine interessante Frage, die man als Schriftsteller – ich jedenfalls – nicht beantworten kann. Ich weiß nicht einmal, wie man dazu kommt zu schreiben, was ja schließlich etwas ganz und gar Unnatürliches ist. Die meisten Menschen schreiben nicht. Die haben schon Schwierigkeiten zu lesen. Wenn man schreibt, denkt man immer, die Menschen müßten lesen. Nein, müssen sie nicht, jedenfalls keine Belletristik. Literatur hat etwas von einem schönen Überfluß. Deshalb bedaure ich, daß es Menschen gibt, die nicht lesen. Damit bestrafen sie sich selbst, ohne es zu wissen. Aber was das Verbindende ist? Ich kann nur sagen, daß viele Dinge aus meiner Kindheit kommen. Ich hatte keine so gute Kindheit, obwohl es uns nach der Not 1945/46 finanziell durchaus gutging. Mein Vater hatte sein Kürschnergeschäft. Das war bestens ausgestattet mit Angestellten und einem Chauffeur, stand aber bald kurz vor der Pleite. Das Verhältnis zu meinem Vater war zeitweise angespannt. Auch in der Schule hatte ich Probleme, mit der Orthographie zum Beispiel, weil ich eigensinnig war. Ich wollte zum Beispiel nicht verstehen, warum Schwan mit nur einem A geschrieben wird, obwohl das Tier doch zwei Flügel hat. Ich habe meine Kindheit nicht als eine glückliche in Erinnerung. Aber ich hatte eine wunderbare, starke Mutter, die alles ausgleichen und integrieren konnte, und das war bei meinem Vater mit seiner Autorität und preußischen Erziehung schon erforderlich. Das Schreiben kommt aus einer tiefen Irritation. Ausgangspunkt ist immer eine Mangelsituation, die man schreibend überbrückt, um sich über sich selbst klarzuwerden. Das war schon am Anfang so, als ich mit zwölf beim Tagebuchschreiben noch ganz hilflos war. Ich habe auch versucht, einen Roman zu schreiben. Niemand hatte mich dazu angehalten. Ich war unglücklich und wollte dagegen etwas tun. Das ist sonderbar: Wie kommt es, daß so etwas Zartes wie ein Gedanke, ein Gefühl in Zeichen gefaßt, also aufgeschrieben werden kann? Die Kluft zwischen den Zeichen und dem Erlebten, zwischen dem, was man sich vorstellt, und dem, was man empfindet, ist groß. Das ist wie ein Delirium, das man überbrücken will und muß. Das ist Teil der Sinnfindung beim Schreiben. Wenn man genau wüßte, was da passiert, würde man wahrscheinlich nicht mehr schreiben.
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SINN UND FORM 2/2025, S. 149-161, hier S. 149-152