Laederach, Monique
(1938 – 2004), Schweizer Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Übersetzerin vom Deutschen ins Französische. Auf deutsch erschienen u. a. die Romane »Allein durchs Labyrinth« (1985) und »Zu klein für den lieben Gott« (1988). (Stand 2/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2025 | Autobiographie. Sich als Frau schreiben: vom Irrtum zur Identität, vielleicht
- 2/2025 | Diese absolute Freiheit des Worts. Gedichte
Ich bin kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren, also in einer Zeit, die sich in hohem Maße über Virilität und Männlichkeit (...)
LeseprobeLaederach, Monique
Autobiographie.
Sich als Frau schreiben: vom Irrtum zur Identität, vielleicht
Ich bin kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren, also in einer Zeit, die sich in hohem Maße über Virilität und Männlichkeit definierte.
Ich bin als Mädchen geboren. Ein Junge war erwartet worden. Meine Eltern hatten sich nicht einmal einen Vornamen für mich überlegt. Sie gaben mir den der Mutter des Augustinus, jener bewundernswerten Frau, die ihrem kriminellen Sohn auf Knien gefolgt ist, bis er endlich konvertierte, das Modell schlechthin von Mutter und Frau in ihren erhabensten Rollen.
Außerdem bin ich ganz nah an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich geboren: Vom väterlichen Haus aus hörte man die Kanone am anderen Flußufer donnern und wir sahen die Flüchtlinge über die Demarkationslinie hetzen, um sich, so hofften sie, in der neutralen Schweiz in Sicherheit zu bringen.
Mein Vater war Schweizer, meine Mutter Deutsche; das Dorf, in dem ich groß geworden bin, war und ist französischsprachig, aber zu Hause sprachen wir deutsch. Meine Großmutter aus der deutschen Schweiz lebte bei uns; ich habe also von Anfang an drei Sprachen gesprochen: Französisch, Deutsch – Hochdeutsch – und den Dialekt der deutschen Schweiz.
Hinzu kommt: Mein Vater war Pastor. Und das Haus (das Pfarrhaus) stand immer offen. Während des Krieges kamen dort alle möglichen Leute vorbei, mit vielerlei Geschichten, die manchmal grausam waren: Juden, ausgehungerte deutsche Kinder, ausgehungerte französische Kinder, Kollegen aus den besetzten Ländern – ein paarmal auch Missionare, die aus Afrika zurückkamen.
Mein Vater war Pastor, also Hirte: Das bedeutet auch ein besonderes Verhältnis zum Wort. Das Wort ist die Wahrheit; es hat die Welt erschaffen; aber wer es am Sonntag von der Kanzel herab ausgibt, ist nicht der ewige Vater, sondern schlicht und einfach der Vater. Wenn er im Gotteshaus spricht, nennt er ihn »Hirtenstab«, diesen Stock, mit dem wir anstelle der Schafe die Kühe über Wege und Wiesen zum Stall trieben – war es der Stall, in dem Jesus geboren wurde, oder ein anderer, wer sollte es wissen? Um uns das Evangelium begreiflich zu machen, wurden uns die Sonntagsworte mit den Worten und Bildern der Woche erklärt; aber es gab die Sonntagsworte, und anscheinend unterschieden sie sich in ihrem Wesen.Auch flogen damals Flugzeuge im Himmel, die Maman zum Weinen brachten, weil sie nach Deutschland flogen, wo ihre Eltern lebten. »Feinde« also. Und dabei sprachen diejenigen, die Furcht einflößten und unsere französischen Nachbarn, wenngleich in Andeutungen versteckt, ganz direkt bedrohten, dieselbe Sprache wie Maman und sie lebten ebenfalls dort, wo meine Großeltern lebten. Wer war wessen Feind?
Wie man sieht, waren Zeit und Ort für das kleine Mädchen, das ich war, voller Widersprüche, Spannungen, voll beunruhigenden Geflüsters.
Um diesen Fragen aus dem Weg zu gehen, die mich weit überstiegen, tat ich, was die meisten Kinder in diesem Falle tun: Ich habe mich in meine eigene Welt geflüchtet. Ich hatte früh schreiben gelernt und auch früh meine Geschichten geschrieben. Zudem habe ich in dieser Welt von Sprachen, zwischen denen es mitunter keinerlei Vermittlung gab, zu übersetzen begonnen. Gedichte für Weihnachten, kleine Geschichten – aus dem Französischen ins Deutsche oder aus dem Deutschen ins Französische: eine Weise, zwischen den verschiedenen Mitgliedern dieser Gemeinschaft eine Verständigung zu schaffen.
Wie oft in der Geschichte eines Menschen prägen sich in frühester Jugend die jeweiligen Anlagen zu seinen Freuden und zu seinem Selbstschutz; in meinem Falle ist das Schreiben von Beginn an der Ort der glücklichen Einsamkeit gewesen, derjenige, in dem ich mir Welten erzählen konnte, die mich über die wirkliche Welt hinwegtrösteten, sozusagen Welten der Reparatur, der Wiederherstellung. Zugleich oder parallel dazu war die Sorge um die gemeinsame Verständigung dringlich genug, um mir das Gefühl zu geben, ich hätte so etwas wie einen Auftrag.
Später, als Heranwachsende, nachdem wir in eine Arbeitervorstadt umgezogen waren, und wir waren fünf Kinder, war unser Haus noch genauso offen, aber unser Umfeld war nicht mehr das eines Dörfchens, sondern das einer schwierigen, oft gedemütigten, mitunter gewalttätigen Gesellschaft, vor der mir um so mehr die Schrift Zuflucht bot, ja, zur Zuflucht schlechthin wurde. Damals war sie nur dies – mit den strahlenden Vorbildern der großen Meister vor Augen, von denen wir jetzt in der Schule erzählt bekamen und deren Bücher ich verschlang.
Nein: Keineswegs alle Bücher, die ich damals las, waren hohe Literatur. Um ehrlich zu sein, las ich alles, was ich in die Finger bekam, solange ich nur Lesefutter hatte. Das Ärgste und das Beste. Zeitungsfeuilletons und ihre süßlichen Geschichten: Slaughter und Mazo de la Roche genauso wie Voltaire, Zola, Flaubert oder Maupassant. Meine Eltern waren fassungslos: Sie versuchten, mir das Ärgste zu verbieten, »du machst dir die Augen kaputt, geh lieber draußen spielen«; es ist ihnen nicht gelungen. Und heute bin ich letztlich doch froh über jene Leseorgien: Wie der Korb mit Kirschen für Alexis Sorbas hat mir ihre Überfülle den Geschmack an gewissen Klischees ein für allemal verdorben – immerhin!
Ich schrieb Gedichte, viele Gedichte; das Passabelste sind noch die Plagiate; in den anderen schwimmen so viele Tränen, Monde und Sterne in Regenpfützen wie in allen Gedichten von Jugendlichen aller Zeiten, die sich in deren Schulheften ergießen.
Es verblüfft mich, daß Marguerite Duras sich nach eigenem Bekunden mit zwölf Jahren sagen konnte, sie würde Schriftstellerin werden. Einen solchen Zukunftsentwurf habe ich nie gehabt, ja, es fiel mir, auch nachdem ich bereits Bücher veröffentlicht hatte, recht schwer, mich als Schriftstellerin zu betrachten. – Ich glaube, dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst hatte ich eine mythische Vision der Literatur: Schriftsteller waren glanzvolle, unzugängliche Wesen; ihre Bücher stellten für mich eine Initiation dar; das Schreiben galt jedoch nirgends als ein Beruf; man konnte es nicht »lernen«, wie man einen anderen Beruf erlernte oder gar wie ich Musik lernte. Außerdem wußte ich, ohne daß ich weiß, woher ich es wußte: Vom Schreiben konnte man nicht leben. Und dann kann ich wohl mit Fug und Recht sagen, daß die mythische Welt der Schriftsteller für mich damals ganz selbstverständlich eine männliche war. Unbestreitbar männlich. So dermaßen unbestreitbar männlich, daß es mir nicht in den Sinn kam, ihnen gegenüberzutreten. Natürlich wußte ich, daß einige Frauen geschrieben hatten, ich hatte George Sand gelesen, »Die Prinzessin von Cleve« und Colette; dennoch blieb unumstößlich, daß die Exzellenz auf dem Gebiet den Männern zugehören mußte und daß sie den Olymp nur dank wundersamer oder außergewöhnlicher Umstände erklommen hatten, die ich nicht erstrebte. Gewiß: Ich dachte nur, was alle um mich her dachten, das waren Selbstverständlichkeiten, die nicht einmal gesagt werden mußten: Sie vermittelten sich von selbst, waren beinahe angeboren; man atmete sie mit der Luft, die einen umgab, man trank sie mit dem Wasser der Brunnen, man roch sie im Duft gedruckter Bücher. Als ich später Musik studierte und in Wien schmerzlich feststellen mußte, daß meine Begabung für die erträumte Karriere nicht ausreichte, stieß ich auf dieselbe unsichtbare Schranke: Ich hätte damals in der Musikakademie die Klasse wechseln sollen, ja können, um das Dirigieren eines Orchesters zu lernen. Aber auch diese Domäne war so selbstverständlich den Männern vorbehalten, daß ich gar nicht auf die Idee kam. Ich kehrte in die Schweiz zurück.
Ich schrieb immer noch, noch immer aus demselben Bedürfnis heraus, und noch immer schwabberte ich im Beliebigen. Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Texte, die gedichtete Prosa waren.
Da stieß ich auf ein anderes Hindernis, das mich lange aufhielt: Es kam vor, daß meine Gedichte oder Prosagedichte mich zufriedenstellten; Texte in Prosa nie. Mittels Übung und Papierkorb erlangte ich in der Dichtung eine eigene Sprache, schien mir; meine Prosa aber war einfach schlecht. Es lag nicht an den Geschichten: Ich hatte durchaus Phantasie. Es war die Art, wie ich erzählte, der Stil. Sobald ich ein eher lineares Vorgehen probierte, das einem Zeitverlauf folgte, verlor ich völlig die Orientierung, ich erlag dem Einfluß dieses oder jenes Schriftstellers, den ich gerade gelesen hatte, und aus war’s. Mit Hörspielen, ja, da gelang mir der eine oder andere Erfolg, sicherlich dank meiner musikalischen Ausbildung, in der ich die Fähigkeit zum inneren Hören und einen Sinn für Rhythmus entwickelt hatte.
Mein erstes Buch, »L’Étain la source« (Das Zinn die Quelle), habe ich erst spät herausgebracht – mit zweiunddreißig. Erstens hatte ich es mit dem Veröffentlichen nicht eilig; und dann war es damals für eine Frau noch schwierig, einen Verlag zu finden. Als das Buch erschien, war ich mit einem anderen Band glücklicherweise schon fast fertig. Es ist tatsächlich ein heftiger Schock, sich zum ersten Mal gedruckt zu sehen, mit Schutzumschlag! Und zum ersten Mal gelesen, öffentlich kritisiert zu werden. Man hatte (ich hatte) noch kein Selbstbewußtsein, keine Sicherheit; auch nicht die Gewohnheit, mich Wahrnehmungen ausgesetzt zu sehen, die den meinen ganz fremd waren. Man durchlebt in diesem Moment zum zweiten Mal den Schock des Spiegels – denn man entdeckt ein Bild von sich, das nicht mehr mit dem übereinstimmt, das man für seines hielt. Es birgt die Gefahr, einen in zwei oder vier Teile zu spalten, Sie und die Welt – es sei denn, man versinkt wie Narziß im Abgrund der Selbstbetrachtung. Aber es gab dieses neue Manuskript, das mein Verlag gleich angenommen und von dem ich den Eindruck hatte, mich »mir selbst weitestmöglich angenähert zu haben«, wenn ich so sagen darf: Diese Gedichte sagten, so gut ich es irgend auszudrücken vermochte, was ich war. Zu Hilfe kam mir in diesem Streben nach Ausdruck – auch hier in einem Spiel von Spiegeln – der Mythos der Penelope (und das ist der Titel des Bandes): diejenige, die nicht lebt, die aufhört zu leben, solange Odysseus nicht da ist. Was ich noch nicht ermessen konnte, war, wie sehr ich mich, fasziniert von meinem Projekt, durch die Wahl des Themas selbst verriet: Penelope war ich, und ich war die, die sich als unfähig erwies, für mich und allein aus mir selbst heraus wirklich lebendig zu sein, solange der Mann, den ich liebte, nicht da war.
Und in eben dem Moment stürzt alles um und wird durcheinandergewirbelt, nicht nur in meinem Leben, sondern in ganz Europa. Der Mai 68 kam, und dann rollten die Wellen der Revolte eine nach der anderen über uns hinweg: Infragestellung der Gesellschaft, Infragestellung der Unterrichtsformen (ich unterrichtete), mit aller Heftigkeit brach die Frage des weiblichen Schreibens hervor, und auf der persönlichen Ebene erlebte ich die Trennung von meinem Ehemann, Scheidung, einige Jahre marginalisierten, schwierigen Lebens; persönliche Zweifel, die mich völlig aus den Angeln hoben, Beginn einer Psychoanalyse.
Wenn ich während dieser Jahre schreibe, ist es ein mühevoller Neubeginn, ein stotternder Versuch, das persönliche Chaos in eine Ordnung – eine Form – zu bringen und zugleich, nur wie, die Fragen aufzunehmen, die von außen kommen. Noch immer ist nur Poesie möglich. Ich würde sogar sagen: Die Tür zur Prosa ist mir verschlossener denn je, denn mehr als zuvor gilt es jetzt, die eigene Stimme zu finden. Außerdem bereiteten mir die Texte von – vor allem französischen – Frauen, die ich las, manchmal Unbehagen – ob aus Mangel oder Übermaß an Weiblichkeit, wie konnte ich es wissen? War mein Unbehagen eine Intuition, der ich folgen sollte, eine Weigerung, eine Blockade oder eine Schwelle?Es war eine Schwelle: Am Ende habe ich sie im Bruchstückhaften der Texte entdeckt, die ich zu schreiben bemüht war, und die Wiederkehr gewisser Fragestellungen erlaubte mir zumindest, mich zu verorten, und zwar im Übergang. Die Schranke fiel nicht, sondern wurde paradoxerweise zur »main-courante«, zum Handlauf eines Geländers: Ich konnte versuchen, mich in Hinblick auf das Hindernis zu situieren. (…)
Aus dem Französischen von Paul Treu
SINN UND FORM 2/2025, S. 185-195, hier S. 185-189