Földényi, László F.
geb. 1952 in Debrecen / Ungarn, Essayist, Literaturkritiker. Auf deutsch erschienen zuletzt »Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino« (2021) und »Der lange Schatten der Guillotine. Lebensbilder aus dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts« (2024). (Stand 2/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/1995 | Das reine Hören
- 5/1996 | Leo Schestow - Ein Philosoph des radikalen Optimismus
- 5/1997 | Die Last der moralischen Vereinsammung. Laudatio auf Imre Kertész
- 2/1998 | Der Umweg zur Mystik. Über Cees Nooteboom
- 1/2000 | Der kugelförmige Turm. Wie wir das Projekt Babel doch verwirklicht haben
- 5/2010 | Ein schwarzes Quadrat
- 5/2016 | Auf der Suche nach verlorenen Gefühlen. Adam Zagajewski, ein zielbewußter Flaneur
- 3/2017 | Ein Labyrinth ohne Ausweg. Melancholische Erinnerungen an Michael Parkinson und W. G. Sebald
- 1/2022 | Die Wahrheit erlügen. Über die Schwierigkeiten biographischen Schreibens
- 2/2025 | Fragmente eines Gesichts. Annäherungen an Ulrike von Kleist
Fragmente eines Gesichts.
Annäherungen an Ulrike von Kleist
Ulrike von Kleist und Heinrich von Kleist. Denke ich an beide, fällt (...)
Földényi, László F.
Fragmente eines Gesichts.
Annäherungen an Ulrike von Kleist
Ulrike von Kleist und Heinrich von Kleist. Denke ich an beide, fällt mir ein 1937 entstandenes Gemälde von René Magritte ein. Es trägt den Titel »Reproduktion verboten« (La reproduction interdite). Über einem Kamin hängt ein Spiegel, davor steht ein Mann. Auf dem Kaminsims liegt ein Roman, Edgar Allan Poes »Arthur Gordon Pyms Abenteuer«. Das Buch spiegelt sich korrekt, ist also spiegelverkehrt zu sehen. Der Mann hingegen betrachtet im Spiegel nicht seine Vorderseite, sondern sieht das gleiche wie der Betrachter: sich selbst von hinten. Der Mann ist mit der Person identisch, die ihm im Spiegel den Rücken kehrt. In Wahrheit erblickt er die Inversion seines Spiegelbilds. Dieses unterscheidet sich von dem, der vor dem Spiegel steht. Der Spiegel zeigt die Verschiedenheit in der Identität. Wenn die beiden identisch sind, worin liegt dann ihre Verschiedenheit? Sie sind gerade dadurch identisch, daß sie nicht identisch sind. Ein Paradox, das uns aber nicht weiterbringt.
Ulrike und Heinrich von Kleist. Welchen der beiden ich mir vor dem Spiegel auch vorstelle, beide sehen darin jemand anderen, den sie aber nicht von sich selbst unterscheiden können. Sie waren ihre jeweiligen Spiegelbilder, auch wenn sie sich ungern vor einen solchen »Zauberspiegel« gestellt hätten. Ein Leben lang schloß Ulrike das Bild ihres Halbbruders in sich ein wie der Bernstein einen Käfer: Ohne die Erinnerung an ihn hätte sie nicht existieren können. Doch auch er hätte sich ein Leben ohne sie kaum vorstellen können. »Du bist die einzige, die mich (…) versteht«, schrieb er seiner Schwester im Mai 1799. Sie glaubten, sich ineinander zu entdecken. Ulrike und Heinrich: unzertrennlich, einander ähnlich und doch nicht identisch.
Wer war Ulrike von Kleist? Machen wir uns nichts vor: wäre Heinrich nicht ihr Bruder gewesen, käme niemand auf die Idee, diese Frage zu stellen. Wie Sigrid Weigel zutreffend schreibt: »Ohne Heinrich von Kleist keine Ulrike.« Und hinzufügt: »Andererseits: ohne ihren Bruder eine andere Ulrike.« Diese »andere Ulrike« wäre der Nachwelt aber gleichgültig. Nur Ulrike als Heinrichs Schwester ist von Interesse. In Heinrichs Spiegel erblickt man sie selbst.
Wer also war Ulrike? Mögen wir über ihr Leben noch so viele Aufzeichnungen haben, wir werden nie erfahren, wer sie in Wirklichkeit war. Mögen wir uns ihrer Person noch so sehr annähern, nie werden wir in ihre Haut schlüpfen können, ihre Seele wird uns ewig ein Rätsel bleiben. Das gleiche gilt natürlich auch für ihr »inverses Spiegelbild« Heinrich, obwohl über ihn wesentlich mehr erhalten ist. »Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken«, schreibt Heinrich am 13. März 1803 an Ulrike. Warum wollte er das? Der Satz davor gibt die Antwort: »Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll.« Er war nicht in der Lage, den innersten Kern seines Ichs, das, was ihn zu dem machte, der er war, in Worte zu fassen. Mit Worten kommt man diesem Kern nicht nahe, da von vornherein der Kern die Worte wählt, die das Ich verwenden wird. Natürlich war nicht nur Heinrich unaussprechlich. Jeder Mensch ist es, ohne Ausnahme. So auch Ulrike.
Es ist besonders schwer, jemanden biographisch zum Leben zu erwecken, zu dem es fast nur indirekte Quellen gibt. In Ulrikes Fall existieren natürlich auch Dokumente. Etwa dazu, daß sie am 6. Dezember 1819 alleinige Eigentümerin des Familiensitzes in Frankfurt wurde, woran sich zeigt, daß sie mit dem Vermögen wirtschaften konnte. Oder der Vertrag vom 28. Oktober 1839, wonach sie das Haus für zwölftausend Taler dem Postkommissarius Otto Heinrich Strahl verkaufte (ob sie bei der Unterzeichnung an Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, gedacht hat?) und aus dem man erfährt, daß sie auch weiterhin im dritten Stock lebt, aber auch Zugang zum Keller und zum Dachboden hat, und der Käufer ihr zudem einen geschlossenen Raum für zwei Pferde, einen Wagen, das nötige Futter, Stroh und Heu sowie ein Gelaß für den Kutscher zusichert. Überliefert sind auch die vier Testamente samt Zusätzen, wobei aus dem letzten, vom 10. August 1848 datierten hervorgeht, daß sie einen Kutscher namens Friedrich Schulz und eine Köchin namens Karoline Wolf hatte. Verfaßt wurden die Testamente vom Justizrat Heinrich Karl Ludwig Bardeleben, einer vornehmen Persönlichkeit Frankfurts, dem sie »das vollständige, in den großen Silberkasten gehörige Silber« vermachte, mit dem Zusatz: »das fehlende muß ergänzt werden«. Das heißt, sie bewegte sich in den besten Kreisen – schließlich war sie bereits am 16. August 1815 zu den Vorstehern der Singe-Gesellschaft in Frankfurt gewählt worden, und nachdem 1819 der Familiensitz auf ihren Namen überschrieben worden war, beantragte sie am 15. Februar 1820 das Bürgerrecht und legte am 17. März den bei solchen Anlässen üblichen Eid ab. Darüber hinaus gibt es Geburtsurkunden, zwei eigenhändig verfaßte Briefe an ihren Cousin, ein vom 3. April 1807 datiertes Schreiben aus Berlin an General Clarke (der längste, der von Ulrike überliefert ist) sowie ein, zwei Einträge in Gedenkbüchern, die während ihrer Reisen mit Heinrich entstanden.
Diese Dokumente dienen höchstens als grobe Skizzenstriche eines Porträts. »Eine Wachsfigur«, würde Virginia Woolf sagen, ein Ausdruck, den sie in ihrem Essay »Die Kunst der Biographie« verwendet hat. Sie wirkt lebendig und ist es doch nicht. Je näher der Biograph den Tatsachen kommt, desto mehr werden sie zu einer Fata Morgana: die Aura des »Hier und Jetzt« ist nicht zu rekonstruieren.
Zum Glück blieben auch Schriften erhalten, die eine Annäherung an den Menschen aus Fleisch und Blut erleichtern. Ein von fremder Hand geschriebener Bericht (»Was mir Ulrike Kleist im Jahre 1828 in Schorin über Heinrich Kleist erzählte«), in dem sich Ulrike nach wiederholter Weigerung endlich den Fragen des Fremden öffnet; die Art, wie sie über ihren Bruder spricht, verrät auch das eine oder andere über sie. Und das Tagebuch, das Auguste von Pannwitz über jene fast neunmonatige Reise geführt hat, die die einundzwanzigjährige Friederike und die zweiundzwanzigjährige Auguste mit ihrer sechzigjährigen Tante 1834 / 35 unternahmen (sie verbrachten die Zeit größtenteils in einer Wohnung mit Meerblick in Nizza). Darüber hinaus ist ein amtsärztliches Gutachten von 1848, aus den letzten Jahren Ulrikes, erhalten geblieben. Und über dreißig Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte Ada Pinelli-Rizzutto, geb. von Treskow, 1882 / 83 »Im Hause des dramatischen Dichters. Erinnerungen an eine Abgeschiedene« in der Zeitschrift »Über Land und Meer«. Diese Schrift zeigt am deutlichsten, wie Ulrike in ihren späteren Jahren auf einen unvoreingenommenen Beobachter gewirkt haben mag.
Und schließlich: die Nachrichten an sie aus der Feder Heinrichs. Kleist war ein großer Briefschreiber. Die über zweihundert Briefe, die von ihm erhalten sind, lassen sich auch als Roman lesen. Ein noch unreifer Jüngling betritt die Szene, als begeisterter Schüler der Aufklärung, die er allerdings nur oberflächlich kennt, steckt er voller Ideen, wie er den Weg zum Glück beschreiten könnte. Die Familientradition über den Haufen werfend, tritt er deshalb aus dem Heer aus, er findet eine Frau, mit der er sich verlobt, begibt sich jedoch, statt seine Zeit mit ihr zu verbringen, aus rätselhaften Gründen auf Reisen, zerbricht sich den Kopf über diverse Pläne, bis er schließlich, relativ spät, in der Schweiz zur Literatur gelangt und gleichzeitig seine Verlobung löst; in der Folge läßt er sich auf alle möglichen Abenteuer ein, zu denen Amtsgeschäfte genauso gehören wie Gefangenschaft, leidenschaftliche Freundschaft sowie Versuche, Zeitschriften und Zeitungen zu gründen, und begeht schließlich, nachdem er sich von der Aufklärung weit entfernt und den Weg zum Glück längst verfehlt hat, im Alter von vierunddreißig Jahren den berühmtesten Selbstmord der Weltliteratur.
Ein Anti-Bildungsroman. Eine der darin immer wiederkehrenden Figuren ist Ulrike von Kleist. Sie ist die Adressatin von ungefähr einem Viertel der erhaltenen Briefe. Heinrich hatte vier Geschwister und zwei Halbgeschwister, überliefert sind aber nur seine Briefe an Ulrike. Achtundfünfzig an der Zahl. Im ersten erhalten gebliebenen, den er mit sechzehn Jahren verfaßt hat, schreibt der gerade zur Vollwaise gewordene Heinrich am 13. März 1793 zwar seiner Tante Auguste Helene von Massow, daß er seiner ein Jahr älteren Schwester Auguste (in der Familie Gustel oder Gustchen genannt) einen Brief geschickt habe, dieser ist aber nicht erhalten. Später, am 16. Dezember 1801, schreibt er Ulrike, daß er sich freuen würde, wenn ihm auch seine anderen Geschwister schreiben würden. Ob sie das getan haben oder nicht, läßt sich nicht sagen. Möglicherweise schon. Heinrich hob die Briefe aber nicht auf – ebensowenig wie die von Ulrike. Obwohl sie ihm gewiß oft antwortete. »Ulrike hat mir einige vortreffliche Briefe geschrieben«, läßt er am 30. August 1800 seine Verlobte Wilhelmine wissen. Auch einige seiner Briefe an Ulrike sind verlorengegangen. 1847 notierte der Theologieprofessor Christian Wilhelm Spieker, Ulrike habe ihm gesagt, »daß sie schon einen Teil der Briefe vernichtet hätte und die noch vorhandenen vor ihrem Tode verbrennen werde, weil sie Sachen enthielten, die nur für sie, für einen dritten aber durchaus kein Interesse hätten«. Ob sie wirklich noch Briefe verbrannt hat, ist nicht bekannt. Wenn wir davon ausgehen, daß die bejahrte Ulrike so war, wie sie von Ada Pinelli-Rizzutto beschrieben wird, also schrullig, exzentrisch, fast schon geistig verwirrt, dann möglicherweise schon. Vielleicht hat sie auch welche verschenkt. So zum Beispiel einen Briefausschnitt an Ida Jochmus, der sich seit 2018 im Besitz des Kleist-Museums in Frankfurt an der Oder befindet. Es ist gut möglich, daß auch andere von Ulrike verschenkte Briefe noch irgendwo unentdeckt schlummern.
Bleiben also achtundfünfzig Briefe, die aufbewahrt wurden, und weitere siebenundzwanzig, in denen Heinrich anderen über Ulrike geschrieben hat. In diesen insgesamt fünfundachtzig Briefen gibt es viele Hinweise darauf, wer Ulrike eigentlich war. Natürlich ist dabei Vorsicht geboten. Wie Marcel Proust treffend schreibt: »Man begreift allenfalls, daß die Briefe, die einem jemand schreibt und die untereinander einigermaßen ähnlich sind, ein Bild entwerfen, das ganz verschieden von der Person ist, die man kennt, und dadurch eine zweite Persönlichkeit vor uns entstehen lassen.« In den Briefen kommt eine vielschichtige Ulrike zum Vorschein. Schon die Anreden sind verräterisch. Ullrique, schreibt sie im ersten Brief (25. Februar 1795), französisch und manieriert. Anreden dieser Art waren ihr gewiß nicht zuwider. Aber auch andere nicht: Ulrike, Ulrikchen, liebstes Rickchen, Herzens-Rickchen, meine Theure, Du Geliebte, mein beßtes Mädchen, mein vortreffliches Mädchen, Du Erhabene, mein großes Mädchen, theure Schwester, mein theuerstes Mädchen – intime und innige Anreden, die Wilhelmine von Heinrich vergeblich erwartete. Es gibt aber auch formellere: theuerste Freundinn, meine Verehrungswürdige, meine Freundinn.
Und man liest auch: »sei mein starkes Mädchen« (aus St. Omer, vom 26. Oktober 1803). Dieser Ausdruck wurde im Brief von fremder Hand durchgestrichen (er war beim Scannen lesbar geworden). Abgesehen von seinem letzten, vom Tag seines Todes stammenden Schrei ben ist es Heinrichs dramatischster Brief: Er hat das »Guiskard«-Manuskript verbrannt und will sich, im Strudel der Selbstzerstörung, Napoleons Heer anschließen. Was er berichtet, entspricht fast schon einem Selbstmord. Und dennoch: »sei mein starkes Mädchen«. Er glaubt, daß Ulrike zur Selbstdisziplin fähig sei. So schreibt er am 28. Juli 1801 an Adolfine von Werdeck: »Auf einer Fußreise in dem schlesischen Gebirge aß und trank sie nicht vor Ermüdung, ward bei dem Sonnenaufgang auf der Riesenkoppe ohnmächtig, und antwortete doch immer, so oft man sie fragte, sie befinde sich wohl.« Den Ausdruck »sei mein starkes Mädchen« hatte er übrigens Schillers »Wallensteins Tod« entliehen, mit der gleichen Formulierung schließt er zweieinhalb Jahre zuvor einen Brief an Wilhelmine. Er bildet sich ein, vor Ulrike zu stehen – und während er sich mit der einen Hand »das Herz aus dem Leibe reißt«, gestikuliert er mit der anderen theatralisch, gibt Zitate von sich. Nicht jedem gegenüber kann man sich so benehmen. Vielleicht war auch Ulrike so doppelgesichtig. Mit einer Hälfte ihrer Seele starb sie fast vor Schreck über das, was ihr Bruder anstellte – mit der anderen beobachtete sie ihn: Aber Heinrich, was schauspielerst du! Und auch er projizierte womöglich nur seinen Zwiespalt auf Ulrike. Bedenkt man, daß er in seine »Liebesbriefe« an Wilhelmine regelmäßig Passagen aus anderen Briefen wörtlich übernahm und das auch in seinen Briefen an Ulrike tat (vielleicht kopierte er auch Zeilen aus seinem verschollenen Notizheft »Geschichte meiner Seele« mal für die eine, mal für die andere), dann sieht man, daß er zwar völlig authentisch war, gleichzeitig aber eine Rolle spielte.
(…)
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
SINN UND FORM 2/2025, S. 208-224, hier S. 208-212