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Wachowiak, Eugeniusz
- 3/1966 | Polnische Lyrik
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- 1/1959 | Goethes naturwissenschaftliches Denken im Spiegel seiner Dichtungen seit 1790
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- 1/1995 | Gespräch mit Carlos Fuentes
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- 6/2020 | »Eine Tiefenimprägnierung des Katholischen«. Gespräch mit Michael Braun über Hugo Ball
Wackwitz, Stephan
- 2/2019 | Die Poetisierung des Lebens. Über Karlo Katscharawa, S. 203 Leseprobe
Wackwitz, Stephan
Die Poetisierung des Lebens. Über Karlo Katscharawa
Es ist September 2011 in Tbilissi, einer mir noch ganz unvertrauten Stadt. Alles ist neu hier und erinnert mich trotzdem an lang Bekanntes. Das Mediterrane der Landschaft. Von Macchia bewachsene Bergzüge aus bröckeligem Fels stehen ringsum kulissenhaft in der afrikanisch rücksichtslosen Mittagssonne. Das wilde Bergwüstenumland schickt tiefe Schluchten, von Sträuchern und niedrigen Bäumen angefüllt, bis ins Stadtzentrum hinein. Kleine Bäche verschwinden in den Gullys staubiger Straßen. Zypressen ragen als dunkelgrüne Säulen aus verwachsenen Gärten am Hang. Das Rot der überall wildwachsenden Granatäpfel, das Violett der Feigen am Straßenrand hält man bei flüchtigem Hinsehen für Blütenfarben. Das laute Chaos der Verkehrslandschaft, eine Erinnerung an Bombay. Die Armut. Die »italienische« Eleganz der Frauen. Das entgegenkommende Lächeln der Menschen, nach Amerika und Deutschland als physiognomischer default mode ganz ungewohnt. Das Sommerferienwetter. Die überraschend intelligente, originelle, romantische und selbstbewußt italianisierende Interpretation des Stalin-Klassizismus an der Auffahrt zum Saburtalo-Plateau vor dem monumentalen Rund des Sportpalasts. Und von hier aus zieht sich die schnurgerade Wascha-Pschawela-Avenue nach Westen ins leere Bergland.
Die Architekten der Chruschtschow-Ära haben Mitte der fünfziger Jahre von den soliden, schweren Beaux-Art-Formen der Stalin-Zeit Abschied genommen. Die weit ins Land ausgreifenden Prospekte der heroischen frühen Planungs periode wurden jetzt aufgefüllt mit viel schmuckloseren Beton- und später Plattenbauten, die aber Anregungen des Bauhauses aufnahmen, statt sich an Georges-Eugène Haussmanns Paris zu orientieren. Denn dieses heroische Vorbild war auf die Dauer zu teuer geworden, wurde zunehmend als pompös empfunden und konnte der Mehrheit der Sowjetbevölkerung auch nicht den dringend benötigten Wohnraum bereitstellen. Die generationenlang in der Misere überfüllter Gemeinschaftswohnungen und improvisierter Shantytowns gefangenen Erbauer des Sozialismus zogen jetzt ein in kleine, preiswertere, industriell geplante und gebaute Familienunterkünfte. Deren Architekten brachten aber die Erfahrungen der linksprogressiven Baukunst der zwanziger Jahre (Ernst May, die »Frankfurter Küche«, Peter Behrens, Le Corbusier and all that jazz) kenntnisreich und intelligent in ihre Planungen ein. So entstanden ausgeklügelte menschenfreundliche Lösungen auf kleinstem Raum, längs der Wascha-Pschawela-Avenue zum Beispiel ein Ensemble von vier oder fünf halb fußballfeldlangen Hausriegeln, die kurz vor der Abfahrt zur stillgelegten Pferderennbahn sich einen sanften Hang zum Plateau des Lisi-Sees hinauf staffeln. Robinien haben die parallel zum Hang verlaufenden Fußwege zwischen den niedrigen Apartmenthausketten überwuchert. Die Balkone und Wintergärten, vor deren Fenstern und Brüstungen Wäscheleinen gespannt sind, blicken in schwer zu durchdringendes grünes Dickicht. Das offene Treppenhaus ist lichtlos und vernachlässigt. Essensgerüche und andere familiäre Ausströmungen (Kinderlachen, gedämpfte eheliche Auseinandersetzungen) dringen in die Dunkelheit, während wir vorsichtig aufwärts steigen und uns am brüchigen Geländer festhalten. Wir klingeln an Lika Katscharawas Tür im zweiten Stock, eine freundliche Frau, die jüngere Schwester des 1994 umgekommenen Künstlers Karlo Katscharawa, begrüßt uns mit enthusiastischer Herzlichkeit.
Wir betreten eine Zeitkapsel der inoffiziellen sowjetischen Kulturgesellschaft der achtziger Jahre. Die Decken sind niedrig. Rechts ist eine Garderobe von Einbauschränken aus lackiertem Holz umrahmt. Links zweigt ein schmaler kurzer Gang zu einem winzigen Badezimmer, einer eßtischgroßen Küchennische und einem kleinen Nebenraum ab, in dem ein Schlafsofa steht. Geradeaus geht es in den ebenfalls sehr kleinen Salon, von dem rechter Hand das Schlafzimmer abgeht, während links der schmale Wintergarten den Blick auf das Gewirr der Robinienzweige freigibt. Die Wohnung kann nicht viel größer als dreißig Quadratmeter sein. Aber sie wirkt palastartig und geräumig durch die dicht an dicht gehängten und in den Ecken gestapelten Leinwände und Zeichnungen ihres ehemaligen Bewohners. Karlo Katschawara, der mit dreißig Jahren an den Folgen eines Überfalls auf den Straßen Moskaus verstorbene Kunstkritiker, Zeichner, Maler, Essayist, Diarist und Lyriker, bildet mit seinem hier fast vollständig versammelten Werk den zentralen Bezugspunkt der jungen georgischen Künstlergeneration: »Karlo ist ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod lebendiger als wir alle«, sagt ein ehemaliger Weggefährte. Während in dieser Wohnung alles gleichgeblieben ist, ist Katscharawa in der sich rasant verändernden georgischen Gesellschaft zum Klassiker der Gegenwartskunst geworden. Was sieht man beim Blick auf diese Blätter und Leinwände? Was gibt den kleinen Räumen in Tbilissi / Saburtalo solche Weite?
Ihre bei oberflächlicher Betrachtung verwirrende Fülle von Gesichtern, Architekturen und Atmosphären läßt sich in Wirklichkeit auf wenige Motivkomplexe reduzieren. Katscharawas Figuren sind erstens in entschieden metropolitanen Räumen verortet. Wir haben es mit Großstadtkunst zu tun. Architektur, die Psychogeographie von Straßen sind ihr unterschwelliges Generalthema. Sogar seine Bäume, Flußufer und Wiesen haben etwas Urbanes. Landschaften sind auf den zweiten Blick erkennbar als städtische Parks oder jene träumerischen Außenbezirke, wo die Großstadt ins Umland übergeht. Häufig trifft man auf Friedhöfe oder verlassen wirkende Industrielandschaften.
Der zweite Motivkomplex sind die Körper, Gesichter und Gewänder seltsam beeindruckender georgischer Menschen aus den entbehrungsreichen, gefährlichen und gewalttätigen neunziger Jahren. Es sind prekäre, melancholische Figuren, oft eingezwängt in enge Interieurs oder wie schwebend, springend und tanzend in jenen Stadtpanoramen. Straßen, Parks und Brachen sind voller Menschen. Aber diese vermeiden den Blickkontakt miteinander. Es ist das Personal eines faszinierenden und von sich selbst faszinierten Unglücks. Katscharawas Männer sind fast durchweg Selbstportraits mit Bart, Hut und weitem Mantel, seine Frauen elfenhaft dünne, langhaarige und langbeinige (oft nackte) Geschöpfe von intensiver erotischer Dämonie. Unwillkürlich erinnert mich die Aufgeladenheit dieser Frauenfiguren an Gottfried Keller, dem Katscharawa auch physiognomisch glich ("Ich bin (…) ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bette geht als alter Junggeselle«, schrieb Keller, es würde auch auf Katscharawa passen). Nur die erotische Sehnsucht eines vereinsamten Fünfzigjährigen im Zürich des 19. Jahrhunderts hat sich Frauenfiguren wie Judith oder Myrrha Wohlwend ausdenken können, und nur ein sexuell frustrierter junger Mann der spätsowjetischen achtziger Jahre diese fatalen, über Männerschicksale regierenden Elfen. Zugleich wirken sie seltsam zeitgenössisch. Hat Katscharawa etwa die Hipster von Tbilissi im frühen 21. Jahrhundert vorhergesehen, oder lassen diese sich von seinen Bildern zu ihren Hüten, Frisuren, Stiefeln, Miniröcken, Röhrenhosen, überdimensionierten Schals, Mänteln und Vintage-Jacken inspirieren? »Tbilissi« ist ein Blatt aus dem gezeichneten Tagebuch seiner beiden Deutschlandreisen (1991 und 1992) überschrieben: In einem jener Bart-Hut-Mantel-Selbstporträts, zu einem Saul-Steinberg-haften Umriß verdichtet, geht er steif, mit gesenkter Miene und in gekrümmter Haltung von einem jener Sehnsuchtswesen fort in eine Stadtlandschaft hinein, vor der eine Flasche einen überlangen Schatten wirft. »Kristalltraum. Zum Geburtstag« lautet die Inschrift. Die Künstlerin Keti Kapanadze, in den neunziger Jahren eine der schönsten Frauen Tbilissis, in die Karlo hoffnungslos verliebt war, erzählte mir, er habe sie, nachdem er die halbe Nacht an ihrem Küchentisch verbracht hatte, oft gleich zum Morgenkaffee wieder besucht, um festzustellen, »ob sie immer noch so schön sei«. Aber er sei eben klein und dick, und an jeder Straßenecke sei ein interessanterer, eindrucksvollerer Mann in sie verliebt gewesen. Sie hatte kein ernsthaftes Interesse an Katscharawa. Vor dem erotischen Dämon auf der Zeichnung steht, seltsam unverbunden, eine Kaffeekanne.
Der dritte und wahrscheinlich wichtigste Komplex auf Katscharawas Bildern sind Zitate deutscher Kunst und Literatur. Diese Gemälde und Zeichnungen sind nicht nur durch ihre Sujets und formalen Lösungen Wiedergänger und Geistererscheinungen des deutschen Expressionismus und des Neoexpressionismus der achtziger Jahre, sie sind auch von Schrift übersät. Durch »Widmungen« an ihm persönlich ganz unbekannte Figuren wie Immendorf, Baselitz, Beuys, Middendorf, Bernhard Schultze, Salomé schrieb sich Katscharawa in einen Geisterraum deutscher Kunst ein, sozusagen als korrespondierendes Mitglied der Achtziger-Jahre-Kunstrevolution in Berlin, Köln und Düsseldorf. Deutschsprachige Schriftzüge (literarische Zitate, Bildtitel) fungieren als Kommentar, Kontrapunkt oder Akzentuierung. Katscharawa war zweimal für zwei, drei Wochen in Berlin und Köln, seine Beziehung zu Deutschland, zur deutschen Sprache und Kultur war aber älter. Im akademischen Ausbildungsbetrieb der Sowjetzeit, der sich am französischen 19. und frühen 20. Jahrhundert orientierte, war der Expressionismus unbestimmt oppositionell kodiert. Die Verbindung des Neoexpressionismus der deutschen »Neuen Wilden« mit den Stadtlandschaften revolutionärer lebenspraktischer Experimente (Punk, elegant ausgefranste Selfmade-Mode, Gründung von Musikklubs durch Künstler und Hausbesetzer) hatte Berlin und Köln zu Sehnsuchtsorten auch der spätsowjetischen georgischen Boheme gemacht. Der plötzlich hervorgebrochene oder vielleicht auch nur seiner selbst innegewordene Ausdruckshunger war in Berlin und Tbilissi offenbar derselbe, und der georgische ermutigte sich am deutschen, der selbstbewußter sein konnte, weil er es einfacher hatte.
[…]
SINN UND FORM 2/2019, S. 203-213, hier S. 203-207
- 5/2020 | »Don’t be sadder than necessary«.Tagebücher 1989/90
- 1/2021 | Minsk. Widersprüche der Utopie, S. 203 Leseprobe
Wackwitz, Stephan
Minsk. Widersprüche der Utopie
Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber nach, wie jene Städte, Landschaften, Atmosphären und Mentalitäten heute aussähen, wenn sich die kommunistische Union 1991 nicht aufgelöst hätte. Hätte das sozialistische Staatswesen, das noch vor dreißig Jahren eine globale Supermacht war, möglicherweise eine Chance gehabt, in veränderter Gestalt weiterzubestehen? Hätte es sich der Weltwirtschaft und den Einflüssen der konsumistischen Kultur vorsichtig öffnen, seinen Bürgern ein im privaten Rahmen selbstbestimmtes Leben ermöglichen, den quasireligiösen Geltungsanspruch des Marxismus-Leninismus sublimierend auflösen und so auf einem »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus in die Zukunft reisen können? Vergleichbare Vorstellungen waren in der linken Intelligenzija weit verbreitet, als in Deutschland über die Zukunft der gescheiterten DDR nachgedacht (phantasiert) wurde. Die Wirklichkeit ist andere Wege gegangen. Aber tatsächlich gibt es östlich von Polen eine ehemalige Sowjetrepublik, die seit 1990 einen Weg zwischen völliger Aufgabe der realsozialistischen Verhältnisse und bedingungsloser Integration in die kapitalistische Weltgesellschaft versucht hat – bis nach den gefälschten Wahlen im letzten August der Widerspruch zwischen der wirtschaftlich erfolgreichen jungen Mittelschicht und dem despotischen Regierungsapparat revolutionär explodierte. Diese Republik, in der sich inzwischen eine Doppelherrschaft zwischen Volksaufstand und staatlicher Gewalttätigkeit entwickelt hat, war vierzig Jahre lang nicht ohne Grund der unbekannteste Staat Europas.
Belarus war eigentlich immer unbekannt. Fast seine gesamte Geschichte hindurch hatte dieses Land weder Grenzen noch eine Armee oder eine eigene Regierung. Es galt eher als (relativ unbestimmte) Ortsbezeichnung, als Landschaft, als geographischer Begriff. Erst 1918, nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs, ist von einem Staat dieses Namens die Rede. Aber die Unabhängigkeit währte nur einige Monate, dann wurde Belarus der Sowjetunion eingegliedert. Auch zuvor war das Staatsgebiet der heutigen Republik immer Teil anderer politischer Gebilde gewesen. Zuerst gehörten seine Städte und Landstriche zur Kiewer Rus. Nach der tatarischen Eroberung Kiews 1240 bürgerte sich die Bezeichnung »Belarus« für die westlichen, den Mongolenkhanen nicht tributpflichtigen russischen Fürstentümer ein. Im Spätmittelalter und während der frühen Neuzeit waren sie Bestandteil des polnisch-litauischen Doppelstaats. Nach der zweiten polnischen Teilung kam das spätere Belarus zum Zarenreich, nach der erwähnten kurzen und erfolglosen Eigenstaatlichkeit dann als Republik zur UdSSR – erst damit hatten sich die fließenden Grenzen dieses halb geträumten Landes einigermaßen verfestigt. Das heutige, postsowjetische Belarus ist nach 1990 dadurch entstanden, daß die führenden Kader des weitgehend unveränderten belarussischen Staatsapparats die Macht an nicht mehr (oder nicht mehr explizit) kommunistische Politiker abgaben – welche freilich zum größten Teil (wie der heutige Staatspräsident Lukaschenka) zuvor durchaus loyale Kommunisten gewesen waren. Im ährenumkränzten Staatswappen der einstigen Sowjetrepublik wurden Hammer und Sichel durch eine Silhouette des Landes ersetzt. Die heraldisch unvermeidliche Sonne geht jetzt hinter den Landesgrenzen auf, nicht mehr hinter dem Symbol der proletarischen Internationale. Der zentrale Leninboulevard in der belarussischen Hauptstadt Minsk wurde umbenannt und feiert inzwischen die Unabhängigkeit. So gut wie alle anderen wichtigen Straßen – wo sich heute avantgardistisch eingerichtete Restaurants und Bars aneinanderreihen, elegante Frauen und bärtige Hipster flanieren – heißen jedoch weiterhin nach den Klassikern der marxistisch-leninistischen Theorie, nach sowjetischen Partisanenführerinnen und kommunistischen Politikern wie Kirow, Swerdlow, Dscherschinski und Kalinin. Der überwiegende Teil der belarussischen Wirtschaft befindet sich immer noch in Staatseigentum und wird nach wie vor durch Fünfjahrespläne gesteuert.
Ich bin im tiefen Winter zum ersten Mal nach Minsk gekommen, im Januar 2015. Schon Tage zuvor war ich voll düsterer Vorahnungen und Befürchtungen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte Angst vor meiner Reise nach Belarus. Es war spät in der Nacht bei meiner Ankunft und ich lief in dem weitgehend menschenleeren, blitzsauberen und bis in den letzten Winkel neonhell ausgeleuchteten Minsker Flughafen todmüde von Pontius zu Pilatus, um Geld zu wechseln und bei einer schlechtgelaunten Schalterbeamtin für Pfennigbeträge eine Krankenversicherung abzuschließen. Dann wurde mein Visum von einer Zollbeamtin in ihrem Glaskabuff am Ausgang ins Land minutenlang – unter anderem mit einer Lupe – geprüft. Daß sich das Schloß meines schicken neuen Aluminiumkoffers, der am längst ruhenden Gepäckförderband vereinsamt im Neonglast stand, als kaputt erwies, arbeitete ich sofort zu einer politischen Gruselgeschichte um: der KGB (wie der belarussische Geheimdienst heute noch heißt) habe ihn geöffnet und nach ideologischer Konterbande durchsucht. Als ich vier Wochen später den reparierten Koffer bei der Ankunft in München in genau demselben Zustand vom Förderband zerrte, verstand ich, daß das nicht versenkte Bügelschloß des guten Stücks eine flugreisenuntaugliche Fehlkonstruktion war. Bis dahin war ich überzeugt, ins Fadenkreuz finsterer politischer Mächte geraten zu sein.
Es folgte die Fahrt durch das nächtliche Minsk. Und damit meine erste, noch flüchtige Bezauberung durch die Architekturen dieser Stadt. Der erste coup de foudre von vielen, die noch folgen sollten. Denn selbst dem verängstigten, wütenden und übernächtigten Reisenden mußte auffallen, daß die von unzähligen Scheinwerfern angestrahlte Folge historistischer Paläste, die sich theaterkulissenhaft in immer phantasmagorischerer Prächtigkeit zu beiden Seiten des champs-élysées-breiten Zentralboulevards entfaltete, geradezu bestürzend schön war. Obwohl sich die sanften Hügel der flachen belarussischen Landschaft bis in die Innenstadt fortsetzen, waren die Traufhöhen der champagnerfarbenen, von weißen Portikos, Säulen, Pilastern und Freitreppen gegliederten Ministerien, Wohnpaläste, Universitätsgebäude, Fabriken und Museen so genau aufeinander abgestimmt, daß sich ein geschmeidehaft einheitlicher Eindruck ergab – Resultat einer (wie ich später erfuhr) ausgeklügelten staatlichen Planungsästhetik, die in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren keine Straßenecke, keine Dachform, keine Fensteranordnung unbedacht gelassen hat. Es war ein gelungenes Paradox: Höchst individuell durchgestaltete Baukörper (deren formale Matrizes der italienischen Renaissance und dem russischen Klassizismus entstammten) ergaben ein schlagend prägnantes Gesamtbild. Angeleuchtete Balustraden hoben sich auf neobarocken Fassaden gegen den Nachthimmel ab. Unter dem Straßenniveau gelegene Parks taten sich hinter Begrenzungsmauern auf, wo in regelmäßigen Abständen eisschrankgroße Vasen und Urnen standen. Der Wagen überquerte eine von gußeisernen Geländern eingerahmte Brücke. Man sah auf eine weite nachtschwarze Wasserfläche hinab, deren geschwungene Ufer von einem weiß schimmernden Monopteros bewacht wurden. Zwischen mannshohen Marmorkugeln führten breite Treppen von dunklen Parkbäumen zu dem seebreit aufgestauten Fluß. Hinter durchsichtigen Winterwipfeln standen auf einem Hügel die Säulen eines neoklassizistischen Schlosses im Scheinwerferlicht: das Dienstgebäude der Generalität der belarussischen Sowjetrepublik, wie ich am folgenden Tag im Reiseführer las. Ein neogotisch aufstrebender Turm rechts davon trug den Sowjetstern.
In der barocken Altstadt war die Straße hügelaufwärts durch einen Schlagbaum gesperrt. Hier begann die Fußgängerzone. Ich schleppte meinen kaputten Koffer durch den tiefen Schnee zu meiner Herberge. Der Hotelkomplex Monastyrski ist ein umgebautes Barockkloster, breit hingelagert auf halber Höhe des Altstadthügels. Weiße Kirchen – zwei katholische in der flamboyanten Formenüberfülltheit des osteuropäischen Barock und der goldstrahlende Türmchenwald eines orthodoxen Gotteshauses – sehen in einen Innenhof von der Größe eines halben Fußballfeldes, über dem sich dreistöckig die geräumigen ehemaligen Mönchszellen türmen. Eine würde jetzt ein paar Tage lang mein Zimmer sein. Ein schweres Eichenbett. Ein ausladender dunkler Schrank. Die runden, irgendwie jagdschloßartigen Leuchter, die in den langen, nächtlich leeren Gängen unter den Korbgewölben hingen. Einerseits hatte das Klostergebäude, besonders von außen, etwas Tibetisches (ein frühbarockes Shangri-La). Andererseits schien mir, wenn ich durch diese Korridore zum Frühstücksraum und wieder zurück zu meinem Zimmer wanderte (und mich dabei mehr als einmal verirrte), ich sei in den Schauplatz eines noch nicht gedrehten Films von Wes Anderson geraten.
Zurück in meinem Dienstort in Georgien verblaßte die Erinnerung an Minsk wieder. Mir blieben die Bilder fröstelnder Wanderungen durch Nebel und Schnee zwischen den Palästen des Unabhängigkeitsboulevards, des heruntergekommenen, ehemals altdamenhaft gediegenen Interieurs im Restaurant Oliva, ein Selbstporträt Jurij Pens vom Anfang des letzten Jahrhunderts (es zeigt den Zeichenlehrer Marc Chagalls und El Lissitzkys in einer atelierartigen Witebsker Mansarde, wo er Pellkartoffeln frühstückt) oder die Erinnerung an die kosmischen Phantasien des dämonisch genialen Spinners und Malers Jasep Drasdowitsch, der in den zwanziger Jahren das Leben der Marsmenschen malte – unvergeßlich, weil man das Gefühl hat, daß er in Wirklichkeit unsere Zeit kommentiert. Ich machte mich in den nächsten Monaten und Jahren zugleich lächerlich und verdächtig, indem ich überall herumerzählte, die Hauptstadt der »letzten europäischen Diktatur«, wie Belarus im Bewußtsein des bescheidwissenden Westmenschen einzig und allein vorkommen zu dürfen schien, sei eine der schönsten und interessantesten, die ich je gesehen hätte. Ich bereitete mich damals innerlich schon darauf vor, meine Ruhestandswohnung in Berlin zu beziehen, als ein Anruf der Personalabteilung kam. Man finde momentan niemanden, der das Goethe-Institut in Minsk leiten wolle, und ob ich mir nicht vielleicht vorstellen könne, das kommissarisch ein Jahr lang zu machen, bis man eine endgültige Besetzung gefunden habe.
[...]SINN UND FORM 1/2021, S. 5-20, hier S. 5-8
- 6/2021 | Mein Leben als Schwamm, S. 203 Leseprobe
Wackwitz, Stephan
Mein Leben als Schwamm
Es war im September 1979. Ich war siebenundzwanzig und wanderte an einem dunklen Herbstabend auf der Stuttgarter Schloßstraße in Richtung Liederhalle. Erstes Herbstlaub fiel und verwehte. Gelbliches Laternenlicht warf filigran windbewegte Baumschatten von Robinien auf den grauen Bürgersteig. Eine beunruhigende Begegnung mit einem ehemaligen Internatskameraden lag hinter mir. Eine verwahrloste Wohnung in einem Hinterhof des Stuttgarter Westens, dämonisch inkohärentes Gerede, der Eindruck eines durch Drogen zerstörten Menschen. Der unvermeidliche Joint, an dem ich widerwillig partizipiert hatte. »Nach etwas bedrückt-reduzierter Zeit mit Absencen auf der Schloßstraße von einem Schritt auf den anderen voll drauf«, verzeichnet mein Tagebuch. »Ich wehre mich dagegen, schreckliche Angst, trockener Mund. Bekämpfe die Panik; ich will nicht abfahren (verrückt werden), ich will mich behalten. Ich will der bleiben, der ich bin, aber ich weiß plötzlich nicht mehr, wer das ist. Furchtbare Angst, den Verstand zu verlieren.«
Ich wußte es gleich. Es war mehr als eine haschischinduzierte Panikattacke. Was mich jetzt in einem Moment mutwillig herbeigeführter innerer Hilflosigkeit heimsuchte, war immer schon eine Möglichkeit und eigentlich auch immer schon dagewesen. Körperlich ähnelte der Zustand, der mich in den nun folgenden Wochen in immer tiefere Ratlosigkeit stürzte, einem Schwindel oder einer Übelkeit. Seine untrennbar mit diesen unangenehmen, aber immerhin bekannten Symptomen verbundene psychische Seite war aber noch viel unheimlicher: »Die Dinge, die man anschaut und erlebt, werden einem irgendwie fremd. Es gibt keine emotionale Verbundenheit mit ihnen, es scheint mir eine gewisse Unverständlichkeit und Absurdität an ihnen aufzufallen. Eine bisher unbekannte Lieblosigkeit meiner Umwelt mir gegenüber und eine Lieblosigkeit meiner selbst meiner Umwelt gegenüber tritt hervor. Die Gegenstände meiner Umwelt sind mir fremd geworden.« Auf halbem Weg zu meiner Wohnung flüchtete ich mich in ein Restaurant. Ich vermutete aufgrund meines Herzrasens, meiner Schweißausbrüche und meiner allgemeinen Geschwächtheit einen Unterzuckerungszustand. Auch konnte ich vor Schwindel fast nicht mehr gehen. »In der Pizzeria am Schloßgarten bestelle ich eine Torte, zu der ich einen Kaffee mit zahllosen Löffeln Zucker trinke. Ganz schlecht drauf, kann kaum mehr sehen. Angst, ohnmächtig zu werden. Dazu die wellenartig anflutenden irrationalen Angstschübe. Dissoziationsgefühle. Ich bin nicht mehr, der ich bin. Der realen Situation ganz unangemessene Gefühle: Angst vor einem Löffel, so absurd es klingt. Alltagsdinge, banale Gesprächssituationen nehmen eine unfaßbare Gräßlichkeit an, wie wenn man in einem Alptraum über ein einzelnes Ding oder Wort oder einen Satz in Panik gerät, weil er ein namenloses Grauen angenommen hat.«
Und es ging wochenlang nicht vorbei. Auch nach dem Abklingen der eigentlichen körperlichen Intoxikation passierte es mir in den folgenden Tagen immer wieder ohne Vorwarnung oder erkennbaren Grund, daß die Welt sich in einen durch unüberbrückbare innere Distanzen von mir getrennten Ort verwandelte. So nahm zum Beispiel das Gemälde eines in die braune Dämmerung des offenen Meeres hinausfahrenden Segelschiffs von Caspar David Friedrich, das ich für meine Dissertation beschreiben wollte, jenes formlose Grauen an. Das Bild drohte plötzlich, mich mitzunehmen auf ein nächtliches inneres Meer, aus dessen Weiten ich nie mehr zurückkehren würde. Mein Selbst würde für den Rest meines Lebens in dieser sich verdichtenden Dunkelheit treiben und irgendwann untergehen, ohne daß mich jemand noch einmal zu Gesicht bekäme. Das Kino, in dem ich mir einige Tage später den Film »Apocalypse Now« ansah, mußte ich vorzeitig verlassen, zitternd und schweißüberströmt. Der Zustand hatte mich übermannt, als in Coppolas Film zu erotischer Truppenbetreuung engagierte »Playboy Bunnies« unter den Klängen lauter Rockmusik, umstrahlt von grellem Scheinwerferlicht, auf eine Bühne im Dschungel stürmten, an deren Rand sich Hunderte sexuell ausgehungerte GIs drängten.
Dann begannen die Ausnahmezustände sich täglich zu wiederholen. Nach jedem Rückfall verringerte sich das natürliche und unhinterfragte Gefühl für die Welt. Es war sogar noch schlimmer: »Mein Selbst« kam mir stückweise abhanden. Ich ertappte mich mittlerweile dabei, daß ich möglichst vermied, meine Wohnung zu verlassen. Es war unübersehbar geworden, daß mit mir etwas Grundlegendes nicht in Ordnung war. Ich hatte gewissermaßen ein Rendezvous mit der Natur des menschlichen Selbstgefühls. Das »Selbst«, lernte ich damals, ist ein kleiner, unscheinbarer Bestandteil unserer inneren Verfassung. Wenn er ein paar Wochen dauerhaft fehlt, hat man das Gefühl, sich am liebsten aufhängen zu wollen. Man hat das Gefühl, verrückt zu werden. Oder es längst zu sein.
Was war mit mir los? Vierzig Jahre später versuche ich mir einen Reim auf meine damaligen Angstzustände zu machen. Überraschend schnell führt die psychoanalytische Tragikomödie eines nicht besonders drogenfesten Jungkommunisten aus bürgerlichem Haus auf gesellschaftspsychologisch Grundsätzliches. Im zeitlichen Abstand wird an meinen Verwirrungen zum Beispiel deutlich, daß die politisch-moralische Selbstsicherheit der Generation, die sich damals in ein neues Jahrzehnt hineinbewegte, in Wirklichkeit eine ziemlich instabile Sache war. Jenes Selbst, über das ich nach meinem nächtlichen Gang auf der Stuttgarter Schloßstraße im September 1979 ein paar Wochen lang nicht mehr uneingeschränkt verfügte, ist in der riskanten Atmosphäre gesellschaftlicher Umbruchsituationen offenbar besonders störanfällig. Und um 1980 bewegten sich die Kontinentalplatten unter der Oberfläche der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Es rumpelte und grollte in der Tiefe. Der Erdstoß aus den sechziger Jahren war verebbt. Eine Dekade zuvor, um 1970 herum, hatten unsere Autoritäts-, Lehr-, Aufsichts- und Respektspersonen unsere Vorstöße ins gesellschaftlich Ungedeckte und Radikale noch mit Sympathie begleitet, sogar ermutigt. Unvergeßlich ist mir zum Beispiel die Bemerkung eines der beiden Jungtheologen, die uns im »Evangelisch-Theologischen Seminar« nicht nur in den »Hörsälen« und »Stuben« beaufsichtigten, sondern im Klosterrefektorium auch ihre Mahlzeiten mit uns einnahmen und Apartments im Schlafsaaltrakt bewohnten – sie hießen seit dem 16. Jahrhundert »Repetenten«. Er wolle, gab dieser ernste junge Mann vor den Osterferien 1969 beiläufig zu Protokoll, in den beiden nächsten Wochen »einmal wieder nichts anderes tun, als Ernst Blochs Prinzip Hoffnung ganz durchzuarbeiten«. Seine Ankündigung beeindruckte mich tief. Es war ein Akt intellektueller Selbstterrorisierung, der ihm durchaus zuzutrauen war. Besonders die Vorstellung, daß unser Repetent sich jener Lektüre offenbar schon einmal unterzogen hatte und nicht ausschloß, dies in einer unbestimmt hinter den bevorstehenden Osterferien liegenden Zukunft ein weiteres Mal zu tun, die Vorstellung also, daß man Blochs Buch offenbar immer wieder durcharbeiten solle, war das Eindrucksvolle und eigentlich Haarsträubende. Die Erwachsenen schienen plötzlich ganz auf demselben trip zu sein wie wir; sie waren uns sogar voraus, wenn es um seine intellektuelle Facette ging. Ich erinnere mich an durch Jungmannschwärmerei überglänzte Abende mit einer jungen Kollegin meines Vaters, die mir Che Guevaras »Bolivianisches Tagebuch« ausgeliehen hatte und während eines Ferienaufenthalts im heimischen Blaubeuren die Verlautbarungen des südamerikanischen Revolutionsromantikers bei Bier und Zigaretten bis spät in die Nacht mit mir diskutierte. Der Mond erotischer und politischer Illusionen stand über dem Rand der Schwäbischen Alb und die Sommerbäume des Jahres 1969 rauschten, als flöge meine Seele durch die stillen Lande nach Haus.
Ein Jahrzehnt später jedoch, unter den Nachwirkungen des RAF-Schocks von 1977, sah sich unser aufrührerisches Selbstgefühl zunehmend alleingelassen von den großen Brüdern und Schwestern, an denen wir uns so lange orientiert hatten. Die waren jetzt Gymnasiallehrer und Professoren. Sie bekamen Kinder. Sie schlossen Bausparverträge ab. Sie wiegten plötzlich bedenkenträgerisch den Kopf, wenn ich von der antimonopolistischen Revolution schwadronierte. Ich fühlte mich 1980 – seit sechs Jahren Mitglied des MSB Spartakus, der Studentenorganisation der DKP – wie das Witzmännchen in jenem berühmten Comic, das von selbstbewußtem Überschwang enthusiasmiert über einen Abgrund hinauswandert, dann gleichsam erwachend nach unten sieht – und sich plötzlich im freien Fall befindet. Es kam zu einer Art Renaissance der Wirklichkeit. Der väterlich-herrische Helmut Schmidt saß schon ein paar Jahre als Kanzler im Sattel, der utopisch-mütterliche Willy Brandt war längst zurückgetreten. Und rechts griff der CDU-Kandidat Helmut Kohl beherzt an, allgemein lächerlich gemacht als »Birne«. »Birne« rief eine »geistig-moralische Wende« aus, die viel verspottet wurde, aber auch als unbestimmte Drohung im politischen Raum stand. »Berufsverbote« wurden ausgesprochen, die »Nachrüstung« beschlossen und gegen erstaunlich massive Demonstrationen unbeirrt durchgesetzt. Nachdem mein pseudorevolutionärer Drang sich ein Jahrzehnt lang von allgemeiner Sympathie bürgerlicher Bezugspersonen und Vorbilder getragen gefühlt hatte, stellte sich neuerdings das mulmige Gefühl ein, daß es von ihnen so radikal dann eben doch nicht gemeint gewesen war. Der illusionäre Überschwang linker Selbstfeier geriet nach einem euphorisch bewegten Jahrzehnt ins Stolpern.
Das Selbstgefühl – das haben meine Forschungen ein halbes Jahrhundert nach dem Selbstverlust von 1979 ergeben – ist überhaupt eine notorisch unzuverlässige Sache. Je genauer man sie betrachtet, desto geheimnisvoller schaut sie zurück. »Selbst« ist ein viel weniger erforschter Protagonist des menschlichen Seelentheaters als die von Sigmund Freud erfundenen und längst in die intellektuelle Folklore eingegangenen Helden oder Schurken namens »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. Man könnte die innere Instanz »Selbst« im Gegensatz zu dieser bekannten freudianischen Dreifaltigkeit einerseits mit der Bühne vergleichen, auf der das Personal unserer inneren Commedia dell’arte seine Kapriolen schlägt und seine Schauerdramen aufführt. Und das von dem amerikanischen Narzißmustheoretiker Heinz Kohut als Therapieziel postulierte »funktionierende Selbst« könnte zugleich mit einem klug agierenden Theaterintendanten verglichen werden, der jene drei Charakterchargen zu motivieren, zu besänftigen, zu zügeln oder an der langen Leine zu führen versteht. »Ich« ist der wichtigste Ansprechpartner und Verbündete des Selbst in der Künstlergarderobe. Denn mit »Ich« läßt sich, manchmal jedenfalls, reden. Während »Es« sich wechselweise divenhaft und kindisch aufführt. Und »Über-Ich« einem starren alten Charakterschauspieler gleicht, dem seit ewigen Zeiten schon unkündbaren »one-trickpony« eines Stadttheaters in der Provinz. Zu irgendeiner Form läuft der eitle alte Herr nur noch auf, wenn man ihn als Musikus Miller oder Wotan besetzt – oder am besten gleich als Gottvater. Mein revolutionäres Selbst der siebziger Jahre hatte funktioniert, weil es sich im Einklang mit seiner Zeit wußte. Gottvater schien linksradikal geworden zu sein – auch Marx, Engels und Fidel Castro hatten schließlich lange Bärte. Mein »Ich« folgte dem revolutionären »Über-Ich« meiner Generation zuerst ungläubig staunend, dann immer feuriger auf seinen neuen Wegen. »Es« hatte derweil ganz eigene Vorstellungen, trieb sich tief in den fünfziger Jahren herum und konnte mit meinen Genossinnen der siebziger Jahre wenig anfangen. Und »Selbst« – der Impresario, der ein Jahrzehnt lang vollauf damit beschäftigt gewesen war, sein Theater in einen revolutionären Zirkusbetrieb umzubauen – fühlte sich völlig überfordert, als statt des marxistischen »Grand Guignol« jetzt plötzlich eine neue Bürgerlichkeit auf dem Programm stehen sollte.
Das alles ließ um 1980 einen sich immer weiter ausdehnenden Wirtschaftszweig in Mode kommen: die Psychotherapie. Vielleicht folgerichtigerweise betrat sie damals ebenfalls revolutionär die Bühne, als Lifestyle und in Form miteinander verfeindeter Sekten. Sie empfahlen die »Urschrei«-Therapie oder luden in den »Ashram« des »Bhagwan« Shree Rajneesh in Poona ein. Sie versprachen psychische Wiedergeburt durch »Rebirthing« oder das Übermenschentum als »Operierender Thetan« mit Hilfe von »Scientology«. Gurus und ihre Heilslehren gerieten allgemein in Umlauf. Seriöse Psychotherapie hatte es natürlich schon vor den neuerdings boomenden Wahnsinns- oder Beschleunigungsformen gegeben. An einem Wintertag in den späten Siebzigern hatte zum Beispiel mein bester Freund, ein ehemaliger Mitseminarist, Besuch von seinem Bruder, der in den USA eine Ausbildung zum »Gestalttherapeuten« absolvierte. Eine Ausbildung wozu? Dringlich befragten wir ihn darüber, was das denn eigentlich sei. Nach Gestalttherapeutenart bot er kurzerhand an, uns einfach mal eine Demonstration zu geben. Im WG-Zimmer meines Freundes stellte er mit Hilfe zweier Stühle die von den Psychoanalyse-mavericks Fritz und Laura Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman 1951 erfundene therapeutische Standardsituation her. Der Bruder aus Amerika entführte uns nacheinander binnen weniger Minuten in eine Arena von Gefühlen, Selbstbildern und Introjekten, die sich bisher nur am Rand unseres Bewußtseinsfelds herumgetrieben hatten, jetzt aber anschaulich Gestalt gewannen. Sie saßen als phantasierte Figuren vor uns auf dem leeren Stuhl. Dann wieder wurden sie von uns selbst verkörpert und während alldem gleichsam erkannt: »Ach, du bist das!« Es war die erste Berührung mit einer neuen und aufregenden Dimension des Selbsterlebens. Sie führte uns hinaus über den leibfeindlichen und gefühlsfernen protestantischen Bannkreis moralischen und pseudopolitischen Intellektualisierens, in dem das Evangelisch-Theologische Seminar uns erzogen hatte. Aus der Papierwelt ins Leben. Es war, als sei uns unsere innere Wirklichkeit auf einmal zum Greifen nahe. Heute noch ist mir gegenwärtig, wie real die verschneite Stadtlandschaft vor dem Fenster aussah, als ich – gleichsam erwacht und noch halb betäubt eine Zigarette rauchend – wieder aus dem Theater meiner Introjekte in die Wirklichkeit zurückfand. Die schneebedeckten Autos und Straßenlaternen da draußen, die sich fast unmerklich bewegenden Zweige der Bäume, die langsam fallende Dämmerung, das Gesicht meiner hinter mir stehenden Freundin, als ich mich wieder ins Zimmer hinein umdrehte. Alles hatte neue Konturen gewonnen. Als sei es jetzt erst in die volle Sichtbarkeit getreten. Und ich in mich selbst zurückgekehrt.
»Ich will, daß es draußen schneit und ich nur deine Stimme höre«, lautete die zu diesem Moment gehörende Zeile eines nie geschriebenen Gedichts. Für eine Zigarettenlänge war ich »Vollbürger der Realität« im Foyer des Hotels »Wirklichkeit « gewesen. Dieses Realitätsbewußtsein war ein neues, tatsächlich unbekanntes Gefühl. Es glich von allem, was ich kannte, am meisten den Minuten nach dem Orgasmus. Dann verschwand der Ausnahmezustand wieder in den Wellen des Alltags. Aber mein Freund und ich hatten an jenem Stuttgarter Winternachmittag ein für alle Mal verstanden, daß Psychotherapie zwar ins Reich der Unvernunft führt, aber paradoxerweise trotzdem eine vernünftige Sache ist und in diesem Spannungsfeld zwischen Vernunft und Unvernunft reale Wirkungen zeitigt. Die schon verwendete Theatermetapher führt bei der Beschreibung dieser eigentlich nicht beschreibbaren Wirksamkeit am weitesten. Psychotherapie berät und unterstützt das Selbst ihres Klienten bei dem Vorhaben, seine Intendantenfunktion zu erlernen oder wiederzugewinnen. Denn auf der Bühne der Gesellschaft und der eigenen Existenz, mit jenem dauernd in sich zerstrittenen und wenig einsichtigen Personal muß unser Selbst, ob es will oder nicht, eine Vorstellung zustande bringen, die es der Welt irgendwie präsentieren kann. Die Qualität dieser Aufführungen ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht vom Schmierentheater bis zu großem Kino. Im einigermaßen gelungenen Fall aber bringt der Intendant »Selbst« ein theatrales Arbeitsumfeld zustande, das Heinz Kohut in seinem Buch »Die Heilung des Selbst« als einen »psychologischen Sektor« beschreibt, »in dem Strebungen, Fertigkeiten und Ideale ein ungebrochenes Kontinuum bilden, das von Freude erfüllte Tätigkeit ermöglicht«. Was jenes Selbst aber eigentlich ausmacht, das da im Interesse einer gelungenen Lebensaufführung mit Es, Ich und Über-Ich verhandelt, weiß man im Grunde nicht. Das Selbstgefühl ist die geheimnisvollste Instanz des inneren Apparats.
(…)
SINN UND FORM 6/2021, S. 725-737, hier S. 725-730
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Wagner-Régeny, Rudolf
Erinnerungen und Notizen (1943-65)
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Es ist unwahrscheinlich, und nur der Erlebende vermag es zu bestätigen, daß eine restlose Zerstörung der eigenen Lebensführung eine Art der Heiterkeit zu erzeugen vermag, die jenseits aller festgefügten Vorstellungen steht. Je gewaltsamer alle äußeren wie inneren Werte aufgelöst werden, um so beharrlicher will ein starkes Weltgefühl sich bemerkbar machen. Es übernimmt die Funktionen des verstandesmäßigen Erwägens, es leitet unsere Schritte in nachtwandlerischer Sicherheit.
Ein kleines unfreundliches Zimmer des Gasthauses »Zum goldenen Frieden«, acht Kilometer von der kleinen Stadt Teterow entfernt, an der offenen Landstraße gelegen, beherbergte uns. Von hier reiste ich »auf Tourneen« und spielte in Lazaretten. In Burg Schlitz fanden die Aufnahmen statt, Gerhard Winklers Gesänge wurden von der lustigen Magda Hain vorgetragen.
Die unberührte Natur der Mecklenburgischen Wälder begann einen Genesungsprozeß in mir zu vollziehen. Er gab mir die Stärke, um Lelis nahen Tod vor Augen ertragen zu können.
Das Jahrzehnt von 1933 bis 1943 überdachte ich auf den vielen Wegen, die ich, durch die friedlichen Felder streifend, dahinging.
Alles, was sich in einem arbeitsreichen Leben bis jetzt ereignet hatte, war aufgelöst. Es hatte keine Spuren hinterlassen. Das fest Gefügte war nur noch schattenhaft in mir lebendig.
Der Krieg tobte in allen vier Himmelsrichtungen.
Mit einer Pferdedecke den Radioapparat und mich umhüllend, verbrachte ich unter Herzklopfen die Viertelstunden in dem Zimmer meines Majors (wenn er abwesend war), um Nachrichten des Londoner BBC zu hören. Er hatte eine Landkarte an der Wand angebracht, die er mit Fähnchen besteckte, die den Rückzug des deutschen Militärs markierten.
Wie sollte ich über das nahe Ende des Krieges Freude empfinden? Leli siechte dahin, während die Russen schon auf das deutsche Reichsgebiet vorgedrungen waren und die Amerikaner sich durch Frankreich auf Deutschland zu bewegten. Das Pendel meiner Empfindungen von übergroßer Freude zu unerträglichem Schmerze warf mich zu Boden. Ich rettete mich, indem ich den Bauernkindern der Umgebung Klavierstunden gab, sie die Notenschrift zu entziffern lehrte. Ja, es fand sich eine Förstertochter, die bei mir Französischunterricht nahm! So kam das Jahr 1945 heran.
Zwei Besuche darf ich nicht unerwähnt lassen. Heinz Hilpert und Gottfried von Einem besuchten mich in dem Gasthaus »Zum goldenen Frieden«. Sie waren auf abenteuerlichen Fahrten bis zu uns gelangt. Es rührte mich zutiefst.
Wenn nur »Friede« wäre! Dann wäre »alles gut«.
Der Friede nahte auf solche Weise: Zu allen Stunden sah man zerlumpte deutsche Soldaten, allein oder zu zweit, durch die Wälder streifen. Auch ein Rudel ganz abscheulich anzusehender müder Gesellen mit einem Hauptmann kam des Weges. Sie »formierten« sich zum letzten Gefecht, denn die Russen waren schon in Mecklenburg. Die Herrschaften von Burg Schlitz setzten sich mit eleganten ledernen Koffern, Hutschachteln und Golfausrüstung in ihre Kutschen und ließen sich westwärts fahren. Mit einem Male waren die Landstraßen voller Menschen. Es waren Ströme von Flüchtlingen, die »dem Russen« nicht in die Hände fallen wollten, denn jahrelang war dem Volke eine panische Angst eingeredet worden vor den »Bolschewiken«. Tag und Nacht hörte man die schlurfenden leisen Schritte der auf der Landstraße Vorüberziehenden.
Einige Wochen zuvor waren mysteriöse Gestalten aufgetaucht. Man wußte nicht, woher sie kamen, noch wo sie zu Hause waren. Es waren alte rundliche Frauen, hübsche Mädchen, die unnatürlich »gesund« aussahen. Es waren auch zwei Männer, von denen gesagt wurde, daß sie Ärzte seien. Als wir beide gleichzeitig von der Ruhr befallen wurden und nirgendwo Hilfe zu finden war (die Schloßherrschaften, an die wir uns wandten, sie möchten uns eine Flasche Rotwein zur Verfügung stellen, hatten bedauert, »in diesen Zeiten den Wunsch nicht erfüllen zu können«), kam lächelnd einer jener fremden Männer (ein Arzt »aus dem Baltikum«) und heilte uns mit Cybazol. Ich fragte ihn, wer er sei, warum er in dieses entlegene Land gekommen war. Mit verschämtem Lächeln wußte er nur zu sagen: »Kinder, ihr macht es gut. Bleibt hier, euch wird nichts geschehen. Laßt die anderen ihres Weges gehen!« Als man dann hörte, daß die Russen schon in Teterow seien und unaufhörlich Kanonendonner zu vernehmen war, sah ich gegen Abend einen kleinen rötlichen Bach den Schloßberg herunterfließen. Es war ein seltsames Rinnsal einer schaumigen Flüssigkeit. Man hatte »oben« befohlen, den ganzen Weinkeller zu zerschlagen. Die köstlichsten französischen Weine, Champagner und Cognac flossen, im Kies versandend, den Berg herab. Ein französischer Landarbeiter brachte mir fünfzehn unversehrte Flaschen Bordeauxweines, die wir sofort zu leeren begannen. Mit der Vernichtung des Kellers wollte man verhüten, daß angetrunkene »Feinde« im Schlosse randalierten.
Mit einem Male war eine große Truppe französischer Arbeiter um uns versammelt. Weshalb es geschah, weiß ich nicht, doch bauten sie neben dem Wirtshause am Waldrande Gruben, in denen man bequem Platz nehmen konnte, um die Russen zu erwarten. Jede Grube erhielt eine weiße Fahne, die aus einem Handtuch gebildet war. Eine Nacht verbrachten wir in diesen eigenartigen tierischen Erdgewölben, und ich allein trank fünf Flaschen des vortrefflichsten Weines, ohne etwas von dem Alkohole zu verspüren. So groß war die Erregung in uns.
Im Morgengrauen hörte man Pferdehufe. Es nahte ein Wagen mit zwölf amerikanischen Soldaten, die ihre Heimkehr aus der deutschen Gefangenschaft angetreten hatten. Sie brieten sich Fleisch, die Flaschen machten die Runde, man hörte sich die neuesten Nachrichten an, es war ein Kauderwelsch von Französisch, Deutsch und Englisch, was man hin und her rief. Dann wurden wir müde und gingen in das kleine Zimmer hinauf. Auch um das Haus war es still geworden. Nur das melancholische Schnauben der Pferde war zu hören.
Ich lag in meinen Kleidern, halb wachend, halb schlafend, auf dem Bett. Da wurde die Tür aufgerissen, und ein etwa vierzehn Jahre alter Junge in erdfarbener russischer Uniform trat ein. Auf seinem Gesicht lag ein freimütiges Lächeln, das uns stark anrührte. Niemand sprach, niemand bewegte sich. Da sprang Leli aus ihrem Bett auf und umarmte das Kind.
Schon einige Minuten später betraten acht Soldaten der Roten Armee unser Zimmer. Die Verständigung war mühselig genug, obwohl wir schon seit einem halben Jahre versucht hatten, uns mit Hilfe eines russischen Lehrbuches einige Worte anzueignen. Bald waren wir wie Kuriositäten belagert. Wir konnten nur Sätze wie diese bilden: »Die Rose und der Käfer sind im Garten« oder »Das Feld ist schön«.
Ein Clavichord, welches ich noch mit dem letzten Zug aus Bamberg erhalten hatte, stand auch in dem engen Raume. »Igraete! Igraete!« (Spielen Sie! Spielen Sie!), so klang es vom Morgen bis zum Abend. Und wenn es Nacht geworden war, kamen die Russen aus den Nachbardörfern, saßen bis zum Morgen bei uns, brachten Brot und gebratenes Geflügel, lachten, lärmten und ließen uns nicht schlafen. In dem freundlichen Getümmel konnte ich für ganze Stunden Lelis Kranksein vergessen, und es wollte sich etwas wie Hoffnung in mir bilden.
Dann erhielten wir hohen Besuch. Der Generalarzt einer Heeresabteilung, Major Tretjakow, kam, begleitet von einer wundersam schönen Dame, die wie eine unwirkliche Krankenschwester anzusehen war, um unsere Kunstwerke kennenzulernen. Sein Interesse galt weniger meiner Musik als einer Mappe mit Reproduktionen, die alle verbrannten Bilder, die Leli in ihrem Leben gemalt hatte, zeigte.
Dann kümmerte sich ein Sergeant namens Rittel (ein Pole, der in der Roten Armee diente und von Beruf Friseur war) täglich um uns. Zwei Monate lang waren wir Tag und Nacht »belagert von Interessenten« an Kunst. Ein Bäcker war der Ansicht, daß ich eine Schreibmaschine haben müsse, um etwas »zu tun«. Am nächsten Tage brachte mir ein Offizier eine Maschine.
[…]
SINN UND FORM 1/2010, S. 92-95.
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Ein Gespräch über Gedichte mit Ralph Schock, S. 468 Leseprobe
Wagner, Jan
»EINE ANDERE WAHRNEHMUNG DER WELT« Ein Gespräch über Gedichte mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen.
JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel.
SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben?
WAGNER: Von 1994 bis 2003 haben wir elf Ausgaben gemacht. Der Titel »Die Außenseite des Elementes« ist im Grunde eine Art sprachliches Ready-made, nämlich der Aufkleber, mit dem Glaser die Außenseite einer Fensterscheibe bekleben, also die Wetterseite. In der DIN-A4-Pappschachtel befindet sich eine gedruckte Loseblatt-Sammlung mit Lyrik aus aller Welt, im Original und in Übersetzung, aber auch Prosa, Zeichnungen, Radierungen und so weiter. Durch den Verzicht auf Heftung und Seitennumerierung waren die Leser eingeladen, selbst die Reihenfolge zu bestimmen: das Lieblingsgedicht nach oben zu legen, vielleicht sogar eine Zeichnung, die sie besonders mochten, herauszunehmen, zu rahmen und an die Wand zu hängen. Mit anderen Worten: Es war eine nichthierarchische Publikation, bei der die Käufer in den Gestaltungsprozeß eingebunden werden sollten. Das Ganze zum Selbstkostenpreis und gewissermaßen als literarische Hommage an Marcel Duchamp und seine Schachtelkunst.
SCHOCK: Sie haben auch Arbeiten von Lyriker-Kollegen herausgegeben. Beachtung fanden zum Beispiel die 2003 erschienene Anthologie »Lyrik von Jetzt« und der einige Jahre später veröffentlichte Nachfolgeband.
WAGNER: Beide Bücher habe ich mit Björn Kuhligk herausgegeben. Es war der Versuch, die Lyrik unserer Generation zu sammeln. Wir wußten ja, wie aufregend das war, was in der deutschsprachigen Poesie geschah. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß der Reichtum an großartiger Lyrik seit Mitte der neunziger und erst recht in den letzten zehn Jahren seinesgleichen sucht, daß es vielleicht seit dem Frühexpressionismus keine solche Vielfalt individueller Stimmen mehr gegeben hat. Wenn man das selbst erlebt und sieht, wer in den Cafés und Kneipen liest, wer in den kleinen Zeitschriften, von denen es ja wimmelt, publiziert, hat man den Wunsch, es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die in der Regel gar nichts davon ahnt.
SCHOCK: Sie wurden 1971 in Hamburg geboren und haben dort und in Dublin und Berlin Anglistik studiert. Sind Sie in einem literarischen Elternhaus aufgewachsen?
WAGNER: Ich bin in einem Haus mit einer großen Bibliothek aufgewachsen, und meine Eltern haben mich schon in frühester Kindheit zum Lesen ermuntert. Zuerst waren das vor allem Romane, die Lyrik kam dazu, als ich vierzehn, fünfzehn war, und hat mich regelrecht zum Glühen gebracht. Emily Dickinson hat einmal geschrieben: »Wenn es sich anfühlt, als würde Deine Schädeldecke abgehoben, dann weißt Du, es ist Poesie.« Und das geschah mir zum Beispiel mit den Frühexpressionisten Georg Heym, Georg Trakl, besonders aber mit englischsprachigen Dichtern. Der erste, der mich so begeistert hat, daß ich dachte: So würde ich die Sprache auch gern beherrschen, als eine Magie zweiter Ordnung, war Dylan Thomas, der berühmte walisische Dichter, der auch eine wunderbare Stimme hat. Eine Freundin beschrieb sie einmal als »a rich old fruity portwine of voice«, als volle, fruchtige Portweinstimme, was es sehr gut trifft. Ich habe seine Stimme, seine Gedichte und auch sein Hörspiel »Unter dem Milchwald« gehört und war hin und weg.
SCHOCK: Sie sind mit Ihren Veröffentlichungen außerordentlich erfolgreich, sind Mitglied mehrerer Akademien, wahrscheinlich fast überall eines der jüngsten, Ihre Gedichte wurden in allen wichtigen Anthologien gedruckt, die Liste der Ehrungen und Preise bei Wikipedia ist beinahe länger als Ihr biographischer Eintrag. Können Sie als Lyriker auskömmlich leben?
WAGNER: Ich bin in jedem Fall beglückt und wurde reich beschenkt, gar keine Frage. Das ändert aber nichts an der Faustregel, daß man von Lyrik nicht leben kann. Niemand, der ein geregeltes Auskommen haben möchte, sollte darauf hoffen, das mit dem Schreiben von Gedichten erreichen zu können. Das ist, anders als bei Romanen, im Grunde unmöglich, und viele befreundete Dichterentscheiden sich deshalb ganz bewußt für einen Brotberuf. Sie sind zum Beispiel Buchhändler, arbeiten beim Rundfunk oder an einer Universität. Es ist möglich, als freier Lyriker zu leben, wenn man verschiedene Einkünfte hat, in meinem Fall etwa durch eigene Bücher, durch Lesungen in Buchhandlungen oder Literaturhäusern, durch Übersetzungen und Rezensionen. Doch selbst dann ist man darauf angewiesen, ab und zu ein Stipendium zu bekommen, das einem ein halbes Jahr oder länger Sicherheit und Unabhängigkeit schenkt.
SCHOCK: Haben Sie angesichts all der Ehrungen und Preise eine bestimmte Strategie, um nicht abzuheben, um auf dem Teppich zu bleiben?
WAGNER: Mein Teppich ist so gut verlegt, daß ich die gar nicht brauche, und es ist auch kein fliegender Teppich. Es mag banal klingen, aber für mich ist das Gedicht das Entscheidende. Ich bin erstaunt und beglückt, daß meine Texte so positiv aufgenommen werden, aber was mich wirklich glücklich macht, ist das Gelingen eines Gedichts. Ich glaube, so geht es allen, die Gedichte schreiben. Das liegt an der Wichtigkeit, die man der Sprache beimißt, dem Wunsch, all ihre widerstrebenden Elemente – das Musikalische, die Semantik, die Metaphern, die Paradoxien – auf engstem Raum zu vereinen, zum Klingen zu bringen und etwas zu schaffen, das dem Diktum von Emily Dickinson entspricht, das zu einer anderen Wahrnehmung der Welt führt, zu einer Explosion im Kopf. Der Wunsch, das zustande zu bringen, ist so groß, daß er das Hauptaugenmerk beansprucht.
SCHOCK: Diesen Anspruch haben Sie in dem wunderbaren Gedicht »giersch« exemplarisch eingelöst. Können Sie erzählen, wie so ein Text zustande kommt? Giersch ist ja eigentlich ein Unkraut. Manche Leute essen ihn auch als Gemüse. Haben Sie das mal probiert?
WAGNER: Nein, ich bin auch kein Gartenbesitzer, aber ich habe mir sagen lassen, daß er gut schmeckt. Man kann Suppe daraus machen, Salat, auch Quiche, was mir gut gefällt, weil Quiche und Giersch – als Giersch-Quiche – eine wunderbare Wortkombination ergibt. Jeder Gärtner liebt und haßt den Giersch, aber man kann unmöglich so viel davon essen, daß der Garten gierschfrei wird. Ich saß einmal als einziger Balkonbesitzer unter lauter Kleingärtnern, die sich über ihre Gierscherfahrungen austauschten und jammerten und stöhnten. Als Unbeteiligter konnte ich mich ganz auf das Wort Giersch konzentrieren, in dem wunderbarerweise schon die Gier enthalten ist, die ihn ausmacht. Ich ließ mich von dem Gespräch wegtreiben und begann über die Laute dieses Wortes nachzudenken. So kam es zu dem Gedicht. Wenn man es zum ersten Mal hört, wird man vielleicht nicht merken, daß es eine klassische Form bedient. Es ist ein Sonett, allerdings ein unterwandertes oder, wie es sich für den Giersch gehört, ein überwuchertes. Die Klangstruktur des Wortes sprengt mit ihrem sprachlichen Wurzelwerk die Form, bricht sie auf und überwuchert das ganze Gedicht.
SINN UND FORM 2/2015, S. 214-228, hier S. 214-216
- 5/2015 | Süßes Erschrecken. Über Eduard Mörike, S. 468 Leseprobe
Wagner, Jan
SÜSSES ERSCHRECKEN Über Eduard Mörike
Wer niemals seine Schritte nach Mergentheim und Wermutshausen lenkte, nie in Weilheim, Kirchheim, Pflummern und Ochsenwang gewesen ist, wer nie nach Urach und Teinach fuhr, auch nicht nach Köngen, Nagold oder Scheer, nie in Eltingen und Plattenhardt nächtigte, wer schließlich kaum zu sagen wüßte, wo genau auf der Landkarte Weinsberg, Möttlingen, Cleversulzbach und, ja: auch Fellbach zu finden sind, der wird, wenn er ein Kleingeist oder ein bornierter Großstädter ist, nur kurz müde lächeln und dann abwinken; ist er aber verständig, so ahnt er: auch dort ist die Welt. Und mag es sich auch nicht um London, Paris oder New York handeln – es braucht doch nicht mehr, als in jenen unvertrauten Orten vorhanden ist, um eine Welt zu erschaffen.
Eduard Mörike war kein Weitgereister, war alles andere als ein Globetrotter; den Mozart seiner berühmtesten Novelle ließ er zwar in der Kutsche bis nach Prag holpern und schwanken, er selbst jedoch kam kaum je aus dem heimischen Schwaben heraus – wenn er auch innerhalb dieser engen Grenzen, die eingangs erwähnten Ortsnamen zeigen es, ungewöhnlich häufig umzog. »Was soll die dumme Neugierde auf die Fremde? nichts, als daß seine Phantasie toll wird!« schimpft der Vater von Maler Nolten in Mörikes gleichnamigem Roman; ein Künstlervater, pikanterweise ein Pfarrer wie Mörike selbst, ein Vater jedoch, der nicht zu ahnen scheint, daß die Phantasie kaum mehr als einen Vorgarten, daß sie lediglich ein paar Quadratmeter Rasen oder noch weniger benötigt, um unrettbar toll zu werden. Die Gegend, in der Mörikes Maler Nolten aufwächst, das Rißtal, kenne ich als Reisender selbst hingegen recht gut und besuche es gelegentlich zu familiären Anlässen. So waren wir vor nicht allzu langer Zeit an der Riß zu Gast, in Biberach, um den zweiundneunzigsten Geburtstag von Großmutter Edith zu begehen – eine Feierlichkeit, in deren Verlauf sich einmal mehr Gelegenheit bot, über das tiefe Mißtrauen nachzudenken, das der Kunst generell, besonders aber der Dichtkunst heute wie in Pfarrer Noltens Jahrhundert entgegengebracht wird. Wir saßen in kleiner Festtagsrunde im sommerlichen Garten von Großmutter Edith am Tisch, der Sonnenschirm war aufgespannt, es gab Kaffee und Kuchen, man plauderte und klapperte mit dem Geschirr, die Blaumeisen hüpften durch ihr Heckenlabyrinth, und irgendwann fragte mich eine nur unwesentlich jüngere Freundin der Großmutter, wer ich denn nun sei und was ich beruflich täte. Ich sei ein Verfasser von Büchern, antwortete ich wahrheitsgemäß, damit unverzüglich die Nachfrage provozierend, um was für Bücher genau es sich denn handele. Um Gedichtbände, sagte ich also – woraufhin die Dame mich stumm ansah; mich ansah; mich ansah; sich dann abrupt von mir ab- und der Großmutter zuwandte und ausrief: »Edith, der Bienenstich ist wunderbar!«
Von Mörike ist, wenn mich nicht alles täuscht, kein Gedicht über den Bienenstich erhalten; denkbar wäre es aber. Tatsächlich gehört ja Mörike zu jenen Dichtern, deren Verse auch der großmütterlichen Freundin durchaus zugänglich sein müßten, und das keineswegs nur, weil er Schwabe war. Wer Lyrik für absonderlich hält, für eine weltfremde und bizarre Angelegenheit mit keinerlei Bezug zum Leben und Wirken der sogenannten normalen Menschen, der wird beim Blättern durch Mörikes Werk eines Besseren belehrt – kaum ein anderer Dichter greift so eifrig noch die alltäglichste Begebenheit, den gewöhnlichsten Gegenstand auf, um ein Gedicht daraus zu entwickeln, ja, man hat den Eindruck, daß geradezu angstvoll keine Gelegenheit ausgelassen wird, um etwas Dasein in Zeilen und Reime umzugießen, nicht nur in den zahlreichen Grußadressen an Hofräte, Bibliothekare, Familienmitglieder und Freunde wie den Maler Moritz von Schwind. Mörike schreibt Rätselgedichte, Trauerfeiergedichte und Trinksprüche; er verfaßt ein lückenhaftes und von den jungen Leserinnen auszufüllendes Lehrpoem zur Erbauung seiner Nichten, schreibt Spottgedichte und Scherzgedichte; er reimt anläßlich von Eheschließungen, Geburtstagen und Konfirmationen, kommentiert eine Buchausleihe und steuert Verse für Poesiealben bei, ja, er bringt sogar ein Rezept für Frankfurter Brenten, ein traditionelles Teegebäck, in eine gutverdauliche lyrische Form; Mörike schreibt Widmungsgedichte ("Süßeste Freya, / Eiapopeia!«), er verschenkt »Albumblätter für Schülerinnen des Katharinenstifts« ("Das schöne Buch – ei, seht einmal! / Mit Schloß und Schlüssel, blank von Stahl! / Was hast du unter diesen Decken / So gar Geheimes zu verstecken?«), er bringt mehr als einmal ein Gedicht für seinen Hund Joli zu Papier und komponiert zu guter Letzt »Inschriften auf selbstgefertigte Blumentöpfe und Schalen«, die er, als begeisterter Freizeitkeramiker, beispielsweise einem Honigtopf beilegt, um ihn angemessen zu präsentieren.
Schon in der Wahl seiner Themen also ist Mörike derart offenherzig, daß die Grenze zwischen Kunst und Leben, die von so vielen für unüberwindbar gehalten wird, porös zu werden beginnt; er ist seiner Gegend und den Menschen darin verbunden und spricht deren Sprache, und zwar nicht nur, wenn er ein Gedicht an die Nachtigall mit der Entschuldigung abbricht, es gebe »frisches Bier / Und Kegel abend« im Jägerschlößchen, was selbst manchem Gedichtverächter aus Seele und trockener Kehle sprechen dürfte. Dann und wann meint man gar eine schwäbische Sprachmelodie herauszuhören, etwa wenn er »genötigt« auf »Predigt« reimt oder »schließen« auf »diesen«, und tatsächlich: Wer im Werk Mörikes nach Dialektgedichten sucht, wird fündig. Theodor Storm, Norddeutscher wie ich und schon früh ein Bewunderer Mörikes, besuchte den Reiseunwilligen einmal nach langem brieflichen Hin und Her in Stuttgart und brachte seine Eltern aus Husum mit; Mörike und Storms Vater, so heißt es, mochten einander zwar auf Anhieb, verstanden aber während der gesamten gemeinsamen Zeit kaum ein Wort von dem, was der andere schwätzte oder schnackte.
Theodor Storm war es auch, der mit so freundschaftlichen wie erhellenden Zeilen die Dichtung Mörikes zu fassen verstand: »Man sah«, so Storm, »durch diese Gedichte wie durch Zaubergläser in das Leben des Dichters selber hinein. Da war Tiefe und Grazie und deutsche Innigkeit verschmolzen oft mit antiker Plastik, der rhythmisch bewegte Zug des Liedes und doch ein klar umrissenes Bild; die idyllischen, von anmutigstem Humor getragenen Stücke der Sammlung von farbigster Gegenständlichkeit und doch vom Erdboden losgelöst und in die reine Luft der Poesie hinaufgehoben.« In diesen Sätzen Storms werden gleich mehrere Merkmale genannt, die das Bild, das sich die Nachwelt bis heute von Mörike macht, prägen: Der liedhafte Ton fehlt so wenig wie die Liebe zur antiken Dichtung, die Mörike selber übersetzte und die er mit dem Hexameter und dem elegischen Distichon, zu denen er oft greift, zu ehren wußte. Die Grazie und der Rhythmus, die Storm lobt, finden in einer Zeile Mörikes selbst ihr Echo, in der er »Anmut und heiliges Maß« beschwört. Überhaupt das Maß: Schon oft, aber deshalb nicht weniger berechtigt, ist der Formkünstler Mörike, sind seine subtilen Brechungen der traditionellen Vorlagen, ohne diese ihrer Würde zu berauben, gerühmt worden. Mit wieviel Witz er aber die eigene Formstrenge zu ironisieren weiß, zeigt eine Petitesse, die das Maß schon im Titel trägt und, »Alles mit Maß«, über dreizehn Zeilen hinweg einzig mit den Reimwörtern »Schweinsfuß« und »Schweinsfüß« operiert, einmal im Singular, einmal im Plural. Zu guter Letzt fehlt in Storms Zeilen auch jener Begriff nicht, den man seit jeher als erstes mit Mörike in Verbindung bringt, die Idylle – die naturnahe, unschuldige, Geborgenheit ausstrahlende Szene, eine Art von Gedicht also, die er selbst in einem Titel als »Erbauliche Betrachtung« bezeichnet hat, die Kritiker hingegen an biedermeierliches Kunsthandwerk, an von Meerschaumpfeifenrauch beflügelte Virtuosität denken ließ. Wohlmeinende Leser hingegen haben Mörike aufgrund dieser oft schwerelos wirkenden, heiteren Kunst, die sich nicht scheut, dem ernsten Fach der Lyrik auch humorvolle Elemente beizufügen, einen Mozart der Worte genannt. Man könnte zwar auch in einem Zweizeiler, der einem anderen Komponisten gewidmet ist, in einem mit »Joseph Haydn« überschriebenen Distichon nämlich, ein Selbstporträt des Dichters vermuten: »Manchmal ist sein Humor altfränkisch, ein zierliches Zöpflein, / Das, wie der Zauberer spielt, schalkhaft im Rücken ihm tanzt.« Daß aber kein Komponist Mörike mehr am Herzen lag als Mozart, steht außer Frage.
Meine erste Leseerfahrung mit Mörike verdanke ich tatsächlich nicht seinen Gedichten, sondern – ich muß vierzehn oder fünfzehn Jahre alt gewesen sein – der schon genannten Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag«, die mich bei der erneuten Lektüre wohl noch mehr entzückt hat als rund dreißig Jahre zuvor, vielleicht weil das kindliche Staunen Mozarts beim Gang durch einen Wald, seine unverstellte Begeisterung beim Betasten von Tannenzapfen, beim Schnuppern an einem Pilz und beim Betrachten von dessen hochrotem Schirm, beim Anblick der Hummeln in den Blütenkelchen, weil also diese Fähigkeit, noch im Kleinsten eine Offenbarung zu finden, die Mörike ganz offensichtlich mit seinem Protagonisten teilt, aus der Sicht eines erwachsenen Lesers weit weniger selbstverständlich ist als aus der eines jungen. Davon, wie »wir unter uns allein« sind, träumt Mörike als Mozart gemeinsam mit Mozarts Frau Constanze, »um selber einmal wieder Kind zu werden« – und ich gebe zu, daß auch mir dieses Staunenkönnen mit offenem Mund, dieses Kindliche, Kindsköpfige, seit jeher als eine der Grundlagen jeder Poesie erschienen ist. Mörikes Freunde Bauer und Hartlaub preisen in einem Briefwechsel von 1832 denn auch ihren lieben »Mörike, mit dem Zauberdunste, der ihn begleitet, mit dem schuldlosen Kindersinne, den keine Welt ihm abzuschleifen vermag«. Und der Baron spricht im »Nolten« von dem Punkt, »wo der Philister und der Künstler sich scheiden. Wenn dem letztern als Kind die Welt zur schönen Fabel ward, so wird sies ihm in seinen glücklichsten Stunden auch noch als Mann sein, darum bleibt sie ihm von allen Seiten so neu, so lieblich befremdend«, was Nolten und mit ihm Mörike ausrufen läßt: »Ganz recht!«
An einer mir als jugendlichem Leser vielleicht entgangenen, dafür um so bemerkenswerteren Stelle der Novelle – man pausiert auf der Reise nach Prag in einem Gasthof – schlendert Mozart allein durch den nahen gräflichen Garten und kommt an einem Pomeranzenbaum vorbei. Mörike schildert nun, wie Mozart eine Pomeranze pflückt, wie er die »duftige Frucht beständig unter der Nase« hat, sie mit allen Sinnen erfaßt und sich dabei verliert, ins Träumen gerät, wie er sie gedankenverloren in der Hand hält und wendet, wie er ein Messer nimmt und sie auseinanderschneidet, wie er sie abwesend betrachtet, nach einer Weile wieder zusammenfügt und dann »die scheinbar unverletzte Pomeranze«, wie es heißt, auf einem Tisch ablegt – sehr zum Mißvergnügen des Obergärtners, der den ihm unbekannten Mann seit einer Weile beobachtet hat. Später, als der berühmte Gast endlich vom Grafen und der Schloßgesellschaft willkommen geheißen wird, beschreibt Mozart, wie er durch den Duft und die Gestalt der Pomeranze fortgezogen wurde in die Vergangenheit, in die eigene Kindheit, wie er sich durch den Sinneseindruck an eine Episode in Neapel erinnerte und an einen Korb mit Orangen – und wie er schließlich, derart in Gedanken, die Frucht betastend und zerteilend, im Geiste mit der Arbeit an der noch fehlenden Partie des »Don Giovanni« begann: »Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, fremdes und eigenes«. Dies ist eine ebenso erstaunliche wie präzise Schilderung jenes halb bewußten, halb unbewußten und durchaus rätselhaften Prozesses, der beim Erschaffen einer neuen Musik, aber auch eines neuen Gedichts, vonstatten geht und der mit der Bereitschaft beginnt, sich gehenzulassen. Daß die Träumerei, die Abschweifung zurück zu einer Kindheitsszene führt, ist kein Zufall und wird für viele Künstler nachvollziehbar sein – ganz sicher für Mörike, bei dem Traum und Erinnerung, gerade an die Kindheit, in einer Reihe von Gedichten entscheidend sind.
SINN UND FORM 5/2015, S. 605-614, hier: 605-609
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Wagner, Nike
- 6/2012 | Die Lehre vom Überleben. Rede auf Stéphane Hessel, S. 149 Leseprobe
Wagner, Nike
DIE LEHRE VOM ÜBERLEBEN Rede auf Stéphane Hessel
»Il n’y a que du bon à dire de lui«, es gibt nur Gutes über ihn zu sagen, meinte neulich unser französischer Botschafter Monsieur Gourdault-Montagne über Stéphane Hessel. Er kennt ihn lange, nicht zuletzt aus eigener dienstlicher Erfahrung – als Hessel seinem diplomatischen Corps das Theaterspielen beibrachte, um dessen Teamgeist zu stärken. Andere – wie der »Canard enchainé« – nannten ihn einen »homme debout«, und in unseren Gazetten wird er zumeist als »Vater der Empörten«, als »moralisches Gewissen seiner Nation«,
aber auch als »Glückskind« oder »glücklicher Sisyphus« apostrophiert. In diesem Sommer hatte der 93jährige einen denkwürdigen Auftritt im überfüllten Konzertsaal des Kunstfestes Weimar. »Ein greiser Herr von enormer geistiger Elastizität«, hieß es dazu in der »Süddeutschen Zeitung «, »forderte dazu auf, eine würdige Gesellschaft aufzubauen.« Standing ovations.
Stéphane Hessel ist ein berühmter Mann. Die Journalisten belagern ihn, dringen gelegentlich bis zu den Abfalltonnen im Hof seines Pariser Hauses vor, um des alten Herrn, wenn er gerade – in weißem Hemd und Krawatte – seinen Müll entsorgt, habhaft zu werden. Er ist ein tatkräftiger Mann, vornehme alte Schule, aber keineswegs zimperlich. Er ist der Journalisten »neue Lichtgestalt« seit jenem Oktober 2010, als sein schmales Pamphlet »Indignez-vous!« zum Millionen-Bestseller in Frankreich wurde, mit ähnlichem Verkaufserfolg in anderen europäischen Ländern, inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Auf wenigen Seiten wird hier eine Grundhaltung zu den politischen und gesellschaftlichen Verirrungen der Gegenwart dokumentiert und zur Empörung über einen Finanzkapitalismus aufgerufen, der die Werte der Zivilisation bedroht, ablesbar an der wachsenden und immer brutaler werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Aber es geht auch um die Beilegung der Konflikte im Nahen Osten, was ohne Dialog zwischen Christen und Muslimen nicht möglich ist. Mit dem gegenwärtigen Israel geht er hart ins Gericht. »Ich mag ein schlechter Jude sein, denn ich gehe nicht in die Synagoge«, so Hessel andernorts, »ich lasse mir aber von niemandem meine Kritik an der Politik Israels verbieten.« Zugleich ist er Pazifist, plädiert für kompromißlose Gewaltlosigkeit.
Bald folgte seinem ersten Manifest ein zweites Bändchen, diesmal nicht in essayistischer, sondern in Interview-Form. »Engagez-vous!« Darin engagiert er sich für die Ausgeschlossenen, die Obdachlosen und Eingewanderten, für Umweltpolitik und Entwicklungshilfe. Schon mit dem Titel weht ein Stück »existentialistischer« Vergangenheit Frankreichs herüber: Sartre, den er 1939 in Paris kennengelernt hat, läßt grüßen, aber auch der Impetus des Londoner Widerstands de Gaulles ist spürbar, ein Mann, der im Leben Hessels eine große Rolle spielte. Sich empören und sich engagieren sind zwei Seiten einer Medaille. »Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz«, so Hessel. »Zu sagen: Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch. Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essentiellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.«
Gute und aufrechte Menschen gibt es überall. Sie haben bei uns den schlechten Ruf der »Gutmenschen«. Auch Empörte gibt es genug, wie wir durch unsere streitbaren »Wutbürger« wissen. Es gibt selbstverständlich auch viele Bestsellerautoren. Sogar das Alter Methusalems erreicht heute dank medizinischer Technik so mancher. Wo also liegt das besondere Verdienst des Stéphane Hessel, warum sieht die Académie de Berlin in ihm einen würdigen Kandidaten für ihren kostbaren Preis?
Zunächst: Nicht alle lieben Stéphane Hessel. Sein Engagement für die Palästinenser hat ihm eine Strafandrohung wegen »Aufrufs zum Rassenhaß« eingebracht, und auf Betreiben des Zentralrats der französischen Juden verweigerte ihm die École Normale Supérieure im Januar 2011 den Saal für einen Vortrag. Daß er sich einem Aufruf zum Boykott israelischer Waren anschloß, ist ihm verübelt worden. Vielfach wurden seine »Empörungs"-Broschüren auch aus politischer und literarischer Sicht verrissen.
Einerseits, heißt es gönnerhaft aus Frankreich: Wer würde ihn nicht mögen mit seinem entwaffnenden Lächeln, seinem ungeheuren Gedächtnis für Gedichte, seinen geschliffenen Manieren aus einer anderen Zeit, seiner Sanftheit? Andrerseits: die Broschüre, die heute seinen Weltruhm begründet, sei formal ein Machwerk, mit einer »faible plume« geschrieben und banal. Man sei erstaunt über den Mangel an Inhalt, wo doch ein Aktionsprogramm vorliegen solle oder eine Moralphilosophie. Hessel wird als politisch naiv bzw. überholt eingestuft. Empörung sei ja schön und gut, aber wir bräuchten Reflexion. Die Emotion sei eine folgenlose, also billige Form von Auflehnung und in sich verwaschen. Was soll ein Aufruf zu »allgemeiner« Empörung ohne präzise Zielformulierung, der alles in einen Topf wirft: die Empörung zugunsten der armen »Sans-Papiers« und gegen den wildgewordenen Kapitalismus ist doch nicht mit gleichem Maß zu messen wie die Empörung gegen die Nationalsozialisten! In der Tat – Hessel scheint da nicht wählerisch. »Worüber man sich empört, ist beinahe egal«, sagt er in einem Interview mit Jakob Augstein: Man könne die Umwelt schützen oder Tiere, solang man die Grundwerte verfolge: die Ökologie oder den Kampf gegen Armut und Gewalt.
Immer wieder einmal werden ihm auch »Überzeugungs-Naivität« und allzu simple, moralisierende Rhetorik angekreidet. In der Tat – es gibt so rührend einfache Sätze von Hessel wie: »Ich glaube an den Menschen.« Oder auch: »Ich baue auf die Institutionen. « Sätze, die man irgendwie nicht laut sagen kann. Zumindest fallen solche Vereinfachungen uns Deutschen schwer. »Es geht Ihnen ja ziemlich gut, den Deutschen«, gibt Hessel zu. »Aber schauen Sie, wie die Erde zerstört wird, die Wasservorräte privatisiert werden. Da muß man sich doch fragen: Was tue ich dagegen?«
Hessels Weltrettungsvorstellungen – durch Empörung und Engagement einerseits und die beharrliche Arbeit in internationalen Organisationen zugunsten einer zivilgesellschaftlichem »Weltregulierung« andrerseits – scheinen vielleicht »unterkomplex« angesichts einer an Komplexität und Undurchschaubarkeit schier erstickenden globalen Welt. Ist das das Geheimnis seines Erfolges? Daß einer mit klarer, einfacher Sprache spricht? Sicherlich wird sich dieser Sohn zweier schriftstellernder Eltern mit seinen Manifesten nicht den Nobelpreis für Literatur verdienen. Aber es geht um etwas anderes bei Stéphane Hessel, und in diesem »Anderen«, das der aufgeregte Journalismus vernachlässigt, liegt das Preis-Würdige dieses Mannes.
Wenn es so ist, daß die Académie de Berlin nach Kandidaten sucht, die eine kulturelle – oder auch politische – Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland spielen, die beide Länder gleichsam in sich aufgesogen haben, dann verkörpert Stéphane Hessel diese Forderung bis zum Wunderbaren, Wundersamen. Reale Verkörperung und symbolische Repräsentanz kommen in seiner Person zusammen, sein Fleisch und sein Blut und die Geschichte beider Länder.
[...]
SINN UND FORM 6/2012, S. 849-855
- 2/2013 | Wagner feiern?
Wagner, Richard
- 6/2011 | »Das ist eine untergegangene Welt.« Gespräch mit Renatus Deckert, S. 793 Leseprobe
Wagner, Richard
»Das ist eine untergegangene Welt«. Gespräch mit Renatus Deckert
RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern leidenschaftliche Wagnerianer waren?
RICHARD WAGNER: Mein Vater war tatsächlich Wagnerianer. Hinzu kommt, daß er in seiner Jugend ein eher ungewöhnliches Instrument spielte, nämlich Waldhorn. Das war nicht sehr verbreitet. Er war in einem Laienorchester, das Ouvertüren und dergleichen mehr spielte, und da hatte er einmal einen Einsatz mit seinem Waldhorn. Das ist ihm in Erinnerung geblieben. Seitdem hat er sich immer wieder mit Wagner befaßt, so gut er eben konnte. Und 1952, als ich geboren wurde, das war im tiefsten Stalinismus, für die deutsche Minderheit in Rumänien war das eine schlimme Zeit, da haben die Leute ihren Kindern germanische Vornamen gegeben, um zu verhindern, daß sie ins Rumänische übersetzt werden. Meine Landsleute waren ja katholisch, und deshalb hießen sie Franz oder Joseph oder Nikolaus, Katharina oder Elisabeth. Wenn man aber einen solchen Vornamen wählte, wurde der rumänisiert in die Geburtsurkunde eingetragen. Um das zu verhindern, entschied man sich für einen germanischen Namen – und natürlich wollte man damit auch ausdrücken: Wir sind Deutsche. In meinem Fall war das doppelt begründet: Man wählte mit Richard einen germanischen Namen, zugleich war es für meinen Vater die Gelegenheit, seinen Sohn Richard Wagner zu nennen und mir das aufzubürden.
DECKERT: Wo war das denn, wo Ihr Vater im Orchester gespielt hat?
WAGNER: Das war in Perjamosch, wo meine Familie gelebt hat, zehn Kilometer von Lovrin entfernt, wo ich geboren wurde. Das war ein größeres Dorf mit 6000 Einwohnern, ein wenig kleinstädtisch schon. Und da leistete man sich in den Sommerferien einen Kapellmeister. Der kam aus Temesvar, der Regionalhauptstadt, um mit den jungen Leuten zu proben. Das war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
DECKERT: Besaß Ihr Vater denn einen Plattenspieler, um Wagner zu hören?
WAGNER: Mein Vater ist früh von zu Hause weg. Er hat eine Lehre gemacht auf einer Wassermühle und ist 1939 zur rumänischen Armee eingezogen worden. Als der Krieg kam, blieb er bei der Armee. Er war bei der Flußmarine, und da fuhr er den Krieg über die Donau auf und ab; sie hatten die Aufgabe, den Fluß zu kontrollieren. Und da kam er viel herum, auch in die großen Städte. Ich nehme an, daß er dort Schallplatten gehört hat. Denn bei uns zu Hause gab es nach dem Krieg überhaupt nichts mehr. Als sich im September 1944 die Front näherte, sind die Leute geflohen, meine Familie bis nach Österreich. Und als sie 1945 zurückkamen, war das Haus völlig ausgeplündert, da standen bloß noch die Mauern. Ja, und später, in den fünfziger Jahren, als ich geboren wurde, da galt Wagner in Rumänien als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Er wurde nicht aufgeführt, und auch Schallplatten konnte man keine kaufen.
DECKERT: Ihr Vater, sagten Sie, war von Beruf Müller. Welchem Milieu entstammte Ihre Familie?
WAGNER: Diese Dörfer sind ja im 18. Jahrhundert buchstäblich auf dem Reißbrett angelegt worden, und zwar von den Wiener Beamten, die die Kolonisation des Banats organisierten. Die Habsburger waren vorbildlich in ihrer Siedlungspolitik, sie haben das genau geplant. Und es hat ja dann auch wirklich funktioniert; das moderne Banat war in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einer der großen Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte; das weiß man heute gar nicht mehr. Damals, als man daranging, diese neuen habsburgischen Gebiete zu kolonisieren, wurden zielgerichtet Leute angeworben, die Banater Schwaben, wie sie später hießen, die ihrem Selbstverständnis nach übrigens nicht einfach Auswanderer waren, sondern Kolonisten, Siedler. Nichts überließ man dem Zufall. Jedem Dorf ordnete man eine bestimmte Anzahl von Bewohnern zu, abhängig vom Beruf. Die größte Zahl waren Bauern, und dann rechnete man, wie viele Handwerker und welche Berufe man sonst noch braucht in einem Dorf. Ich selbst komme väterlicherseits aus einer Handwerkerfamilie, das waren alles Müller, über Generationen hinweg. Bis zu mir hießen die alle Nikolaus Wagner, das kann man zurückverfolgen bis ins 18. Jahrhundert. Und zwar haben sie Flußmühlen betrieben. Die standen auf zwei fest verankerten Kähnen im Fluß, dazwischen befand sich das Mühlrad, das von der Strömung angetrieben wurde; und so wurde gemahlen. Das ging so bis in die zwanziger Jahre, als die ersten Motormühlen aufkamen. Dann starben die Flußmühlen aus, die Müller verloren ihre Selbständigkeit. Auch mein Großvater mußte aufgeben, er wurde dann Angestellter in einer dieser neuen Motormühlen. Das war ein ziemlicher Bruch in der Lebensweise dieser Leute.
DECKERT: Wie hatten sie vorher gelebt?
WAGNER: Sie hatten eine gewisse Souveränität, nicht nur in ihrem Selbstverständnis; sie lebten in einer eigenen Siedlung am Fluß, an der Marosch. Das Dorf war ja ein paar Kilometer vom Fluß entfernt, wegen der Überschwemmungsgefahr lag es auf einem Hügel. Man hatte auch einen Damm gebaut, Anfang des 19. Jahrhunderts. Und in der Au, zwischen dem Fluß und dem Damm, befand sich die Siedlung der Wassermüller; die hatten dort ihre Mühlen. Und im Winter, wenn der Fluß vereiste, das waren ja harte Winter dort, mußten diese Mühlen an Land gebracht werden; im Frühjahr ließ man
sie dann wieder zu Wasser. Deshalb wohnten die Müller am Fluß in der Au. Ihre Häuser waren nicht aus Stein, sondern sie bestanden traditionell aus Holzbalken und einem Weidengeflecht, das man mit Lehm verkleidete, wegen der Überschwemmungen. Wenn im Frühjahr das Eis schmolz, stellten sie ihre Sachen auf den Dachboden, und das Hochwasser schwemmte zwar den Lehm weg, aber das Weidengeflecht und die Holzstützen blieben erhalten; den Häusern passierte im Grunde nichts. Wenn das Wasser wieder weg war, hatten die Leute Arbeit; dann wurde das alles zugekleistert, bis es wieder in Ordnung war. Die arbeiteten auch nicht das ganze Jahr über, sie hatten ja nur zu tun, wenn etwas zu mahlen war. Im Winter trafen sie sich in ihrem Wirtshaus zum Kartenspielen, und dabei wurde viel erzählt. Sie hatten eine sehr ausgeprägte Erzähltradition, und zumindest die blieb erhalten. Ich habe das alles ja nicht mehr erlebt, aber das wurde dann weitergetragen in den Gesprächen der Familie, und deshalb weiß ich heute einiges über die Lebenswelt dieser Müller.
DECKERT: Und was machte die Familie Ihrer Mutter?
WAGNER: Mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, war Wagnermeister. Er baute Leiterwagen für die Bauern, richtige Pferdewagen. Räder schnitzen, Felgen legen – das machte er alles, und wenn etwas kaputtging, dann reparierte er es. Noch in den fünfziger Jahren hatte er seine Werkstatt. Als Kind fühlte ich mich zu der Drehbank hingezogen, aber damit durfte ich nicht spielen, denn dort ging es ja zur Sache. Da lagen die Messer, mit denen gedrechselt wurde. Zu der Zeit hat er schon schwarz gearbeitet. Die Kommunisten wollten diese Gewerbe in Genossenschaften zusammenfassen, aber er hat sich geweigert, und da haben sie die Steuern so lange erhöht, bis er sie nicht mehr bezahlen konnte. Meine Mutter war in der gleichen Lage, sie war Schneiderin und sollte auch so hohe Steuern zahlen. Da haben sie beide aufgegeben und ihre Gewerbe abgemeldet. Und dann haben sie schwarz gearbeitet. Ich kann mich gut an diese Atmosphäre erinnern, im Haus und im Hof, da lag immer etwas wie Gefahr in der Luft. Das Tor war stets abgesperrt, und mir wurde gesagt, ich soll es nicht aufmachen. Der Hund war im Hof und bellte, wenn jemand am Tor erschien. Es sollte ja keiner wissen, daß da schwarz gearbeitet wird. Aber natürlich wußte das das ganze Dorf, schließlich hat das ganze Dorf schwarz gearbeitet. Und das blieb auch den Behörden nicht verborgen. Daß die Leute Schnaps brannten, das roch man ja. Aber das war illegal, weil der Staat das Schnapsmonopol hatte. Man hätte eine Genehmigung gebraucht, aber so etwas hatte keiner. Die haben aus Pflaumen Schnaps gebrannt. Dazu haben sie sich Schnellkochtöpfe angeschafft, die sie zu Destillieranlagen umbauten; die Kupferrohre haben sie in irgendwelchen Betrieben geklaut. Am Ende dieses Prozesses tropfte da der Schnaps heraus. Und der wurde dann zweimal, also doppelt gebrannt, damit er auch die richtige Balkanstärke hatte.
DECKERT: Und das machten alle im Dorf?
WAGNER: Ja, und das wußten die Behörden auch. Die Sache war die: Sie versuchten gar nicht erst, das zu unterbinden; das wäre auch schwierig gewesen. Aber wenn sie etwas gegen jemanden hatten oder wenn einer politisch aufgefallen war oder ihnen nicht paßte, dann benutzten sie das als Vorwand, um gegen den Betreffenden vorzugehen.
DECKERT: Wie hat Sie das als Kind geprägt, wenn immer das Hoftor geschlossen war? Sie waren ja ganz auf sich gestellt.
WAGNER: Ich war im Grunde gerne allein; ich war ein Einzelkind und kam gut damit zurecht. Ich habe sehr viel gelesen. Aber es gab auch in der Nachbarschaft zwei Jungen, mit denen ich oft zusammen war. Das war eine gemischte Familie, wie das im Banat häufig der Fall war, weil dort ja mehrere Bevölkerungsgruppen aufeinanderstießen. Außer den Banater Schwaben, also Deutschen, lebten dort Ungarn, Rumänen, Serben und Zigeuner. Die Mutter, die eigentlich Deutsche war, sprach Ungarisch mit ihren Kindern und mit ihrem Mann, der Serbe war. Aber die Jungen gingen auf die deutsche Schule, und damit sie Deutsch lernten, sollte ich mit ihnen spielen. Deshalb war ich häufig bei denen im Hof, wenn ich nicht gerade in meine Lektüren vertieft war.
DECKERT: War denn Ihr Großvater, der Wagnermeister, ein wichtiger Ansprechpartner für Sie?
WAGNER: Als ich elf oder zwölf war, da fing das an, daß ich mit meinem Großvater Gespräche geführt habe, politische Gespräche, denn mein Großvater war sehr politisch. Und in seiner illegalen Werkstatt gab es immer so eine Runde von Rentnern, die sich dort trafen, seine Freunde, die alle im Ersten Weltkrieg gewesen waren, das war ihr Grunderlebnis. Sie sprachen immer vom Ersten Weltkrieg; der Zweite interessierte sie nicht, weil sie da nicht direkt dabei waren. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg ging, redeten sie immer nur von den Folgen. Beim Ersten Weltkrieg wußten sie alles bis ins Detail. Ich durfte bei diesen Gesprächen dabeisein, und da habe ich sehr viel gelernt über Geschichte und Herkunft. Als Angehöriger einer Minderheit muß man sich ja immer darüber definieren. Man lebt in einem Land, in dem eine andere Sprache die Amtssprache ist, die eigene Muttersprache wird nur von einer Minderheit gesprochen. Danach fragen einen immer die Leute, und da muß man erklären, warum das so ist. Also stellt man sich schon sehr früh solche Fragen: wer man ist und warum. Von diesen Dingen habe ich in dieser Werkstatt sehr viel mitgekriegt. Und ich fing auch an, Zeitung zu lesen. Mein Großvater hatte ein Abonnement der zentralen deutschsprachigen Zeitung, die unter dem schönen Titel »Neuer Weg« in Bukarest erschien; das war zwar auch eine gleichgeschaltete Presse, aber sie war auf Deutsch. Und dann sprachen wir eben über das, was wir in der Zeitung gelesen hatten.
DECKERT: Zu Hause sprachen Sie Deutsch. Wo hat man Rumänisch gelernt?
WAGNER: Das war ganz unterschiedlich, je nachdem, wo man aufwuchs. Manche Dörfer waren von den Ethnien her gemischt, da hat man es von den Nachbarn gelernt. In unserem Dorf lebten bis 1945 kaum Rumänen. Einige Leute aus der Verwaltung, die der Staat dahin geschickt hatte, und ein paar Tagelöhner, die als Saisonarbeiter auf den Gütern der deutschen Bauern arbeiteten. Nach der Flucht der Deutschen bei Kriegsende hat sich das geändert. Von ehemals 6000 Leuten ist nur die Hälfte zurückgekehrt, und so wurde das Dorf aufgefüllt, mit Flüchtlingen aus den ehemaligen rumänischen Ostgebieten, aus Bessarabien und der Bukowina. Das hat sich Stalin 1945 ja zurückgeholt. Und eine solche Flüchtlingsfamilie wohnte auch bei uns in der Nachbarschaft. Von den Kindern habe ich Rumänisch gelernt, auf der Straße, beim Spielen. Und dann hatten wir ja auch auf der deutschen Schule ein Fach Rumänisch und rumänische Literatur. Da habe ich das ergänzt. Meinem Rumänisch merkt man bis heute das Ländliche an, weil ich es damals von Bauern gelernt habe.
DECKERT: Welche Rolle war denn der deutschen Minderheit zugedacht?
WAGNER: Zunächst einmal wäre zu sagen, daß dieses Rumänien in seiner heutigen Gestalt ja ein Land ist, das nicht zu Ende gedacht war. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man zum einen das Habsburgische Reich zerschlagen, zum anderen die neu entstehende Sowjetunion blockieren. Man schuf den sogenannten Cordon sanitaire, darin nahm Rumänien eine Schlüsselstellung ein. Als Resultat des Weltkriegs hat es sein Territorium verdoppelt. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten die Banater Schwaben nicht in Rumänien, sondern sie waren eine Bevölkerungsgruppe in der k.u.k.Monarchie. Und dann, mit einem Schlag, über Nacht, ohne das Dorf zu verlassen, sind meine Großeltern rumänische Staatsbürger geworden. Sie kannten weder die Sprache, noch wußten sie viel über Rumänien. Und dann waren sie eben da. Unter den Kommunisten kam den Deutschen eine ausgleichende Rolle zu. Was die ethnischen Konflikte betrifft, waren ja nicht sie das Problem, sondern die ungarische Minderheit, die noch viel größer war; bis heute gibt es in Siebenbürgen territoriale Streitigkeiten. Die Deutschen sah man als Ausgleich zwischen Rumänen und Ungarn, als den Dritten in dieser Konstellation. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele meiner Landsleute aber erst einmal zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Die anderen hat man enteignet. Uns nahm man das Haus weg, wir durften nur darin wohnen; erst nach zehn Jahren gab man es uns zurück. Also, die Deutschen hatten nichts. Und das führte dazu, daß man die Kinder in die Schulen schickte; sie sollten studieren. Denn das, was man im Kopf hat, kann einem niemand mehr wegnehmen. Und so kommt es, daß es in der deutschen Minderheit überdurchschnittlich viele Ingenieure gibt. Die sind später alle nach Deutschland gekommen. Denn das Geschäft mit der Ausreise wurde für das kommunistische Regime immer wichtiger, weil es Geld brauchte. Das fing in den fünfziger Jahren mit den rumänischen Juden an, die man an Israel verkaufte. Nach diesem Modell wurden ab den siebziger Jahren die Deutschen verkauft. Ceaus¸escu, mit diesem ganzen Wahnsinn, den er betrieb, brauchte Devisen, und so wurde dann Kopfgeld gezahlt, so ähnlich wie für die DDR-Bürger. Auf diese Weise wurden wir immer weniger. Inzwischen gibt es nur noch sehr wenige Deutsche in Rumänien. Die meisten leben heute in Deutschland.
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SINN UND FORM 6/2011, S. 793-813
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Wieder eine Nacht
Wieder eine Nacht, in der ich nicht schlafe. Ich hatte auf Schlaf gehofft; als ich ins Bett ging, konnte ich die Müdigkeit schon fast mit Händen greifen, die neblige Schwere wurde dumpfer und dumpfer bis zum unbestimmbaren Moment des Einschlafens. Da erwache ich. Lasse die Augen zu. Hoffentlich ist es wenigstens vier oder fünf; sechs wage ich nicht zu denken, es ist dunkel, um mich die Stille des Schlafs, und neben mir verrät der regelmäßige Atem meines Gefährten, daß er schläft, wie sicher auch alle Nachbarn oben, unten und nebenan. Ich öffne die Augen – man muß der Wirklichkeit ins Auge sehen. Jedesmal sind die Ziffern unerbittlich, 0.55 Uhr, 2.10 Uhr, 1.40 Uhr, 1.15 Uhr. Um diese Zeit ziehen sich die Stunden hin, endlos und eintönig. Ich bin zu wach, um wieder einzuschlafen, aber nicht wach genug, um zu lesen, zu schreiben, etwas zu tun. Manchmal kann ich das. Bei einigen Büchern, Romanen oder Gedichten, die ich mir in der Not dieser Nachtwüsten vornahm, hatte ich das Gefühl, extra für sie erwacht zu sein. Ich las und las und vergaß die Zeit, bis ich zur letzten Seite kam und endlich die Müdigkeit die Oberhand gewann. Doch dazu braucht es ein besonderes, übersteigertes Bewußtsein. Mitunter schrieb ich auch ein paar Seiten – aber das war noch seltener. Heute ist alles wie sonst, es gibt keine Schonung.
Ich bleibe liegen und versuche mir einzureden, daß der Schlaf auf einmal wie ein Schauer kommen könnte, ich weiß, es ist ganz unwahrscheinlich, doch Aufgeben erfordert Mut, Mut, den langen Weg zu gehen, wo jeder Schritt Verzicht bedeutet, Rückzug vom normalen Leben. Und jetzt aufstehen, lautlos, um meinen Gefährten nicht zu wecken – so lautlos, als beginge ich einen Verrat, ließe unser gemeinsames Leben hinter mir –, und das Gefühl der Einsamkeit überwinden, indem ich mich am anderen Ende der Wohnung aufs Gästebett lege, wo ich Radio hören kann. Auf wie vielen Betten habe ich so gelegen, nicht gerechnet die Einzelbetten und die halb oder ganz genutzten Doppelbetten in Hotelzimmern, die nach Norden oder Süden gingen, in Paris, Berlin, Sofia, New York, Lwow, Aix-en-Provence, Seoul – harte und weiche Matratzen, Schlafmöbel, die zu Arenen eines gnadenlosen Kampfes wurden, zwischen Bewußtsein und Müdigkeit, zwischen gewesener oder kommender Anspannung und einem Loslassen, das nah und doch unmöglich ist. Wie viele Betten und wie viele hundert oder tausend Radiosendungen in mir bekannten oder nicht bekannten Sprachen – wie viele Radiostunden nach den üblichen Mitteln: die fünfzig US-Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfolge memorieren, zwanzig Städte mit A oder B finden, zwanzig Schriftsteller, zwanzig Romanfiguren, zwanzig Buchtitel, kleine Listen, um den Feind zu täuschen, den Verstand auszuschalten, um nicht dauernd an Unsinniges zu denken, um Raum zu schaffen – für den Schlaf.
Eine Stimme bricht das Schweigen, jemand redet, doch ich erkenne keine Worte, Langeweile und Überdruß stellen sich ein, ich wälze mich hin und her, ich gehe die Sender durch, irgendwie aufgewühlt ohne Sinn und Verstand – wo finde ich Ruhe? Manchmal rettet mich Musik aus dieser engen Welt, in der es nur Schlafen und Wachen und kein Dazwischen gibt, manchmal entführt mich Musik aus der Beklommenheit, und ich lebe nur noch für die nächste Note, den nächsten Ton, ich glaube zu begreifen, etwas Einmaliges zu erfassen. Oder ich vertiefe mich in Sendungen über die Geschichte der Gastronomie, den mittelalterlichen Roman, ich lausche den Stimmen von Toten und höre Beiträge über ihr Leben und Werk, ich höre Anrufer von ihrer Geschichte, ihrem Leid erzählen, und etwas geht auf – eben noch fühlte ich mich einsam und verlassen, und jetzt kommt die Welt zu mir. Schlaf ist nicht mehr das Wichtigste. Und während andere schlafen, wird mein Leben weiter.
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 6/2009, S. 745-746
- 2/2012 | Die Zeremonie, S. 635 Leseprobe
Wajsbrot, Cécile
Die Zeremonie
1
Die leere Straße setzt das Schweigen der Wege fort, Sonntag ist der schlimmste aller Tage und dieser Sonntag ist der schlimmste aller Sonntage, aus der Autobahn Chartres–Orléans wurde die Autobahn Nantes–Bordeaux, mehr hat sich nicht verändert, wie die Kilometer ziehen die Jahre vorüber, eines nach dem anderen, stumpfsinnig, der Frühling, wechselhaft, ohne Schatten, reicht in den Sommer hinein, bleibt im Winter stecken, man verläßt die Autobahn, und die Straße zieht sich schnurgerade, schneidet die monotone Landschaft entzwei, die flach und gnadenlos horizontal ist.
Ich bin unterwegs in einem Auto, das nicht existiert, der Tag hat ein Datum, eine Zahl, einen Monat, aber kein Jahr, die Ausdehnung der Zeit – die Ausdehnung meines Lebens – erscheint mir monoton, flach, gnadenlos horizontal. Natürlich steht ein Ortsname auf Schildern, die in eine Richtung weisen, aber ich fahre doch eher durch eine Wüste, diese Anreise hat mit anderen keine Ähnlichkeit.
Nun, so war das, erzählte meine Großmutter, deren Stimme mir abhanden gekommen ist, schon vor langer Zeit, auch wenn ich mir eine Ahnung von ihr bewahrt habe, abstrakt und doch eigen. Nun, so war das, erzählte meine Großmutter alljährlich im Auto, wenn wir uns dem Ort der Zeremonie näherten, den ich auch heute aufsuchen werde, und außerdem weiß ich nicht einmal, ob sie jemals »nun, so war das« gesagt hat, ob diese Wendung überhaupt zu ihrem Wortschatz gehörte, in ihr Französisch paßte.
Beaune-la-Rolande, ein seltsamer Name, wenn man es recht bedenkt. Aber wer bedenkt es recht? Jedes Jahr diese Erzählung – dabei bin ich außerhalb der Zeit, hier, wo es nichts als Erinnerung, Gedächtnis, Gedenken gibt.
Mein Großvater hatte eine Vorladung erhalten, er sollte sich eines Morgens zur Feststellung seiner Identität in der Kaserne einfinden, Boulevard des Maréchaux, gleich bei der Porte de Bagnolet – so hat es meine Großmutter natürlich nicht erzählt, sondern weniger präzise, es wurden auch keine Namen genannt, oder die Namen kamen mit den Jahren, erst nach zehn Jahren hatten wir ein Anrecht auf die Porte de Bagnolet, noch einmal fünf Jahre, bis wir erfahren durften, daß diese Vorladung »der grüne Brief« genannt wurde. Mein Großvater verarbeitete Leder, schnitt Kleider zu, er wollte der Vorladung zeitig nachkommen, um es möglichst schnell hinter sich zu haben und zur Arbeit gehen zu können. Er war ein gewissenhafter Mann mit Pflichtgefühl, mit Überzeugungen, er hatte sich 1939 zum Krieg gemeldet, obwohl er Ausländer war, er wollte Frankreich verteidigen. So gingen sie beide zusammen los – meine Großmutter begleitete ihn –, aber durch die Tür ging er allein. Andere waren bereits da, vielleicht unterhielten sie sich miteinander, tauschten Informationen aus, Zweifel, Befürchtungen.
Warten wir, ob welche rauskommen, sagte meine Großmutter. Sie werden uns sagen, was da drinnen vorgeht.
Sie hatte ein mißtrauisches Naturell, hätte wahrscheinlich gern etwas mehr gewußt, aber vielleicht ist es auch so, daß ihr Mißtrauen von damals kam; er dagegen wollte pünktlich sein und bald an seine Arbeit zurückkehren.
Er ging also durch das Portal, meine Großmutter wartete – wie lange, weiß ich nicht, das hat sie mir nie gesagt, ich habe sie auch nicht danach gefragt (die Fragen kommen später, lange nach dem Tod derer, denen man sie stellen wollte, denn anfangs, wenn sie noch da sind, will man es nicht wissen, weil jedes Wort ein Gewicht mehr ist, das sich auf die Waage legt, und später wüßte man gerne alles, als sollte die Geschichte, die man um jeden Preis abweisen und loswerden mußte, sich von nun an um jeden Preis selbst erzählen, müßte erkannt und angenommen werden, damit man endlich man selbst sein kann) –, meine Großmutter wartete wie die anderen, all die Frauen, die ihre Männer begleitet hatten, weiterhin gingen Leute hinein, aber es kam keiner heraus.
Plötzlich war eine Stimme im Lautsprecher zu hören. Meine Großmutter erzählte und ich sah die Bilder, Jahr um Jahr, im Auto, das uns nach Beaune-la- Rolande fuhr. Und ich hörte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Gehen Sie nach Hause. Packen Sie einige Sachen für Ihre Männer zusammen. Sie werden an einen anderen Ort gebracht werden.
Wie war die Formulierung genau: Sie werden an einen anderen Ort gebracht? Wir nehmen sie mit? Sie werden in einem Lager arbeiten? Sie werden bis auf weiteres festgehalten, zurückbehalten, abtransportiert, deportiert, konzentriert? Wie haben sie sich ausgedrückt? Was sie auch immer gesagt haben mögen, nun begann das Schlimmste, das Schlimmste, das kommen sollte. Der Beginn einer langen Reise, die an dem Tag, als ich einmal mehr zum Treffen von Beaune-la-Rolande ging, vielleicht noch nicht zu Ende war.
Tagebuch14. Mai 1991
Und ich dachte, richtig, Sonntag, Beaune-la-Rolande, zwar bin ich nicht dort, aber immerhin sitze ich in einem Zug.
18. Mai 1992
Gestern Beaune-la-Rolande, und ich fuhr zum ersten Mal ohne meine Großmutter hin. Einige Leute, vielleicht zweihundert Personen, schwer zu schätzen, die, die immer kommen, Jahr um Jahr, wie zu einer Verabredung, man kennt sie ein wenig, man kennt sie vom Sehen, es gibt auch die Generationenunterschiede in Verhalten und Kleidung, soziale Unterschiede, Unterschiede in der Integration. Und doch hat jeder sein Leben, geht seinen Weg, oder tut nur so, eine Strecke, auf der allerdings Beaune-la-Rolande liegt, und alle treffen sich dort, um sich wenigstens an einem Tag im Jahr einzugestehen, daß es eine Wunde gibt, die sich nicht schließen wird.
18. Mai 1993
Beaune-la-Rolande. Der Mann, der das organisiert und der Jahr für Jahr die gleichen Reden hält, war krank, also hat seine Enkelin den Text vorgelesen. Dann war Kafka an der Reihe, ein Überlebender, der einzige aus dem Lagerchor – es gab nämlich einen Lagerchor –, er hat dort unten ein Lied geschrieben, auf jiddisch, es geht um Hoffnung und Brüderlichkeit, um Bäume, die wieder blühen – denn sie sind im Frühling dort angekommen.
16. Mai 1994
Gestern Beaune-la-Rolande, eineinhalb Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Wieder dieselben Reden, der Mann, der das organisiert, war wieder da und Kafka hat sein Lied gesungen. Alles war wie immer, nur daß Großmutter nicht mehr da war. Obwohl sie ja schon einige Jahre nicht mehr dabeigewesen ist, gelähmt zu Hause lag, reglos und schweigend, war es jetzt doch ganz anders. Seit dreißig Jahren komme ich hierher, sehe Leute, und dann eines Tages sieht man sie nicht mehr, andere sind da, um sie zu ersetzen, oder niemand, und es vergeht die Zeit, in Richtung Tod.
15. Mai 1995
Beaune-la-Rolande, gestern. Freitag abend, ich habe es nicht ausgehalten, ich wollte eigentlich nicht hingehen, oder es sollte das letzte Mal sein, weil sich wieder etwas in mir auflehnte, von dem ich dachte, es hätte sich gelegt. Warum muß denn die Geschichte noch immer auf uns lasten? Endlich angekommen, fühlte ich mich besser, oder vielmehr hatte ich das Gefühl, daß es richtig war, hier zu sein. Als ich dann an meine Großmutter dachte, sah ich sie am Fuß des Mahnmals in ihrem schwarzen Mantel, reglos, wartend, dann, bei den Reden, war sie ganz Ohr, schaute auf, weinte beim Totengesang. An ihrem Platz stand eine alte Dame, die Tochter und der Schwiegersohn kamen mit einem Klappstuhl, damit sie sich setzen konnte, und sie bekam jenen Blick der freudigen Überraschung, den auch meine Großmutter manchmal hatte, als sie sich wegen ihrer Krankheit nur noch durch die Augen mitteilen konnte. Ich fragte mich, was sie wohl erlebt hat und woran sie jetzt dachte, vielleicht daran, daß sie bei ihr und für sie da sind.
Über meinen Großvater weiß ich nichts, außer daß er in Auschwitz gestorben ist. Dieser Tod definiert ihn, dieses Schicksal. Alles wäre anders gekommen, wenn er dagewesen wäre, sagte Großmutter immer wieder, aber nun ja, sie hat dieses Leben geführt und nicht ein anderes, und wir sind ihr nachgefolgt, eine, zwei Generationen später, ein schwieriges Leben, das auf einem lastet, unmöglich, sich zu integrieren, aber doch auch ein Ereignis, das etwas begründet – eine Herkunft, anstatt der Leere so vieler anderer Leben.14. Mai 1996
Beaune-la-Rolande in der Kälte, Sonntag. Der ehemalige Bürgermeister, der letztes Jahr abgetreten ist, stand jetzt unter uns, aber schweigend und anonym, während der Neue technokratische Worte von sich gab. Er sagte »Sie«, wenn er uns ansprach, »Ihr Schmerz« – ihn geht das nichts an.
12. Mai 1997
Dasselbe bei prasselndem Regen.
17. Mai 1999
Beaune-la-Rolande, gestern, und ich dachte mir, jetzt ist alles geschafft, die Erinnerungsarbeit, wie sie das nennen. Früher hatten wir das Schlimmste hinter uns – die Katastrophe – und jetzt haben wir es vor uns. Nicht mit der Vergangenheit müssen wir uns konfrontieren, sondern mit der Gegenwart, der Zukunft.
Paris, 12. September 1990
Ich wurde 1954 geboren – der Krieg war seit neun Jahren vorbei. Der Mann meiner Großmutter starb als Deportierter in Auschwitz. Bevor er dorthin kam, war er ein Jahr im Lager von Beaune-la-Rolande, das in der Nähe von Pithiviers liegt. Ich habe diesen Großvater nicht gekannt, aber meine Großmutter erzählte sehr ausführlich, und zweifellos recht früh, von den Gaskammern, den Lagern, der Verhaftung, davon, wie die Polizei kam, um sie mit ihren zwei Kindern zu holen, wie sie die Demarkationslinie überschritten hat, all das, und ich trage an diesen Bildern aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, ohne mich von ihnen lösen zu können. Seit 1964 gehen wir alle jedes Jahr nach Beaune-la-Rolande, um immer dieselben Reden zu hören von denselben Vereinen und denselben Amtspersonen, die absurde Wiederholung eines pietätvollen Nie-Wieder, und gleichzeitig sind das alles in allem sechsundzwanzig Jahre, wobei ich an den Fingern einer Hand abzählen kann, wann ich nicht dabei war, und jedesmal würde ich alles geben, nur um nicht hinzumüssen, aber es ist nichts zu machen, also gehe ich wieder hin, warte, bis es vorbei ist – doch in Wirklichkeit ist es nie vorbei. Dieses Jahr war ich nicht dort, aber ich war in Auschwitz.
Ich habe das Gefühl, ein Gewicht hinter mir herzuziehen, das nicht meines ist, ein Leben, das nicht meines ist, dessen Schatten sich aber je nach der Tageszeit verändert. Ich nehme an, daß es auch anderen so geht, ich weiß, wir sind viele, ich nehme an, diese Katastrophe war übergroß, als Ganzes nicht zu ertragen, und deshalb mußte man sie aufteilen unter den Generationen.[...]
SINN UND FORM 2/2012, S. 195-212 - 1/2013 | Über Katastrophen schreiben, S. 635 Leseprobe
Wajsbrot, Cécile
Über Katastrophen schreiben
»Du bittest mich, Dir das Ende meines Onkels zu schildern, damit Du es desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tod, wenn er von Dir beschrieben wird, unsterblicher Nachruhm bestimmt ist. Denn obwohl er bei der Verheerung der schönsten Landstriche, wie die Bevölkerung, wie ganze Städte, den Tod fand und wie sie durch diese denkwürdige Katastrophe gleichsam ewig leben wird und obwohl er selbst viele bleibende Werke verfaßt hat, wird die Unvergänglichkeit Deiner Schriften doch viel zu seinem Fortleben beitragen.«
So beginnt der Brief Plinius’ des Jüngeren an Tacitus, in dem er vom Tod seines Onkels Plinius des Älteren, des Autors der »Naturgeschichte«, durch den Vesuvausbruch im Jahr 79 berichtet, bei dem Pompej verschüttet wurde. Es sei, schreibt er, eine Pflicht, die näheren Umstände zu schildern. Eine Gedenkpflicht, würde man heute sagen.
Man weiß nicht genau, von wann der Brief stammt. Die Ereignisse im sechsten Buch seiner Briefe legen nahe, daß er um 106/107 unserer Zeitrechnung geschrieben wurde, also etwa dreißig Jahre nach dem Vorfall. Eine Art nachgereichtes Zeugnis.
Denn alles spricht dafür, daß der Bericht wahrhaftig ist. Tacitus hatte Plinius um den Gefallen gebeten, damit er die Vorfälle »desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern« könne. Die nachfolgende Erzählung verbindet die Schilderung der Todesumstände von Plinius dem Älteren mit Beschreibungen des Vesuvausbruchs.
»Die Wolke erhob sich – aus welchem Berg, konnte man aus der Entfernung nicht deutlich erkennen; daß es der Vesuv war, erfuhr man erst später.« Das Zeugnis ist noch ungenau, Eindrücke werden beschrieben, aber der Name, der Echtheitsnachweis des Historikers, fehlt noch, denn wegen ihrer Nähe lassen sich zeitgeschichtliche Ereignisse nur selten namentlich benennen. »Ihre Erscheinungsform veranschaulicht wohl kein Baum besser als die Kiefer. Denn sie wuchs wie in einem sehr langen Stamm in die Höhe und breitete sich dann in mehreren Ästen aus.« Wieder kommt der Name später – und was für einer, heißt diese Art Eruption doch seither und bis heute die Plinische.
»Ich glaube, weil sie durch einen kräftigen Aufwind emporgerissen wurde und sich dann, als dieser nachließ, kraftlos oder auch unter der Last ihres eigenen Gewichts in die Breite ergoß. Bisweilen war sie weiß, bisweilen schmutzig und fleckig, je nachdem sie Erde oder Asche mitgerissen hatte.«
Beim Lesen dieser Sätze und anderer, die folgen – »schon fiel Asche auf die Schiffe, und je näher sie herankamen, desto heißer und dichter, schon Bimssteine und sogar schwarzgebrannte und durch Feuer geborstene Steine; schon bildeten sich plötzliche Untiefen, und der Strand war durch Geröll-Lawinen vom Berg unzugänglich« – kommt man nicht umhin zu denken, daß das schön ist. Alles läuft wie in einem Film ab, in Schwarzweiß und in Farbe. Meer, Asche, Erde – der Krieg der Elemente. Für uns, die wir es heute lesen, ist das fast zweitausend Jahre her, man denkt nicht mehr an die Toten vom Pompej, die auch ohne Vesuvausbruch schon lange tot wären. Der zeitliche Abstand tut seine Wirkung, macht gleichgültig, lenkt den Blick auf die Form – keiner von uns hat unmittelbar damit zu tun, kein Verwandter kam zu Tode. Doch vielleicht ertappt man sich bei heutigen Ereignissen, bei bestimmten Fotos aus Haiti nach dem Erdbeben, bei ähnlichen Gedanken. Die Bildeinstellung, die Farben – schon ist das unmittelbare Zeugnis verwischt, eine Inszenierung, ein Standpunkt werden sichtbar. Wieder ein Abstand, diesmal ein räumlicher, der analog zum zeitlichen wirkt. Wurden solche Fotos in haitianischen Zeitungen gedruckt? Die Unmittelbarkeit des Zeugnisses ist verwischt, die Reportage stellt Abstand her – nicht umsonst kann das Wort auch aufschieben, vertagen heißen.
In seinem 1766 erschienenen »Laokoon« nimmt sich Lessing vor, ausgehend von der im Rom der Renaissance wiederentdeckten antiken Laokoon-Gruppe die Grenzen von Malerei und Poesie – oder besser, Bildender Kunst und Literatur – abzustecken. Er wendet sich in erster Linie gegen Winckelmann, der wie andere vor ihm bemerkt hatte, daß Laokoons Gesicht, anders als sein Körper, nur verhaltenen Schmerz ausdrücke. Laokoon schreit nicht: Weil er den Schmerz zu bezwingen weiß, sagt Winckelmann; also aus Charakterstärke. Weil die Darstellung des Schreis sein Gesicht entstellt und ihn häßlich gemacht hätte, sagt Lessing; also aus ästhetischen, nicht aus ethischen Gründen. Die Kunst strebe nach dem Schönen, selbst wenn sie Leiden darstelle. Wäre Laokoons Schmerz realistisch dargestellt, sähe man weg. Zudem, fährt Lessing fort, müsse die Kunst der Einbildungskraft freies Spiel lassen. Der Maler Timomachus malte Medea nicht, wie sie ihre Kinder tötet, sondern kurz davor, als ihre mütterliche Liebe noch mit ihrer Eifersucht kämpft. Er malte den Konflikt, die Ambivalenz – die von größerer dramatischer Intensität sind als die nackte Tat –, und darum zittert der Betrachter des Freskos beim Gedanken an das Kommende wie der Zuschauer eines Films, wenn die Musik anschwillt und ein Drama ankündigt.
Und da eines der Themen von Lessings »Laokoon« der Unterschied zwischen Malerei und Poesie ist, verweilt er bei der Beschwörung Laokoons im Zweiten Buch von Vergils »Äneis«. Vergil schildert seinen Kampf mit den beiden Wasserschlangen, die erst seine Söhne und dann ihn angreifen. Was die Bildende Kunst gleichzeitig, in einem Bild darstellt, zeigt die Literatur als Abfolge. Der Kunst des Raumes steht die Kunst der Zeit gegenüber. »Schon haben sie zweimal seine Mitte umfaßt, zweimal um seinen Hals die schuppigen Rücken gelegt, sie erheben steil ihren Kopf und Nacken. Er sucht mit den Händen die Knoten zu lösen, seine Priesterbinden sind von Geifer und schwarzem Gift befeuchtet, und er sendet furchtbares Geschrei zum Himmel.« Die Beschreibung wirkt statisch, ist es aber eigentlich nicht. Diesen schreienden Laokoon, erklärt Lessing, haben wir schon anders gesehen, als liebenden Vater, als Patrioten, der Troja vergeblich zu verteidigen sucht. Wenn wir ihn schreien sehen, mischen sich Bilder aus seiner Vergangenheit hinein, machen ihn menschlich und uns ähnlich – statt ihn durch eine monströse Darstellung des Schmerzes zu entmenschlichen –, und er wird zum Symbol des Schicksals.
Plinius beschreibt den Vesuvausbruch nicht, weil Tacitus sich nach ihm erkundigt, sondern weil dieser die Todesumstände Plinius’ des Älteren erfahren will. Manche haben die Echtheit der Briefe in Zweifel gezogen. Da Plinius Teile seiner Korrespondenz zu Lebzeiten veröffentlichte und keine Antwortbriefe überliefert sind, überlegten sie, ob er die Briefform nicht benutzte, um fingierten Adressaten zu schreiben, realen Personen, für die sie aber nie bestimmt waren. Wenn es auch möglich und sogar wahrscheinlich ist, daß Plinius seine Briefe für die Veröffentlichung überarbeitet hat, so gibt es doch keinen Grund, an ihrer Echtheit und damit an der Bitte des Tacitus zu zweifeln. Nicht die Naturkatastrophe ist also der Auslöser des Textes, sondern ein Einzelschicksal, der Tod eines Mannes, der aus wissenschaftlicher Neugier und um andere zu retten zu lange und zu dicht an Orten blieb, die er hätte fliehen sollen. Und doch eröffnen der sechzehnte und der ergänzende zwanzigste Brief des Plinius eine lange, Jahrhunderte und Kontinente überspannende Reihe von Texten, die von geschichtlichen und Naturkatastrophen künden. Gewiß, es gab die »Ilias«, in der Homer den Trojanischen Krieg besang und Schlachten schilderte, doch dieses Epos war als Verherrlichung des Heldentums gedacht und präsentiert sich als Ursprungserzählung. Als Erzählung von Siegern. Beim Vesuvausbruch gibt es weder Sieger noch Besiegte, oder vielmehr, es gibt nur Besiegte; einige haben überlebt, andere nicht, aber jeder hat etwas verloren. Eine lange Reihe von Verlusterzählungen hebt an: angefangen mit dem Erdbeben von Lissabon, das den Philosophenstreit des 18. Jahrhunderts über die Vorsehung bestimmte, wie u. a. Voltaires Gedicht zeigt, über das Erdbeben in Chili, das Kleist zu einer Novelle anregte, und die Katastrophe von Tschernobyl, die Swetlana Alexijewitsch beschrieben hat, bis hin zu den jüngsten Texten haitianischer Schriftsteller nach dem Erdbeben 2010. Auch die Schilderung des großen Erdbebens 1905 in Japan durch den damaligen französischen Botschafter Paul Claudel wäre zu nennen. All die Science-Fiction-Romane über Verheerungen durch Natur- oder Atomkatastrophen oder rätselhafte Krankheiten, wie Jack Londons »Scharlachrote Pest«. Bücher über geschichtliche Katastrophen, wie Kenzaburo Oes »Notizen aus Hiroshima«. Oder Chaim Nachman Bialiks bedeutendes Gedicht »In der Stadt des Tötens« über die Pogrome 1903 in Kischinew. Und jene, fast hätte ich gesagt, Ur-Katastrophe, was sie chronologisch gesehen gar nicht ist, die man auf den Begriff Auschwitz bringen kann. Doch dieser Name wirft einen zu großen Schatten, verbreitet die schwarze Aura des Grauens und verdammt zum Schweigen, zu wirren, ungreifbaren, widersprüchlichen Gedanken; dafür gibt es keinen Maßstab, keinen Vergleich; Adornos aus dem Zusammenhang gerissener, tabugespickter Satz von der Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, wo doch zur selben Zeit Paul Celan schrieb. Doch darüber wurde schon so viel gesagt, daß ich die Sache anders angehen möchte, wenn man ihr schon nicht ausweichen kann. Hat Imre Kertész nicht geschrieben, auch wenn ich nicht von Auschwitz spreche, spreche ich von Auschwitz?
1979 veröffentlicht der in Frankreich verkannte deutsche Philosoph Hans Blumenberg sein Buch »Schiffbruch mit Zuschauer«. Wegen seiner jüdischen Mutter durfte der 1920 in Lübeck Geborene und 1996 Verstorbene nicht wie vorgesehen als bester Schüler seines Abiturjahrgangs eine Rede halten und konnte später auch sein Studium nicht zu Ende führen. Von den Kommilitonen diskriminiert, fand er eine Stelle als Verkäufer und wurde 1945 in ein Arbeitslager deportiert, aus dem er fliehen konnte. Nach dem Krieg nahm er sein Studium – Philosophie, Germanistik, Klassische Philologie – wieder auf und schlug eine Universitätslaufbahn ein. In seinem reichhaltigen Werk untersucht er u.a. Metaphern und ihre metaphysischen Substrate und vermerkt deren Präsenz in der Welt. Den Schiffbruch mit Zuschauer zum Beispiel. Die westliche Philosophie, erläutert Blumenberg, betrachtet die menschliche Existenz als Überfahrt. Es wimmelt von Metaphern, die aus der Vorstellungswelt der Seefahrt schöpfen, selbst in Ländern ohne Zugang zum Meer. Sturm, Erreichen des sicheren Hafens, Schiffbruch, Insel des Friedens, Wogen … Der Philosoph betrachtet die Wirklichkeit wie ein Zuschauer, der vom Festland den Kampf eines anderen mit dem sturmgepeitschten Meer verfolgt. Aus der Beobachterposition heraus wird er zum Zeugen. Doch der Zeuge kann den Boden unter den Füßen verlieren und sich in die Lage des Schiffbrüchigen einfühlen, also selbst die Erfahrung des Schiffbruchs machen. Vielleicht ist das die Brücke zwischen Philosophie und Literatur. In dem Brief über den Vesuvausbruch und den Tod seines Onkels ist Plinius dieser Zuschauer, der dem Schiffbruch beiwohnt und ihn vom Festland aus beschreibt. Eine fingierte oder besser gesagt konstruierte Position, die der andere, der zwanzigste Brief Lügen straft. Diesmal wollte Tacitus wissen, wie Plinius selbst die Katastrophe erlebt habe. Hier nun die gleiche Szene noch einmal, mit Übereinstimmungen und Abweichungen:
»Bebt auch schaudernd das Herz mir zurück bei dieser Erinnerung …«. Der Bericht ist von Beginn an subjektiv, während der frühere im Zeichen der Objektivität stand. Wieder zeichnet sich ein steter Wechsel ab, diesmal zwischen einer diskreten Innensicht und dem Versuch zu beschreiben. Doch die Beschreibung ist viel konkreter als im ersten Brief. Hieß es in jenem: »Schon bildeten sich plötzliche Untiefen, und der Strand war durch Geröll-Lawinen vom Berg unzugänglich«, so heißt es nun: »Außerdem sahen wir, daß sich das Meer in sich selbst zurückzog und durch das Erdbeben gleichsam zurückgedrängt wurde: jedenfalls hatte sich die Küstenlinie weiter vorgeschoben und hielt viele Meerestiere auf dem trockenen Sand fest. Auf der anderen Seite eine schwarze, grauenerregende Wolke, von züngelnden und aufschießenden Streifen feuriger Lohen durchzuckt, die in langen Flammenerscheinungen aufriß: Blitzen waren sie ähnlich, nur größer.« Eine Erregung kommt zum Vorschein, die im ersten Brief fehlte. Ängste, auf die nur angespielt wurde (die »verstörte Menschenmenge«), werden nun ausführlich beschrieben. »Die einen suchten mit ihren Stimmen die Eltern, andere ihre Kinder, andere ihre Ehefrauen und suchten sie an der Stimme zu erkennen; diese klagten über ihr eigenes, jene über das Schicksal ihrer Angehörigen; da waren welche, die in ihrer Todesangst den Tod erflehten; viele hoben die Hände zu den Göttern, andere meinten, es gäbe schon nirgends irgendwelche Götter mehr und dies sei die ewige und letzte Nacht für die Welt.« Hinter den dargestellten Verhaltensweisen erscheint die universelle Angst, das Signum der Katastrophe. Der Erzähler ist davon nicht frei und kann es auch nicht sein, sonst hätte sein Zeugnis keinen Sinn. Der wesentliche Unterschied zum ersten Brief besteht im Gebrauch zweier grammatischer Personen, der Ersten Person Singular und der Ersten Person Plural; denn obgleich sich Plinius schon im ersten Brief kurz ins Spiel brachte, berichtete er überwiegend in der Dritten Person. Die Grenze zwischen äußerem und innerem Erleben verschwimmt. Alles erscheint aus einer einheitlichen und subjektiven Perspektive, der Erzähler wird mal zur Stimme seines eigenen Bewußtseins, mal zum Sprecher eines Kollektivs.
1807 erscheint Kleists Novelle »Das Erdbeben in Chili«, deren Handlung verwickelt ist. Eine junge Frau, Josephe, hat mit ihrem Hauslehrer Jeronimo einen Fehltritt begangen, wird ins Kloster geschickt und kommt ausgerechnet bei einer Prozession der Novizinnen nieder. Sie wird zum Tod verurteilt, er muß ins Gefängnis. Es kommt der Tag ihrer Hinrichtung, an dem Jeronimo sein Leben selbst beenden will. »Eben stand er (…) an einem Wandpfeiler und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an eine Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefugt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub.« Es ist das Erdbeben in Chili. Jeronimo kann auf wundersame Weise fliehen und will nur eines wissen: Ist die Hinrichtung erfolgt? Er durchstreift die verwüstete Stadt auf der Suche nach Josephe, nach einer Antwort. »Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte.«
Worin besteht der Unterschied zwischen dieser Beschreibung des Verderbens und der von Plinius? Auch hier ist der Standpunkt konstruiert, aber nicht als der einer realen Person, sondern einer literarischen Figur. Die Zutaten, um es salopp zu sagen, sind fast dieselben: einstürzende Mauern, ein über die Ufer tretender Fluß, Flammen und Rauchwolken, doch derjenige, dem sich dieses Bild der Verwüstung bietet, ist Jeronimo, ein Gespenst, das soeben dem Tod entgangen ist, während alles um ihn stirbt. Diese besondere und paradoxe Situation rechtfertigt die Beschreibung und verleiht ihr Nachdruck. Die geschilderte Katastrophe ist Teil einer Geschichte, die vorher begann und danach weitergeht, so daß der Leser empathisch reagieren kann. Doch obwohl der Titel, die Namen und die Jahreszahl 1647 auf das Erdbeben in Chili verweisen, gab es in Santiago seinerzeit weder Flammen noch Überschwemmung. Das beschriebene Erdbeben ähnelt vielmehr dem von Lissabon 1755, das für Kleist näher lag. Wie bei den von Freud beschriebenen Mechanismen des Traums kommt es zu Verdichtung und Verdrängung, Merkmale des weit spektakuläreren Erdbebens von Lissabon werden in die Atmosphäre von Santiago im siebzehnten Jahrhundert verpflanzt, um das gewünschte dramatische Zusammentreffen von Naturkatastrophe und religiöser Unterdrückung und Intoleranz zu bewerkstelligen.
Nach stundenlangem Umherirren entdeckt Jeronimo Josephe an einer Quelle. Sie ist mit ihrem Kind dem brennenden Kloster entkommen. Die Geliebten finden sich wieder, »im Tale, und Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre«. Es folgt eine idyllische Zeit, eine Art ursprüngliches Leben fern der Welt – ein verlorenes und wiedergefundenes Paradies – mit Don Fernando, dem Sohn des Gouverneurs der Stadt und seiner Familie. Zwar sind die Anzeichen der Katastrophe gegenwärtig – Kleist expliziert Gerüchte über das in der Stadt ausgebrochene Chaos sowie über Plünderungen und Exekutionen –, die Menschen werden körperlich und seelisch geprüft, doch in dieser vertrauten begünstigten Gesellschaft walten Zuneigung und Großmut. Dachten sie zunächst daran, nach Spanien ins Exil zu gehen, so wollen Jeronimo und Josephe nun den Vizekönig um Vergebung bitten. Eine Messe soll gefeiert werden, und die Liebenden nehmen teil in der Hoffnung, diese zu erlangen. In der Predigt werden die Schrecken des Jüngsten Gerichts heraufbeschworen, die Katastrophe wird als Strafe für die Sittenverderbnis der Stadt gedeutet. Der Chorherr erwähnt bei dieser Gelegenheit »umständlich des Frevels (…), der in dem Klostergarten der Karmeliterinnen verübt worden war« und zur Verurteilung der Liebenden führte. Die Angeklagten versuchen zu fliehen, nach verschiedenen Wendungen wähnt man sie schon in Sicherheit, da werden Josephe und Jeronimo nacheinander von der aufgebrachten Menge erschlagen. Wozu also die erste Rettung? Die verhinderte Hinrichtung? Der Aufschub? Erzählerisch ist der Schluß gerechtfertigt, denn der Aufbau ist dreiteilig: Hinrichtung – Rettung – Hinrichtung. Das Vorbild, die Tragödie, kennt die Unausweichlichkeit des Schicksals: Was immer geschieht, niemand entgeht seinem Los. Etymologisch bedeutet Katastrophe Umwälzung, Umsturz, und bezeichnet die letzte Episode einer Tragödie, den letzten Akt, die Lösung des Konflikts. Im ersten Buch seiner »Charaktere« (»Von den Schöpfungen des Geistes«) definiert La Bruyère die Tragödie wie folgt: »Die echte tragische Dichtung beengt uns das Herz von Anfang an, läßt uns in ihrem Verlauf kaum die Zeit, zu atmen und wieder zu uns zu kommen; oder sie gibt uns einen Augenblick frei, nur um uns in neue Abgründe und neue Beängstigungen zu stürzen. Sie führt uns durch Mitleid zum Schrecken oder umgekehrt durch Schrecken zum Mitleid; reißt uns durch Tränen, durch Schluchzen, durch Ungewißheit, durch Hoffnung und Furcht, Überraschung und Grauen bis zur Katastrophe.«
Somit enthält Kleists kurze Novelle alle Facetten des Begriffs Katastrophe. Sie ist seine zu Literatur gewordene etymologische Bedeutung. Dazu kommt der heute übliche Gebrauch des Worts im individuellen wie im kollektiven Sinn. Genau hier, wo sich die Hauptstraße des Kollektiven und der Pfad des Individuellen kreuzen, ist der Raum, der Ort des Erzählens. Wäre die Katastrophe allumfassend, gäbe es keinen Bericht davon. Damit er zustande kommt, braucht es einen Überlebenden, den Schreiber, und eine Gemeinschaft von Überlebenden oder Verschonten, an die er sich wendet.
Zwei Jahre nach »Robinson Crusoe« erscheint 1722 ein Buch von Daniel Defoe mit dem ebenso schlichten wie trügerischen Titel »Tagebuch des Pestjahrs «. 1665/ 66 raffte die Pest in sechs Monaten 40000 Londoner dahin. Das Ausmaß solcher Epidemien ist schwer vorstellbar. Zwischen 1348 und 1352 starben in Europa 24 Millionen Menschen an der Pest, ein Viertel der Bevölkerung. Weitere Epidemien folgten, bis man Anfang des 19. Jahrhunderts den Krankheitsüberträger – nicht die Ratte, wie man geglaubt hatte, sondern den Rattenfloh – und auch den Impfstoff fand. Doch die Jahrhunderte der Angst, mit Höhepunkten, mehr oder weniger großflächigen Pandemien, hatten sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingesenkt, daß manche literarischen Katastrophenbücher sie mehr oder weniger explizit zum Vorbild nahmen, wie Jack Londons »Rote Pest« (1915) oder Matthew Phipps Shiels »Purpurne Wolke« (1901), die beide von der völligen Verwüstung der Erde handeln. Bei Jack London haben nur wenige in einem vom Rest der Welt abgeschnittenen Amerika überlebt, bei Shiel nur zwei in England (seltsamerweise stammen die Überlebenden stets aus dem Heimatland des Autors). Werke, die man als Science-fiction bezeichnen könnte und in deren Mittelpunkt jedesmal der unerläßliche überlebende Erzähler steht, oder Werke mit politischer Intention, in denen die Pest – wie in Camus’ Roman – als Metapher für ein diktatorisches Regime steht, wurden Faschismus und Nazismus doch oft »braune Pest« genannt. Um zu begreifen, wie tief die Furcht vor Epidemien und Pandemien noch heute sitzt, braucht man sich nur die Angst zu vergegenwärtigen, die im Herbst 2009 um sich griff, als eine Welt, die rationaler und aufgeklärter als das Mittelalter oder das siebzehnte Jahrhundert sein will, mit dem Eintreffen des H1N1-Virus rechnete. Defoe war fünf, als die Pest in London wütete, und er wurde zweifellos durch die Grabesstimmung und durch Erzählungen geprägt, die er gehört haben muß. Wie sind seine Familie und er selbst davongekommen? Man weiß es nicht. Aber ist es Zufall, daß sein berühmter »Robinson Crusoe« die Geschichte eines Überlebenden ist? Gewiß, eine wahre Begebenheit hat ihn dazu angeregt, doch unabhängig von der Geschichte jenes schottischen Seemanns, der vier Jahre nach seinem Schiffbruch auf einem öden Eiland aufgefunden wurde, hatte Defoe die existentielle Situation des Überlebenden selbst erfahren, und sie bestimmte seine Sicht der Welt. Im »Tagebuch des Pestjahrs« ist der wie üblich in der ersten Person erzählende überlebende Zeuge ein Londoner Kaufmann. Das Gerücht läuft um, ein Sperrgürtel solle um die Stadt gelegt werden, und der Erzähler fragt sich, ob er aufs Land gehen oder bleiben soll. Widrige Umstände, in denen er ein Zeichen der Vorsehung sieht, halten ihn fest, und für sein Bleiben erhält er das implizite Versprechen, verschont zu werden. Auf gut Glück in der Bibel blätternd, stößt er auf den 91. Psalm: »Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.«
Der Erzähler ist geblieben, um Zeugnis abzulegen. Er schreibt auf, was er wahrnimmt: die Angst der Menschen, die Schreie, die man in den verlassenen Straßen hört – »eine ganze Familie war in furchtbarer Aufregung, und ich konnte hören, wie Frauen und Kinder wie außer sich durch die Zimmer liefen« –, das Lesen der Zeichen, das Erscheinen eines Kometen, die Orakel und Weissagungen der Astrologen, Bestattungen. Der Bericht wechselt ab mit Totenlisten aus Kirchenbüchern, Einzelheiten über die ergriffenen Gegenmaßnahmen – Verbot öffentlicher Darbietungen und Bankette, Ahndung von Trunkenheit, Entfernung von Unrat – und moralischen oder philosophischen Betrachtungen. Der Erzähler vermerkt, daß der nach Oxford geflüchtete Hof verschont wurde, und fügt hinzu: »Ich kann freilich nicht sagen, daß ich bei ihnen je große Anzeichen von Dankbarkeit dafür bemerkt hätte, und kaum etwas von einer Sinnesänderung, obgleich es nicht ausblieb, daß man ihnen nachsagte, (…) ihre schreienden Laster könnten für das Hereinbrechen dieses furchtbaren Strafgerichts über die ganze Nation verantwortlich gemacht werden.« Zudem sind Ratschläge eingestreut, ja sogar Tadel für die Art und Weise, wie die Krise von der Obrigkeit gehandhabt wurde. Wie Kleist mit dem Erdbeben in Chili eigentlich das von Lissabon meint, kann nämlich auch die eine Pest für die andere stehen. Als Defoe 1720 sein Tagebuch beginnt, bricht in Marseille die Pest aus, und man fürchtet ihre Ausbreitung bis London. Das schärft den Sinn fürs Überleben. Da ihn die Vorsehung 1665 verschont hat, kann der Kaufmann durch sein Zeugnis dazu beitragen, daß die gleichen Ursachen nicht wieder zu den gleichen Wirkungen führen. Oft verbinden die Zeugen, die Überlebenden, mit ihrem Bericht eine Vorstellung von Nützlichkeit – Zeugnis ablegen, damit sich die Katastrophe nicht wiederholen möge. Mag sie zunächst als Rechtfertigung des Zeugnisses, des Verfassens dieser oder jener Schrift erscheinen, so ist sie doch – auf untergründige, verborgene Weise – auch Rechtfertigung des Überlebens, der Existenz des Autors, der so die Schuld zu leben, wo doch alle anderen starben, kompensiert und seinem Überleben einen Sinn gibt. Das Zeugnis weitet sich auf alles aus, was der Überlebende tut und schreibt, es geht in seine Person ein.
»Tagebuch des Pestjahrs« – der Titel läßt auf einen Zeugenbericht schließen, während das abgekartete Spiel mit einem erwachsenen Erzähler, der Kaufmann ist, und einem Autor, der nie Kaufmann war und zum Zeitpunkt des Geschehens fünf ist, auf einen Roman hindeutet. Tatsächlich wurde das Buch als Fiktion aufgefaßt: »Dieser Bericht ist sehr wohl ein Roman, obgleich er für ein historisches Dokument gehalten wurde«, schreibt Joseph Aynard im Vorwort zu seiner Übersetzung von 1943 (übrigens ein merkwürdiges Erscheinungsjahr für dieses Buch). Dagegen schreibt Henri Mollaret, Professor am Institut Pasteur, einem biomedizinischen Forschungszentrum, in seinem Vorwort zur Folio- Ausgabe: »Nichts ist erfunden an dem Bericht Defoes, dessen ›Tagebuch‹ sicherlich die umfassendste, genaueste Beschreibung der Pest darstellt.« Um vorläufig abzuschließen, möchte ich noch einmal auf Plinius’ ersten Brief zurückkommen, der so endet: »Als einziges will ich noch beifügen, daß ich alles, was ich selbst erlebt oder gehört habe, unter dem unmittelbaren Eindruck aufgezeichnet habe, wenn man die Ereignisse am treuesten erzählt. Du wirst das Wichtigste herausziehen, denn es ist nicht dasselbe, ob man einen Brief oder eine Geschichte schreibt, ob man einem Freund oder ob man für die Nachwelt schreibt.« Mit Geschichte ist ein Geschichtsbuch und kein fiktionales Werk gemeint; und die Nachwelt ist eine Extrapolation des Übersetzers, denn im lateinischen Text steht omnibus, womit das Schreiben an einen Freund dem für die Allgemeinheit, und das Private dem Öffentlichen, gegenübergestellt wird.
Doch das Schicksal – oder die Geschichte – hat Sinn für Ironie. Tacitus’ Bericht vom Vesuvausbruch und vom Tod Plinius’ des Älteren hätte in seine »Historien « der Jahre 69 bis 96 Eingang finden sollen. Die überlieferten Bücher hören aber 70 auf. Wie gingen sie verloren? Wurden sie überhaupt geschrieben? Wie ist der Rest auf uns gekommen? So viele Fragen ohne Antwort. Die Nachwelt erfuhr die Einzelheiten des Vesuvausbruchs letztlich nicht durch den öffentlichen Bericht des Tacitus, sondern über den privaten des Plinius.
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 1/2013, S. 5-14
- 2/2014 | »Osnabrück ist das verlorene Paradies, nur nicht für mich.« Gespräch mit Hélène Cixous, S. 635 Leseprobe
Wajsbrot, Cécile
»OSNABRÜCK IST DAS VERLORENE PARADIES, NUR NICHT FÜR MICH» Gespräch mit Hélène Cixous
Vorbemerkung
Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von ihrer Rolle bei der Gründung der alternativen Universität Vincennes (jetzt Saint-Denis), an der man auch ohne Abitur studieren konnte, ich wußte von der Strahlkraft ihrer Seminare und auch von ihrer Freundschaft mit Derrida, die sich in mehreren Büchern niederschlug. Dennoch lernte ich Hélène erst viel später, 2006, durch den gemeinsamen Freund Frédéric-Yves Jeannet kennen. Inzwischen hatte ich mit dem 1999 erschienenen Buch »Osnabrück« meine Cixous-Lektüre wiederaufgenommen und begab mich alljährlich treu zum Stelldichein der Herbstneuerscheinungen, wo die unendliche Erzählung ihres Werks Buch für Buch fortgesponnen wurde – eine Art mythisches Epos, aus transfigurierten Alltagselementen gewoben und von literarischen Hausgöttern wie Stendhal, Montaigne und Kafka behütet.
Als Hélène Cixous die Wohnungstür öffnete, kam mir Nofretete in den Sinn, deren ebenmäßiges und doch rätselhaftes Gesicht die Zeiten überdauert hat. Beim Anblick des Panoramas von Paris, das sich vor den Fenstern darbot, sprachen wir über Deutschland, über Berlin, wo ich damals schon lebte. Im Laufe der Jahre wurden mir diese Treffen mit Hélène zur Gewohnheit – schwebend gleichsam im Raum (hoch droben in einem Neubau) und in der Zeit, seltene, doch regelmäßige Besuche – manchmal wirbelte eine Katze herein –, geprägt von der mal sichtbaren, mal unsichtbaren Gegenwart ihrer Mutter Ève, die im Sommer 2013 dahinging. Mit der Zeit entwickelten sich eine Freundschaft, glaube ich, und ein Austausch.
Wie kam es zur Idee eines Gesprächs über Deutschland? Die Wichtigkeit des Themas für unsere Unterhaltungen, die Bedeutung der deutschen Sprache und Literatur für Hélène Cixous’ Leben und Werk, auch wenn sie von der Kritik kaum wahrgenommen wurde – es gab viele Gründe, die dabei zusammenkamen. Hélène sagte sofort zu. Das Gespräch sollte fortlaufend stattfinden, in jenen Freiräumen, die uns unsere vielfältigen Aktivitäten ließen – in Hélènes Fall das monatliche Seminar im Pariser Heine-Haus, das Stück, das sie für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil schrieb und das anschließend geprobt wurde, die mit der Arbeit an ihrem nächsten Buch erfüllten Sommermonate in Arcachon und natürlich Ève, die sich in ihrer Obhut befand. Was also konnte zweckmäßiger als die Schriftform sein, zumal wenn man mit der Hand schrieb und nicht am Computer?
Es handelt sich hier also um ein geschriebenes Gespräch, geführt zwischen Mai und November 2012.
Cécile Wajsbrot
CÉCILE WAJSBROT: Es kommt mir vor, als beträten wir einen neuen Kontinent, ein aus den Wassern auferstandenes Atlantis. Das deutsche Wort Angst und der Städtename Osnabrück sind die ersten Hinweise auf Deutschland, denen man in Ihren Buchtiteln begegnet. Was ist Deutschland für Sie in erster Linie: ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wenn die Frage zu weit führt, sagen Sie es mir.
HÉLÈNE CIXOUS: Mir fällt an Ihrer Frage das bezeichnende »erst« auf, das zweimal vorkommt und die Hypothese Deutschland als Raum, Oberfläche, Gelände oder geographisches Gebiet markiert. Habe ich je mit Deutschland Fühlung aufgenommen? Hat es je mit mir Fühlung aufgenommen? Habe ich es je betreten, habe ich es je verlassen? Meinem Gefühl nach bin ich seit jeher von ihm umgeben, meine wichtigste Erinnerung besteht darin, eine treibende Alge inmitten dieses Meers gewesen zu sein. In Algerien wurde ich geboren, von Deutschland stamme ich ab, es hat mich von Geburt an umschlossen. Denken, Sätze bilden und die Welt lesen, all das habe ich in einer in algerische Gefilde versetzten deutschen Welt gelernt. Während ich als pflanzlich-tierisches Menschenwesen im trockenen und duftigen Klima von Oran aufwuchs, sog ich aus zwei Böden Kraft und Bedeutung, ich war durch das in Algerien enthaltene Deutschland mit der Zeit verbunden. Umgekehrt lag meine Geburtsstadt Oran in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter.
Daß die Frage zu weit führen könnte, ist ein guter Indikator: Sie zeigt die unberechenbare Gegenwart all dessen an, was unter dem Namen Deutschland um mich versammelt ist. Am Ende (meines Lebens) würde ich ein Traktat, ein Epos, eine deutsche Autobiographie (eine meiner Autobiographien) geschrieben haben können oder sollen.
Ich sage Deutschland, und die Sache erscheint mir genauso unendlich, unerbittlich, von mir selbst unablöslich wie, sagen wir, für Derrida der Name Abraham, den er zum Vornamen des Rätsels Judesein bestimmen wollte. Ich sage Deutschland, und der Name klingt für mich seit meiner frühen Kindheit, als wäre er ein Synonym für Omi, meine Großmutter, meine Mutter für Deutschland. Omi kommt 1938 zu uns nach Oran, ich bin anderthalb und habe zwei ganz verschiedene und doch spiegelbildliche und stets miteinander verbündete Ammen, Deutschland und Algerien. Meine geistigen Großmütter, meine Schicksalsverwandten, die mein Ohr mit der gleichen Anfangssilbe umschmeicheln (Allemagne/Algérie). Sobald ich Allemagne sage, erhebt sich Algerien und folgt ihm wie ein Schatten.
Ich merke, daß ich Deutschland auf französisch sage, denn es war die französische Sprache, in die meine Mütter (meine Mutter meine Großmutter), als sie es während des Kriegs für nötig hielten, ihr Haus und ihre aus Deutschland stammenden Leiber verwoben und hüllten, in der sie sie vielleicht sogar verbargen, also ihre erste Wahrheit unter dem Tischtuch des Französischen verschwinden ließen. In unserer Behausung in Oran sagte Omi stets »chez nous«, wenn sie eine besonders verbindliche Regel oder Sitte formulierte, und dieses »bei uns« war in Deutschland. Sicherlich kam es auch einmal vor, daß sie es auf deutsch sagte, doch in ihrer gebieterischen Art und Weise, unseren Gehirnen deutsche Ordnung beizubringen, zog sie es vor, »auf französisch deutsch zu sprechen«. Noch heute schmeckt das Wort Allemagne für mich nach Dom und Schlagsahne oder Schuberts klangvollem Dahinströmen. Ich glaube, in meiner zweisprachigen Kindheit ging französisch oft als deutsch durch, und das Deutsche floß zu meiner größten Zufriedenheit ins Französische ein. Diese Weiterungen, Ergänzungen, Pfropfungen, Einladungen machten mir große Freude, ich hatte eine Freude am Spiel, die mir heute als Urszene jeder Form von Genuß erscheint: zu zweit sein, zwei sein, zugleich der andere sein, stets zu etwas anderem seine Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen sein, über alle Transportmöglichkeiten verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer treten. Die Wonne, sich mühelos zu einer Fremden zu machen.
Ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wie könnte man das auseinanderhalten oder in eine Rangfolge bringen? Mir fällt ein Kompositum ein: Sprach-Stadt-Land. Eine Sprache, in der ich wie in einer Stadt wohne und reise und die mein ganzes Weltland wäre. Und die alle meine Stimmungen in sich aufnähme. So wird »Angst« und »Osnabrück« der gleiche Platz zugewiesen, nämlich der eines Titels. Zwei »deutsche« Titel, zwei Bestimmungen, gleichsam zwei Namen geistiger Orte, zu deren Archäologin ich geworden bin. Tatsächlich widme ich mich der Erforschung der Tiefen, den Bergwerken, Stollen, Irrgängen, Grabungs- oder Auferstehungsstätten, ich horche die Brust der Schöpfung ab. Es drängt mich dazu, die Herkunft zu untersuchen – die Ursprünge, die Passionen. Und oft geben sich mir diese urwüchsigen Zonen in Gestalt archaischer, also deutscher Gottheiten zu erkennen. Ich habe so viel in »Angst« gelebt, diesem Land seltsamer Irrlichter. Und es stellt sich heraus, daß die prähistorischen »Städte« der Triebe und Passionen in meinem inneren Deutschland liegen. Das Bild, das ich von Osnabrück habe! Ein Klangbild, ein Scheppern, ein Gerassel von Phonemen, etwas geradezu Mythologisches! Während »Angst« den Tod im Leben bezeichnet, beschwört »Osnabrück« ein Pompeji vor dem Jahr 79 herauf, eine jugendliche, europäische, genießerische Stadt, eine Schatulle voller lebenskluger Menschen, man schwimmt, geht ins Theater, treibt Sport, und eines Morgens überrascht einen der Krieg. Streckt einen nieder. Os-na-brück. Erich Maria Remarques Schule, Straßen für Felix Nußbaum, »Osnabrück«.
WAJSBROT: Dann hätte Deutschland also keinen Anfang, es wäre selbst der Ursprung. Aber gab es denn kein erstes Mal? Wann zum Beispiel fand die erste Reise ins reale Deutschland statt und wohin führte sie?
CIXOUS: Köln. Bad Nauheim. 1951. Schlagsahne. Ich sehe mich mit Omi in den Straßen Kölns. In der großen hellen Wohnung von Eri und Bertold Barmé. Eri, Omis zweite Tochter, meine Tante. Im Kurhaus in Bad Nauheim langweile ich mich bloß, nichts als alte und kranke Leute, echte Kranke und auch eingebildete, wie Omi.
Ich glaube, ich bin voller Vorfreude mit Omi in Algier aufgebrochen. Ich habe Lust auf Deutschland. Ich bin vierzehn. Die Umstände brauen sich zusammen: Zum einen – und das ist die geheime Motivation – wohnt meine Tante Eri jetzt in Köln mit meinem Onkel Bertold, ihrem Mann, einem Zahnarzt. Zum anderen hat Omi ihr Recht auf Wiedergutmachung in natura geltend gemacht: Sie muß ihre Gesundheit in den Bädern wiederherstellen! Man verordnet oder verschreibt ihr Bad Nauheim – aber das ist ein Vorwand: Niemand in der Familie glaubt an die Heilwirkung der Bäder. Für mich ist das ein Motiv der Literatur, man findet über Dostojewski und Thomas Mann dorthin, allenfalls noch über Kafka und Thomas Bernhard. Mir erscheint das alles als Farce. Manche Pensionsgäste sind herzkrank. Man kann nichts tun, als mit Omi, die schlecht zu Fuß ist, im Wald spazierenzugehen. Ich verstehe mich gut mit Herrn Ober und stelle fest, daß meine schwarzen Augen in diesem Land, wo alle Welt Omis blaue Augen hat, Aufsehen erregen. Ein armer mißgestalteter jüdisch-polnischer Händler, auch er mit einem Anspruch auf Wiedergutmachung, macht mir einen Heiratsantrag. Letztlich wird das Hotel zum Schauplatz einer kleinen Einführung in den Roman des 19. Jahrhunderts, die »Psychologie«: Man stecke Vertreter unterschiedlicher Spezies in eine Arche ohne Zukunft. Eine Versuchsanstalt. In Köln lerne ich die deutsche Großstadt kennen. Für mich sind wir dort in einen »fremden« Leim getaucht. Omi fühlt sich wohl, es ist schlichtweg ihr Land und beinahe ihre Gegend. Das Stück Deutschland, in dem die Familie verwurzelt ist: Hamburg, Dresden, Gießen, Hannover, Osnabrück, Köln, Frankfurt. Die Städte, wo die Onkel, Tanten, Cousins gedeihen, Kaufleute, Bankiers, Unternehmer. Man spricht viel von Hamburg in der Welt. In Köln bemerke ich die Grenzposten: Ich werde »gesehen«, schief angesehen. Auf der Domtreppe hält mich ein gereizter Priester auf und weist mich, weist meine nackten Arme ab, es ist ein strahlender und heißer Sommer. Da kam mir ein Verdacht. Ansonsten begegnet mir 1951 keine Spur von Antisemitismus. Es gibt auch keine Juden mehr in Deutschland. Bis auf meinen Onkel Bertold, der den Zwängen Israels entflohen ist, wo er 1937 oder 1938 ankam, als es noch Palästina und ein Schutzraum war. Zehn Jahre haben ihm gereicht.
Als guter freimaurerischer Stadtbewohner, Bürger von Köln, kehrt er »heim« und bringt seine Familie mit. Es läuft gut für ihn, den angesehenen Zahnarzt, den umgänglichen und charmanten Mann. Ein Roman, der noch zu schreiben wäre. 1951 blüht Köln, es gedeiht – doch, doch, ich komme aus Algier. Und aus London, wo es Hunger gibt und Lebensmittel rationiert sind. Während ich in Köln endlich der riesigen Sahnetorten ansichtig werde, von denen mich Omi den ganzen Krieg über träumen ließ. Köstlich. Sie sind bis heute unübertroffen.
Bleibt noch der Mythos Osnabrück: Bin ich mit Omi hingefahren? Oder habe ich das nur geträumt? Ich sehe uns dort in den engen Straßen, ich sehe uns am Nikolaiort, wie im Traum.
Leider habe ich es versäumt, Omi zu fragen, ob wir wirklich dort gewesen sind. Osnabrück war stets so strahlend gegenwärtig in meinen »Erinnerungen«, die von den Berichten meiner drei Erzählerinnen getönt waren – den feenhaften Zeuginnen, meiner Mutter Ève, meiner Tante Eri und Omi.
Mein erstes, zwiespältig reizvolles Deutschland, ich habe dich geliebt. Und gewiß wollte ich von dir geliebt werden.
[...]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 2/2014, S. 214-222, hier S. 214-218
- 2/2015 | Echos eines Spaziergangs in der Künstlerkolonie
- 4/2016 | Der Tag danach, S. 635 Leseprobe
Wajsbrot, Cécile
Der Tag danach
Es sind die leeren, verlassenen Straßen, die der Schwere des Anschlags eine physische Dimension verleihen. Ein Samstag nachmittag, niemand ist draußen, und in dem Touristenviertel, durch das sich sonst Gruppen aus Europa und Asien schieben, herrscht diesmal Stille. Keine megaphonverstärkten Fremdenführerkommentare, kein Rumoren unter den Fenstern, nichts – nicht einmal der gewohnte Geräuschhintergrund des Verkehrs. Im Radio vervielfacht sich der Chor der Stimmen. Zeugnisse aller Art – von Leuten, die im Bataclan waren und entkommen konnten, von solchen, die Hilfe geleistet haben, auf der Terrasse eines Cafés saßen –, Kommentatoren, Politiker, Journalisten, es ist, als solle die Überfülle der Worte die Leere der Straßen um jeden Preis überdecken. Mit Worten, die sich ähneln, Worten, die sich wiederholen – Massaker, Gemetzel, Krieg, Horror, Schockstarre. Und die Bilder im Fernsehen, die man aus anderen Weltgegenden zu sehen gewohnt ist, wurden diesmal nach Paris importiert, wo wir wohnen, wo wir leben. Die Namen wohlvertrauter Straßen, bekannter und regelmäßig besuchter Orte … Diese leeren, verlassenen Straßen sind das Zeichen dafür, daß es diesmal hier bei uns geschehen ist. Die Stille, an der man sich stößt, gleichsam verdoppelt durch die Worte, an denen man sich genauso stößt. Ja, es ist paradox: Man braucht die Worte, braucht die Sprache, aber keinesfalls diese Worthülsen, die jeden Sinn verloren haben. Man braucht auch Schweigen, Einkehr, Würde. Man braucht Zeit.
Am Sonntag, den 3. September 1939 schreibt Virginia Woolf in ihr Tagebuch: »Dies ist gewiß, wie ich annehme, die letzte Stunde des Friedens.« Das Ultimatum endet um 11 Uhr und die Rede des Premierministers in der BBC ist auf 11.15 Uhr angesetzt, jene Rede, mit welcher die Kriegserklärung erfolgen soll. Fortan wird der Krieg im Tagebuch, in dem Unruhe und Ungewißheit nicht neu sind, immer mehr Raum einnehmen. Der Krieg überschattet alles. Und Virginia Woolf vermerkt das Bedürfnis, Artikel zu schreiben, »patriotisch « zu schreiben, vermerkt den Druck der Ereignisse. »Wieder einmal sind wir Journalisten«, notiert sie am 23. September und stellt fest, daß es unmöglich sei, sich in die Arbeit an einem großen Werk zu vertiefen (29. Mai 1940). Und am 9. Juni 1940 schließlich, als das Gerücht aufkommt, die französische Regierung habe Paris verlassen: »Das schreibende ›ich‹ ist verschwunden. Keine Öffentlichkeit mehr. Kein Echo mehr. Das ist der Vorgeschmack des Todes. Nicht ganz, denn ich korrigiere gerade ›Roger‹ [eine Biographie Roger Frys], den ich morgen abzuschicken hoffe, und habe ›Pointz Hall‹ fertigstellen können. Dennoch bleibt es eine Tatsache. Das Verschwinden des Echos.« Sie kommt noch mehrmals darauf zurück, auf dieses Gefühl des verlorenen Echos, das Gefühl, ein Teil ihres Selbst existiere nicht mehr. Wozu schreibt man? fragt sie Ende Juli 1940, als die Gerüchte über eine bevorstehende Invasion Englands immer hartnäckiger werden. Geschieht es wirklich, um veröffentlicht zu werden? Zudem hält sie Ende August 1940, während der Bombardierungen, ihr Bedürfnis nach literarischer Fiktion fest: »Ich kann wohl sagen, wenn ich etwas Erzählerisches oder etwas über Coleridge schriebe statt dieses schrecklichen, für Amerika bestimmten Artikels über die Bomben, wäre ich in ruhigeren Gewässern.« Doch gerade das ist unter den gegebenen Umständen kaum möglich: ein Werk literarischer Fiktion schaffen, ein umfangreiches Buch planen, einen anderen Lebensrhythmus pflegen, »in the upper air« leben, in höheren Sphären also, wie sie am 15. November 1940 schreibt.
Botschaften aus aller Welt, Berlin, New York, von all jenen, die fern von Paris sind und sich Sorgen machen um diejenigen, die dort sind. Von all jenen, denen Paris etwas bedeutet. Ist alles in Ordnung? Seid Ihr unmittelbar betroffen? Wir denken an Euch, wir sind mit Euch. Diese Botschaften müssen beantwortet werden. Es ist alles in Ordnung und zugleich überhaupt nicht. Hier eine etwas andere Botschaft. Was soll man denken? Was soll man dazu sagen? Oder diese noch: Könnten Sie im Radio ein paar Minuten …? Nein, ich kann es nicht. Was wäre zu sagen? Ich weiß es nicht. Und was zu denken? Daß der Augenblick darüber nachzudenken noch nicht gekommen ist. Daß es etwas zu respektieren gilt, die Suspendierung des Sprechens und des Denkens. Damit man sich sammeln kann – aber nicht nur das. Damit das Geschehene sich setzen, seinen Platz unter uns einnehmen, seine Spur hinterlassen kann.
[…]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 4/2016, S.559-561, hier S. 559-560
- 6/2017 | Tröstung
- 5/2018 | Tag und Nacht
- 5/2018 | Ein Gespräch mit Matthias Weichelt und Gernot Krämer über Stimmen, Erinnerungen und Literatur
- 3/2021 | Die Literatur, ein unbekanntes Objekt
- 4/2022 | Ein Gespräch mit Juan Allende-Blin übers Komponieren, über Literatur und Exil
- 3/2023 | Das Gewicht der Vergangenheit. Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen
- 1/2024 | Verlorene Generation oder Die Macht der Namen, S. 635 Leseprobe
Wajsbrot, Cécile
1
Ich möchte von einer unbekannten Generation zu Ihnen sprechen, von einer unsichtbaren, die in der Forschung die zweite Generation genannt wird oder auch Generation einundeinhalb, je nach Zählweise – daran erkennt man schon das Ungewisse, den Nebelschleier, der sie umgibt. Ich möchte hier von Jahrgängen sprechen, die dem Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu nahe und von deren Historisierung zu weit entfernt waren. Von einer Generation, die weder Zeugin der Zerstörungen noch nostalgische Archäologin des Lebens davor war – des Lebens in den polnischen Schtetls oder den großen Weltstädten. Die weder die rasende Vernichtung noch den Wunsch nach Wiederaufbau erlebt hat. Eine Generation, die schweigsam war, nicht, weil sie es so gewählt hätte, sondern weil die Umstände es wollten. Oder vielmehr eine Generation, die zu sprechen versuchte, und die es noch immer versucht, deren Stimme jedoch aus etlichen Gründen beinahe unhörbar bleibt.
2
Verlorene Generation, lost generation – der Ausdruck bezeichnet insbesondere in den Vereinigten Staaten die Generation des Ersten Weltkriegs, also diejenigen, deren Jugend durch diesen Krieg zertrümmert wurde, in dem sie ihre Orientierung oder das Leben verlor. Aber der Ausdruck lost bezeichnet mehr als den Verlust des Lebens, bezeichnet die Orientierungslosigkeit von Menschen, die in der Tradition der vorausgegangenen Jahrzehnte erzogen und dann in einer Nachkriegsgesellschaft erwachsen wurden, die keinen Bezug mehr zur Welt ihrer Eltern hatte, zu der Welt, die ihnen überliefert worden war. Sie mußte sich damit abfinden und mit den Werkzeugen der alten eine neue Welt angehen. Es heißt, Gertrude Stein habe den Ausdruck für die amerikanischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Generation geprägt, die wie sie selbst die zwanziger Jahre im Pariser Exil verbrachten, ein Exil, das Zeichen – oder Folge – der Desorientierung war, und diese Desorientierung wiederum wurde von Stein in ihrer Weise, die Sprache zu erkunden und zu dekonstruieren, wie man damals noch nicht sagte, zum Äußersten getrieben. Sie selbst soll den Ausdruck in Paris bei einem Automechaniker aufgeschnappt haben, der die damalige Jugend als verlorene Generation schmähte, worauf Stein mit dem entwendeten Ausdruck unter anderem ihren Freund Hemingway charakterisierte, der wiederum ihre Anrede – You are all a lost generation – seinem Roman »The Sun also Rises« (deutsch unter dem Titel »Fiesta«), der einen Kreis britischer und amerikanischer Exilierter in Paris beschreibt, als Epigraph voranstellte.
Wir haben keinen Krieg erlebt, wir sind nicht unbedingt im Exil, wir gehören zum alten Kontinent und nicht zur neuen Welt, und doch sind auch wir lost, desorientiert, ein wenig verloren und irren mitunter durch die Zeiten.
3
In seinem 2007 erschienenen Essay »Lines: A Brief History« (Eine kurze Geschichte der Linien, 2021) unterscheidet der englische Anthropologe Tim Ingold zwischen Fäden und Spuren und erfindet eine Lesart der Welt vermittels zweier Arten von Linien, jener, an der man entlanggeht, und jener, die bloß zwei Punkte miteinander verbindet. Damit unterscheidet er das »wayfaring« vom »transport«, das Wandern, das eine Erfahrung an sich ist, die voll und ganz zum Leben gehört, und den Transport, dem es darum geht, möglichst schnell einen Zielort zu erreichen. Diese Metapher läßt sich auf etliche Bereiche anwenden, und man kann alles unter dem Blickwinkel von wayfaring oder transport betrachten, als Linie, an der es entlanggeht, oder als Linie, die durchquert. Folgen wir Ingold, ist das Wandern im Prinzip die Art und Weise, wie Menschen die Erde bewohnen. »Ein Bewohner ist vielmehr jemand, der an dem beständigen Prozeß der Weltwerdung teilnimmt und im Hinterlassen seines Lebensweges zur Verwebung und Textur dieser Welt beiträgt.« Dem stellt Ingold die Besetzung entgegen, als eine Weise, den Ort als freie durchquerbare Fläche zu betrachten, über die ein Liniennetz gelegt wird, Trassen, über die Personal und Gerätschaften schnellstmöglich in Ressourcen- und Abbaugebiete gebracht werden. Daß Kolonialisierung Raum auf diese Weise nutzt, ist klar. Unter anderen Umständen wird die Sache komplexer. Und gestatten Sie mir hier einen Umweg über meine persönliche Erfahrung in einem besonderen Land, Frankreich, einen Umweg, der aber zum Weg gehört, weil wir wayfarers sind, dem Wandern verschrieben und nicht dem Transport. Frankreich also, ein Land, in dem die kollektive Geschichte vielmehr einer Besetzung ähnelte, zumindest in Hinblick auf die Zeit der Besatzung, was kein Wortspiel ist, und auf die von französischem Boden aus organisierte Deportation von Juden, während die Familiengeschichte auf seiten des Bewohnens angesiedelt war, eines schwierigen Bemühens, einen Lebensweg zu ziehen, indem man an der im Werden begriffenen Welt teilzunehmen versucht.
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Ich bin 1954 geboren, das heißt neun Jahre nach Kriegsende, neun Jahre nach der Befreiung der Lager, in Paris, in einer Familie, die in den dreißiger Jahren aus Polen gekommen war und auf väterlicher wie mütterlicher Seite aus derselben Stadt stammte, Kielce. Sie ist wegen eines Nachkriegspogroms von 1946 bekannt, bei dem es zweiundvierzig Tote und achtzig Verwundete gab. Ich bin in Frankreich geboren, und damit in einem Land, das sich seine eigene Geschichte als eine glorreiche erzählte, auch jenseits der Glanzstunden, die man uns schon in der Grundschule beibrachte, die Könige Ludwig der Heilige, Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser Napoleon der Erste; es gab auch die mutige Résistance, die das Land den deutschen Besatzern entgegengestellt hatte. Natürlich sagte man uns nicht, daß Ludwig der Heilige die Juden aus Frankreich vertrieben hatte, daß Ludwig der Vierzehnte das Edikt von Nantes widerrufen und damit je nach Quelle hunderttausend bis zweihunderttausend Protestanten ins Exil gezwungen hatte, nach Amsterdam, London oder Berlin, und daß Napoleon die Sklaverei wieder eingeführt und Europa in verheerende Kriege hineingezogen hatte (Kriege, die uns als heldenhaft dargestellt wurden).
Genauso verhielt es sich mit der jüngsten Geschichte. Die öffentliche Ruhmeserzählung stand konträr zur Familiengeschichte, ich wußte früh, daß mein Großvater mütterlicherseits deportiert worden war, ich konnte früh den Namen Auschwitz aussprechen, den die meisten Leute in Frankreich noch heute Ausswitch aussprechen – dieser switch, der mir stets vorkam, als offenbarte sich darin ein Umschalten des Gedächtnisses, ein Perspektivwechsel, eine Verleugnung. Ebenso früh wußte ich, daß es die französische Polizei war, die bei der Wintervelodrom-Razzia meine Großmutter, meine damals zehnjährige Mutter und meinen dreizehnjährigen Onkel abgeholt hatte. Und ein wenig später, daß in dem Film »Nacht und Nebel« von Alain Resnais, der 1956 herauskam, das Képi des französischen Gendarmen, der das Lager Beaune-la-Rolande bewachte und kurz im Bild erschien, mit Filzstift geschwärzt worden war, um nicht erkennbar zu sein. Ich übergehe hier das Epos von Flucht und Untertauchen, die Hilfsnetzwerke und die tägliche Angst, die das Los aller war, denen es gelang zu überleben und den Verfolgungen zu entkommen. Ich möchte bloß sagen, daß von alldem außerhalb des familiären Zuhauses nie die Rede war. Daß ich zu Anfang des Schuljahrs jedesmal die Frage beantworten mußte, woher mein Name komme. Daß ich in jeder Klasse die einzige war, die einen solchen Namen trug. Tragen ist das richtige Wort, denn es war eine Last, ein Gewicht, es wies mich als verschiedenartig aus, anders als die anderen – als eine Fremde. Denn im Französischen, wo das j ein Konsonant und kein Halbvokal ist, war dieser Name unaussprechlich. Wenn man ihn, beispielsweise für eine Bestellung in einem Laden, angeben mußte, sprach meine Mutter ihn Vesbro aus und französierte ihn so gewissermaßen. Und ich tat es ihr nach, auch wenn diese Aussprache sich orthographisch keineswegs rechtfertigen ließ. Mein Vater hingegen fragte mich immer wieder, ob ich in der Schule nicht »Waschbrot« genannt würde. Erst spät, so um die dreißig, ist mir der Hiat zwischen meiner eigenen Weise, meinen Namen auszusprechen, und seiner Schreibweise bewußt geworden, und zwar mit einer solchen Schärfe, daß ich nicht mehr wußte, wie ich ihn aussprechen sollte. Stellen Sie sich mal vor, den eigenen Namen nicht mehr aussprechen zu können. Es kam um so ungelegener, als ich damals gerade mit dem Unterrichten aufgehört hatte und Arbeit suchte, was in jener fernen Zeit vor dem Internet hieß, daß man telefonieren mußte, und am Telefon schob ich den Moment, an dem ich meinen Namen sagen mußte, möglichst weit hinaus. Anstatt mich zu Beginn des Gesprächs vorzustellen, wartete ich die Frage ab, »mit wem spreche ich« … Diese unbehagliche Situation dauerte ein paar Monate, vielleicht sogar ein oder zwei Jahre. Bis zu dem Tag, an dem ich eine Art Erleuchtung hatte. Da es ja für das Lateinische eine rekonstruierte Aussprache gibt, die als die von den Lateinern praktizierte gilt, entschied ich, auf meinen Namen genauso eine rekonstruierte Aussprache anzuwenden und ihn wie im Jiddischen auszusprechen – waïsbrot. In jenem kolonisierten Gedächtnis, in dem es darum ging, sich schnellstmöglich von einem Punkt zu einem anderen zu begeben und also über die Jahre 1939 – 45 hinwegzugehen, war diese Entscheidung vielleicht der erste bewußte Schritt, mit dem etwas zuvor Unbewußtes seine Wanderung antrat, oder vielmehr – denn ich war mir ja doch früh über alles klar – die erste Etappe eines Befreiungsversuchs. Vorher hatte es eine Szene in dem Verlag gegeben, der meinen ersten Roman veröffentlichte. Die Verlegerin, die den angesehenen und gut französischen Namen Gallimard trug, riet mir, einen anderen Namen anzunehmen, weil meiner unaussprechlich sei. Und ich, die ich in der langen Zeit meiner allmählichen Annäherung an dieses Milieu, während der fünf Jahre zwischen dem Schrei ben meines ersten Romans und der Veröffentlichung eines ersten Romans, der gar nicht der erste war, den ich geschrieben hatte, ich, die ich all diese Zeit hindurch erwogen hatte, ein Pseudonym, den Mädchennamen meiner Mutter anzunehmen, nicht weil der »meine«, das heißt, der Name meines Vaters, unaussprechlich war, sondern weil ich ein schwieriges Verhältnis zu ihm hatte, ich dachte nun angesichts dessen, was ich als Aggression empfand, nicht den Bruchteil einer Sekunde an meine früheren Erwägungen und verteidigte meinen Namen – vielleicht ist er in dem Moment wahrhaftig der meine geworden – und habe ihn behalten.
SINN UND FORM 1/2024, S. 37-49, hier S. 37-40
Walenski, Tanja
- 6/2023 | »Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Natascha Wodin über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit, S. 725 Leseprobe
Walenski, Tanja
»Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Natascha Wodin über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit
TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde?
NATASCHA WODIN: Das Schreiben kann in der Tat sehr hart sein, aber ich habe nie an einem Lebenswerk gearbeitet. Daß ich immer mit den Worten kämpfen mußte, gehörte einfach dazu, es liegt in der Natur der Sache und hat nie etwas daran geändert, daß das Schreiben mein Ort war, meine Zuflucht, meine Arche. In meinem Leben sind mir mehrere Wunder widerfahren, und das größte war zweifellos, daß ich meine Mutter gefunden habe – sechzig Jahre nach ihrem Tod. Ich konnte das Buch »Sie kam aus Mariupol« schreiben, das war ein großes Glück für mich. Das zweitgrößte Wunder war der Erfolg des Buchs, das inzwischen die zehnte Auflage erreicht hat und in alle möglichen Sprachen übersetzt wird. Menschen in Vietnam, in Griechenland, in Japan lesen jetzt die Geschichte meiner Mutter. Das hätte sie sich nie träumen lassen, und ich mir auch nicht.
WALENSKI: Ihre Beziehung zur Welt war lange zwiespältig, sie erinnert an Christa Wolfs Medea. Diese Figur lebt vereinsamt in einer Höhle, an einem Ort innerhalb und gleichzeitig außerhalb der Gesellschaft. Durch Ihre Angsterkrankung Agoraphobie sind Sie jahrzehntelang kaum aus der Wohnung gekommen. Haben Sie einen Großteil Ihres Lebens verpaßt?
WODIN: Eindeutig ja. Meine Außenweltphobie war noch weitaus schlimmer als meine Kindheit. In meiner Kindheit und Jugend hatte ich wenige Chancen, später, als ich zu schreiben und zu veröffentlichen begann, öffneten sich mir viele Türen. Aber ich konnte durch kaum eine dieser Türen gehen, ich konnte die Angebote, die mir das Leben machte, nicht annehmen und blieb gefangen in den Mustern meiner Kindheit. Das ist auf jeden Fall die psychologische Deutung. In meiner Kindheit, als ich wirklich von vielem bedroht war, hatte ich keine Angst. Aber als ich so etwas wie ein rettendes Ufer erreicht hatte, stürzte die Angst wie ein nicht endender Steinschlag auf mich ein. Eine Angst ohne jeden Grund. Der einzige Grund war die Angst selbst, die Angst vor der Angst. Ich lebte wie eine Gefangene in jeder meiner Wohnungen, immer auf den nächsten Einschlag der Angst gefaßt. Das Leben ging an mir vorbei, ich saß immer nur am Schreibtisch und suchte nach Worten für das, was mir widerfuhr. Ich habe diese Worte nie gefunden. So sind meine Bücher entstanden – auf der Suche nach den Worten für die Angst, den Worten für ein Buch, mein eigentliches Buch, das ich nicht schreiben konnte.
WALENSKI: Haben Sie sich aus dem Leben herausgeschrieben oder ins Leben zurückgeschrieben?
WODIN: Beides.
WALENSKI: Die Publikation von »Sie kam aus Mariupol« mit zweiundsiebzig Jahren war der Wendepunkt. Aus sozialer Isolation heraus wurden Sie ins Licht einer großen Öffentlichkeit katapultiert. Woher kam der Mut, plötzlich im Rampenlicht vor Hunderten Menschen zu lesen und zu sprechen?
WODIN: Es war der Mut der Verzweiflung. Ich wußte, daß es meine letzte Chance war. Hätte ich abgelehnt, wäre die Tür zur Welt für immer zugeschlagen, wäre ich wohl nie mehr herausgekommen aus meiner fast lebenslangen Einzelhaft. Am Anfang war jede Lesereise ein Alptraum. Inzwischen ist es Routine geworden. Das genieße ich immer wieder: daß das einst Schrecklichste etwas Alltägliches und sogar Erfreuliches geworden ist.
WALENSKI: »Einzelhaft«: Der französische Philosoph Gilles Deleuze sagte einmal, im Akt des Schreibens liege der Versuch, das Leben aus dem zu befreien, was es einkerkert.
WODIN: Das Schreiben kann selbst zum Kerker werden in dem Versuch, aus dem Kerker auszubrechen. Aber das Ausgangsmotiv ist zweifellos immer auch das Verlangen nach Befreiung, man möchte seine eigenen inneren Grenzen überwinden, die Not und Verzweiflung, in der man eine existentielle Verengung erlebt. Es ist auch der Versuch, dem Tod zu entkommen, die irrwitzige Hoffnung, Unsterblichkeit zu erlangen.
WALENSKI: »Sie kam aus Mariupol« wurde inzwischen in sechzehn Sprachen übersetzt, darunter ins Ukrainische und Chinesische. In dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land stand es mit fünfzehn Auszeichnungen auf der »Annual Awards List 2021«, darunter auf Platz 3 in der Kategorie der besten sozialwissenschaftlichen Dokumentationen. In der Topliste der Frauenliteratur – ausgewählte Literatur von Frauen für Frauen – werden Sie als »Hüterin des weinenden Feuers« geführt. Weshalb sind die Chinesen so berührt von Ihrem Text?
WODIN: Das ist mir selbst ein Rätsel. Ich habe gehört, daß dort auch Holocaust-Literatur hoch im Kurs steht. Es soll so etwas wie Stellvertreterliteratur für die Chinesen sein, die noch keine Möglichkeit hatten, ihre eigene traumatische Geschichte zu bearbeiten. So wenden sie sich erst einmal an Bücher aus anderen Ländern, in denen sie auf die politische und persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stoßen. Aus keinem anderen Land, in dem meine Bücher übersetzt wurden, kamen so betroffene, gefühlsstarke Reaktionen. Aus China hatte ich das am wenigsten erwartet, da den Chinesen ja der Ruf besonderer Verschlossenheit anhängt. Auch die Buchcover sind mit einer ungewöhnlichen Emotionalität gestaltet, sehr intelligent und gleichzeitig so dramatisch, wie wir es uns hier wohl kaum je erlauben würden. Könnte ich eine so weite Reise noch bewältigen, würde ich nach China reisen. Das Land interessiert mich sehr.
WALENSKI: Ausgerechnet ins Russische wurde der Text bislang nicht übersetzt.
WODIN: Nein, ins Russische wurde nie etwas von mir übersetzt. Ich scheine dort nicht in die Landschaft zu passen. Ich weiß nicht, ob das politische oder ganz andere Gründe hat. Vielleicht besteht bei den Lesern kein Interesse daran, wie eine im Ausland geborene und lebende Russin Rußland sieht. Im Grunde bin ich darüber aber nicht unglücklich, weil Rußland immer eine sehr ambivalente Liebe war, immer auch Beunruhigung und Verwirrung. Hätte man mich dort übersetzt, wären wohl neue Beziehungen entstanden und hätten wieder an die frühere Ambivalenz gerührt, an eine einst lebensgefährliche Wunde, die inzwischen verheilt ist.
SINN UND FORM 6/2023, S. 725-738, hier S. 725-727
Walicki, Andrzej
- 5/1999 | Czeslaw Milosz' »Verführtes Denken«
Waligora, Melitta
- 5/1983 | Zuschriften an Wilhelm Girnus
Walker, Alice
- 4/1987 | Die Rache der Hannah Kemhuff
Wallraff, Günter
- 1/1970 | Absprachen oder die unterschiedlichen Erfahrungen von zweien, die sich um eine Stelle bewerben
- 3/1975 | Unter der Folter der Obristen
Walsdorf, Lothar
Walser, Martin
Walter, Max
- 6/1976 | Mehr als »Polyphon umgrenztes Weiss«
Walther Pollatschek
- 6/1968 | Zum Nachlass Friedrich Wolfs. Präludium
Walther, Christian
- 5/2017 | Robert Gilbert. Ein Freund, ein facettenreicher Freund
Walther, Christof
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Walther, Joachim
- 3/1990 | One way ticket
Walther, Klaus
Wandelère, Frédéric
- 2/2022 | Geheimnis des Regens. Gedichte
Wander, Fred
- 4/1972 | Ein Zimmer in Paris
Wannenburgh, Alf
- 2/1967 | Das Echo
Wapnewski, Peter
- 4/2006 | Nausikaa soll nicht sterben
Wardetzky, Jutta
- 2/1979 | Eben nicht nur einer
Warkentin, Johann
- 3/1982 | Leser und Autor in der sowjetdeutschen Literaturlandschaft
Warner, Marina
- 1/2007 | Engel & Maschinen. Die Kultur der Apokalyse
- 3/2008 | Das entkörperte Wort: Das Gedächtnis im Cyberspace
Warsinsky, Werner
Wasser, Charlotte
- 5/1977 | Gespräch mit Daniil Granin
Wassermann, Jakob
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Wassmannsdorff, Karl
- 2/1950 | Neue Lyrik
Wat, Aleksander
- 4/2000 | Jenseits von Wahrheit und Lüge. Gesprochene Erinnerungen
Wat, Alexander
- 6/2014 | Tod eines alten Bolschewiken. Mit einer Vorbemerkung von Esther Kinsky
Watanabe, M.
- 5/1998 | Gespräch mit Michel Foucault und T. Shimizu
Wauthier, Claude
- 2/1984 | Gespräch mit Breyten Breytenbach
Wawerzinek, Peter
- 5/2012 | »Die Fata Morgana ist unser Wanderstab«. Gespräch mit Gunnar Müller-Waldeck
Wazyk, Adam
Weber, Hermann
- 6/2008 | Juristensöhne als Dichter. Hans Fallada und Johannes R. Becher und ihr Konflikt mit der Welt ihrer Väter
Weber, Martina
- 4/2009 | Gedichte
Weber, Rita
- 4/1979 | Meinungen zu Claus Träger, »Revolution und Literatur bei Marx«
Webern, Anton
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Zwei Briefe an Hanns Eisler
Wedde, Ian
- 4/2015 | Der Rettungsschwimmer
Wedel, Elke
- 1/1988 | Medea, meine Schwester?
Wefing, Heinrich
- 4/2004 | Das Haus des Zauberers. Thomas Manns Villa in Pacific Palisades
Wegmann, Christoph
- 1/2018 | Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire«, S. 90 Leseprobe
Wegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire»
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, Spielkarten, Ofenkacheln mit biblischen Szenen und vielem mehr. 1819 geboren, wurde er Zeuge jenes Umbruchs, in dessen Verlauf Bilder die Schrift verdrängten und die Herrschaft über Wahrnehmen und Denken übernahmen.
Als Fontane sieben Jahre alt war, brachte der Vierfarbendruck die Lithographie in Schwung, und der Neuruppiner Bilderbogen, durch den der Knabe Theodor so vieles erfuhr, erstrahlte in farbigem Glanz. Als er zehn war, taten sich Joseph Nicéphore Niépce und Louis Daguerre zusammen, um das heliographische Verfahren zu verbessern. Mit dreizehn konnte er in der Wundertrommel die ersten Bilder laufen sehen, mit achtzehn die ersten hochwertigen Farbillustrationen bestaunen, mit vierundzwanzig die erste Illustrierte durchblättern. Dann kamen der Rotationsdruck und die Massenpresse auf, auch das Photonegativ, mit dem man von ein und derselben Aufnahme beliebig viele Abzüge herstellen konnte. Ab Mitte des Jahrhunderts errichtete man wie im Fieber in allen großen Städten Museen, Ausstellungssäle, Kunstgalerien und Rundgebäude für Panoramen. Litfaßsäulen und Plakatwände wurden montiert, die Bildergeschichten Wilhelm Buschs, Witzblätter und Kunstzeitschriften entstanden, Bilderschauen gingen auf Tournee. Als Fontane 1898 starb, gab es die Lichtreklame, die Photolithographie, den Rollfilm, den Bildtelegraphen und die Kinematographie; eigentlich alles, was das Auge begehrte. Und der Sprachmensch Fontane hat vieles davon mit wachem Interesse aufgenommen.
Der Bilderschatz, den Fontane im Verlauf der Jahrzehnte in seinem Gedächtnis ansammelte, wurde zu einem riesigen »Musée imaginaire«. Über 1500 Bildobjekte tauchen in seinen Romanen auf; nur etwa 300 davon sind Kunstwerke im engeren Sinn, die Mehrzahl stammt aus dem Alltagsleben, das der Erzähler mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit erkundet hat. In diesem imaginären Museum gibt es Abteilungen für Kinder und für Fromme, für Kenner von Karten, Globen und Modellen, für Liebhaber des Erotischen und des Panoptikums. Alle wichtigen Geschehnisse und Themen spiegeln oder konzentrieren sich in Bildern, mit Bildern lernen sich Figuren kennen und lieben, wegen Bildern zerstreiten und trennen sie sich.
Fontane war ein ausgesprochener Augenmensch, ja geradezu hypervisuell begabt. »Wir lernen mit den Augen am meisten«, erklärte er einmal seiner Frau, »es ist beständig tätig«. Auf sein Auge traf dies jedenfalls zu, es wurde zudem von einem phänomenalen Bildgedächtnis unterstützt. Als Fontane im Sommer 1880 an »Graf Petöfy« zu arbeiten begann, stützte er sich außer auf Kartenmaterial auch auf seine Erinnerungen an einen fünf Jahre zurückliegenden Wienaufenthalt, um die Schauplätze des Romans zu bestimmen. »Ich kenne jetzt in der Altstadt jede Gasse und weiß ganz genau, wo meine Personen wohnen«, berichtete er seiner Frau, nachdem er sich drei Tage in seine Erinnerungen und Tagebuchnotizen vertieft hatte. »Dies lokale sich Einleben bedeutet furchtbar viel; das andre findet sich schon, selbstverständlich wenn man seinen Stoff als Keim des Ganzen hat.« An anderer Stelle behauptete er, er könne sich etwas als »unverwischbares Daguerrotypbild« einprägen und unverändert behalten.
Überall fand er Bilder, auf denen etwas zu entdecken war, ein Detail, das seine Phantasie anregte – auf Friedhöfen und Rummelplätzen, in Wirtshäusern und Salons. Einmal, als er in einem sehr engen »Water-Closet« direkt vor seiner Nasenspitze die eingravierten Schweinigeleien von »talentvollen jungen Männern « inspizierte, fand er zu seinem Erstaunen darunter auch »die bekannte Figur des pythagoräischen Lehrsatzes« – eine Kombination, die sein »hellstes Lachen« hervorkitzelte. Er kannte keine Berührungsängste vor dem Gewöhnlichen oder gar Primitiven. In London besuchte er ebenso gern das Panoptikum mit den Wachsfiguren der Madame Tussaud wie die National Gallery. Wie ein Goldgräber wusch und siebte er Massen von Bildmaterialien, um die lauteren Stücke zu gewinnen, die für seine literarischen Anliegen brauchbar waren. So hat er seine Erzählkunst auch beschrieben, als »Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«, denn in seinen Entwürfen sei stets »Dummes, Geschmackvolles, Ungeschicktes neben ganz Gutem«, und es gehe darum, dieses ganz Gute in mühsamer Arbeit »herauszupulen« und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Auf Reisen kaufte sich Fontane Ansichtskarten oder kleine Photoalben. Die Abteilung »Photographie« seines imaginären Museums umfaßt einige Dutzend Sammlerstücke, vor allem Visitenkartenbilder, Ansichtskarten und Porträtaufnahmen, die wichtigsten Photoformate im 19. Jahrhundert. Die massenhaft verbreiteten Visitenkartenphotos kamen ab 1860 auf. Brauchte Fontane eine solche Aufnahme, ging er wie alle andern ins Photostudio, allein oder mit Familie. Damals besaß fast niemand eine Kamera, die Kodak-Box kam erst 1895 auf den Markt. Fontanes erstes, bis heute erhaltenes Porträt stammt vom September 1863. Es handelt sich um ein Ganzkörperbild in Dreiviertelansicht: Der Vierundvierzigjährige ist in einen offenen Gehrock gekleidet und stützt den rechten Arm lässig auf eine Konsole; den schmalen Kopf erhoben, die feinen Haare nach hinten gekämmt, blickt er bestimmt und verträumt zugleich auf ein unsichtbares Objekt.
Auch Bismarck begab sich zuweilen ins Photostudio, einmal sogar ganz ohne politische Absicht. Der Kanzler begleitete eine attraktive junge Dame, und dabei entstand ein kleines Bild mit skandalöser Wirkung.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 90-97, hier S. 90-92
Wegner, Bettina
- 2/1978 | Gedichte
Weichelt, Matthias
- 2/2009 | Gespräch mit Hans Keilson, S. 273 Leseprobe
Weichelt, Matthias
Gespräch mit Hans Keilson
MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens in Holland gelebt und gearbeitet, halten aber immer noch an der deutschen Sprache fest, schreiben auf deutsch. Das ist etwas Besonderes.
HANS KEILSON: Das ist es bestimmt. Meine Frau würde sagen, es ist schon sehr seltsam. Ich bin holländischer Arzt, holländischer Nervenarzt, Psychoanalytiker. Aber es gibt eine Verbindung, eine Beziehung, für die ich nur das Wort Treue finde.
WEICHELT: Dabei heißt Ihr 1986 erschienener Gedichtband, in dem Texte seit den dreißiger Jahren, also auch aus der Zeit vor Ihrer Flucht versammelt sind, »Sprachwurzellos«. Ist in diesem Begriff für Sie beides enthalten, Herausgerissensein und Verbundenheit?
KEILSON: So ist es. Das ist Sprachwurzellosigkeit. Ich spreche mit meinen Patienten holländisch, habe aber meinen ersten Roman im S.Fischer Verlag publiziert. Ich erinnere mich daran, daß der alte Samuel Fischer mir bei einem Empfang in seiner Villa im Grunewald die Hand schüttelte und sagte: Wir bringen ja ein Buch von Ihnen. »Das Leben geht weiter« konnte 1933 noch herauskommen, wurde aber schon im Jahr darauf verboten. Mein zweiter Roman, »Der Tod des Widersachers«, in dem ich meine Erlebnisse in der Nazizeit verarbeite, erschien 1959 bei Westermann. In Deutschland wurde das Buch kaum wahrgenommen, in Amerika bekam es glänzende Kritiken.
WEICHELT: So ging es ja vielen geflohenen Autoren in der Nachkriegszeit, etwa Alfred Döblin, der wie Sie bei S. Fischer war. Haben Sie dafür eine Erklärung?
KEILSON: Ich dachte immer, das liege an meiner Haltung. Der Roman ist ja kein Haßroman. Ich habe 1944 auch ein Gedicht geschrieben, »Variation«, in dem heißt es: »Doch lieg ich jetzt und gar so wund / in fremdem Land und scheu das Licht. / Es tönt aus meines Kindes Mund / ein andrer Klang als mein Gedicht. // Und wenn es dämmert, ziehn vom Meer / Flieger herauf zur Phosphorschlacht. / Ich lieg auf meinem Lager, schwer, / denk ich an Deutschland – in der Nacht.« Damals haben die englischen Flugzeuge Phosphor über Deutschland abgeworfen. Und ich lag auf meinem Lager, versteckt, und wollte nicht, daß mein Land mit Phosphor bombardiert wird. Ich wünschte es auch meinen Feinden nicht. Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, auch wenn das viele gestört hat.
WEICHELT: Ihren Unmut über die Zerstörung der deutschen Städte haben Sie ja noch vor Kriegsende in einem Essay zum Ausdruck gebracht.
KEILSON: Ja, im Februar 1945 schrieb ich den Text »Ein leises Unbehagen«. Mit war nicht wohl bei der Vorstellung, daß auf Zerstörung immer nur Zerstörung folgt, daß man einen Brand, also die Bombardierungen durch die Deutschen, mit neuen Bränden löschen will. Wohin sollte all das führen? Mein Unbehagen bestand darin, daß eine Welt vernichtet wurde, nicht nur schöne Städte. Es war zwar die Welt unseres Feindes, aber irgendwann würde es die Welt unseres Freundes sein. Eine Welt, durch Wille und Fleiß von Menschen im Verlauf ihrer Geschichte aufgebaut, wurde durch Wille und Fleiß anderer Menschen zu Nichts zerschmettert, als wäre es Kinderspielzeug.
WEICHELT: Sie haben in Berlin Medizin studiert und 1934 das Examen gemacht, durften als Jude aber nicht Arzt werden, so haben Sie bis zu Ihrer Emigration an jüdischen Privatschulen Sport und Gymnastik unterrichtet. Wie schnell wurde Ihnen klar, daß Sie aus Deutschland wegmußten?
KEILSON: Ich erinnere mich, daß Oskar Loerke, mein Lektor bei S.Fischer, 1935 zu mir sagte: Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, ich befürchte das Schlimmste.
WEICHELT: Haben Sie das auch so gesehen? [...]SINN UND FORM 2/2009, S. 273-277
- 2/2011 | Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Sebastian Kleinschmidt, S. 273 Leseprobe
Weichelt, Matthias
Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Sebastian Kleinschmidt
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der anthropologischen Medizin. Was haben wir uns darunter vorzustellen?
DIETER JANZ: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was medizinische Anthropologie bzw. anthropologische Medizin ist, aber versuchen wir es. Die drei Stücke, die Viktor von Weizsäcker 1927 für die »Kreatur« verfaßt hat, nämlich »Der Arzt und der Kranke«, »Die Schmerzen« und »Krankengeschichte«, nannte er Stücke einer medizinischen Anthropologie. Und dort sagt er, das Urphänomen der medizinischen Anthropologie und der Hauptgegenstand ihres Wissens sei der kranke Mensch, der eine Not hat, der der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft. Und dieser Ursprungssituation sollte das Verhältnis von Krankheit und Medizin entsprechen. Die Medizin, wie sie gelehrt wird, ist eine Medizin, die sich mehr einem Etwas zuwendet als einem Jemand. Dieses Gewichtsverhältnis zu ändern, das heißt die Beziehung zwischen Arzt und Krankem menschlich ernst zu nehmen, ist die Absicht einer anthropologischen Medizin. Bis hierhin ist das alles sehr einfach. Der nächste Schritt, der nächste Gedanke ist, sich zu fragen, was unterscheidet den kranken Menschen der anthropologischen Medizin vom Patienten der Schulmedizin? Antwort: daß man ihn als Objekt begreift, das ein Subjekt enthält, und daß der Arzt dieses Subjekt anerkennt. Und nun beginnt ein Gespräch. Die Anamnese aus der Schulmedizin gilt natürlich auch in der anthropologischen Medizin. Aber hier wird sie zum Gespräch, in der Schulmedizin ist es eine Erhebung. Eine Erhebung von Tatsachen nach einem gewissen Schema, zuerst Familiengeschichte, also Auflistung der Krankheiten der Eltern und Geschwister, dann der Kinderkrankheiten, der Geschlechtskrankheiten und anderer Leiden, schließlich der Operationen, während in der anthropologischen Medizin der Arzt fragt: Wo fehlt es? Oder, was fehlt Ihnen? Und dann aufmerksam lauscht. Das Lauschen ist eine außerordentlich bedeutsame ärztliche Handlung, auch weil sie alle möglichen Nebentöne mithört. Und das, was der Kranke sagt, führt hin auf den Weg zur Heilung, denn er ist es doch, der gesund werden will. Hinzu kommt, daß der Patient mehr von der Krankheit weiß als der Arzt, Dinge weiß, die sich erst im Gespräch erschließen. Und so beginnt der Arzt mit den einfachen, im gewissen Sinne klassischen Fragen: wo, wann, was und warum? Also wo. Wo spüren Sie etwas? Das geht erst mal auf die Anatomie zu, wobei die objektive Anatomie eine andere ist als die subjektive, das muß man im Auge haben. Dann das Wann. Wann ist das passiert, wann haben Sie das zuerst wahrgenommen, wann spüren Sie das, wann tritt das auf? Dieses Wann meint mehr als nur die Zeitangabe, es zielt auf den Kontext der Situation, in der die Symptome sich zuerst und dann immer wieder zeigten. Dann geht es zum Was, zur Art der Beschwerde. Mechthilde Kütemeyer, eine befreundete Ärztin, hat mir mal erzählt, daß man aus der Heftigkeit, mit der der Kranke seine Schmerzen schildert, auf die Dramatik des Traumas schließen kann. Also auch Nuancen spielen eine Rolle. Und schließlich kommt die letzte Frage, die Frage nach dem Warum. Im schulmedizinischen Verständnis ist das eine Frage nach der Ursache, im anthropologischen aber eine nach dem Sinn. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Empirisch gibt es darauf ganz bezeichnende Antworten. Zum Beispiel eine solche: Das müssen Sie doch wissen. Das ist oft ein Hinweis darauf, daß der Kranke nicht mitmacht bei der Ursachenfindung, er bietet das Symptom, und der Arzt soll damit umgehen. Aber so geht das in der anthropologischen Medizin eben nicht. Und nun fragt der Arzt: Was meinen Sie denn, wo das herkommt? Und es ist erstaunlich, was da so herauskommt. Zunächst die Spitzen: Daß man überhaupt so was gefragt wird. Dann die Scheu zu sagen, was man sich selber dabei gedacht hat. Das sind aber Abwehrversuche, die man überwinden muß als Frager. Damit darf man sich nicht zufriedengeben, sondern muß weiter insistieren, und zwar in einer Weise, die es dem anderen erlaubt, ungeniert auch dumme Sachen zu sagen. Und die dummen Sachen sind oft die, die helfen, einen Weg zu finden. Das gilt auch für organische Krankheiten. Es kommt vor, daß sich hier eine psychoneurotische Konstellation anschultert. Zum Beispiel bei Kranken mit einer Multiplen Sklerose oder mit Gelenkrheumatismus. Wenn man fragt, wo das ihrer Meinung nach herkommt, kann einem gleich ein ganzes Familiendrama erzählt werden. Wenn man die Biographik bei chronischen Krankheiten studiert, muß man die erste Schicht wegnehmen, um zu einer tieferen zu gelangen. Zuerst kommen etwa Aggressionen gegen einzelne Familienmitglieder zur Sprache, deren Berechtigung zweifelhaft ist. Und erst dann erscheint vielleicht etwas von Bedeutung, das man in Pathogenese und Therapie einbeziehen sollte. Also das ist die Frage nach dem Warum. So fein sind die Unterschiede zwischen Schulmedizin und anthropologischer Medizin. Das philosophische Gerüst – besser die ärztliche Einstellung – dahinter ist entscheidend. Das gilt besonders für die Sinnfrage. Die kann ja nur gestellt werden, wenn der Arzt eine Vorstellung hat, was der Sinn sein könnte, und wenn der Kranke bereit ist, mitzudenken. Man braucht ja vom Sinn nicht gleich eine umfassende Vorstellung zu haben. Es muß sich einem auch nicht alles sofort erschließen. Weizsäcker benutzt für den Begriff Sinn oft den der Bestimmung. Er fragt, welche Bestimmung hat eine Krankheit in einem Leben. Und man kann, ja, man muß unterscheiden zwischen einer vorletzten und einer letzten Bestimmung. Ich weiß gar nicht, wo diese Unterscheidung herkommt. Vielleicht wissen Sie es.
KLEINSCHMIDT: Nicht auf Anhieb, aber es leuchtet natürlich ein. Man muß ja nur auf die Sprache hören. Wir haben doch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, und von da ist es nur ein Katzensprung zurück zu den vorletzten. Und so kommt man darauf. Und schon öffnet sich ein neuer Raum.
JANZ: Und wenn man einen Sinn dafür hat, daß es das Vorletzte und Letzte gibt, ist man viel freier, auch danach zu fragen. Das ist doch das Merkwürdige, daß die letzten Dinge auf die vorletzten abfärben. Philosophisch gesehen ein interessantes Phänomen. Deswegen ist die anthropologische Medizin für den nachdenklichen Arzt so anziehend.
KLEINSCHMIDT: Genaugenommen sprechen Sie ja jetzt über Formen der kooperativen Diagnostik zwischen Arzt und Patient. Und da sollte man die Hermeneutik ins Spiel bringen, und zwar in ihrer Gadamerschen Form. Hans Georg Gadamer hat sein langes Gelehrtenleben lang immer wieder neue Auslegungen dessen gegeben, was Hermeneutik ist. Und eine davon lautet, daß der hermeneutische Zugang zu einem Text – im Falle der Krankheit müßte man sagen zum Text der Erkrankung – darin besteht, ihn als Antwort zu verstehen, und zwar als Antwort auf eine Frage, die man noch nicht kennt. Das Gespräch bestünde dann darin, vom Antwortcharakter des Textes zur Rückgewinnung der verborgenen Frage zu gelangen.
JANZ: Ja, das ist ganz richtig. Das muß auch hier der Zugang sein, nämlich auszugehen von der festen, auf Erfahrung gegründeten Zuversicht, daß hinter der Krankheit ein verborgener Sinn liegt, den der Kranke nicht unmittelbar weiß und den auch der Arzt nicht weiß, und in diesem gemeinsamen Erforschen, in diesem gemeinsamen Erkennen sich am Ende einig zu werden, worin dieser Sinn besteht. Das ist übrigens etwas, was man auch in der Psychotherapie erfährt, daß nämlich nur die Deutung wirkt, die dem Patienten einleuchtet.
KLEINSCHMIDT: Man müßte nicht einmal sagen, daß die Deutung stimmt, es genügte festzustellen, daß sie wirkt.
JANZ: Das ist der Schlüssel in der Medizin. Das Wirksame ist das Wahre. Entscheidend ist zu verstehen, daß Krankheit immer in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist und daß die ihr zugrundeliegenden Konflikte und Spannungen verborgen sind. Will man sie ans Licht bringen, muß man in die Biographie des Kranken einsteigen. Aus der biographischen Einbettung der Krankheit ergibt sich, daß der Mensch ein zeitgebundenes Wesen hat. Auch Krankheit hat daran teil. Zeitgebundenheit der Krankheit bedeutet, daß durch die Behandlung keine Restitution des vor der Krankheit herrschenden Zustandes erfolgt, daß Heilung nicht heißt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit.
KLEINSCHMIDT: Im Gegensatz zum Fußball, wo die Trainer immer sagen: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Natürlich, der Vergleich hinkt ein wenig …
JANZ: Ja, ja. Und es ist ungeheuer wichtig, das ernst zu nehmen, daß der Mensch nach der Krankheit nicht der Mensch vor der Krankheit ist, nicht sein kann. Auch wenn er selber meint, es zu sein.
KLEINSCHMIDT: Also keine Wiederherstellung. Es gibt zwar Gesundung, aber Heilung ist keine Rückkehr zum vorigen Zustand.
JANZ: Es gibt sie nicht, die Restitutio ad integrum. Gesundung ist keine Wiederherstellung.
KLEINSCHMIDT: Da der laienhafte Patient ja mitsprechen darf in der anthropologischen Medizin, würde ich sagen, daß in der Gesundung doch ein Moment der Wiederherstellung steckt. Da muß man gar nicht das Bild der Reparatur bemühen. Jede Erkrankung wirft den Menschen aus der Bahn, und jede Genesung führt ihn in die Bahn zurück. Das ist eine Art Wiederherstellung. Aber natürlich nur eine auf Zeit. Als ich vorhin bei Ihrer Formel »nach der Krankheit ist nicht vor der Krankheit« zum Kontrast auf die Fußball-Formel »nach dem Spiel ist vor dem Spiel« verwies, merkte ich erst hinterher, daß dies, übertragen auf unser Gebiet, in einem anderen Sinne doch stimmt. Denn niemand kann nach einer Heilung sicher sein, daß er fortan nicht wieder krank wird. Insofern gilt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit. Die nächste Herausforderung wartet schon auf uns.
JANZ: Aber doch mit einer Erfahrung hinter uns.
MATTHIAS WEICHELT: Vielleicht muß man den Gedanken der Wiederherstellung ein bißchen genauer fassen. Natürlich geht es darum, daß der Mensch wieder mit sich ins reine kommt, daß er nicht mehr sagt, mir fehlt etwas. Nur muß man die Entwicklung dabei mitdenken. Der Mensch, der eine Krankheit durchgemacht hat und von ihr genesen ist, ist nicht mehr derselbe, der er ohne diese physische und geistige Erfahrung war. Er ist ein anderer geworden, und trotzdem wieder bei sich.
JANZ: Ja, so ist es. Und noch mehr. Man erlebt sich wieder neu. Diese Krankheit hatte man ja vorher nicht gehabt. Um es noch von einem anderen Punkt aus zu zeigen: Der Umgang mit einer Krankheit sollte darauf gerichtet sein, dahinterzukommen, was jemanden krank gemacht hat. Das bedeutet für Arzt wie Patient, die Wahrheit der Krankheit zu finden. Weizsäcker sagt: Jede Krankheit ist eine Krise der Wahrheit und eine Anerbietung von Wahrheit. Wird man wieder gesund, hat man sich also mit dieser neu errungenen Wahrheit restituiert. Und noch ein Gedanke. Nämlich die Frage, was wird dieser Mensch? Und zwar sowohl in der Krankheit wie in der Gesundheit. Der Mensch ist immer auf dem Weg. Auf dem Weg zu seiner Bestimmung.
KLEINSCHMIDT: Das berühmte »Werde, der du bist«. Ein Paradox, deswegen ist es ja so schön.
JANZ: Ich hatte jetzt mehr an die Beziehung von Krankheit und Gesundheit gedacht. Ich würde sagen, der Mensch ist immer auf dem Weg hin zur Gesundheit oder weg von der Gesundheit. Er ist immer auf dem Weg hin zu seiner Bestimmung oder weg von seiner Bestimmung. Das meint Weizsäcker.
KLEINSCHMIDT: Ja, das gibt zu denken.
JANZ: Das führt zur Frage des Gesundheitsbegriffs. Für Freud ist die Genußfähigkeit das Leitbild von Gesundheit. Für die Schulmedizin ist es die Leistungsfähigkeit, für die Sozialmedizin die Arbeitsfähigkeit. Das sind alles mehr oder weniger Fremdbestimmungen. Weizsäcker versucht davon wegzukommen, er sagt einmal, Krankheit sei genauso eine Art von Menschlichkeit wie Gesundheit. Gemeint ist, sich menschlich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können.
WEICHELT: Das ist doch eine sehr positive Grundsicht von Krankheit.
JANZ: Ja, ich finde es auch positiv, und zwar im Sinne eines ernsten Zurüstens auf Leben, Lebendigkeit, Entwicklung, und am Ende auf den Tod.
WEICHELT: Das ist das Gegenteil dessen, was heutzutage als erstrebenswert gilt, nämlich das Leben verlängern, immer älter werden, vor allen Dingen den Tod hinausschieben.
KLEINSCHMIDT: Sie haben von der Wahrheit gesprochen, Herr Janz. Und Sie haben gesagt: Wahr ist, was wirksam ist. Man könnte auch sagen: wirksam ist nur die Deutung, über die sich Arzt und Patient im Laufe der Gespräche einig werden. Aber sind denn Wahrheit und Deutung immer heilungsfördernd? Es kann doch auch eine Wahrheit festgestellt werden, die keine Aussicht auf Gesundung eröffnet.
JANZ: Ja, es gibt Krankheiten, die nicht heilen. Franz Rosenzweigs Krankheit, das war so eine. Er litt an einer amyotrophen Lateralsklerose, einer unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung des motorischen Nervensystems. Und daran ist er auch zugrunde gegangen.
KLEINSCHMIDT: Nein, nein, das meinte ich nicht. Sie haben einmal vom Wahrheitsexhibitionismus in der heutigen Ärzteschaft gesprochen, während früher das Gegenteilige galt, nämlich extreme Wahrheitsscheu. Die Scheu bezog sich aufs Mitteilen, nichts aufs Erkennen. Der Arzt wußte mehr und hat es dem Patienten nicht gesagt. Wie steht es mit der Offenheit des Arztes, wenn die Wahrheit bitter und nichts als bitter für den Kranken ist?
JANZ: Wahrheit ist doch eine bipersonale Beziehung. Der Arzt muß zwischen sich und dem Kranken immer wieder neu die Situation von Frage und Antwort herstellen, von Weiterfragen und Weiterantworten. Und dann zeigt sich, daß sich beide um die Krankheit bemühen, aber das können sie nur, indem sie an das Verborgene herankommen. Und das, was verborgen ist, ist die Wahrheit über diese Krankheit. Natürlich ist das eine absolut ideale Vorstellung, die wir uns jetzt machen, denn wir haben noch nicht vom Widerstand gesprochen, der in jedem Patienten steckt und der schon in dem Satz erscheint: Ich komme zu Ihnen, weil ich gesund werden will. Der Arzt, der weiß, was auf ihn zukommt, müßte das Gespräch eigentlich so beginnen: Wissen Sie, was Sie damit sagen? Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, was gesund ist? Aber so geht das natürlich nicht. Es kommt darauf an, das Angemessene zu tun, und zwar in jeder Situation. Und das Gespräch ist nicht immer das Angemessene. Nehmen wir einen Mann mit Bandscheibenvorfall, der über die Notaufnahme in die Klinik kommt. Er ist vollkommen krumm und steif und hat wahnsinnige Schmerzen. Hier ist unmittelbare Hilfe gefordert. In diesem Zustand beginnt man kein Arzt-Patienten-Gespräch.
WEICHELT: Wie kamen Sie eigentlich zu dem Entschluß, Medizin zu studieren?
JANZ: Ich hatte einen Mitschüler, der zu Hause ein kleines Laboratorium besaß und chemische Experimente machte. Das hat mich beeindruckt. Und der war entschlossen, Medizin zu studieren. Außerdem hatte ich mit siebzehn gehört, daß man sich melden könne, wenn man auf der Pépinière in Berlin Medizin studieren wolle. Die Pépinière war eine Pflanzstätte für Militärärzte, dort konnte man umsonst studieren. Man wäre, wenn man genommen worden wäre, Fähnrich geworden und hätte sich festlegen müssen, auf zehn oder zwanzig Jahre beim Militär zu bleiben. Mein damaliger Pfadfinderführer, er war vier oder fünf Jahre älter als ich, war Medizinstudent beim Militär. Der ist noch im Krieg Militärarzt geworden. Und der hat mir in gewisser Hinsicht Eindruck gemacht. Mir gefiel er in Uniform. Ich wußte nicht, ob ich je eine so eindrucksvolle Gestalt würde abgeben können. Ich habe mich nicht so gutaussehend, nicht so kerzengerade gewachsen gesehen. Im übrigen fragt man sich, was kommt denn überhaupt in Frage. Es kam eigentlich nur in Frage: entweder Lehrer oder Richter oder Pfarrer oder eben Arzt. Was gab es denn sonst?
WEICHELT: Journalist?
JANZ: Nein, das kam nicht in Frage. Mein Vater war Pfarrer, er hat es ungern gesehen, wenn ich Zeitung las. Er fand das Deutsch, das in der Zeitung geschrieben wurde, nicht besonders förderlich für den Stil. Er hat gesagt, wenn du in der Schule einen Aufsatz zu schreiben hast, lies einige Tage vorher keine Zeitung. Mit der Vorstellung, Pfarrer zu werden, hatte ich auch gespielt. Vor der Aufgabe zu stehen, jeden Sonntag für eine halbe oder dreiviertel Stunde etwas Wesentliches, Bedeutsames und Lebenswichtiges zu sagen – und das schien mir immer das Wesen des Pfarrerberufs zu sein –, hatte etwas absolut Herausforderndes. Ich erinnere mich, daß ich mit siebzehn einmal gesagt habe: Eigentlich müßte man entweder Pfarrer oder Sturzkampfflieger werden. Ich meinte, die Berufswahl sei eigentlich eine Mutprobe. Und Pfarrer zu werden in dieser Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, das erforderte ja Mut. Man mußte das Christentum verteidigen. Feigheit war da nicht gefragt. Als ich sagte, ich weiß nicht, ob Medizin oder Theologie, fragte mein Vetter, er war Theologe, was stellst du dir denn vor unter Theologie? Darauf ich: Unter Theologie stelle ich mir etwas sehr Abenteuerliches vor. Darauf er: Na, dann studier mal lieber Medizin.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre beruflichen Anfänge?
JANZ: Meine erste Stelle nach dem Krieg war in Heidelberg. Ich hatte mich bei dem Neurologen Paul Vogel vorgestellt. Ihn hatte Alexander Mitscherlich mir empfohlen als den einzigen klinisch wirksamen Schüler Viktor von Weizsäckers. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Professor Vogel, da er nicht in der Klinik war, zu Hause besucht. Das war eine unmögliche Sache. Ich habe geklingelt, er öffnete mir. Ich sagte: Entschuldigen Sie, darf ich mich Ihnen vorstellen? Herr Mitscherlich hat mir gesagt, ich solle mich an Sie wenden. Ich möchte gerne bei Ihnen arbeiten. – Da kommen Sie jetzt zu mir nach Hause? sagte Vogel und drückte die Tür zu. Und da, so hat er es später erzählt bei der kleinen Rede, die er anläßlich meiner Habilitation gehalten hat, hätte ich meinen Fuß in die Tür gestellt und gesagt: Herr Professor, geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit, daß ich mich schriftlich vorstelle. – Na, das können Sie ja machen. Ich habe ihm also geschrieben. Bald darauf kriegte ich eine Postkarte: Sie können am 1. Februar bei mir eintreten. Das war natürlich eine unbezahlte Stelle. So wurde ich also Volontär bei Paul Vogel. Das war schon was.
WEICHELT: Hatte man da schon eine gewisse Verantwortung?
JANZ: Der Stationsarzt, den ich damals hatte, war ein Ukrainer, der schon im Krieg bei Vogel war, ein kluger und auch guter Arzt. Bei dem machte man zunächst einmal die Visiten mit. Man guckte zu, wie der andere untersuchte, und schrieb die Krankengeschichte auf. Kamen neue Patienten, schrieb man die nächste Krankengeschichte. Dann untersuchte man selbst, und so kam man hinein und war sehr bald ein Helfer des Stationsarztes. So ein Stationsarzt hatte vielleicht noch zwei solche Volontäre, so war man zu dritt. Und hatte eine Station von 24 Betten. Das war die Struktur. Das Haus hatte vier solcher Stationen. Diese 24 Betten standen alle in je einem Saal. Und so hatte ich jahrelang die Möglichkeit zu sehen, wie die Patienten miteinander umgehen, wie die Schwestern mit den Patienten umgehen, wie die Ärzte mit den Patienten umgehen. Das sieht man ja bei 24 Betten – wenn man seinen Tisch in der Mitte dieses langen Bettentraktes hat –, und man kann seine Beobachtungen machen. Alle passen auf. Dennoch ist es enorm diskret. Als wären unsichtbare Vorhänge zwischen den Betten. Aber es passiert natürlich viel. Der eine bekommt Besuch, der andere nicht. Der eine weint, der andere lacht, alle diese Dinge. Man bekam viel mehr Lebensäußerungen mit als heute in den Krankenzimmern. Heute hat ein Krankenzimmer zwei oder drei Betten. Dann ist man da diese fünf oder zehn oder fünfzehn Minuten in einer im Grunde künstlichen Atmosphäre, denn alle wissen, jetzt ist der Arzt da. Aber seien Sie mal mit 24 Menschen zusammen und das über mehrere Stunden.
WEICHELT: Das ist schon eine Art Gemeinschaft, die sich auch irgendwie organisieren und disziplinieren muß.
JANZ: Nun sind zwar nicht alle bettlägerig, aber viele. Es ist ein gemeinsamer Raum und ein wechselseitiges Aufeinander-Rücksicht-Nehmen. Oder eben nicht Rücksicht nehmen. Beides hat Folgen für die Diagnose, für die Behandlung, für den Umgang. Ich sage dieses Weizsäckersche Wort Umgang, weil es alles einbezieht, Diagnose, Therapie, Gespräch, Verhalten usw. Nach sechs Wochen hat Paul Vogel zu mir gesagt, er möchte, daß ich mich für das Sommersemester auf ein Referat über eine Vorlesung von Weizsäcker »Über die ärztliche Grundhaltung« vorbereite. Sechs Wochen hatte ich Zeit. Und habe dieses Referat gehalten, das war 1946. Ich besitze den Text noch. Er wurde vor einer Weile abgedruckt, zusammen mit der Vorlesung von Weizsäcker. Und dann, nach diesem Referat, mit dem Vogel offenbar zufrieden war, sagte er: Gut, machen Sie so weiter. Versuchen Sie sich einzulesen und einzuarbeiten. Ich möchte zwei Jahre nichts Schriftliches von Ihnen sehen.
WEICHELT: Das war keine Empfehlung, sondern eine Anweisung.
JANZ: Eine Anweisung, ja. Das heißt, zwei Jahre haben Sie Zeit.
WEICHELT: Aber Sie sollten nicht untätig sein.
JANZ: Nein, nein. Mit nichts Schriftliches war gemeint: keine wissenschaftliche Arbeit. Gemeint war: Machen Sie so weiter. Lernen Sie Neurologie. Untersuchen Sie. Benutzen Sie die Bibliothek. Wir hatten eine ganz gute Bibliothek in der Klinik, den ganzen Freud. Der war auch über die Nazijahre da, die große blaue Ausgabe. Da habe ich vieles – ich will nicht sagen alles – gelesen. Das war neben dem Handbuch für Neurologie eine Grundnahrung für mich, das kann ich schon sagen. Aber die Sache mit den zwei Jahren nichts Schriftliches von Ihnen hören, das ging ja nach zwei Seiten.
WEICHELT: Man wird freigestellt, aber auf ein Ziel hin.
JANZ: So ist es. Und so habe ich es auch empfunden. Ich habe es als Glücksfall angesehen, zwei Jahre lang nur studieren zu können.
WEICHELT: Ohne das sofort verwerten zu müssen.
JANZ: Ja, genau. Ohne es unmittelbar auswerten zu müssen. Das gehört für mich zu den beeindruckenden pädagogischen Leistungen von Paul Vogel. Ich erinnere mich noch an etwas, das dazu paßt. Als Weizsäcker elf Jahre später starb, hat Vogel mich morgens in sein Dienstzimmerchen gerufen und gesagt: Nehmen Sie Platz. Herr von Weizsäcker ist heute nacht gestorben. Das war die Mitteilung, die er mir gemacht hat. Ich habe dazu nichts sagen können außer: Ja, was wird denn nun aus seinem ganzen Werk? Da sagte er: Das muß erst mal alles in die Katakomben.
WEICHELT: Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.
JANZ: Ja, das hatte wieder etwas Kryptisches. Ich habe mir wirklich oft Gedanken darüber gemacht. Na gut, ich wußte, daß man jetzt nicht viel darüber redete, daß man zusah, ob das gärt, ob sich das von selbst bewegt. Aber woran merke ich das? Wo muß ich hinschauen? Wo muß ich hinhören? Nichts darüber. Katakomben – da weiß keiner, wie und wann das wieder rauskommt. Aber man weiß, daß es rauskommt. Das war auch wieder so ein Rat.
WEICHELT: Die normale Reaktion wäre zu sagen: Jetzt ist er gestorben. Wir müssen uns um das Werk kümmern. Wir müssen Editionen machen. Aber Vogel sagte das Gegenteil. Hat Ihnen das eingeleuchtet?
JANZ: Das hat mir sehr eingeleuchtet. Einerseits ist es entlastend, andererseits nimmt es einen in die Pflicht. Man bestimmt den Zeitpunkt mit, wann es hochgeholt wird – wie es dann auch geschah.
WEICHELT: Man muß eine Sache erst mal loslassen und sie sich dann wieder zu eigen machen, ganz im Goetheschen Sinne: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Aus dem Bild der Katakombe spricht ja auch die Überzeugung vom hohen geistigen Wert des Weizsäckerschen Werks.
JANZ: Katakomben sind Orte zeremonieller Bewahrung. Was hier lagert, gewinnt spirituelle Existenz.
WEICHELT: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen als Arzt?
JANZ: Ich erzähle Ihnen eine symptomatische Begebenheit. Es ist Ausgang Winter. Zwei uns bekannte Männer im mittleren Lebensalter kamen verletzt aus dem Skiurlaub. Der eine hatte sich den Arm gebrochen, der andere hatte einen bandagierten Fuß. Und in beiden Fällen habe ich gefragt, wie das passiert ist. Ach, sagt der eine, ich bin zu schnell den Hang hinuntergefahren, plötzlich bin ich gestürzt. – Warum sind Sie denn so schnell gefahren? – Ja, es war schon Abend, und die anderen waren alle schon unten. – Wer waren denn die andern? – Mein Sohn und seine Freundin und noch ein paar andere. – Ach, Sie waren mit dem Sohn zusammen? Wie alt ist der denn? – Der ist jetzt fünfzehn. – Kann der gut Ski laufen? – Er kann jetzt besser Ski laufen als ich. Der war sofort unten. – Sind Sie zusammen losgefahren? – Ja, es war schon spät und da sind wir sofort los, und kaum hatte ich mich besonnen, war er schon unten. Ja, und dann bin ich halt gestürzt. – Wollten Sie ihm denn hinterher? – Na klar doch. So. Das ist die eine Geschichte. Die andere war ganz ähnlich. Gut. Das war jetzt die Anamnese. Aber was man braucht, ist die Souveränität, nichts für Zufall zu halten. Daß der geschiente Arm und das bandagierte Bein nicht von ungefähr kommen.
WEICHELT: Ist es eine Entscheidung, zu sagen, wir halten nichts für Zufall, oder ist es eine Überzeugung? Ist es eine philosophische oder eine therapeutische Frage? Oder ist es Erfahrung?
JANZ: Es ist eine aus der Überzeugung entwickelte Erfahrung und eine aus der Erfahrung entwickelte Überzeugung.
WEICHELT: Mir scheint, es geht hier nicht nur um interessante, sondern auch um rätselhafte Zusammenhänge, das hat ja fast schon etwas Künstlerisches.
JANZ: So ist es. Das ist genau der richtige Begriff. Es ist das Verhältnis zum Rätsel, was zu dieser Art von Fragen führt. Es gibt ja Rätsel, die man nicht lösen kann, und es gibt Rätsel, die man lösen kann. Die Lust ist ein künstlerisches Moment. Die Lust an der Enträtselung, die Lust am Finden von Zusammenhängen, da fängt es an, und das geht natürlich weit über den Verstand und die Empirie hinaus. Am Anfang steht immer die Frage: Warum ist dieser Mensch krank und warum wird er nicht wieder gesund? Darauf muß man neugierig sein. Und um zu Antworten zu kommen, braucht man eine Begabung zum Assoziativen. Eine Begabung des Verbindens. Das Befriedigende daran ist dieses Spiel von Neugier und Finden.
WEICHELT: Heißt dieses Finden nicht in gewissem Grade auch, daß die gefundene Wahrheit nicht mehr die einzige ist, sondern nur die Ihnen gemäße?
JANZ: Nein, nein, nur die Methode ist die mir gemäße. Die Wahrheit ist die dem Patienten gemäße. Ich habe es oft erlebt, daß Väter sich mit ihren Söhnen messen. Und zwar immer dann, wenn die Söhne an ihnen vorbeizogen, und die Väter, die noch jung sein wollten, ihre Söhne in die Schranken zu verweisen suchten. Und das geht irgendwann schief. Dann muß man diese Erfahrung zu einer Erkenntnis machen, und zwar verbunden mit dem entsprechenden Genuß, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Und einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel den erwähnten Skiunfall, zu einer Erkenntnis zu machen, das ist schon das Medizinische, das Therapeutische. Mit Paul Vogel war übrigens jede Visite reizvoll. Es gab viele neurologisch interessante Fälle. Zum Beispiel folgende Geschichte: Vogel unterhält sich mit einem Patienten, weil er mit der Symptomatik nicht ganz klarkommt. Er läßt ihn aufstehen, ein paar Schritte gehen, wieder zurückkommen, auf dem einen Bein stehen, auf dem anderen Bein stehen usw. Dann unterhält er sich einen Moment mit ihm. Dann läßt er ihn wieder ins Bett gehen. Vogel geht zum nächsten Patienten. Am Ende der Visite treffen wir uns draußen auf dem Gang, und da sagt er zum Stationsarzt: Sie, hören Sie mal, der da im dritten Bett hinten, den ich habe gehen lassen, das ist doch eine Geschichte. Erzählen Sie mir die mal bei der nächsten Visite. Da hat man genau gewußt, was er wollte, wenn man das hörte. So wurde man mit dem Auftrag entlassen, die Geschichte rauszukriegen. Das heißt also, Vogel wollte, daß man sich mit dem Patienten hinsetzt und ins Gespräch kommt. Um rauszukriegen, was für eine Geschichte hinter der Krankheit steckt. Vogel hat auch ein Seminar mit Medizinstudenten über Krankheiten als literarische Gattung gemacht, also Leidensformen, Krankheitsformen, Genesungsformen in Analogie zu literarischen Formen.
WEICHELT: Darf ich noch mal auf die Frage nach dem Zufall zu sprechen kommen? Es ist doch ein starker Hang in der Weizsäckerschen Medizin, allem Geschehen einen Sinn zuzuordnen, in allem, was passiert, einen Sinn zu entdecken. Das ist ja fast ein theologischer, religiöser, ja, künstlerischer Grundzug dieser Medizin. Sie sagten: Souveränität heißt, nichts für Zufall zu halten. Also alles in einen übergeordneten Rahmen zu stellen, in eine Lebensgeschichte einzubetten, und jeden Beinbruch, jede Angina, alles was einem passiert, zum Teil der Lebensgeschichte zu machen.
JANZ: Warum sagen Sie machen? Wenn es doch ein Teil ist?
WEICHELT: Machen sage ich, weil ich glaube, daß es vom Patienten her ein aktiver Vorgang ist. Was Kranksein für den einzelnen heißt, muß er selber herausfinden. Er muß selber verstehen, was dahintersteckt. Und deswegen ist es so – das meinte ich mit künstlerischem Grundzug –, daß jeder aufgerufen ist, seine eigene Lebensgeschichte, seine eigene Lebenserzählung zu entwerfen und alles, was ihm auf dem Lebensweg begegnet, zum Teil dieser Geschichte zu machen.
JANZ: Was Sie sagen, entspricht auch einer Grundvoraussetzung der anthropologischen Medizin, daß nämlich der Patient seine Krankheit nicht nur erfährt, sondern auch macht. Wenn es so ist, dann ist es doch sinnvoll, den Teil, den er dazu beiträgt, herauszubekommen, schon im Sinne der Prävention, daß sich das nicht wiederholt. Den Zufall können wir uns hierbei gar nicht leisten. Sie vielleicht können sich den Zufall leisten, weil Sie nicht wie ich von Berufs wegen mit der Frage befaßt sind, wo kommt das her. Sie können zu dem verunglückten Skifahrer sagen: das war Zufall. Wenn Sie aber Orthopäde sind oder Unfallchirurg, und der Mann kommt zu Ihnen und sagt: Verflixt noch mal, das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin doch schon ein alter Knopp. Als Arzt muß ich doch sehen, daß dieser Mensch unruhig ist und wissen möchte, wo die Sache herkommt. Und so mache ich mich ans Erkennen, ans gemeinsame Erkennen im Gespräch, und ich werde es auch hinnehmen, wenn ich zu keinem Ergebnis komme. Denn es ist selbstverständlich so, daß man in einer großen Zahl von Fällen nicht weiterkommt. Und trotzdem hat man den Versuch gemacht, ein paar Schritte ist man gegangen auf diesem Weg, es war aber nichts zu finden. Und doch würde ich sagen, daß auch in einem solchen Fall nicht der Zufall regierte. Das ist ein methodisches Axiom. Davon muß ich ausgehen. Wenn ich es nicht tue, bevorzuge ich den einen Patienten und benachteilige den andern. Ich sehe auch gar keinen Grund, warum ich als Arzt dem Zufall soviel Gewicht geben sollte. Das würde mich nur dazu verleiten, die eigenen Denkdefizite und damit die des Patienten zu einer objektiv begründeten Erkenntnisschranke zu erklären, und das scheint mir philosophisch nicht richtig zu sein. Es gibt doch gute Beispiele, nehmen wir die Fettsucht. Es wird ja überall besprochen, daß die Männer zu dick oder die Frauen zu dick sind und daß das bedenklich ist. Wo fängt die Fettsucht an? Von wo an ist es eine Krankheit? Wir wissen, daß hier ein Fehlverhalten eine Rolle spielt. Anfänglich gehen diese Leute nicht zum Arzt, weil sie wissen, daß sie ihr Verhalten zwar ändern sollen, aber nicht ändern können. Nun ist ganz klar: wenn so jemand zum Arzt kommt, müßte der ihm nicht bloß eine Diät verordnen oder ihm sagen, iß nur die Hälfte, sondern er müßte an die Quellen seines Fehlverhaltens herankommen, die möglicherweise in einem Umfeld liegen, für das er nichts kann, das er auch nicht ändern kann, es sei denn, er geht da heraus. Es liegt auch zum Teil an einer Unterentwicklung des ästhetischen Bewußtseins. Man kann sich am Beispiel der Fettsucht gut klarmachen, was ein Arzt, wenn er tatsächlich gebeten wird zu helfen, eigentlich tun müßte. Er müßte als erstes sagen: Wollen Sie wirklich? Das müßte die Grundfrage sein. Und meistens kommen beim Patienten dann die Zweifel.
KLEINSCHMIDT: Er könnte auf die Frage doch antworten: Wenn ich hinterher so gut aussehe wie Sie, Herr Doktor, ja, dann will ich.
JANZ: Da würde ich sofort einsteigen. Auf eine solche Bemerkung würde ich sagen: Legen Sie Wert darauf, gut auszusehen? Wie ist denn das bei Ihnen zu Hause? Laufen Sie da nackt herum? Vor wem genieren Sie sich, vor wem nicht? Das Genieren würde ich ansprechen, ich würde ihn auch im Genieren bestärken. Das meinte ich mit dem Ästhetischen.
KLEINSCHMIDT: Sie sollten uns noch erzählen, wie Sie zu Ihrem Spezialgebiet, zur Epileptologie, gekommen sind.
JANZ: Nachdem die zwei Lehrjahre, in denen Vogel »nichts Schriftliches« von mir sehen wollte, herum waren, holte er mich 1948 zu einem intimen pädagogischen Gespräch in sein Zimmerchen und sagte: Ich meine, Sie könnten sich jetzt mal mit etwas Wissenschaftlichem beschäftigen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, sich um Epilepsie zu kümmern. Es ist einfach so, daß das, was die Patienten von ihrer Krankheit wahrnehmen, nicht in den Lehrbüchern steht. Und was in den Lehrbüchern steht, sich nicht mit dem deckt, was die Patienten berichten. Wenn wir sie fragen, was sie von ihren Anfällen merken, vor allem was sie merken, wenn ein Anfall kommt, dann berichten sie oft erstaunliche Dinge. Vogel hat mich also auf die epileptische Aura verwiesen, auf die Sinneswahrnehmungen vor dem Anfall. Darum sollte ich mich kümmern, und zwar mit der Begründung, daß er die Aura für einen Schlüssel halte zum Verständnis sowohl der Patienten wie des Wesens von Epilepsie. Das war der Einstieg. In den Lehrbüchern steht, es gibt optische, es gibt akustische, es gibt vestibuläre, den Gleichgewichtssinn betreffende Auren. Und so hat man die Selbsterfahrung der Patienten wie die komplexe Natur ihrer Wahrnehmung immer in irgendeine vorgefertigte Schublade geschoben. Das hat Vogel nicht gemocht. Und ich fand das natürlich toll, daß es so einen Chef gibt, der sich freimacht von vorgefaßten Lehrbuchmeinungen. Ich meine, wenn das ein Philosoph gewesen wäre, von dem verlangt man so was geradezu. Aber ein Mediziner, ein Klinikchef – da habe ich die richtige Wahl getroffen. Der läßt einen selber marschieren. Und wenn was rauskommt, ist es gut. Und wenn nichts rauskommt, auch gut. Das hat man selbst zu verantworten.
WEICHELT: Und kam dann was raus?
JANZ: Ich denke schon. Um auf die Frage einzugehen, mußte ich erst mal in Erfahrung bringen, was Epilepsie ist und was nicht. Nach zwanzig Jahren Befragung, Beobachtung und Behandlung kam dann ein Buch darüber heraus, das dreißig Jahre später unverändert wieder aufgelegt wurde. Aus dem Dickicht, wie es mir anfänglich aus der Fachliteratur entgegenkam, ist so mit Hilfe der Patienten allmählich eine überschaubare Landschaft geworden, mitteilbar gegliedert, lehrbar – mit dem Ergebnis: Die Epilepsie gibt es nicht, es gibt eine Vielfalt von Epilepsien, jede von eigener Art, unterschieden nach Selbsterfahrung und Symptomatik, diagnostischem Zugang und therapeutischem Umgang.
WEICHELT: Und sind Sie mit der epileptischen Aura weitergekommen?
JANZ: Nein, nicht ganz. Das Ordnungsgeschäft hat diese Frage in den Hintergrund gedrängt. Ich hatte jedoch in besagtem Buch auf das wortreich Unbeschreibliche in der Aura von Patienten mit temporaler (Schläfenlappen-)Epilepsie hingewiesen. Daraus hat sich ein interdisziplinäres Projekt entwickelt, das zu einem klinisch und hirnlokalisatorisch nützlichen Unterscheidungskriterium geführt hat, das sich mit technischen Methoden durchaus messen kann. Auf seine ursprüngliche Frage hat Paul Vogel sich dann selbst am Beispiel der Aura von Dostojewski eine großartige Antwort gegeben in seinem Aufsatz »Zur Selbstwahrnehmung von Epilepsie. Der Fall Dostojewski«.
KLEINSCHMIDT: War Ihnen Dostojewski ein guter geistiger Partner bei der Erforschung von Epilepsie?
JANZ: O ja, das kann man wohl sagen.
KLEINSCHMIDT: Erzählen Sie bitte.
GABRIELE JANZ: Darf ich anfangen? Interessant an Dostojewski ist, daß er mehrere Krankheiten hatte, Atembeschwerden, Kreislaufbeschwerden, auch ein Lungenemphysem. Wegen seiner epileptischen Anfälle ist ihm gesagt worden: Sie dürfen nicht mehr schreiben. Er stand vor der Entscheidung: Bleibe ich Dichter oder werde ich gesund. Das ist nicht nur bei Dostojewski ein interessantes Problem, auch bei Rilke. Lou Andreas-Salomé empfahl Rilke, zu Gebsattel zu gehen, dem berühmten Viktor Emil von Gebsattel, und das hat er nicht gemacht. Er hat gesagt, wenn ich dorthin gehe, werde ich psychoanalysiert. In einem Brief an Gebsattel schreibt er am 24. Januar 1912: »Vielleicht sind gewisse meiner neulich ausgesprochenen Bedenken sehr übertrieben; so viel, wie ich meine, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und – fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.« Und so war das auch bei Dostojewski. Er hat jedenfalls weitergeschrieben und weitergeschrieben. Seine Frau hat gemerkt, wenn etwas im Anzug war, er war dann besonders im Streß. Er litt ja eindeutig an Epilepsie.
DIETER JANZ: Dostojewskis Frau hat einen Anfallskalender geführt, mit Hunderten von Anfällen, alle mit Datum verzeichnet. Aber er hat sich nicht behandeln lassen. Als sie einmal in Genf waren, bekam er eines Abends eine furchtbare Atemnot und mußte unbedingt in Behandlung. Und so ist er nachts noch raus auf die Straße zu einem Arzt, der ihm irgendwas gegeben hat. Und der Arzt hat ihn natürlich befragt. Dostojewski sah sich gezwungen, ihm zu erzählen, daß er häufig epileptische Anfälle bekommt. Der Arzt sagte: Das können wir jetzt nicht besprechen, es ist viel zu spät, aber kommen Sie morgen bitte wieder. Keine Rede davon, daß Dostojewski noch einmal kam. Seine Atembeschwerden waren vorbei. Auch in Berlin ist er deswegen einmal zu Gespräch mit Dieter Janz 197 einem berühmten Internisten gegangen. Im Wartezimmer hat er noch ein paar Mitpatienten gefragt, was muß man denn bezahlen? Fünf Minuten war er bei ihm drin – diese Fünfminuten-Medizin gab es offenbar schon zu Dostojewskis Zeiten. Der Arzt klopft ihn ab und sagt: Sie müssen zur Kur nach Bad Ems. Ich habe da einen Kollegen, dem schreibe ich. Richten Sie ihm Grüße von mir aus. Er gab ihm die Adresse von dem Kollegen. Dostojewski ist nicht nur einmal, er ist dreimal nach Bad Ems gefahren. Alles nur Erdenkliche hat er dort gemacht, sogar Kaiser Wilhelm getroffen. Aber für seine Epilepsie hat er nichts gemacht. Nichts! Ich habe mal einen Vortrag darüber gehalten. Da beschreibe ich seine Epilepsie in Sibirien. Sie wissen ja, er war verbannt und wollte wieder nach Petersburg, wollte wieder schreiben. Er hatte ja Berufsverbot, er durfte aus politischen Gründen nicht schreiben. Und immer wieder fragt er sich, wie erreiche ich nur, daß ich hier wegkomme. Schließlich konsultiert er einen Arzt, und der sagt ihm, er habe eine genuine Epilepsie. Und da protestiert er. Genuine Epilepsie! Ihm kam es darauf an, daß ihm bescheinigt wird, seine Epilepsie sei durch die Qualen seiner Haft entstanden. Auf der Rückreise nach Petersburg konsultiert er erneut einen Arzt, weil er wieder Anfälle hat. Und der sagt ihm, er müsse aufhören zu schreiben, das wäre das einzig Richtige. Das muß man sich mal vorstellen: Ein aus der Verbannung entlassener junger Mann kommt wieder zurück in die Gesellschaft. Was er geschrieben hat, ist noch nicht bekannt. Und er geht zu einem Arzt und sagt, er hätte immer epileptische Anfälle unter diesen Bedingungen. Der Arzt fragt, was sind Sie denn von Beruf? – Ich bin Schriftsteller. – Wann schreiben Sie denn? – Immer nachts. – Dann hören Sie damit auf. Und seither hat Dostojewski keine Ärzte mehr deswegen konsultiert.
GABRIELE JANZ: Meine Frage an Sie beide ist: Was denken Sie, warum hat dieser Arzt ihm verboten zu schreiben?
WEICHELT: Spontan würde ich sagen, daß Schreiben eine Art Verausgabung ist, die zur Erschöpfung führt und einen so schwächt, daß man krank wird.
GABRIELE JANZ: Aber Verausgabung und Schwächung können in jedem Beruf passieren.
WEICHELT: Ja, gut, wenn Dostojewski 100-m-Läufer gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich immer wieder versucht, 100-m-Läufe zu machen.
GABRIELE JANZ: Würden Sie das auch so sehen?
KLEINSCHMIDT: Ich kann die Frage nicht beantworten, es wäre reine Hochstapelei, wenn ich es täte, denn ich weiß zu wenig über Epilepsie. Platonisch betrachtet könnte man vielleicht sagen: Im geistigen Universum war eine Stelle unbesetzt, nämlich die, daß einer die Epilepsie von innen schildert, und zwar ein Schriftsteller, ein Sprachmeister, ein Denker. Dostojewski ist gleichsam der Phänomenologe dieser Krankheit. So gesehen durfte er nicht aufhören zu schreiben. Diese Stelle im Kosmos durfte nicht unbesetzt bleiben. Und Dostojewski wollte sie um jeden Preis besetzen, selbst wenn er dabei draufgegangen wäre.
GABRIELE JANZ: Ich glaube, daß Dostojewski mit Herzblut geschrieben hat. Wenn man das ohne Hilfe und ohne psychotherapeutische Begleitung tut, setzt man sich unglaublich aus. Man ist äußerst verletzbar und vollkommen ungeschützt. Und das ist es, was bei Dichtern und Schriftstellern generell der Fall ist. Das haben die Ärzte nicht bedacht. Sie haben nur gedacht, daß es besser für Dostojewski sei, wenn er überhaupt nicht schriebe. Dann könnte er ein ruhiges Leben führen.
KLEINSCHMIDT: Dann wäre er an etwas anderem erkrankt. Alle künstlerische Produktion speist sich aus seelischen Spannungen, die im Leben nicht auflösbar sind. Schreiben ist eine Art ständiges Gespräch zwischen Ich und Welt, um die rumorenden Dinge zum Ausgleich zu bringen. Das muß man natürlich von Fall zu Fall betrachten. Fest steht nur eins: Wenn man einen genuinen Autor am Schreiben hindert, wird er ganz gewiß krank, davon bin ich überzeugt. Und leider wird er umgekehrt oft auch vom Schreiben krank, denn das Schreiben ist ein Opfergang. Schreiben verzehrt das Leben.
DIETER JANZ: Jetzt sagen Sie es. Das ist bei Dostojewski so gewesen. Und Dostojewski hat tatsächlich diesen Opfergang angetreten, er hat das Opfer auf sich genommen. Denn es kam ihm wirklich darauf an, das hat er oft ausgedrückt, sein Volk, seine Nation geistig zu re-novieren, mit einem religiösen Impetus zu befeuern und geradezu zu heiligen. Er war wie besessen davon. Das ist das, was sowohl Westler wie Kommunisten an ihm nicht verstanden haben. Es klang christlich, aber es war national.
WEICHELT: Von der Epilepsie gibt es auch im »Idioten« eindrucksvolle Schilderungen. Fürst Myschkin ist ja quasi eine Jesusfigur, die Epilepsie hat bei ihm Züge von heiliger Ekstase. Was haben Sie von Dostojewski über die Krankheit gelernt? JANZ: Das Epileptologische im engeren Sinne hat mich stark interessiert, weil es fabelhaft beschrieben ist, in einer Weise, wie man es kaum oder nie von einem Patienten beschrieben bekommt. Ich habe ja 1969 mein Opus magnum, »Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie«, drei Lehrern gewidmet, meinem klinischen Lehrer, meinem wissenschaftlichen Lehrer und meinen Patienten.
WEICHELT: Also Vogel, Weizsäcker und …
JANZ: Dostojewski. Weil er wirklich als Patient unglaublich ausführlich, genau und überzeugend war, und weil seine Beschreibung der Epilepsiegestalten in seinem Werk zusammengenommen eine im Weizsäckerschen Sinne ideale Krankengeschichte ausmacht.
KLEINSCHMIDT: Herr Janz, Sie sind jetzt über neunzig Jahre alt. Ich bin so naiv zu glauben, daß das Alter auch Vorzüge hat. Zum Beispiel den Vorzug zunehmender Freiheit.
JANZ: Absolut, und zwar in großem Maße. Es erweitern sich die Räume in Richtungen, die man sich immer gewünscht hat. Natürlich treten auch Mängel ein. Für mich besonders der Mangel, daß keine Patienten mehr zu mir kommen. Die neuen Freiheiten sind nicht so sehr die des ausgiebigen Reisens und auch nicht des späten Aufstehens, denn längeres Schlafen ist im Grunde verlorene Zeit. Oft denke ich mir: Mein Gott, was habe ich für einen Reichtum an Möglichkeiten. Ich kann lesen, wonach mir der Sinn steht, habe Zeit, mit Menschen zu sprechen, Freunde zu besuchen und Freunde zu empfangen, habe Muße, mein Archiv zu ordnen, Editionen zu planen und zu realisieren, mich an unserem Garten zu erfreuen, einen guten Wein zu trinken, ich fahre dann und wann zu einer Tagung, halte hin und wieder einen Vortrag, gelegentlich ein Seminar mit Studenten hier in meinem Haus, und pflege im übrigen die behagliche Geselligkeit. Obgleich im Hintergrund stets der Gedanke steht, hätte ich nur die Freiheit der vielen Möglichkeiten und müßte nicht auch etwas Bestimmtes tun, weil es von irgendwoher von mir verlangt wird, bekäme ich ein schales Gefühl von diesem Reichtum. Wenn man aufhört, im Beruf zu stehen, und wenn man ein solches Alter erreicht hat wie ich, hat man zunehmend das Gefühl, man überlebt andere. Und es kommt vor, daß man sich fragt, wie man das rechtfertigen will. Und gerechtfertigt ist es ja nur, wenn man etwas Sinnvolles damit anstellt.
KLEINSCHMIDT: Nun gut, es gibt die Pflichten, auch die familiären Pflichten, die lassen wir jetzt mal beiseite, das ist ja selbstverständlich. Man tut sie übrigens gern. Sie sind der Grundstock des Sinnvollen, obwohl es, wie jeder weiß, auch sinnlose Pflichten gibt. Was wäre denn generell das Sinnvolle, sagen wir in der geistigen Beschäftigung? Daß man sich anregen läßt durch Bücher und Gespräche und auf diese Weise versucht eine produktive Existenz zu haben, daß man versucht, auch bei nachlassenden Kräften ein schöpferischer Mensch zu bleiben? Oder ist es mehr etwas Thematisches, nach dem Motto, vor zehn Jahren habe ich mich noch für dies und das interessiert, jetzt interessiert mich was ganz anderes. Was bedeuten würde, daß das Alter selbst neue, ihm gemäße Themen anbietet. Und daß sich je nach Lebensstufe neue Wahlverwandtschaften bilden, auch im Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt.
JANZ: Produktiv bleiben ist ein guter Begriff, aber es muß nicht schriftstellerisch gemeint sein. Ich beneide im Augenblick meine Frau, die hier in der Kirchengemeinde in einem Kreis mitmacht, wo sie zu Geburtstagen ältere Leute besuchen und Gespräche mit ihnen führen. Und dann kommt sie zurück und erzählt mir davon. Wir haben Jahrzehnte in Nikolassee gewohnt, ohne irgendeine Notiz zu nehmen von den Menschen um uns herum, und das ändert sich jetzt, und ich werde auch mit einbezogen, und das ist schön. Und es bietet auch neue Möglichkeiten für mich, produktiv zu sein. Da sind ja Menschen, die krank werden, abbauen, man bekommt einerseits einen gewissen Spiegel vorgehalten, andererseits kann man aus seiner langen ärztlichen Erfahrung einiges freundschaftlich zum Gespräch beitragen.
KLEINSCHMIDT: Mir gefällt, was Sie sagen. Ich hatte im stillen gerade gedacht, daß Sie ein zur Freundschaft begabter Mensch sind. Und auch begabt zur Freundschaft mit sich selbst. Das merkt man ja. Das heißt ja nicht, daß Sie nicht gelegentlich auch Selbstzweifel haben, aber es heißt, daß Sie alles in allem mit sich auf gutem Fuße stehen.
JANZ: Ja, das ist richtig, auch was die Selbstzweifel betrifft. Ich vermittle diesen Eindruck, das weiß ich. Meine Mutter hat mich immer als Sonntagskind bezeichnet.
KLEINSCHMIDT: Und Sie sind eins?
JANZ: Ich glaube, ich bin eins. Mit der Freundschaft, da haben Sie ganz recht. Mein eigentlicher Urfreund ist vor acht Jahren gestorben. Wir hatten eine sehr enge Beziehung und gehörten über Jahrzehnte zu einem Kreis von Freunden. Einer davon war übrigens Wolfgang Frommel, der Stefan-George-Bewunderer und Gründer der Zeitschrift »Castrum Peregrini«. Dieser Kreis war maßstabsetzend, nicht nur in Sachen Freundschaft, auch was Gespräch und Geselligkeit betrifft. Ich habe mich immer daran zu halten versucht, auch Jüngeren gegenüber. Wenn ich auf meine alten Tage mit Studenten ein häusliches Seminar mache, fragen die mich hinterher, warum machen Sie das eigentlich? Die verstehen das zunächst gar nicht. Oder sie wundern sich. Und dann freuen sie sich. Und daran merke ich, daß es richtig ist, was ich tue. Ich bin erstaunt, daß es nicht mehr Ältere tun. Sich in Beziehung setzen zu Jüngeren und mit ihnen ins Gespräch kommen, ich weiß, daß ich das kann, und das würde ich auch gerne fortsetzen.
KLEINSCHMIDT: Das versteht man ja gut. Es ist auch nicht nur Selbstloses dabei. Ich bin nicht so alt wie Sie, aber weiß natürlich auch schon, daß das eigene Lebensgefühl austrocknet, wenn man nur mit Gleichaltrigen verkehrt. Man erlebt gar nicht mehr, zu welchen Sachen man eigentlich noch in der Lage ist. Aber wenn man mit Jüngeren in einem guten, offenen Verhältnis steht, dann entlocken sie einem Dinge, von denen man gar nicht ahnte, daß man die draufhat. Und so regen nicht nur die Jungen die Alten, sondern gelegentlich auch Gespräch mit Dieter Janz 201 die Alten die Jungen an, so daß auch sie Dinge sagen, die ihnen unter ihresgleichen nicht eingefallen wären. Die Existenz der Menschheit in Generationen, die Gleichzeitigkeit der Lebensalter, ist etwas sehr Schönes und Wertvolles, eine Konstruktion, die ihren Schöpfer ehrt. Leider kommen ihre produktiven Seiten unter dem allgemeinen Zeitdruck viel zu wenig zum Zuge.
WEICHELT: Als Sie von den Freiheiten des Alters sprachen, Herr Janz, habe ich als Gegenmodell an diejenigen denken müssen, die immer sagen, es gibt nichts Gutes am Alter. Alles, was man Gutes über das Alter sagt, ist Lüge. Das Alter – das sind Lasten, Trübsal und das Ende. Mich hat überrascht, daß Sie nicht von der Gesundheit gesprochen haben. Die ist doch bei vielen alten Menschen das Beherrschende.
JANZ: Das belastet mich etwas, daß Sie mich jetzt als Modell nehmen. Aber ich bin ja nicht allein, bei mir muß man meine Frau mit dazunehmen. Allgemein gesprochen: Dieses Lebensmodell, mit jemandem zusammen zu leben, auch wenn es privat öfters mal knirscht, aber eben zusammen zu sein und vor allem zusammen zu bleiben, also zu seiner Wahl zu stehen, das geht nur, wenn man, wie vorhin gesagt, mit sich selbst befreundet ist und bleiben will. Die Psychoanalyse sieht darin vielleicht ein Bezähmen der Angst des Scheiterns durch gewaltsame Positivität. Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Man ist doch irgendwie geeicht auf ein gelingendes Leben. Man hat es schon als Kind erlebt, daß das Gelingen mehr Freude macht als das Mißlingen, und deshalb will man kein Scheitern. Aber es gibt so viele Fallen. Die Welt der Reize, erotische, sexuelle, jederzeit neu und lebendig, stets wirksam, von der Jugend bis ins hohe Alter, immer wieder wird man in die Lage versetzt, damit umzugehen und damit fertig zu werden. Das ist eine der Konstanten des Lebens. Und wenn es in den alten Kirchenliedern heißt, man soll Versuchungen widerstehen, dann weiß ich schon, wovon die Rede ist.
WEICHELT: Die ja auch ihren Sinn haben als belebendes Element.
JANZ: Ja, natürlich haben sie das. Aber je mehr einer erlebt, desto mehr wird er auch bedroht. Belebung und Bedrohung sind sich da sehr nah.
WEICHELT: Alles andere wäre ja reine Abschottung, Kasteiung und auch eine Form von Lebensschwäche.
KLEINSCHMIDT: Wir wollen nicht hoffen, daß Belebung und Bedrohung immer Hand in Hand gehen, sondern daß es auch Momente von Belebung gibt, die nicht bedrohlich sind. Oder? Ich habe im stillen gerade gedacht, aha, und wenn man dem Heiligen Geist begegnet? Das belebt doch, nicht wahr? Und ist das auch eine Bedrohung? Da könnten Sie natürlich antworten, allerdings, das wäre auch eine Bedrohung, und was für eine. So gesehen würde ich Ihnen zustimmen. Ich finde Ihre Formel sehr anregend. Es gibt einen Text von Botho Strauß, der heißt »Theorie der Drohung«. Da geht es um drohen, bedrohen, bedroht werden und bedroht sein. Das ist keine Theorie, sondern eine Erzählung. Und Sie haben uns jetzt eine »Theorie der Belebung« vorgeschlagen, der geradewegs eine »Theorie der Bedrohung« entspricht. Sie sind ein Freund dialektischer Pointen.
JANZ: Nun ja, einen ganz so ausschließlichen Charakter hat das vielleicht nicht, jedenfalls nicht in meiner Biographie. Und doch. Wenn es da ist, das Belebende, das Entflammende, geht es auch in Richtung des Bedrohlichen. Das ist so. Alles in Anspruch nehmen, sich von allem in Anspruch nehmen lassen, kann bedrohlich werden.
KLEINSCHMIDT: Es gibt das schöne Wort von Freud »die Seele altert nicht«. Würden Sie das auch so sehen?
JANZ: Ja, das ist sehr gut. Auch da gibt es viele schöne stellvertretende Erfahrungen, etwa wenn ich an meine Enkel denke. Das ist gegenseitig. Der eine, der verabschiedete sich heute morgen und sagte, also du weißt ja, wir brauchen uns.
KLEINSCHMIDT: Wie echte Schiffskameraden. Sie sind ja Marinesoldat gewesen.
JANZ: Ja, es hat dieses Flair des Umarmens. Die älteste Enkelin ist zwanzig. Sie ist ein sensibles und sympathisches Wesen, sehr sublimiert in ihrer ganzen Lebensart. Auf der anderen Seite sehr sportlich, sehr ehrgeizig. Für mich ist sie äußerst anziehend. Und mit ihr habe ich, wie soll ich sagen, so was wie eine poetische Beziehung. Ich sage ihr, sie solle mir doch mal Gedichte schicken, ein oder zwei von einem italienischen Dichter, den sie liebe. Und dann hat sie mir Gedichte geschickt, wunderschöne Sachen. Ich habe mühsam eine Übersetzung gemacht. Die habe ich ihr geschickt und dazu gesagt, nun schreib mir mal, wie du das übersetzen würdest. Sie ist zweisprachig. Da hat sie eine Übersetzung gemacht, die viel besser war als meine, sehr viel besser, das habe ich ihr auch gesagt. So was macht mich glücklich. Denn da ist keine Bedrohung dabei. Das sind eben, würde ich sagen, poetische Beziehungen.
KLEINSCHMIDT: Das ist eine sehr gute Konkretisierung. Die Kategorie des Belebenden hat jetzt eine erste Unterabteilung bekommen, die poetischen Belebungen, die sind nicht bedrohlich. Erotische sind bedrohlich. Auch philosophische können bedrohlich sein, oder? Ich weiß nicht, ob man mit neunzig noch mal seine Philosophie wechselt. Halten Sie so was für möglich?
JANZ: Ich glaube es nicht. Ich glaube nur, daß man seine Philosophie im Alter besser durchschaut.
KLEINSCHMIDT: Es gibt einen Satz von Ernst Jünger, der sinngemäß lautet: Keiner stirbt, bevor er nicht seine Aufgabe erfüllt hat. Ich könnte also auf die Frage, warum Sie so alt geworden und dabei so frohgemut und lebensverbunden geblieben sind, antworten: weil Sie weiterhin eine Aufgabe haben, die Sie gerne erfüllen, die Sie nicht als Last empfinden, die Sie nicht loslassen. Obwohl Sie inzwischen vieles losgelassen haben, Patienten, Assistenten, Studenten, Vorlesungen, Seminare, Vorträge – das Loslassenkönnen gehört ja zur Freiheit. Es gibt viele Menschen, die das nicht können und darüber unglücklich werden, denn loslassen müssen sie ja doch irgendwann. Das ist schon eine große Fähigkeit, nicht nur im Beruf, auch im Leben. In der Biographie eines jeden gibt es das Kapitel Trennungen, und Trennungen sind meist ein erzwungenes Loslassen, ein hartes, schmerzhaftes. Beim freiwilligen Loslassen kommt es auf den Zeitpunkt an, nicht zu früh, nicht zu spät. Man kann gewiß leichter loslassen, wenn man das Gefühl hat, daß die einem anvertraute Sache in gute Hände übergeht. Sein Verbundenheitsgefühl kann man ja nicht einfach abwerfen wie einen abgetragenen Mantel, wenn man sich Jahrzehnte engagiert hat. Und das wäre auch kein gutes Loslassen, wenn man sagt: Nach mir die Sintflut!
WEICHELT: Wenn man Jüngers Satz zum ersten Mal hört, erschrickt man ein wenig, weil er etwas von Schicksalsergebenheit hat. Aber vielleicht kann man ihn auch so verstehen, daß man die Aufgaben als selbstgestellte begreift, anders gesagt, daß man sich immer wieder selbst Aufgaben stellen muß. Und erst wenn das aufhört, ist es mit dem Leben vorbei.
JANZ: Jetzt haben wir die Frage, wie man die Unsterblichkeit erlangt, beantwortet. Es ist ganz einfach: Man muß sich selbst Aufgaben stellen. Schön wäre es ja. In Wahrheit ist es so, daß die Aufgaben auf einen zukommen. Und wann das endet, liegt nicht in unserem Beschluß.
SINN UND FORM 2/2011, S. 184-204
- 4/2013 | Für den, den's angeht. Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern, S. 273 Leseprobe
Weichelt, Matthias
Für den, den's angeht Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern
Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre 1975 bis 1977 umfassenden Journal »Das Gewicht der Welt«. Und dieses Motto, heißt es 1998 in »Am Felsfenster morgens«, gelte auch für alle darauffolgenden Aufzeichnungsbücher. Wer eines davon aufschlägt, weiß also nicht, ob sich die spröde Widmung auch auf ihn bezieht, ob das Angebot, das hier gemacht wird, auch eins für ihn ist. Herausfinden kann man es nur, indem man es annimmt. Daß sogenannte »Geschäfte für den, den es angeht« ohnehin juristische Ausnahmen vom Offenkundigkeitsprinzip sind, dürfte Handke, der in den sechziger Jahren Rechtwissenschaften in Graz studierte, jedenfalls gewußt haben. Sie kommen auch dann zustande, wenn bei alltäglichen Besorgungen, beim Kauf einer Semmel oder einer Zeitung, jemand in fremdem Auftrag auftritt, einem Freund oder Nachbarn eine Besorgung abnimmt. Der Vertrag bindet nicht den, der die Ware als erster erhält, sondern den, für den sie bestimmt ist, den, den es angeht. Und der wird sich schon finden.
Um die einfachen und alltäglichen Dinge, um das Unscheinbare und Unbemerkte geht es auch im »Gewicht der Welt«. Um die ihr Sandwich kauende Verkäuferin in einem leeren Laden. Um den alten Mann im Restaurant, mit seiner Weinflasche und seinem Glas. Um den Geldschein auf dem Zahlteller und die vom Nachbartisch herüberblickende Frau. Um die nach eingetrocknetem Schneewasser riechende Skimütze des Kindes. Um das Zuziehen eines Reißverschlusses und das Röhren der Heizung im Keller. Und um die Frage, warum solch spontan festgehaltene Reportagen eines »Einzel-Bewußtseins« andere überhaupt etwas angehen sollen. Daß ihre Veröffentlichung auch als Indiskretion oder Anmaßung verstanden werden kann, war dem Autor bewußt. Entsprechende Vorwürfe suchte er mit der Versicherung zu entkräften, daß »dieses Bewußtsein (ich) auf etwas aus ist, pathetisch gesagt: sich unablässig durchdringen will«. Sich selbst zu erkennen ist hier nicht Wahlspruch der Selbstbespiegelung, sondern Maxime eines Weltzugangs. Das Ich wird zum Medium, das sich Eindrücken, Empfindungen, Erlebnissen wie einer Röntgenbestrahlung aussetzt, die sein Inneres abbildet und beschreibbar macht. Die ursprünglich als bloßes Material für größere literarische Arbeiten vorgesehenen und daraufhin ausgewählten Notate hatten sich im Zuge der Niederschrift immer mehr verselbständigt, verwandelt in zweckfreie Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen – eine Lösung aus vorgegebenen Formen und Mustern, eine Eröffnung neuer literarischer Möglichkeiten, durch die das Sprachliche, die Sprache selbst zum Gegenstand des Schreibens wird: »Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem ›Augenblick der Sprache‹ von jeder Privatheit befreit und allgemein.«
Eine solche Abwendung vom Privaten und Persönlichen ist nicht jedem Leser geheuer. Den Reiz veröffentlichter Tagebücher, Briefwechsel, Journale findet man gemeinhin ja gerade in den darin enthaltenen Beichten und Bußen, den endlich offenbarten Geheimnissen, den schließlich abgelegten Geständnissen. Was einer nur für sich oder nahe Freunde aufschreibt, wird doch einen unverstellten Blick auf sein Wesen, auf die versteckte Buchführung seines Lebens freigeben. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Wer nach derlei Vertraulichkeiten sucht, wird in der Mehrzahl der Journaux intimes reich belohnt. Die meisten Tagebuchschreiber, notiert Carl Schmitt 1948 in seinem »Glossarium «, kämen ihm vor »wie Kinder, die an ihren Fingern saugen und an allem saugen, was sie in ihre Finger bekommen«. Unverstellt und authentisch soll die Selbstbeschäftigung sein, eine leicht zu entschlüsselnde, von kindlicher Offenherzigkeit geprägte Botschaft an die Mit- und Nachwelt. Auch der Journalist André Müller, der mit Handke mehrere lange Interviews führte, ließ sich von der inhaltlichen Komposition und literarischen Absicht des »Gewichts der Welt« nicht irritieren und glaubte, aus einzelnen Einträgen auf die Gemütsverfassung des Autors an diesem oder jenem Tag schließen zu können: »Ein anderes Mal, so schreiben Sie, waren Sie kurz davor, den verachtetsten aller Menschen um Hilfe zu bitten.« Seinen Freund Hermann Lenz mußte Handke wiederum in einem Brief beruhigen, daß nur zwei Gesten von dessen Frau um dieser Gesten willen im Buch beschrieben seien, nicht die Person selbst: »Im Journal kommt sie nicht vor – es wäre auch eine Anmaßung von mir.« Die Wahrnehmung und Schilderung solcher für sich stehenden und über sich hinausweisenden Gesten ist das Anliegen dieser mal eine halbe Seite, mal einen Satz langen Eintragungen, nicht die Protokollierung von Begegnungen und Erlebnissen. Über Freundschaften, Feindschaften und Liebesangelegenheiten erfährt man dabei fast nichts.
Über sich »persönlich« habe er ohnehin nie etwas sagen können, schreibt Handke später in »Gestern unterwegs«, er lebe von dem, was die anderen nicht von ihm wissen. Auch an den Tagebüchern Kafkas interessierten ihn nicht mehr die Klagen und Selbstbezichtigungen, »nur noch seine Beschreibungen«. Die Hinwendung zum immer achtsameren Hören und Schauen, zur sorgfältigen, manchmal auch nachträglichen Berichterstattung des Tages schlägt sich insbesondere in den auf das »Gewicht der Welt« folgenden Aufzeichnungsbüchern nieder, bei denen die Bezeichnung Journal im Titel entfällt. Was dafür aus den überallhin mitgeführten, nach Hosentaschentauglichkeit ausgewählten »Geh und Stehheften« übernommen wird, muß dem Anspruch auf Anschaulichkeit und Klarheit genügen, nicht dem auf Lebensdarstellung oder Zeitgenossenschaft. Die gefundene sprachliche Form macht die Bedeutung des Notierten aus, daher kann alles nebeneinander stehen in der »Geschichte des Bleistifts« (1976–1980), den »Phantasien der Wiederholung« (1981/1982), in »Am Felsfenster morgens« (1982–1987) und »Gestern unterwegs« (1987–1990): Lebensgedanken ("Wie ein Liebespaar entsteht: Beide müssen, zusammen, etwas meistern«) und Leseeindrücke ("Keine Bücher für mich: die mit dem unangenehmen Beben des Gebildetseins«), Beschreibungen im Straßenstaub badender Spatzen und romanischer Kirchenskulpturen, Wortfindungen ("Verb für die Schönheit: ›nötigt (zum Bleiben)‹«) und Schreibvorgaben ("Ans Schreiben gehen: Füg der Stille etwas hinzu; bring etwas heim aus der Stille«), Landschaftsschilderungen und Gedanken über Wortgenauigkeit und Begeisterung, übers Gehen und Langsamwerden, über Müdigkeit, Wachsamkeit und den Wandel der Farben. Und immer wieder aus allem hervorleuchtende Poèmes en prose, helle Augenblicke der Sprache: »Das Wange-an-Wange von Stute und Fohlen, und dann das Hals-auf-Kruppe, und dann das Flanke-an-Flanke, und dann das Kopf-unterm-Hals, und endlich das Saugen, gebückt, des schon großen Kindes unter der Mutter: was für eine Liebe; und das alles unter dem Zwetschkenbaum«.
Der all diesen Wahrnehmungen vorausgehende Impuls, ihr eigentlicher Ursprung ist das Staunen. So wie man als Kind im Märchen das Fürchten lernte, kann man hier das Staunen lernen, kann sich die Augen öffnen lassen für den Reichtum, die Fülle der Welt und ihrer Erscheinungen ("auch nur auf dem kurzen Weg zu einer Metrostation: es war eine von stürzenden Körpern durchzuckte Ideallandschaft«). Das Sichtbare ist viel mannigfaltiger, viel umfassender als das Gesehene, das Gehörte nur ein kleiner Ausschnitt des Hörbaren. Jeder Satz in diesen Wirklichkeitserforschungsbüchern ist zugleich Aufforderung und Selbstermahnung, die Bilder des Tages, die regennassen Jacken der in den Bus steigenden Arbeiter, die schmutzigen Fensterscheiben im Bahnabteil, den alten Mann auf der Parkbank und den auf dem Tisch liegenden Bleistift als etwas so nie zuvor Gesehenes, erst zu Erschauendes und damit zu Erkennendes zu entdecken. Die Kunst, so wie sie hier verstanden wird, soll vom bloßen Anschein, vom Augenschein erlösen, soll den »phantastischen Augenblick« erzeugen, den Blick von Grund auf verändern. Wer dem folgt, fängt tatsächlich wieder an zu staunen, kann durchs Staunen gesund werden. Wer das Staunen verlernt hat, sieht keine Unterschiede und auch nichts Wesentliches mehr, »hört überhaupt auf zu sehen«, registriert nur noch, ohne Sinn für das, was vor ihm, über ihm, unter ihm und auch mit ihm geschieht: »Eine der innigsten Erscheinungen ist das Dahinziehen, Treiben und Kreisen der Blätter, Halme, Sporen, Vogelfedern, Grasspitzen in den länglichen, oft bootsförmigen Feldweglacken – eine Umschreibung der Stille«. Um an solchen Wirklichkeitsbildern nicht achtlos vorüberzugehen, um nicht blind für sie zu sein oder taub für die Stille, muß man schauen, bis einem »Nüstern wachsen«, muß man die Redewendung vom »Aus dem Staunen nicht herauskommen« als mögliches Lebensmotto akzeptieren – als Voraussetzung nicht nur des Dichterischen, sondern des Menschlichen überhaupt. Der wahre Mensch sei ganz Gehör, der wahre Dichter müsse die Stille erfahren haben und sich nach ihr sehnen. Und die sinnliche Erfahrung zum Fundament seines Schreibens machen, »das Besondere, die Spielart eines jeden einzelnen Dings erforschen – etwa, wie die Blätter eines Erdbeerhains sich anfühlen an der Innenseite des Unterarms, an der darüberstreichenden Handwurzel, am sie umgreifenden Handteller …«.
In der Offenheit für die Spielart jedes einzelnen Dings finden diese Notizen ihren ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit, die für Handke in der »bloßen geheimnisvollen Erscheinung« liegt, ja, in der Gleichsetzung von Geheimnis und Wirklichkeit. Wer dieses Geheimnis nicht verrät, sondern sich darauf einläßt, wird, das ist das große Versprechen dieser Aufzeichnungen, etwas zurückerhalten – nicht irgend etwas, sondern das, worauf es ankommt: »Ziel des Schreibens, des Lesens, des Lebens: ein Ding, eine Steintreppe, eine Glyzinie, eine Tür, wird von mir gesehen und zeigt sich erkenntlich: das Sich-Erkenntlich-Zeigen der Dinge«. Die Dinge werden erkannt in ihrer Form, ihrer Wesensart, ihrer Eigenheit – und sie erweisen sich dafür als dankbar, da sie nur durch die Betrachtung existieren, angewiesen sind auf einen Resonanzraum, ein Gegenüber, ohne das sie bloße Schemen bleiben, Geschöpfe einer Schattenwelt. Sprache bedeutet hier Erweckung der toten Natur. So wenig Goethe sich die Farben ohne das sie wahrnehmende menschliche Auge denken wollte, so unvorstellbar erscheint es Handke, »daß während der unermeßlichen Zeiträume ohne Menschen das Branden des Meeres von niemandem gehört worden sein soll«. Ein Klang, der im Nichts verhallt, ein Konzert ohne Publikum.
Fremd bleiben muß einer solchen Weltsicht alles schon Erstarrte und Genormte, alles allzu Berühmte und Bewunderte, die pittoresken Straßenszenen und kulissenhaften Landschaften, die beworbenen Sehenswürdigkeiten und zu Tode fotografierten Kunstwerke, die sich dem offenen Zugang, der freien Sinnzuschreibung verweigern. Denn eben darin besteht für Handke die »Aufgabe der Literatur: die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig zu machen«. Ein Fahndungsauftrag, für den sich kaum ein tauglicheres Mittel denken läßt als die dem schweifenden Blick, der gelassenen Aufmerksamkeit, der berührungsfreundlichen Handfläche oder Fußsohle sich verdankenden, aus Anschauung oder Erinnerung gewonnenen Bewußtseinsreportagen. Das sie auslösende Staunen pulsiert noch in der Hülle der Sätze, schützt sie gleichsam davor, schablonenhaft und knöchern zu werden, dem Dargestellten Raum und Freiheit zu nehmen. Gute Literatur, hat Handke einmal gesagt, komme aus dem Erleben der Dinge und der Gerechtigkeit diesem Erlebnis gegenüber, aus nichts anderem. Dafür aber muß der Vorgang des Aufnehmens und Erinnerns in die Beschreibung Eingang finden, muß das Erlebnis in den Eintragungen nachklingen, Wortstellung und Satzbau bestimmen. Ein kaum merklich vibrierender Grund, tragfähig und erschütterbar. Ein Boden, auf dem der Raum der Stille wachsen kann.
Und mit ihm der reine Gegenwartssinn, die beglückende Aufmerksamkeit für das, »was jetzt da ist (die Mancha-Disteln, hellgrau, im Wind neben den Bahngleisen)«. Das, was jetzt da ist – gewissermaßen Handkes Kurzformel für das epiphanische Aufscheinen der Wirklichkeit, das Zusammenkommen von Welt und Wahrnehmung, das nicht herbeigeführt, aber erwartet werden kann. Und zugleich Umschreibung des eigentlichen, des höchsten Lebensgefühls, des schieren In-der-Welt-Seins. Wer sich dieses Zustands bewußt wird, fügt sich ein in den Fluß der Dinge, spürt das Vorwärtsgleiten und Vorankommen, wird hineingehoben in den »Sattel der Gegenwart«. In diesem muß er sich halten, muß den Rhythmus annehmen, die Zügel anziehen und wieder lockerlassen, im Wechsel des Sich-Aussetzens und Sich-Einlassens. Was Handke sich in diesen Aufzeichnungen verbietet, eigentlich jeder Literatur verbieten will, ist das bloße Zuschauen und Beobachten, den Kommentar, das Protokoll, die voyeuristische Perspektive, die sich dem, womit sie sich beschäftigt, nicht aussetzt, die sich nicht einläßt auf das, was sie beschreibt: »Halt gegen die empörende Selbstgefälligkeit der Text- und Geschichten- und Romanhersteller immer den preisgebenden, sich preisgebenden, nicht anders könnenden, aber doch etwas könnenden und dabei doch nie nur sich bespiegelnden, sondern auch den anderen ihr Spiegelspiel ermöglichenden sogenannten ›Narziß‹ hoch!« Das einzige wirkliche Lebendigkeitsgefühl, heißt es in »Gestern unterwegs «, sei Teilnahme. Und ein Dichter kann für Handke nur sein, wer »sich auf ein Ding nach dem anderen einläßt« ("Am Felsfenster morgens«). In der Fähigkeit zur Teilnahme, in der »Kraft des Sich-Einlassens« liege die Befä-higung zum Schreiben, im immer wieder neuen Sich-Aussetzen strukturiere sich die Phantasie. Und aus der Nicht-Beobachtung erwächst das literarische Vermögen, wie angesichts eines Mitreisenden im »Gewicht der Welt«:
Das Gesicht des Mannes heute im Zug, wie es, indem ich, Beobachtungsfeindlicher, Beobachtungsloser, es ganz, ganz wegrücken ließ, mir allmählich ganz nahe kam und allmählich das allgemeine Gesicht wurde, wahnsinnig und lebendig, Mann und Frau zugleich verkörpernd, Gesicht einer Filmhandlung, deren Höhepunkt es gerade darstellte, tief und grenzenlos entrückt, während ich es entrückt betrachtete und doch gleichzeitig noch voll Mißtrauen war – und als ob der Mann das merkte, setzte er sich um und blickte in eine ganz andere Richtung (sein Gesicht war das eines großen Schauspielers gewesen, in Großaufnahme zu sehen auch in der Entfernung)
Wer diese Aufzeichnungsbücher liest, sitzt oft im Zug, in der Metro oder im Bus, manchmal auch im Flugzeug (in den Jahren von »Gestern unterwegs« hat Handke keinen festen Wohnsitz, reist durch Europa, Asien, Amerika). Vor allem aber zu Fuß ist dieser Autor unterwegs, auf Spaziergängen und Wanderungen, durch Großstädte, durch Vororte und im freien Gelände. Das Gehen bereitet den Weg zu den Dingen, setzt etwas in Gang, wird zum »Maschinisten der Seele«, zum Motor der Welterfahrung, hilft hinein in jenen »Sattel der Wirklichkeit« – und in den Tag, in die aus Dunkelheit und Nacht immer wieder entstehende, sich aus der Erstarrung lösende Welt, die ebenfalls eines Impulses, eines Auftakts bedarf, wie ein Schwungrad in Gang kommen muß: »Dieser vorbeifahrende Zug gab dem Tag seine erste große Bewegung. Die abgefallenen Blätter rochen aus dem Rinnstein. Noch war Morgenluft«. Und noch ist Zeit für das Langsamwerden, eine später verpaßte »Möglichkeit(sform)«. Noch kann man sich einlassen und einstimmen auf das, was Handke ganz unbefangen den schönen Tag nennt: »Schöne Tage, es gibt sie, sie sind nicht nur eine Redensart – die Schönheit von Himmel und Erde greift dann ein in das innerste Herz«. Dem geglückten Tag hat Handke, wie der Müdigkeit, der Jukebox und später dem Stillen Ort, auch einen seiner »Versuche« gewidmet. Was er damit meint, ist fern von aller Betulichkeit. Der schöne, der geglückte Tag ist keiner des behaglichen Müßiggangs, sondern eine Herausforderung, die angenommen und bestanden werden will, ein Kaleidoskop, dessen Farben und Muster es zu entschlüsseln gilt. Gelingt dies, werden die Formen erkennbar, benennbar, beschreibbar, bilden sich Linien, Gestalten, Existenzen. Der eigentliche Tagesanfang, schreibt Handke, vollziehe sich in diesem Werden der Formen – »das Sichzacken der Platanenblätter, die auf dem nassen Asphalt liegen – und das Übergehen der Formen auf mich, wodurch ich ersetzt und erweitert werde«. Für den Rest des Tages könne einem dann nichts mehr passieren …
Aber etwas passiert dann doch. Denn wer sich von den Formen des Tages ersetzen und erweitern lassen, wer dem Erlebten gerecht werden und es bestehen will, kann selbst nicht unverwandelt bleiben. Er muß eine Art elastischer Gegenkraft entwickeln, muß der Welt durchlässig standhalten, muß die Durchlässigkeit als »das Standhalten« begreifen. In »Gestern unterwegs« notiert Handke, sein Idealzustand vereine Freudigkeit, Stille, Durchlässigkeit und Schwäche. Und darin bestehe auch die Aufgabe von Büchern, von Gedichten, von Kunst überhaupt – dort, »wo nichts ist, Durchlässigkeit« zu schaffen, dem selbstgewissen Behaupten, Bestimmen, Beweisen entgegenzutreten, die »täglich gehörte, vor Vertrautheit nichtssagende, hilflose ›Du weißt schon, was ich meine‹-Sprache des Kommunikationszeitalters« zu ersetzen. All das traut Handke der Literatur zu. Ohnehin traut er (wie kaum ein anderer) ihr fast alles zu. Aus Stroh kann sie Gold spinnen, Leere und Stille und Schwäche in Sprache, in Schönheit verwandeln, das Nichterlebnis zum Erzählabenteuer machen. Sein großer Schatz, so Handke, das seien gerade die Ermangelungen, die ausgebliebenen Ereignisse der Kindheit – die Eintönigkeit des Tages, die ausgefüllt, die Beschränktheit des Blickfelds, die weggeträumt werden mußte. Das karge dörfliche Leben in Kärnten scheint ein guter Nährboden gewesen zu sein für das Wachsen der Phantasie, für die Erforschung der Dinge, für das weitausholende Erzählen. Und hat vielleicht schon früh die Sehnsucht geweckt nach dem, was später als fernes künstlerisches Ideal erscheint: »Das allerschönste Werk, bestehend aus Nichts, und wieder Nichts, und dem menschlichen Atem, dem Licht, den Tagen und Nächten, hat die Menschheit noch nicht geschaffen«.
In seinen Aufzeichnungsbüchern steht Handke dieses Ideal jedenfalls immer vor Augen. Und die Wege, diesem das Nichts, den Atem und das Licht enthaltenden Werk nahezukommen, sind die Wege der Einfachheit, können nur die der Einfachheit sein. Für das, was einem nahe ist, kann man keine Fremdworte verwenden, hat Martin Walser einmal gesagt. Und auch Gegenwartssinn, Durchlässigkeit und Teilnahme können nur aus Nicht-Distanz, also aus Nähe entstehen. Es sind die einfachen Worte, mit denen die Dinge beschreibbar, die einfachen Gesten, an denen Menschen und Tiere erkennbar sind. Und was sich darüber sagen läßt, lernt man aus den »Varianten des Immergleichen«. Das dabei zu Papier Gebrachte ist das Gegenteil jeder medial aufgeblasenen Kunst. Bleistift oder Kugelschreiber, Notizheft oder Schreibblock reichen aus, um die Eindrücke des Tages, das den Händen Erreichbare, den Augen Sicht-bare, den Ohren Hörbare festzuhalten. Nicht um ein möglichst artifizielles Sprachspiel geht es, sondern, wie Handke mit Blick auf Goethe sagt, um das »stille Sichaneinanderfügen des Vorhandenen«. Dann stellen sich auch die Bilder ein, die lebendigen, gültigen, Denk- und Vorstellungsvermögen erregenden, Sinne und Leidenschaften ansprechenden Bilder. In ihnen liege »der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit«, an ihrer Bilderfähigkeit ermesse sich, immer wieder, die Gesundheit der Seele.
Für all das muß der Leser bereit sein. Der wirkliche, sich etwas erwartende, auf etwas wartende Leser, der sich einem Buch wie einem Abenteuer aussetzt und davon gesund oder vielleicht auch krank werden will. In jedem Fall müsse das Lesen, so Handke, eine Konsequenz haben, eine Handlung nach sich ziehen. Denn das Entscheidende der Poesie sei nicht ihre Gefälligkeit, sondern ihre Dringlichkeit. Das Buchaufschlagen ist eine folgenreiche Entscheidung, ein existentieller Akt. Anders als Zeitungen, Meldungen, Nachrichten mit ihrer von vornherein gegebenen Aktualität sei »das Buch, auch bloß ein Satz, ein Absatz, eine Seite« stets etwas »zu Aktualisierendes – zu Erarbeitendes«. Erarbeiten muß man sich auch die zunächst ganz unverbunden und isoliert anmutenden, in scheinbar beliebiger Reihenfolge angeordneten Notizen dieser Journale. Nur wer sich einläßt auf ihre verborgene Dramaturgie, nur wem sich die Durchlässigkeit der Zwischenräume, das Atemholen und Miteinandersprechen der Sätze mitteilen, wird den alles verbindenden, den epischen Blick erfassen, dem »selbst der Zahnstocher zwischen den Lippen eines Passanten« erzählenswert erscheint. Ein »persönliches Epos«, belebt und getragen von Poesie, dem »gefühlten wie begriffenen Rätsel« – einem Rätsel, das auch mit dem Lesen nicht endet. Denn alles wirkt weiter, alles klingt nach. So wie man nach einer langen Wanderung noch die Bewegung des Gehens in den Beinen spürt, oder das Wogen des Meeres nach einem Tag auf See. Warum man sich auf dieses Rätsel einlassen soll, warum es einen betrifft, ist die Frage jeder Kunst. Und jeder Leser, jeder Hörer, jeder Betrachter muß seine Antwort finden. Jeder, den’s angeht.
SINN UND FORM 4/2013, S. 603-610
- 5/2014 | Das Kleinste und der Chevalier. Kommerell, Kantorowicz und George
- 1/2016 | Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt, S. 273 Leseprobe
Weichelt, Matthias
Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung
Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!«
Wenn der Bremer Großkaufmann und Jurist (1891–1978) eines vermeiden wollte, dann Effekte und Auffälligkeiten. Entsprechend verstört fiel die Antwort aus. In einer seinem Brief angefügten Notiz mit dem Titel »Das schwarze Trikot« sieht Oelze sich als »Hochstapler- oder Verbrechertyp« bloßgestellt: »das also steht in meinem habitus geschrieben für den, der zu sehen und zu lesen versteht? Das scheint mir unheimlich, und zwingt mich zu sehr schwierigen und peinlichen Selbstkorrekturen.« Daß Benn, der die labile Konstitution, die existentielle Unsicherheit des Freundes kannte und ihn zuweilen damit quälte, daraufhin die von seiner Tochter vermuteten Motive der obskuren Aktivitäten nachreichte (»aus Sensationsbedürfnis, aus Abwegigkeit, aus Perversion«), dürfte wenig zu Oelzes Beruhigung beigetragen haben. Er ging darauf nicht mehr ein. Dabei hatte das Bild des nächtlichen Phantoms die Sache nicht schlecht getroffen. Der 1891 geborene Oelze stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie, hatte u. a. in London Jura studiert und war nach der Promotion Teilhaber einer Handelsfirma geworden, die vor allem Kolonialwaren importierte. Schon sein Großvater hatte auf Jamaika Zuckerrohrplantagen erworben, seine Mutter war dort zur Welt gekommen, und auch Oelze selbst reiste immer wieder in die Karibik – von wo aus Ansichtskarten mit exotischen Motiven auf Benns schlichtem Schreibtisch in der Bozener Straße 20 in Berlin-Schöneberg landeten. Auch dank der Heirat mit einer vermögenden Bürgertochter verfügte Oelze, dessen einziger Sohn im Zweiten Weltkrieg fiel, über die Mittel, repräsentative Wohnsitze zu unterhalten und bedeutende Möbel-, Kunst- und Büchersammlungen zusammenzutragen (darunter fast alle Veröffentlichungen Goethes in Erstausgaben). Denn die Bilanzen seiner internationalen Handelsaktivitäten waren ihm Pflicht und Aufgabe, boten aber keinerlei Befriedigung. Oelzes eigentliche Leidenschaft galt dem Geist, der Kunst, dem Schöpferischen. Ohne selbst künstlerisch begabt zu sein (die »Gedichte sind nicht gut«, schrieb ihm Benn auf übersandte Verse), wollte er teilhaben an der Sphäre der Dichter und Denker, am besten durch direkten Austausch mit Schriftstellern, Gelehrten, Philosophen wie Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Martin Heidegger, später auch Hans Mayer. Die Bedingungslosigkeit, mit der er sich Benns absolutem Kunstanspruch und nihilistischer Weltsicht unterwarf, bedrohte immer wieder die Fassade seines bürgerlichen Lebens und verlangte nach Camouflage und Verstellung. Wie auch seine homoerotischen Neigungen, denen er allenfalls auf Geschäftsreisen und im Schutz der Anonymität nachgehen konnte. Hinzu kam ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach Selbstverkleinerung, ein Gefühl der Unwichtigkeit und Bedeutungslosigkeit, das durch den Austausch mit den als Genies empfundenen Gesprächs- und Briefpartnern nicht gemindert wurde (und auf eigentümliche Weise mit seinem großbürgerlichen, fast dandyhaften Auftreten, den von Benn als aristokratisch empfundenen Umgangsformen und Manieren kontrastierte): »Seit dem Abitur feierte er keinen seiner Geburtstage, verbrannte 1947 sämtliche Fotos von sich und vernichtete fast alle in seinem Besitz befindlichen privaten Dokumente bis hin zum ›Westindischen Tagebuch‹ von 1939 mit dem Ziel, ›sich selbst zu löschen‹, um keine ›Restbestände‹ zu hinterlassen, wie Benn in ›Chopin‹ formuliert hatte.« (Hans Dieter Schäfer, Herr Oelze aus Bremen. Göttingen 2001)
Auch als Oelze 1977 die an ihn gerichteten Briefe Benns zur Veröffentlichung freigab, ließ er die eigenen weg. Viele seiner Schreiben seien verlorengegangen oder in der Nazizeit auf seinen Wunsch hin vernichtet worden, notierte er im Vorwort der Ausgabe: »Aber meinen Briefen kommt nicht mehr zu als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen; alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters.« Ob dem tatsächlich so ist, kann man anhand der nun im Wallstein Verlag erscheinenden Edition erstmals überprüfen. In jedem Fall wird man die vierundzwanzig Jahre währende Korrespondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprünglich war: als intensives, forderndes, mit kaum nachlassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grundverschiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister. Für Oelze sind Benns Nachrichten »eine immer neu sich erschliessende, immer sich mehrende Offenbarung«, deren Auslöser zu sein er immerhin für sich in Anspruch nimmt: »Ich dachte an die Briefe grosser Männer, die ich kannte; mir fiel auf, daß selbst da wo die Empfänger unbedeutende Personen waren, oft Tieferes in den Briefen stand als in den Werken, das Abgründigste, Persönlichste, nur auszudrücken wenn einer zuhörte, aber dieser musste noch den Hauch einer Schwingung empfangen können.« So am 3. Oktober 1937 an Benn. Dieser wiederum hatte das Glück, in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben, mit einem feinen Gespür für jede Schwingung seiner Texte, mit der Fähigkeit, auf Fragen und Anspielungen einzugehen, und einer Aufnahmebereitschaft, die bis zur Selbstaufgabe ging. Benn erfuhr hier, anders als bei Schriftstellerkollegen und Kritikern, Widerhall ohne Widerspruch. Durch Oelzes nie nachlassendes Interesse an allem, was Benn schrieb und dachte, durch seine unverminderte Aufmerksamkeit und Anteilnahme hielt er dessen Spannung und Produktivität aufrecht und ersetzte ihm das Publikum, das es nach dem Veröffentlichungsverbot 1938 nicht mehr gab. Vor allem nach dem Krieg wird Oelze dann zum publizistischen Berater, ist einbezogen in die Zusammenstellung von Gedicht- und Auswahlbänden, läßt Journalisten und Wissenschaftler Einsicht nehmen in seine Sammlung. Denn sein größter Schatz sind jene Briefe und Aufzeichnungen Benns, deren Sicherung ihm in der Kriegs- und Nachkriegszeit zur Hauptaufgabe wird: »Das Wichtigste zunächst: Die Manuskripte sind bei mir, unbeschädigt, von keiner fremden Hand berührt.«
Begonnen hatte das alle Umbrüche und Einschnitte überdauernde Verhältnis mit einem nicht erhaltenen Brief Oelzes, den Benn am 21. Dezember 1932 mit routinierter Distanziertheit quittierte: »Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.« Oelze hatte Benns kurz zuvor in der Neuen Rundschau erschienenen Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften« gelesen und als entscheidendes Bildungserlebnis empfunden: »Bei der Lektüre dieser knappen, kaum sechzig Seiten umfassenden Darstellung erfuhr ich das spontane Betroffensein, wie es nur die Kunst zu bewirken vermag, wenn die Stunde der Bereitschaft da ist.« Und wem solches widerfährt, der läßt sich nicht so leicht abschrecken. In einem weiteren verlorenen Brief muß Oelze dann den rechten Ton getroffen haben, um Benns Interesse zu wecken und ihn zu einer ausführlichen Antwort zu bewegen. Er habe mit seiner »Frage ins Schwarze« getroffen, schreibt Benn ihm am 27. Januar 1933: »wie kann man einerseits die Wissenschaft u. ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten u. doch sie dann für wahr setzen u. zu eigenen Ideen verwerten. Scheinbar widerspruchsvoll. Aber nur scheinbar. Anstelle des Begriffs der Wahrheit u. der Realität, einst theologisches, dann wissenschaftliches Requisit, tritt ja jetzt der Begriff der Perspective.« In diesem ersten längeren Brief, in dem Benn seine Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst erläutert (»Sie ist Erkenntniss; während Wissenschaft ja nur Sammelsurium, charakterloses Weitermachen, entscheidungs- u. verantwortungsloses Entpersönlichen der Welt ist. … Das wahre Denken aber ist immer gefährdet u gefährlich.«), klingt schon vieles von dem an, was den Briefwechsel für beide Korrespondenten in den kommenden Jahren zum unersetzlichen Dialog – und noch heute zum großen Leseerlebnis macht: rückhaltlose Offenheit, scharfe Argumentation, das Spiel mit Ideen und Gedanken, das Aufnehmen von Anregungen und Fragen, die Lust an Zuspitzung und Provokation, auch eine gewisse Freude an Klatsch und Häme. Die Ungeduld und Neugier, mit der die Gegenbriefe zumeist erwartet wurden, ist auch nach Jahrzehnten noch spürbar.
Im Verlauf der Brieffreundschaft, nach ersten persönlichen Begegnungen (die Benn allerdings genau zu dosieren versteht, man blieb zeitlebens beim »Sie«) und regelmäßigen Kaffee-, Rum- und Blumensendungen Oelzes, nimmt auch das Private und Privateste immer mehr Platz ein, häufen sich Fragen nach Lebensumständen und Krankheitsverläufen, nach Reisen, Begegnungen, Familienverbindungen. Gerade Benn interessiert sich lebhaft für Oelzes großbürgerliches Milieu, für Kleidervorlieben und Eßgewohnheiten, die sich so deutlich von seinem eigenen Dasein unterscheiden – die in Hannover gemietete Wohnung sei »mehr eine Höhle für Molche u. Menschenfeinde als ein Renaissancebau «, läßt er den Bremer Villenbesitzer am 9. Dezember 1935 wissen. Als dieser ihn in seiner Garnison besucht, erhält die Geliebte Tilly Wedekind am 11. Juni 1936 ein genaues Porträt: »Oe. sah extravagant elegant aus. Wirklich ein merkwürdiger ungewöhnlicher Typ, gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit und Halluzination.« Die daran anschließende Überlegung, ob Oelze »im Unterbewußtsein doch homo« sei, hindert Benn jedenfalls nicht, in seine Briefe an den Freund gelegentliche Berichte über Liebschaften und Amouren einzustreuen und diesen zu ermuntern, es ihm gleichzutun: »Noch sind Sie nicht 50. Der Abend des Lebens hat noch nicht sein Zwischenreich begonnen. Noch ist es etwa zwischen 4 u. 5, Theestunde, u. die charmanten Achtzehnjährigen bezaubern noch u. gefährden und beglücken. Erhalten Sie sich das! Erhalten Sie es mir!« (1. Januar 1939) Oelze geht über dergleichen meist diskret hinweg. Und lenkt das Gespräch wieder auf das, was ihm das Wichtigste geworden ist: Benns Werk.
Für solch emphatischen Zuspruch dürfte Benn gerade zu Beginn ihrer Bekanntschaft besonders empfänglich gewesen sein. Seit Anfang der dreißiger Jahre hatten die politischen Auseinandersetzungen unter Schriftstellern und Künstlern noch einmal an Schärfe gewonnen, prallten die weltanschaulichen Gegensätze mit zunehmender Wucht aufeinander. Thea Sternheim, Exfrau Carl Sternheims und Freundin Benns, notiert am 28. November 1931 in ihrem Tagebuch nach einem Besuch Franz Pfemferts und Heinrich Schaefers, wie schwer es sei, den »Jargon der Klassenwahnsinnigen aller Kategorien zu ertragen. Ob sie nun über Benn herziehen oder mit nicht misszudeutender Befriedigung für die kommenden Monate die Diktatur des Proletariats ankündigen – was kann man in dieser mit Bluträuschen aller Art durchzogenen Welt anders tun als sich auf sein Martyrium vorbereiten.« (Gottfried Benn / Thea Sternheim, Briefwechsel und Aufzeichnungen. Göttingen 2004) Wie groß die Enttäuschung unter vielen von Benns Freunden über seine Versuche war, die politischen Umwälzungen nach 1933 als geschichtliche Notwendigkeit zu deuten und mit Reden wie »Der neue Staat und die Intellektuellen«, »Zucht und Zukunft « oder der berüchtigten »Antwort an die literarischen Emigranten« zu verteidigen, läßt sich in Thea Sternheims Tagebüchern in erbitterten Eintragungen nachlesen (»Welch ein Jammer ein ganzes Volk sich dem Veitstanz der absoluten Entmenschung einreihen zu sehen. Und zu diesem Reigen erniedrigt sich ausgerechnet Gottfried Benn aufzuspielen! «). Mit dieser Begleitmusik hatte es allerdings bald wieder ein Ende. Die Akademie der Künste (»eine glanzvolle Angelegenheit«), in die er 1932 gewählt worden war und für die er, im Glauben, so deren Souveränität sichern zu können, noch im März 1933 eine Loyalitätserklärung zum neuen Regime mitverfaßt hatte (woraufhin Thomas Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann, Ricarda Huch und etliche weitere Mitglieder austraten oder ausgeschlossen wurden, nachdem zuvor schon Käthe Kollwitz und Heinrich Mann hinausgedrängt worden waren), betrat er von 1934 bis zum Ende des Krieges nicht mehr. Was von dort komme, schreibt er Oelze am 5. September 1935, zeige einen »Tiefstand an Moral, innerer Makellosigkeit, aber auch rein gesellschaftlichem Schliff, dafür Überfluss an formellem Knotentum, läppischer Gesinnung, auch Unverschämtheit, dass ich ganz bestürzt bin. ›Auslese nach unten‹, Darwinismus rückwärts – das wäre die Formel, die über allem schwebt.« Viele der alten Bekannten und Kollegen waren emigriert, ein offener Austausch nicht mehr möglich. Am 1. September 1935 antwortete Benn auf eine von Oelzes Ergebenheitsadressen: »Bitte schreiben Sie doch nicht davon, dass ich Sie geistig entwickelt habe u. s. w. Ich bedarf Ihrer ja viel mehr. Sie machen sich nicht klar, wie völlig isoliert ich bin, ohne jede Beziehung geistiger Art zu meiner Umwelt. Meine Umwelt ist z. Z. nicht in diesem Land.« Schon nach Hitlers Juni-Morden hatte er am 27. August 1934 an Ina Seidel geschrieben: »Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich u. äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.« Benn gibt 1935 seine Praxis auf und wird, als »aristokratische Form der Emigrierung« (an Oelze am 18. November 1934), Oberstabsarzt der Wehrmacht in Hannover. 1936 erscheint ein Angriff gegen ihn in der SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps«, 1938 wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält damit Veröffentlichungsverbot. Schon 1937 hatte er sich als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen nach Berlin ins Oberkommando der Wehrmacht versetzen lassen; 1943 wird die Dienststelle nach Landsberg an der Warthe verlegt, von wo aus Benn 1945 nach Berlin flieht. Seine zweite Frau Herta schickt er am 5. April vor der heranrückenden Front nach Neuhaus an der Elbe, wo sie sich am 2. Juli das Leben nimmt.
Mit der von Oberst Fritz Ohmke nach Kriegsende auf Benns Bitte versandten Nachricht setzt der hier abgedruckte Ausschnitt des Briefwechsels ein. Nach der im Chaos der Nachkriegstage unterbrochenen Verbindung stehen zunächst die Schilderung des Überlebens, das Resümee der Verluste im Vordergrund. Doch schon bald geht es darum, geistig Bilanz zu ziehen, erste Ausblicke auf das Kommende zu wagen. Die drängenden Fragen der Zeit spielen in diesen auf ein vertrautes Gespräch gestimmten, um ein Werk und seinen Schöpfer kreisenden Briefwechsel, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, immer wieder hinein, wie die durch Walter von Molos offenen Brief an Thomas Mann ausgelöste Kontroverse zwischen Exil-Schriftstellern und Autoren der sogenannten Inneren Emigration, wer über die Nazijahre und Deutschlands Niederlage überhaupt zu reden berechtigt sei. Doch Politik und Moral, schreibt Oelze am 12. Dezember, böten längst keine Hilfe mehr: »Die alten Schemen wollen nicht mehr passen, die politischen nicht mehr, und die moralischen nicht mehr; die Ideologien aller Parteien sind von der Wirklichkeit längst überholt, aus ihnen ist kein revolutionärer Auftrieb mehr möglich.« Die Zukunft, davon ist er überzeugt, liegt allein im Geistigen, in der Kunst. Und Kunst, hatte er von Benn gelernt, ist »Herstellung von Wirklichkeit« (22. Dezember 1943). Die dafür notwendigen Gründungsurkunden und Geheimpapiere befinden sich ohnehin in seinem Besitz, nun geht es darum, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und ihre Wirkung tun zu lassen. Er glaube, schreibt Oelze am 16. November 1945 an Benn, »daß die grosse Periode Ihrer öffentlichen Anerkennung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird«. Eine allen persönlichen Wunschgedanken zum Trotz sehr hellsichtige Prophezeiung. 1949 erscheinen vier Bücher Benns, 1951 erhält er den Büchner-Preis, 1953 das Bundesverdienstkreuz. Am wiedererwachten öffentlichen Interesse hatte auch »Bennpartner« Oelze großen Anteil, als Berater, Freund, Mäzen. Doch der Mann im schwarzen Trikot scheute zu Lebzeiten das Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Abdruck seiner Briefe hat er die Tarnkleidung endlich abgelegt.
Matthias Weichelt
SINN UND FORM 1/2016, S. 33-37
- 3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Bormuth, S. 273 Leseprobe
Weichelt, Matthias
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Bormuth
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz unterschiedlichen Autoren?
INGE JENS: Ich habe immer auf eigene Faust gearbeitet, aber meine Stoffe habe ich mir nie selbst ausgesucht. So kam im Fall von Max Kommerell seine Witwe auf mich zu. Bei den Geschwistern Scholl fragten mich Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher. Großes Glück hatte ich mit den Tagebüchern von Thomas Mann, die mein Leben doch ziemlich verändert haben. Mein Mann Walter Jens war nicht ganz unschuldig daran, daß ich den Auftrag erhielt. Als jemand vom S. Fischer Verlag bei uns anrief und fragte, ob ich für einen Band der Werkausgabe ein Nachwort schreiben könne, lehnte er ab. Ohne Rücksprache mit mir behauptete er, ich sei nur an den Tagebüchern interessiert. Und so wurde mir nach dem Tod des Herausgebers Peter de Mendelssohn diese große Aufgabe übertragen.
MATTHIAS BORMUTH: Vielleicht können wir mit Hans und Sophie Scholl beginnen, die mit ihren Freunden aus der »Weißen Rose«, darunter Willi Graf, als Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt sind. Ich habe Sie, Frau Jens, kennengelernt, als ich mit Medizinstudenten Ihre Editionen gelesen habe, um der Gedankenwelt dieser mutigen jungen Menschen näherzukommen.
JENS: Es ist trotz der beeindruckenden Zeugnisse leider eine miserable Edition, bei der mir von seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was ich bringen dürfe und was nicht. Die Hinterbliebenen, vor allem Inge und ihr Mann Otl, wußten genau, wie es gewesen war, und ließen keine historische Forschung gelten, die ihre Sicht auf Widerstand und Tod der Geschwister in Frage stellte. So sollte nicht herauskommen, daß zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, der später die Schwester Elisabeth heiratete, mehr als ein platonisches Verhältnis bestand. Inge, die konvertiert und gut katholisch war, paßte es nicht, daß Sophie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte. Dabei kann man doch nur hoffen, daß die beiden vor Sophies Tod wirklich etwas Schönes erlebt haben, wenn sie sich im Park trafen oder eine Nacht miteinander verbrachten. Inge Aicher-Scholl beanspruchte aber, nachdem sie ihr Buch über die »Weiße Rose« veröffentlicht hatte, die Deutungshoheit über das Bild ihrer Geschwister in der Öffentlichkeit.
BORMUTH: Sie bekamen es als Herausgeberin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hier mit einer Form von Legendenbildung zu tun, die einer kritischen Sichtung der Materialien zuwiderlief.
JENS: Die Dokumente sagten etwas anderes, als man wahrhaben wollte. So sprach sich die Familie auch gegen meine Einleitung aus, in der ich erwähnte, daß Hans und Sophie nicht nur in der Jugendbewegung, sondern bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv gewesen waren. Das durfte es nicht geben: Helden, die zunächst mitmachten bei dem, was sie später bekämpften. Mir waren und sind historisch »gewordene« Helden jedoch lieber als solche, die gewissermaßen vom Himmel fallen. Dennoch durfte ich meine Sicht der Dinge nicht innerhalb der Edition publizieren; der S. Fischer Verlag veröffentlichte sie separat in der »Neuen Rundschau«. Ich habe mich damals auf diese Form von Zensur eingelassen, da ich nicht wollte, daß die erste Edition von Zeugnissen des studentischen Widerstands durch öffentliche Streitigkeiten entwertet würde. Auch war die Situation insofern nicht einfach, als mein Mann und ich uns gemeinsam mit Inge und Otl Aicher gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Mutlangen engagierten.
BORMUTH: War Ihnen so etwas schon bei früheren Editionen passiert? Bei Autoren wie Ernst Bertram und Max Kommerell, die zeitweilig zum George-Kreis gehörten und als durchaus konservativ galten, könnte man sich doch viel eher vorstellen, daß die Beschäftigung mit dem Nachlaß heikel war, daß es Versuche der Einflußnahme gab.
JENS: Nein. Thomas Manns Briefe an Ernst Bertram lagen in Marbach, und auch Frau Kommerell machte mir keine Vorschriften. Sie war außerordentlich großzügig und gab mir ihren Segen: Wenn Sie nach Marbach ins Literaturarchiv fahren, können Sie alles einsehen und alles benutzen, was Sie möchten. Gerade durch die Beschäftigung mit Max Kommerell erweiterte sich meine zunächst recht undifferenzierte Sicht auf den George-Kreis und seine Adepten. Ich verstand plötzlich die mich so befremdende Hörigkeit der Jünger und begriff, was Kommerell durch seinen Bruch mit »dem Meister« wagte. Ich sah aber auch die ungeheure Anstrengung, die ihn, den einstigen Lieblingsjünger, dieser Schritt kostete. Kaum jemand sonst hat es geschafft, eine solche anhaltende Distanz zu gewinnen. Frau Kommerell erzählte mir allerdings, George habe ihren Mann bis zum Ende seines Lebens – er starb 1944 – in Alpträumen verfolgt. Zugleich wurden mir die Kompromisse deutlicher, die er in seinem Leben einging, die Schlupflöcher, die er, der das neue Regime zunächst begrüßt hatte und Mitglied der Reiter-SA war, sich später suchte.
WEICHELT: Was mich an Ihren Arbeiten immer sehr beeindruckt hat, war die Fairneß und Unvoreingenommenheit, mit der Sie auch über Menschen schrieben, mit denen Sie ganz offensichtlich nicht übereinstimmten. Fiel es Ihnen manchmal schwer, solche fremden Weltbilder zu akzeptieren, zumal Sie im Politischen immer klare Positionen vertreten haben?
JENS: Ich habe andere Sichtweisen immer als Ergänzung meiner eigenen Erfahrungen wahrgenommen. Wie schon gesagt: Mir sind Menschen, die gegen Mißstände und Bedingtheiten ihrer Zeit handeln, aber natürlich auch in sie verstrickt sind, lieber als solche, an denen es nichts auszusetzen gibt.
WEICHELT: Wie bringen Sie die Quellen zum Sprechen, wenn Sie das Material für eine Edition zusammenstellen? Liegt diesem ersten Schritt, der Auswahl und Anordnung, nicht auch schon eine Art Interpretation zugrunde?
JENS: Meines Erachtens muß man die Fakten so präsentieren, daß jeder, unabhängig von seiner Einstellung, einen Zugang zu ihnen finden kann. Wenn Sie es schaffen, die geistigen Einflüsse und historischen Hintergründe in den Kommentaren ausgewogen und anschaulich darzustellen, ist schon viel gewonnen. Sie dürfen nichts verfälschen und müssen sich vor Spekulationen hüten. Denn wenn Sie, wie ich in meiner Scholl-Ausgabe, Unliebsames ausblenden und auf bestimmte historische Belege verzichten müssen, hat der Leser keine Chance, sich so objektiv wie möglich zu informieren und möglichst viele Seiten einer Person oder eines Vorgangs zu verstehen.
WEICHELT: Wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, merkt man schnell, wie wichtig es Ihnen ist, durch das Arrangement der Texte und die Art ihrer Kommentierung eine erzählerische Gesamtkomposition entstehen zu lassen. Sie haben im Gespräch einmal erwähnt, daß man Ihnen riet, auf der Grundlage Ihrer Anmerkungen zu den Tagebuch-Eintragungen Thomas Manns eine Katia-Mann-Biographie zu schreiben. Wäre das eine Methode, durch chronologisch stimmige Anordnung der Dokumente zu einer biographischen Erzählung zu kommen? Als Herausgeberin hatten Sie ja ein geschärftes Bewußtsein für den redlichen Umgang mit dem historischen Material und seinen Widersprüchen.
JENS: Das Editorische kann eine Vorstufe des Erzählerischen sein, muß es aber nicht. Während es hier nötig ist, die Fakten möglichst umfassend und möglichst vorurteilsfrei zu betrachten und darzustellen, darf eine biographische Arbeit, wie die über Katia Mann, auch schon mal einer subjektiver gewichteten Linie folgen. Die Haltung des Herausgebers hat vor allem kritisch zu sein.
WEICHELT: Worin besteht die Kunst des Edierens?
JENS: Sie müssen versuchen, alle oder jedenfalls möglichst viele Implikationen etwa eines Tagebucheintrags zu berücksichtigen. Wenn Sie sich lange mit einem Autor und seiner Handschrift beschäftigen, lernen Sie ihn ganz anders kennen. Sie erhalten interessante Einblicke in seine Arbeits- und Denkweise. So ging es mir mit den fünf Bänden der Tagebücher Thomas Manns, die ich herausgegeben habe, obwohl ich im Unterschied zu meinem Ehemann kein wirklicher Kenner und Verehrer seines Werkes war.
BORMUTH: Kann es sein, daß Thomas Mann, der sich zu Lebzeiten als Repräsentant des deutschen Kulturbürgers gesehen und stilisiert hat, späteren Generationen mit den Tagebüchern auch einen kritischen Zugang zu seiner Person und seinem Werk eröffnen wollte?
JENS: Ganz sicher. Thomas Mann fühlte sich als Repräsentant eines Kulturbürgertums, dessen Normen er in starkem Maße verinnerlicht hatte. Wie erleichtert war er, als er den 1933 in München zurückgelassenen Koffer mit den alten Tagebüchern wieder in seinen Händen hielt! Er hat aus Angst, seine homoerotischen Neigungen könnten öffentlich werden, sogar später im kalifornischen Exil noch einige Bände verbrannt. Aber die meisten bewahrte er auf. In ihnen drückt er aus, wie ihm zumute war und was es ihn kostete, die ihm so wichtige glanzvolle Fassade der Bürgerlichkeit aufrechtzuerhalten, die ihm Sicherheit garantierte und natürlich auch viel Freude bereitete.
BORMUTH: Als Sie in den achtziger Jahren mit der Edition begannen, kam es auch zu näherem Kontakt mit Golo Mann, der selbst Historiker und Erzähler war.
JENS: Golo Mann befürchtete zunächst, ich würde an Peter de Mendelssohns eher literarische Form des Kommentierens anknüpfen, während es ihm, als Historiker, doch in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche ging, in welche die Tagebücher eingebettet waren. Mir auch, deshalb haben wir uns so gut verstanden. Ich hätte nie so kommentieren können wie de Mendelssohn, weil mir dafür alle Insider-Kenntnisse fehlten. Für mich waren die Tagebücher vor allem eine große Chronik ihrer Zeit.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre Treffen mit Golo Mann?
JENS: Am Anfang war es schwierig. Ich habe ihn immer besucht, wenn ich in Zürich im Thomas-Mann-Archiv zu tun hatte. Er wohnte damals im elterlichen Haus in Kilchberg. Nach und nach bürgerte es sich ein, daß wir meinen Fragenkatalog der Reihe nach abarbeiteten, er also antwortete, soweit er konnte. Später bat er mich, ihn öfter zu besuchen. Weil ihn meine Recherchen zunehmend interessierten, ist er sogar auf den Dachboden gestiegen, um nach alten Briefen zu schauen. Die gab er mir dann mit den Worten: Lesen Sie das zu Hause. Sie können es mir nächstens wiedergeben.
BORMUTH: Entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen?
JENS: Ja, eines Tages erhielt ich einen Brief mit dem Anfang: »Liebe Inge, wie wäre es, wenn wir die Curialien fortlassen würden?« Das fand ich sehr schön. Und bei »liebe Inge«, »lieber Golo« sind wir dann geblieben.
WEICHELT: Golo Mann gehörte wie seine Eltern zu den deutschen Emigranten. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit jenen gemacht, die Deutschland nach 1933 verlassen haben?
JENS: Ich lernte während meiner Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach viele Emigranten kennen. Bernhard Zeller, der damalige Direktor, stellte mich ihnen vor, vielleicht auch um zu zeigen, daß man sich in Deutschland mit der Vergangenheit auseinandersetzte und versuchte, Ursachenforschung zu betreiben. Aber es waren nur wenige, die sich in den sechziger und siebziger Jahren überhaupt mit Emigration und Remigration beschäftigten.
BORMUTH: Sie haben Katia Mann besucht und geschildert, wie sie auf die Erwähnung der Emigration reagiert hat.
JENS: Ich habe Katia Mann zwei- oder dreimal besucht, und sie hat mir großen Eindruck gemacht, vor allem mit der Szene, auf die Sie anspielen, diesem Ausbruch: »Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben!« Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Daß man eine Emigration aus Deutschland als bürgerliche Schande empfinden konnte, war eine neue Erkenntnis für mich und hat mich sehr bewegt.
WEICHELT: Sie haben in Tübingen enge Beziehungen zu Hans Mayer und Ernst Bloch gepflegt, zwei anderen ehemaligen Emigranten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erst im Osten lebten und dann in den Westen gingen.
JENS: Hans Mayer ist wahrscheinlich der Mensch, der meine geistige Biographie am meisten beeinflußt hat. Er hat mich gefördert und gefordert. Für ihn war es selbstverständlich, daß ich das, was er von mir verlangte, konnte und also auch machte. Das setzte er einfach voraus. So etwas kann ungeheuer hilfreich und anregend sein, denn die Kenntnisse, die ich noch nicht hatte, habe ich mir schleunigst angeeignet. Ich wollte mir vor ihm ja keine Blöße geben.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 341-352, hier S. 341-345
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Weichelt, Matthias
Lob des Verzettelns. Gespräch mit Klaus Reichert und Thomas Sparr
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende Veränderung des Blicks. Nachdem der Himmel so lange für Gefahren stand, für fliegende Angriffsmaschinen, sieht man nun, was da noch alles ist. Ist Ihnen diese Situation noch gegenwärtig?
KLAUS REICHERT: Sie ist mir noch sehr präsent, in diesem Alter nimmt man so etwas ja schon ziemlich deutlich wahr. Man sah auch die abgeschossenen Flugzeuge, eines stürzte in unseren Garten, darin lag ein toter Engländer. Der Vollalarm kam abends, wenn es dunkel wurde, gegen sieben. Gießen hatte einen großen Fliegerhorst und viel Schwerindustrie und war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Insofern war das ein idealer Ort zum Bombardieren. Die totale Auslöschung der Stadt geschah am Nikolaustag 1944. Die Wochen davor habe ich immer im Keller statt im Bett verbracht. Ich hatte ein kleines Köfferchen mit ein paar Büchern dabei, wie »Grimms Märchen« mit Illustrationen von Otto Ubbelohde. Der Himmel bestand für mich in dieser Zeit aus unglaublichem Radau, aus ständigem Rasseln. Es gab ja damals diese Sammelbüchsen, fürs Winterhilfswerk und anderes. Mir kam es so vor, als wäre da oben eine gigantische Sammelbüchse, so hat das gescheppert. Und als dann alles abgebrannt war, wohnten wir in einem Dorf, waren bei Bauern einquartiert, bis ich sieben war, im Mai 45. Vor dem Dorf gab es eine ruhige Blumenwiese, ohne Geräusche. Ich habe mich ins Gras gelegt und diese stille Wolke gesehen, die sich kaum bewegt hat, eine wunderbare, perfekte Cumuluswolke, wie ich sie nur aus Märchen- oder Kinderbüchern kannte. Das war ein großes Erlebnis für mich. Und dann habe ich mich am Abend hingesetzt und mit meiner steilen Kinderschrift aufgeschrieben, was ich gesehen hatte. Dann habe ich es noch einmal durchgelesen und gemerkt, das war nicht meine Wolke, das hatte gar nichts mit ihr zu tun.
WEICHELT: Die Wolke war für Sie damit ja auch ein Bild für den Frieden. REICHERT: Ja, vor allem durch diese Stille und dieses Weiß. Und dann dieses Angstlose, das auf einmal da war. Dann kamen die schwarzen Soldaten, die fand ich natürlich toll, die waren kinderlieb und schenkten einem Kaugummi und brachten einem den amerikanischen Ausdruck dafür bei, den ich mir als »Schwing-Gum« übersetzt habe. Chewing Gum, das habe ich nicht verstanden, aber Schwing und Gum, darunter konnte ich mir was vorstellen. Als ich ein bißchen älter war, habe ich auch gehandelt, mit Rheinwein für Zigaretten und Schokolade, Nescafé, Orangen. Das war ziemlich abenteuerlich.
WEICHELT: Haben Sie damals auch die Nervosität der Erwachsenen wahrgenommen, als das Ende des Krieges näherkam?
REICHERT: Ich erinnere mich genau an die Nacht der Ausbombung. Wir wohnten mit den Großeltern im zweiten Stock, dann kam ein großer Hof, dann Lagerräume und dahinter das große Verlagsgebäude meines Großvaters, der den Großherzoglich- Darmstädtischen Schulbuch-Verlag in vierter, fünfter Generation führte. Hier wurden für alle Schulklassen die Schulbücher hergestellt, auch das Lager war im Haus. Das brannte alles lichterloh. Mein Vater war im Krieg Nachrichtenmann, Entschlüsseler, seine Einheit kam aus Paris und war in der Nähe von Gießen stationiert, auf dem Vetzberg neben dem Gleiberg. Von dort aus sah er den Brand. Er fuhr sofort mit dem Fahrrad runter und hat mitgeholfen, Sachen aus dem Haus zu retten. Man konnte nicht mehr viel machen, es waren Sprengbomben gewesen. Und die geretteten Sachen auf dem Hof gingen durch Funkenflug in Flammen auf, da mußte man wieder löschen. Hinter dem Haus hatte mein Großvater einen riesigen Garten, einen Park im Grunde, und dahinter begannen Gänsewiesen, über die sind wir dann mit einem ganzen Treck von Leuten gezogen, darunter eine Tante von mir mit ihrem vier Monate alten Kind. Alle sind geflüchtet aus dieser Stadt, die zu neunzig Prozent zerstört war. Über die Wiesen ging es für uns ins nächste Dorf, wo unser Packer wohnte, den ich sehr geliebt habe, weil er mir Spielzeug gebastelt hat. Ich habe das alles eher mit verwunderten Kinderaugen gesehen. Und gar nicht richtig wahrgenommen, daß es alle meine Spielsachen nicht mehr gab. Ich war ein großer Soldatenspieler, hatte diese kleinen Plastilin-Soldaten, ganze Armeen, Marine, Luftwaffe, auch einen Hitler und einen Göring. Es war keine Trauer, nur Verwunderung darüber, daß die so vertraute Stadt auf einmal nur noch aus Schornsteinen bestand, feuerfest gemauerten Schornsteinen, die in die Luft ragten, und drumherum rauchende Trümmerhaufen. Dann ist meine Mutter mit mir in ein anderes Dorf gekommen, in diesem strengen Winter 44 / 45. Wir sind jeden Morgen die sieben Kilometer nach Gießen gelaufen, wo die Großeltern im Keller hausten und noch ein bißchen was zu essen hatten. Das war ein komisches Gefühl, weil es damals noch Tiefflieger gab und meine Mutter und ich mit unseren schwarzen Mänteln natürlich wunderbare Ziele abgaben … Das habe ich noch im Ohr, dieses Zischen der Kugeln, die um unsere Ohren pfiffen. Wir konnten uns nicht richtig verstecken, weil alles weiß war. Am Abend sind wir die sieben Kilometer wieder zurück. Wir lebten bei einer Bauernfamilie, die genug zu essen hatte, mußten mit am Tisch sitzen und hatten natürlich selbst nichts. Die Bauern hatten drei Buben, einer so alt wie ich, die anderen beiden älter, die haben riesige Koteletts bekommen. Der Kleine konnte seines nicht aufessen, und da sagte die Bäuerin zu meiner Mutter: »Wolle Se’s huuh, sonst gewwe mer’s der Katz«. Und meine Mutter hat gesagt, nein, vielen Dank. Das bißchen, was man gerettet hatte, haben einem die Bauern damals abgenommen gegen ein paar Kartoffeln …
WEICHELT: Hat in dieser Zeit auch schon Ihr Interesse an der Literatur begonnen?
REICHERT: Ja, das hat sehr früh angefangen. Meine Eltern, meine Großmutter und meine Tante haben mir von früh an vorgelesen, die »Grimmschen Märchen« immer wieder, mit den wunderbaren Zeichnungen von Ubbelohde, der ja aus der Marburger Gegend kam. Seine Märchengestalten waren mir alle vertraut vom Gießener Wochenmarkt mit den Bauersfrauen in hessischen Trachten, die dort Obst und Gemüse verkauften.
WEICHELT: Das Personal dieser Märchen war für Sie also keine bloß imaginäre, sondern eine reale und lebendige Welt.
REICHERT: Ja, sehr lebendig. Das Rotkäppchen sah aus wie meine Klassenkameradinnen, mit einem roten oder andersfarbigen Häubchen, wie auf den Zeichnungen von Ubbelohde. Die Marktfrauen hatten einen Knerz wie die Hexen. Ich habe auch ganz früh Kinderausgaben des »Robinson Crusoe« gehabt und bin überhaupt in einer Buchwelt aufgewachsen. Die ganze Familie hat gelesen, es gab ja noch kein Fernsehen. Auch mein erstes Kinoerlebnis war ganz wunderbar. Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam, 1946, gab er amerikanischen Offiziersfrauen Deutschunterricht. Und die backten mir zum Geburtstag eine Torte und schenkten mir Comic-Hefte. Oder sie unterstützten meinen Vater, der mit eigenen Händen ein Haus auf dem Grundstück seiner Eltern baute. Einmal sagte eine dieser Amerikanerinnen zu ihm, er sehe so traurig aus, ob sie ihm irgendwie helfen könne? Und er meinte, er bräuchte sieben Pfund Kaffee, um den Dachstuhl und die Ziegel zu bekommen. Und zwei Stangen Zigaretten für die Klosettschüssel. Das haben sie ihm dann gegeben. Eine ganz unglaubliche Großzügigkeit. Einige hatten Kinder, mit denen durfte ich spielen und die luden mich auch zu sich ein. Ich werde nie vergessen, wie einer dieser Buben, etwa mein Alter, Geburtstag hatte und zwanzig Ami-Kinder eingeladen wurden und ich auch. Ich verstand natürlich kein Wort außer Schwing-Gum, aber ich durfte mitgehen in das einzige Kino in Gießen, das nur für die Alliierten da war und für diesen Kindergeburtstag geöffnet wurde. Wir haben »Goldrausch« von Chaplin gesehen, mein allererster Film. Heute noch geht mir das Herz auf, wenn ich an diesen Film denke und an die Umstände, unter denen ich ihn sah.
THOMAS SPARR: Das ist eine schöne Doppelgeschichte. Das Kriegsende lehrte Sie, die Wolken zu sehen, und brachte Sie mit dem Englischen zusammen. Sie sind auch deshalb Anglist?
REICHERT: Nein, ich bin eher Anglist geworden aus Protest gegen ein autoritäres Gymnasium, wo man nur Latein und Griechisch gepaukt, aber nicht gelernt hat, wie man diese wunderbare Literatur hätte verstehen können. Der Unterricht bestand nur aus grammatischen Beispielen, es ging um attische Formen, um dorische und so weiter. Es ging nie um Literatur, immer nur um Grammatik. Dagegen war für mich die deutsche, aber auch die englische Literatur etwas Lebendiges, das konnte ich verstehen. Die englischen Sachen konnte ich natürlich nicht im Original lesen, aber es gab in dieser kurzen Spanne vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik unglaublich viele Literaturzeitschriften. Und mein Vater hatte fast alle abonniert. Die »Story«, herausgegeben von Heinrich Ledig in Stuttgart, mit einer monatlichen Auflage von fünfzigtausend Exemplaren, zum Preis von einer Reichsmark. Dann gab es »Die Erzählung« aus Konstanz und »Das Karussell«, das Arnold Bode in Kassel machte, der später die Documenta gründete. Da standen in ein- und demselben Heft Manfred Hausmann, der ja ein Nazi-Autor war, und ein völlig unbekannter junger Schriftsteller namens Heinrich Böll. Dann gab es Willi Weismann in München mit der Zeitschrift »Die Fähre«. Da habe ich zum Beispiel einen Text auf deutsch gelesen, bei dem ich überhaupt nichts verstand und dachte, das muß was Besonderes sein, wenn du das nicht verstehst. Das war ein Auszug der »Anna-Livia"-Übersetzung aus »Finnegans Wake«, die Goyert 1933 auf Wunsch von Joyce gemacht hatte und dann aber nicht mehr erscheinen durfte. Damit begann meine Faszination für Joyce. Und dann gab es auch noch »Das goldene Tor«, das Döblin in Mainz herausgab. Das war die einzige Zeitschrift, die nicht nur schöne Literatur machte, sondern auch politisch erziehen wollte. Dort las ich zum Beispiel einen großen Aufsatz von Ludwig Marcuse über die Geschichte der nicht gebauten Heinrich-Heine-Denkmäler in Deutschland. Diese Zeitschriften waren ein Segen.
SINN UND FORM 2/2020, S.230-243, hier S. 230-233
- 1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Wolfgang Kohlhaase, S. 273 Leseprobe
Weichelt, Matthias
»Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Wolfgang Kohlhaase
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon
sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen?
WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt haben, die hat mein Sohn. Und wenn Sie so ein Tonrohr suchen, das hier mal in der Wiese gelegen hat, das hat auch mein Sohn. Dieser Sohn war ein Mann in den Siebzigern, der einen halben Arm verloren hatte im Krieg, und der Vater war in den Neunzigern. Es war ein abgelagerter Konflikt zwischen Vater und Sohn. Und dann kam das schöne Wort »übrigens«. Übrigens, sagte er, was ich Ihnen schon lange sagen wollte, ich habe bei Ihnen mal ein Rad sichergestellt. Na, Sie waren ja noch nicht ganz hier und ich bin immer mal eine Runde ums Haus gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Und da lehnte hinter dem Haus ein Rad. Da hab’ ich gedacht, wer weiß, was für ein Spitzbube hier ein Rad hingestellt hat, und hab’ es sichergestellt. Nun konnte er mit diesem Rad aber sein Leben lang nicht fahren, denn ich hätte es ja wiedererkannt. Und der Gedanke saß bei ihm tief: Der sieht das.
WEICHELT: Hat er es Ihnen zurückgegeben?
KOHLHAASE: Ich hab’s nicht genommen. Das hat ihn enttäuscht. Ich sagte, wissen Sie – der hieß auch noch Marx –, wissen Sie, Herr Marx, wenn Sie auf das Rad so lange achtgegeben haben und das ist immer noch da, dann behalten Sie es doch. Dieses Ausbleiben einer kleinen Belohnung hat ihn nicht gefreut.
WEICHELT: Diese Geschichte ist ja fast schon eine Filmszene oder eine kleine Erzählung.
KOHLHAASE: Einmal kam er und trank ein Bier bei mir, er kam immer mal vorbei. Ich guckte Fußball und sagte, gucken Sie auch Fußball, Herr Marx? Und er: Wegen Fußball habe ich 1909 bei den Husaren drei Tage mittleren Arrest gekriegt. Machte eine kleine Pause, in die ich natürlich reinging – was ist denn da passiert? Wissen Sie, sagte er, wir hatten so einen verrückten Leutnant, der wollte immer, daß wir im Kasernenhof Fußball spielen. Die, die sich dafür interessiert haben, wurden vorne eingeteilt bei den Stürmern, und die, die sich nicht so interessiert haben wie ich, waren hinten als Verteidiger. Irgendwie kam ich in die Nähe des Balles und habe ihn ins eigene Tor geschossen. Da kam der Leutnant angerannt und sagte, Mann Gottes, sind Sie verrückt geworden, ohne Bedrängnis, ohne Not schießen Sie den Ball ins eigene Tor! Da habe ich gesagt, Herr Leutnant, das hatte ich mir von Anfang an vorgenommen, sowie ich in den Besitz des Balles komme, schieße ich ihn auf kürzestem Wege in das nächstgelegene Tor. Und weniger das Selbsttor als der Vorsatz des Selbsttors hat den Leutnant so von der Rolle gebracht, daß er drei Tage Arrest bei Wasser und Brot anordnete. Na ja, solche und ähnliche Geschichten erzählt man sich auf dem Land. Wie die über einen Menschen, der Koslowski hieß, mit dem war mein Nachbar zusammen bei den Husaren in Brandenburg. Ich habe ein paar Notizen gemacht, ein fiktives Gespräch mit einem Kohlenhändler, der genau weiß, wer wo stationiert war.
ELISA PRIMAVERA-LÉVY: Das ist in Ihre Erzählung »Kohlen und Kavallerie« eingegangen. Der Kohlenhändler war einst Ulan in Leipzig und fachsimpelt mit dem Ich-Erzähler über Kürassiere in Pasewalk, Dragoner in Parchim und Husaren in Stendal.
KOHLHAASE: Ja, und mit Koslowski war Marx 1914 im Ersten Krieg, zuerst in Belgien, wo Koslowski hinter den Mädchen her war. Dann wurden sie nach Serbien versetzt, und da hat Marx zu Koslowski gesagt, das ist hier nicht wie in Belgien mit den Mädchen, der Serbe ist falsch. Da mußt du immer dran denken, der Serbe ist falsch. Und Koslowski weiter mit den Mädchen, und dann lag er totgestochen hinter dem letzten Haus. Er wollte ja nicht hören.
WEICHELT: Um Liebesangelegenheiten im weiteren Sinne geht es ja auch in Ihrem Text »Onkel, hast du Feuer?«, über den wir uns gern unterhalten würden. KOHLHAASE: Ich ahne überhaupt nicht, was auf mich zukommt.
PRIMAVERA-LÉVY: Es gibt viele Gespräche mit Ihnen über Ihr filmisches Schaffen. Wir möchten in erster Linie über Ihre schriftstellerische Arbeit sprechen, schließlich sind mehrere Texte aus Ihrem Erzählungsband »Silvester mit Balzac« in den siebziger Jahren zuerst in Sinn und Form erschienen. »Onkel, hast du Feuer?«, Ihr bisher unveröffentlichtes Exposé, hat uns beim Lesen sofort be geistert. Die Handlung spielt offensichtlich in der DDR, aber ob in den sechziger oder siebziger Jahren, ist nicht leicht zu sagen. Wissen Sie noch, wann Sie es geschrieben haben und was der Anlaß dafür war?
KOHLHAASE: Ich wollte etwas über das machen, was man heute die Medienwelt nennt, über den permanenten Schwindel der hergestellten Diskussionsstoffe und die sogenannte öffentliche Meinung. Und da hatte ich eine sehr schmale Idee. Was man so als Redensart ständig hört: Mir geht das vollkommen auf den Sack ... Warum soll es immer nur auf den Sack gehen oder aufs Herz? Ich habe gesagt, wie ist es, wenn es jemanden sozusagen in der Mitte seiner Männlichkeit trifft? Und wieviel Komik ist daraus zu gewinnen? Dann habe ich an die Manipulation der gesammelten Nachrichten gedacht. Aus dem nicht zum Alltag gehörenden, aber eher harmlosen Wunsch eines Zehnjährigen, eine Zigarette zu rauchen, macht man einen Beitrag über die Schädlichkeit des Rauchens überhaupt. Und ich habe diesen Satz geschrieben, der auch in der DDR dauernd in der Luft hing, als permanente Drohung: »Erdöl ist teurer geworden.« Das Problem mit dem Erdöl und den Russen geht ja dreißig Jahre und länger zurück. Die haben auch früher manchmal auf und zugedreht. Dann wurde die Braunkohle wieder in Gang gebracht oder wieder eingebuddelt und es hieß: Unser Erdöl wird teurer – wenn Öl teurer wird, wird alles teurer, wenn alles teurer wird, wird die Moral schlechter, warum sollen wir noch über gesellschaftlich Problematisches reden? Es blieb immer irgendwie auf dieser Spaßebene ... Bei Geschichten über Impotenz ist es auch so – die können ja komisch sein. Da ist jemand, der sich plötzlich vor sich selbst fürchtet, der etwas fürchtet, was ihm noch nie passiert ist. Über die Rolle von Plot und Figuren in dieser Geschichte habe ich noch gar nicht entschieden. Wenn man darüber nachdenkt, kommt man dahinter, daß sich das gar nicht trennen läßt: Die Figur bedient den Plot, der Plot bedient die Figur. Man kann also gar nicht so eindeutig sagen, ob der Plot das Sujet ist oder die Figur.
WEICHELT: Das Bemerkenswerte an diesem Text ist, daß man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob es ein literarischer Text ist oder eine Filmvorlage. Es steckt beides drin. Der Text präsentiert sich als Filmexposé, funktioniert im Grunde aber auch als Erzählung.
KOHLHAASE: Da bin ich ganz unsicher, ob das wirklich merkwürdig genug ist als Erzählung. Und die Sache hat ja eine gewisse Atemlosigkeit, aus der man keinen soliden, stabilen Prosa-Atem machen darf.
WEICHELT: Das denke ich auch, die Lücken gehören zur Stärke dieses Textes. Und mir scheint, wie gesagt, das Besondere zu sein, daß hier Ihre beiden Ausdrucksweisen, das filmische und das literarische Schreiben, zusammenkommen. Das Szenische spielt darin eine große Rolle, aber auch das Erzählerische. Es gibt diese schnellen Wechsel zwischen den Handlungsorten, die gar nicht erklärt werden, und trotzdem bleibt die Geschichte in sich stimmig und wird getragen von einer großen Leichtigkeit, Komik und Lebendigkeit.
KOHLHAASE: Man könnte hier auch noch dichter zu den Figuren gehen, denn die sind auf jeden Fall da, sowohl die mit einem Vorbild als auch die ausgedachten. Ich hab’ noch mal geblättert in den liegengebliebenen Seiten und gedacht, man könnte auch noch einen älteren Mann dazunehmen, als Ehemann der Frau, die jetzt nur dazu gut ist, Hoffie darauf anzusprechen, daß er schon wieder ein Mädchen mitbringt. Dieser Mann hätte sich in seinem 65. Lebensjahr ins Bett gelegt und gesagt, ich stehe nicht wieder auf, ich spiele nicht mehr mit, ich bleibe liegen ... Die Geschichte wäre dann die: Er war im Krieg gewesen und er war Schneider, jedes Regiment brauchte einen Schneider, wenn die Hosen nicht mehr paßten oder wie auch immer. Und seine Frau war katholisch und eine Polin, die es irgendwie nach Deutschland verschlagen hatte. Er schlief nicht mehr mit ihr, obgleich sie schön war, sie wiederum sagte, Gott hat das anders geplant, Gott will, daß die Menschen sich vermehren, aber wenn das nicht geht, dann geht’s nicht. Und so lebt sie mit ihm ein schizophrenes Leben. Ab und zu rennen sie ungeheuer um den Tisch, weil er sie jagt, aber nie kriegt. Sonst liegt er im Bett und guckt fern. Also sagen wir mal, zu diesen Figuren hätte ich eine Tür.
PRIMAVERA-LÉVY: Meine Vermutung war, das Exposé könnte etwa aus derselben Zeit wie Ihr Film »Solo Sunny« (1978 / 79) stammen, weil die Figuren sich ähneln, auffallend etwa in ihrer Mühelosigkeit des Anbandelns, was man als eine ganz eigene DDR-Erotik bezeichnen könnte. Wissen Sie noch, was Sie mit dem Text vorhatten?
KOHLHAASE: Eigentlich hatte ich vor, einen Film zu machen. Und ich glaube, Konrad Wolf starb, der aber nicht auf die Geschichte aufgesprungen war, er sagte zwar, es interessiere ihn, aber dann schied er aus. Und Frank Beyer starb auch. Es starben also Leute, mit denen ich gearbeitet hatte, dennoch dachte ich, vielleicht ist es trotzdem ein Film und kein Erzählstück.
WEICHELT: Bei Hoffie durchmischen sich das Filmische und das Erzählerische auf eine spezielle Weise. Irgendwann spielen auch Spiegel eine größere Rolle. Er sieht sich dauernd selber, schaltet immer den Fernseher an, wenn eine Frau da ist, sieht sich bei den Umarmungen im Spiegel und merkt plötzlich, was daran seltsam ist. Das macht ja die Komik aus: Als Casanova ist er eher ungeschickt, kann weder unterhalten noch sich als Liebhaber betätigen, man fragt sich, worin eigentlich seine Anziehungskraft liegt.
KOHLHAASE: Ich habe mal darüber nachgedacht, »Nicht-Geschichten« zu erzählen, im Sinne von: hat nicht geklappt. Da dachte ich an so einen Drehstab wie in »Onkel, hast du Feuer?«, der auf dem Land unterwegs ist. Die Dorfjungs und Dorfmädchen lösen für ein langes Wochenende ihre Verabredungen, und die flotten Jungs vom Film sind nicht die Schauspieler, sondern die Kameraassistenten. Das eine Mal überredet einer davon ein schönes Mädchen zu einem langen Spaziergang, bei dem es immer bedrohlicher wird, weil sechs Leute aus dem Dorf hinter ihnen herlaufen und allmählich den Abstand verkürzen. Und als es schon ganz gefährlich aussieht, kommt auf dem Fahrrad ein Volkspolizist und der Assistent sagt, wenn ich Sie einen Augenblick in Anspruch nehmen dürfte, ich fühle mich hier bedroht und verfolgt ... Und der hört sich das alles an, stellt sein Fahrrad ab, hört sich das weiter an und haut dann seiner Tochter eine runter, eine ungeheure Schelle. Die zweite Geschichte, die mit der ersten korrespondiert, wäre sozusagen nicht mehr im Wald, nicht beim Spazierengehen, nicht in der Nähe dieser Dorfrabauken, sondern bei ihr zu Hause. Sie gehen leise eine Treppe hoch, die knarrt, so ist das, aber alles wunderbar, das Ziel ist erreicht. Und da fällt ihm ein, was ihm vorher hätte einfallen sollen, noch mal die Blase entleeren, das schafft lockerere Haltung. Und dann sagt er, bin gleich wieder da, bis gleich. Er also wieder runter und rennt irgendwo dagegen, es klappert. Aber da ist die Tür, er ist wieder oben, in ihrem Zimmer. Nur im Bett sitzen aufrecht die erschrockenen Eltern, weil er die Tür verwechselt hat. Das war die zweite Nichtgeschichte. Die dritte Nichtgeschichte wäre: In keinem Restaurant, in keiner Wohnung, in keinem Wald, aber hier um die Ecke muß es doch erträgliche Örtlichkeiten geben. An einer mit Efeu zugewachsenen Mauer, wenn überhaupt, dann hier. Und er guckt nach links und nach rechts und lockert sozusagen die zu enge Bekleidung, da springt ein ungeheurer Kater aus dem Efeu, ein lebensgefährlich gesonnener.
WEICHELT: Das klingt wie ein Dekamerone des Scheiterns, man erzählt erotische Geschichten, die aber nicht zu dem führen, wozu sie führen sollen.
KOHLHAASE: Eben. Und wenn du so etwas pur erzählst, dann muß es sehr gut sein. Mit Ironie kannst du das sozusagen aus dem Handgelenk machen. In jedem
Fall darf man dieses Impotenzproblem, dieses Hemmungsproblem nicht aus dem Auge verlieren. Wenn man in der Prosa komisch schreiben will, geht das nur über die Situation. In »Onkel, hast du Feuer?« sind für mich die Tagebau-Szenen am wenigsten überzeugend. Das wird einfach nur zitiert und hat eigentlich kein Fleisch. Würde man mich fragen, welcher Teil ist am ehesten DDR, dann käme ich auf diesen Aspekt, da stehen die Fragen der Wahrheit im Vordergrund. Das gab’s nur in der DDR, die Frage nach der Wirklichkeit verbittet sich die heutige Welt entschieden.(…)
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- 5/2009 | Die Lehre vom Menschen und Jean-Paul Sartre. Mit einer Vorbemerkung von Rainer-M. E. Jacobi
- 5/2012 | Briefe an Lou Andreas-Salomé
Wekwerth, Manfred
- 1-2-3/1957 | Auffinden einer ästhetischen Kategorie
- 1/1958 | Das Problem der Beobachtung
- 3/1968 | Das Theater Brechts 1968
- 4/1975 | Sympathie für den Erzähler
- 3/1983 | Gespräch mit Satoru Konishi
- 1/1984 | Zur Friedensmanifestation im Berliner Ensemble
- 2/1985 | Zur Biographie Brechts - aus einer Diskussion mit Werner Mittenzwei
- 3/1986 | Fragen, Brecht betreffend
- 3/1988 | Zur Eröffnung der Beuys-Ausstellung im Marstall
Welk, Ehm
- 4/1964 | Gewitter über Gottland
Welle, Florian
- 3/2011 | Nachrichten aus der Nachkriegsprovinz. Günter Eich, Jürgen Eggebrecht, Horst Lange, S. 739 Leseprobe
Welle, Florian
NACHRICHTEN AUS DER NACHKRIEGSPROVINZ Günter Eich, Jürgen Eggebrecht und Horst Lange
Jürgen Eggebrecht und Günter Eich kannten sich und kannten sich doch nicht: 1927, in der von Klaus Mann und Willi R. Fehse verantworteten »Anthologie jüngster Lyrik« präsentierten sich beide zum ersten Mal der literarischen Öffentlichkeit, Günter Eich noch unter dem Pseudonym Erich Günter. In seinem Nachwort schreibt Klaus Mann, daß die Autoren eine Generation seien, »und sei es, daß uns nur unsere Verwirrtheit vereine«. Der Zusatz ist notwendig, denn ein Autor wie Jürgen Eggebrecht gehört genau besehen nicht zur sogenannten verlorenen Generation wie das Gros der Versammelten, etwa Wolfgang Hellmert, Erika Mitterer und die beiden Herausgeber Fehse und Mann, die alle 1906 geboren wurden. Oder wie der aus Lebus an der Oder stammende Günter Eich, Jahrgang 1907. Eggebrecht erblickt noch vor der Jahrhundertwende das Licht der Welt, am 17. November 1898 kommt er in Baben, Kreis Stendal, als zweites Kind von Alwine und Gottfried Eggebrecht zur Welt. Der Vater ist in dem altmärkischen Dörfchen Pastor, und religiöses Pathos ist auch Eggebrechts Versen in der »Anthologie« zu eigen, zum Beispiel dem Gedicht »Christus der Jüngling«. Ebenso künden seine Briefe aus der unmittelbaren Nachkriegszeit von seinem Ringen mit dem Glauben.
Jürgen Eggebrecht ist der Frontgeneration zuzurechnen, einen Tag vor seinem 18. Geburtstag zieht man ihn zur Fußartillerie ein – da ist sein vier Jahre älterer Bruder Gottfried schon mehr als eineinhalb Jahre tot. Ein Jahr später kämpft er in Flandern, eine Granate reißt ihm den Bauch auf, und damit ist der Krieg für ihn beendet. Die Erinnerung an den Krieg wird er zeitlebens in Gedichten, Prosa und Rundfunkarbeiten wachhalten. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ist auch seine eigene, im Unterschied zu Günter Eich und Horst Lange, die erst den Zweiten Weltkrieg als Soldaten mitmachen werden. Wohl weil er schon im Schützengraben gelegen hatte, ist Eggebrecht einer der wenigen, die am Ende der »Anthologie« die Gelegenheit nutzen, Auskunft zur Biographie zu erteilen: »Engelsstille Kindheit. Ich sehe ein breitgelagertes Haus mit vielen Türen, einen Garten, der des Blühens nicht müde wird. Jemand erzählt und langsam summend erlischt die Stimme. (…). Der Krieg verändert manches. Aus ihm komme ich.« Noch in den frühen fünfziger Jahren, da arbeitet er bereits für den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Hannover, kommt er in dem Feuilleton »Du und das Gedicht« auf seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg zu sprechen: »Es gab freilich Zeiten, Kriegszeiten, in denen zu vermuten stand, daß wir schon im nächsten Augenblick tot sein würden. Wenn uns dann ein Vers einfiel, irgendein Vers – und er ist uns eingefallen! – dann hatte er etwas von der Wirkung eines reinen Elements und wir begriffen die in ihm gesammelte Kraft menschlicher, zeitüberwindender Natur. Das Gedicht brennt die Angst fort und bleibt eine Chiffre.«
Jürgen Eggebrecht und Günter Eich begegnen sich zum ersten Mal 1930, in Berlin, auf einem Faschingsfest von Martin Raschke. Eggebrecht hatte den Dresdner Raschke bereits in den zwanziger Jahren in München kennengelernt, ebenso Joachim Ringelnatz. Raschke studierte dort eine Zeitlang Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie, und auch Eggebrecht, der eigentlich in Greifswald, Innsbruck und Würzburg Jura studierte, weilte dort so oft wie möglich: der Liebe wegen. Elfi Stiehr, die er 1928 heiratete, ließ sich an der Staatlichen Akademie der Tonkunst zur Pianistin ausbilden. 1905 in Freising geboren, lebte sie von klein auf mit ihren Eltern in der Ungererstraße 30 in Schwabing in einer Wohnung, die nach dem Krieg kurzzeitig zum Domizil für das Paar werden sollte. Nach seinem krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Funk 1960 wohnte er wieder dort, bis zu seinem Tod 1982. Elfi öffnete dem jungen Doktor – er hatte zum Thema »Amtsanmaßung« promoviert – die Tür zu einem Berufsweg abseits der Juristerei. Sie besuchte wie Erika Mann und W.E. Süskind das Münchner Luisengymnasium, und über sie machte Eggebrecht die Bekanntschaft Klaus Manns. Seine ersten Gedichte fanden Eingang in die »Anthologie jüngster Lyrik«. 1928 ging er mit Süskind als Lektor zur Deutschen Verlagsanstalt nach Stuttgart. In dieser Funktion wurde er neben Hermann Kesten zum Entdecker von Joseph Breitbach. Er nahm »Rot gegen Rot« zum Druck an, Breitbachs erfahrungsgesättigten Erzählband aus der Welt der Angestellten – die Veröffentlichung kostete den 25jährigen Autor seinen Job als Leiter der Buchabteilung im Augsburger Kaufhaus »Landauer«. Dann wechselt Eggebrecht in die Berliner Dependance der DVA.
1930 gibt Raschke mit Adolf Artur Kuhnert seit einem Jahr »Die Kolonne« heraus. Auch Eich ist beim Faschingsfest anwesend, einer der engagiertesten Autoren der Zeitschrift, die anfänglich noch den Untertitel »Zeitung der jungen Gruppe Dresden« trug. »Damals war Günter 23«, erinnert sich Eggebrecht ein Jahr nach Eichs Tod in einem Zeitungsartikel, »blond, schmal und ganz brav gekämmt. Er schien mir ein auf Spaß hin angelegter Großstadtmensch zu sein (…). Über das albernste Zeug lachten wir, ohne es für baren Unsinn zu nehmen. Die Sprache ging vom Gelächter aus. Sie war der eigentliche Urgrund, die anderen lachen zu machen, und zielte auf ein höchst bewußtes Tun ab, wie etwa einen Sprung zu machen vom Kammerton A auf den nicht weiter beweisbaren Ton I. Am Ende waren wir ohne Aufhebens befreundet.« Sie blieben es ein Leben lang. Bei Eggebrechts »Talent zur Freundschaft«, wie es der Schriftsteller und Übersetzer Herbert Schlüter einmal nannte, verwundert das nicht weiter. Aus jener Zeit datieren zahlreiche Verbindungen, die die Zeitläufte überdauern. Zu Hermann Kesten etwa. Oder Peter Suhrkamp. Als der Verleger 1944 wegen Hoch- und Landesverrates von der Gestapo verhaftet wird, wünscht er sich Eggebrecht als Nachfolger. Doch der lehnt ab.
Obwohl Eggebrecht mit Raschke und Eich verkehrt, dem inner circle der »Kolonne«, lernt er zwei andere prominente und ebenfalls in Berlin ansässige Autoren erst fünf Jahre nach dem Ende der Zeitschrift kennen: das Schriftsteller-Ehepaar Oda Schaefer und Horst Lange – Eich war bei ihrer Hochzeit 1933 Trauzeuge. Eggebrecht schrieb nach Langes Tod 1971: »Ich lernte ihn vor 34 Jahren, 1937, in Berlin kennen, und er tanzte vor Günter Eich und mir (…) einen schwungvollen Krakowiak auf dem Bürgersteig der Augsburger Straße.« Im gleichen Jahr erschien Langes monumentaler Roman »Schwarze Weide«. Da waren die Nazis seit vier Jahren an der Macht. Und Eggebrecht, externer Lektor des arisierten Ullstein-Verlags, war bis auf einige Rezensionen für die »Deutsche Zukunft« so gut wie verstummt. Zum »erst möglichen Termin«, schrieb er Oda Schaefer Jahrzehnte später, war er aus der Deutschen Verlagsanstalt »hinausgeflogen, nämlich am I.IV.1933, weil ich nicht der Partei angehörte und auch keine Aussicht zu bestehen schien, daß ich ihr jemals angehören würde« (6. August 1970). Er trat auch nicht der Reichsschrifttumskammer bei, anders als Horst Lange, Oda Schaefer und Günter Eich, die ihre Existenz sichern wollten und publizistisch präsent blieben, aber der Ideologie der Machthaber unverdächtig waren. Eich verfaßte mit Raschke u. a. die Funk-Reihe »Deutscher Kalender. Monatsbilder vom Königswusterhäuser Landboten«. Eine Wiederholung dieses Verhaltensmusters findet sich womöglich in dem letzten der abgedruckten Briefe Eichs an Eggebrecht: »Aus finanziellen Gründen habe ich mich wieder mit dem Rundfunk eingelassen – entsetzlich.« Eich verdiente in den Vorkriegsjahren gut, trat selbstsicher auf und besaß in Poberow an der Ostsee ein Sommerhäuschen, das auch die Eggebrechts mit ihrem 1935 geborenen Sohn Arne gerne nutzten. Deren Einkünfte waren bescheiden, 1938 zogen sie von Berlin nach Eichwalde, Kreis Teltow, zu einer Tante namens Helene von Möllendorf – das Anwesen geht 1945 an die Russen verloren, und mit ihm alle Briefe von Günter Eich und Peter Suhrkamp aus den Jahren der Diktatur.
[...]SINN UND FORM 3/2011, S. 322-329
- 5/2013 | »Das Schweigen gehört dazu«. Ein Gespräch über das Gespräch mit Sten Nadolny
Wellm, Alfred
- 3/1980 | Morisco
Welsch, Wolfgang
- 5/1993 | Für eine Kultur des blinden Flecks. Ethische Konsequenzen der Ästhetik
Weltmann, Lutz
Wenclowa, Antanas
- 3/1955 | Gruß an Thomas Mann
Wenders, Wim
- 6/2009 | Was Menschen mit ihren Bewegungen sagen. Die Kunst der Pina Bausch, S. 854 Leseprobe
Wenders, Wim
Was Menschen mit ihren Bewegungen sagen. Die Kunst der Pina Bausch
Festrede zum Frankfurter Goethepreis 2008
In unserer Gesellschaft ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir haben es immer häufiger mit falscher Münze zu tun. Wenn etwas besonders glänzt, ist es häufig auch besonders unecht, künstlich, »fake«. »Fool’s gold« heißt der schöne englische Ausdruck für das falsche Gold, auf das man hereinfällt.
Das tritt nirgendwo so deutlich zutage wie in unserer Unterhaltungsindustrie, wenn dort »Gefühle« beschrieben, evoziert, ja, letzten Endes »produziert« werden. Die theatralischen Gesten eines Opernsängers, die einstudierte Mimik in Videoclips oder die puren Nachahmungen von Emotionen in jedem zweiten Fernsehspiel (von Soap Operas wollen wir gar nicht erst reden) spricht jedem Begriff von Echtheit Hohn und lassen einen oft an der Möglichkeit zweifeln, in irgendeiner »Darstellung« heute überhaupt noch irgend etwas Überzeugendes und annähernd Glaubhaftes anzutreffen.
Neulich habe ich einen Orangensaft getrunken, und schon beim Runterschlucken des Tranks wurde mir übel. Als ich auf die Unterseite der Plastikflasche schaute, stand da: »Artificial substitute for imitation orange juice«. Muß man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen! Wie weit kann man sich noch von echtem Saft entfernen?
Mit den Gefühlen ist es nicht anders. »Artificial substitutes for imitations of emotions …« Es geht mir, uns allen, immer häufiger so, nicht nur im Fernsehen, im Zirkus, im Kino, auf was für Bühnen auch immer, auch in Museen, in Konzertsälen und selbst beim Bücherlesen, daß wir den Gefühlen und ihrer Präsentation nicht mehr trauen. Oder einfach nicht mehr mitfühlen können. Es will uns einfach nichts und niemand mehr »bewegen« … Im Prozeß des Produzierens ist etwas schiefgelaufen.
Sie alle, wir alle, kennen natürlich echte Emotionen. Sie, wir, haben sie selber erleben dürfen, oder erlitten. Aber haben Sie sich in letzter Zeit wirklich wiedererkannt in irgendeiner »Darstellung« ähnlicher Gefühle, so daß Sie dieser Interpretation ihr volles Vertrauen gegeben haben, sich ihr hingegeben, sich in sie haben hineinfallen lassen? Stimmen Sie mit mir überein, daß das selten geworden ist? Immer seltener wird …
Nicht, wenn Sie sich Pina anvertrauen. Ich habe vor einem Vierteljahrhundert zum ersten Mal ein Stück von Pina Bausch aufgeführt gesehen. Das war in Venedig. Ich gebe zu, ich wußte nicht viel vom Tanztheater. Ich war ein »Spätberufener«. Ich hatte ein paar Ballette gesehen und alle möglichen Tanzaufführungen in aller Welt, aber nichts hatte mich je vom Hocker gerissen, vom Stuhl gehauen, umgeworfen …
Und nur so kann ich beschreiben, was mich da im »Café Müller« ereilte. Nein, kein Wirbelsturm war da über die Bühne gefegt. Da waren … Menschen aufgetreten, die sich anders bewegten, als ich das kannte, und die mich anders bewegten, als mir das je geschehen war.
Schon nach ein paar Augenblicken hatte ich einen Kloß im Hals, und nach einigen Minuten ungläubigen Staunens habe ich einfach meinen Gefühlen freien Lauf gelassen und hemmungslos geheult. Das war mir vorher noch nie passiert … Im Leben schon, durchaus auch mal im Kino, aber nicht beim Anschauen einer einstudierten Inszenierung, geschweige denn einer Choreographie
Das war nicht Theater, nicht Pantomime, nicht Ballett und schon gar nicht Oper. Pina ist, wie Sie wissen, die Erfinderin (nicht nur hierzulande) einer neuen Kunst.
Es ist an der Zeit, über »Bewegung« zu sprechen. Eigentlich sollte ich mich als Fachmann ansehen. (Oder zumindest Sie mich …) »Motion Picture Director« ist schließlich mein Beruf, ich bin also einer, der sich mit »bewegten Bildern« auskennt. Dachte ich auch. Bis mich Pina eines anderen belehrt hat. Nein, »belehrt« ist nun wirklich der falsche Ausdruck. Nichts läge ihr ferner. Aber sie ist, ohne es unbedingt zu wollen, eine große Lehrerin für alle, die denken, sie wären auf die eine oder andere Weise bewandert in punkto »Bewegung«.
Die deutsche Sprache hat ja die wunderbare Eigenschaft, in einem Wort oft mehrere Zusammenhänge anzusprechen Es gibt kaum ein schöneres Beispiel dafür als den Begriff der »Bewegung«. Das ist sowohl eine Geste, ein Schritt vorwärts, die phänomenologische »Fort"-Bewegung, sich von einem Ort zum anderen aufmachen …
Und dann ist es auch das, was einem auf solch einer Reise zustoßen kann, nämlich daß einen »etwas bewegt«. Für diese innere seelische Bewegung macht das Englische den Sprung von »Motion« zu »Emotion«. Die deutsche Sprache bleibt bei ihrem einen Wort, und das kommt mir hier zustatten, denn nichts kann Pinas Arbeit besser beschreiben, als daß sie die beiden Bedeutungen meines Lieblingswortes zu einer zusammengeführt hat. Motion ist hier emotion.
Mich hat Bewegung als solche vorher nie berührt. Ich habe die immer als gegeben vorausgesetzt. Man bewegt sich eben. Alles bewegt sich. Erst durch Pinas Tanztheater habe ich auf Bewegungen, Gesten, Haltungen, Gebärden, Körpersprache achten gelernt. Und diese dadurch erst achten gelernt.
Und jedesmal aufs neue, wenn ich über die Jahre Pinas Stücke gesehen habe, viele zum wiederholten Male, habe ich, oft wie vom Donner gerührt, das Einfachste und Selbstverständlichste neu als das Bewegendste überhaupt zu sehen gelernt. Welcher Schatz unseren Körpern innewohnt, sich ohne Worte mitteilen zu können, und wieviel Geschichten erzählt werden können, ohne daß ein Satz gesagt wird.
Aufstehen, hinfallen, wanken, hinsinken, entgleiten, auffangen, loslassen, springen, emporschnellen, sich überschlagen, in sich zusammenfallen, abrollen, Schutz suchen, sich verhärten, sich anspannen, sich ineinanderkrallen, den Arm um jemanden legen, sich berühren und wieder auseinandergehen, sich hochheben lassen, sich tragen lassen, sich fallen lassen, den Kopf senken, weinen, lachen, jauchzen, kichern, jubeln, prusten, schluchzen, gleiten, stolpern, hüpfen, purzeln, stürzen … gehen, schreiten, laufen, rennen, anhalten, stehen bleiben … sich zum Narren machen, einen Schuh verlieren und mit dem anderen weiterhumpeln, stolzieren, geschmeidig flanieren, sich wiegen, sich anschmiegen, wippen, ungeduldig mit dem Fuß pochen, stehen gelassen werden, das Kinn hochheben, die Augen senken, kriechen, gedemütigt werden, angehimmelt werden …
Der verschmierte Lippenstift! Der verrutschte Rock! Der hochgekrempelte Ärmel! Das Hemd, das aus der Hose hängt. Die hängende Zunge, die fliegenden Haare, der ausgestreckte Zeigefinger, der gebogene Rücken, das erhobene Haupt …
Menschen bewegen sich, und indem diese Gesten, Sprünge, Schritte … von Pina ins Rampenlicht gesetzt, inszeniert, hervorgehoben und bewußt gemacht werden, oft spielerisch, aber immer leicht und nie »bedeutungsschwanger«, sieht man sie auf einmal so, als hätte man nie vorher auch nur im entferntesten begriffen, wie jede unserer inneren Bewegungen, unserer »emotions«, sich nach außen hin bekunden, fortsetzen, ent-äußern, zu motions werden. [...]SINN UND FORM 6/2009, S. 854-856
Wenfu, Lu
- 6/1990 | Die Umfassungsmauer
Wengerek, Bernhard
- 2/1980 | Das Bild des Deutschen in der polnischen Literatur nach 1945
Werfel
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Werner, Hans-Georg
- 1/1984 | Kunstöffentlichkeit in Bewegung. »Kunstensemble und Öffentlichkeit. Aneignung - Selbstverständigung - Auseinandersetzung.« Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1982.
- 4/1985 | Der Dichter als Anwalt der Dichtung
- 3/1988 | Poetische Welt - Fremd und Nah
Werner, Jürgen
- 1/1984 | Nichts gegen Homer - Wortmeldungen zu Erich Köhlers gleichnamigem Aufsatz
- 2/2002 | Frakturverbot. »Auf Anordnung des Führers soll nur noch Antiqua verwendet werden«
- 5/2002 | Friedrich II. - der Große?
Werner, Klaus
- 4/1973 | Zu Ulrich Plenzdorfs »Neuen Leiden des jungen W.«
- 2/1975 | Stephan Hermlin und die Literarische Tradition
- 6/1975 | Gattungsgeschichte und Zukunftslinien des Essays
- 6/1976 | Von Luther bis Liebknecht
- 2/1980 | Toleranz und Entschiedenheit
- 2/1985 | Der Friede und die Literatur
Werner, Nadine
- 6/2018 | Benjamins »Bratapfel«. Einblicke in die Arbeit an der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«
Werner, Walter
Werzlau, Joachim
- 4/1973 | Es geht um die Erde ein rotes Band
- 4/1984 | Gespräch mit Gerald Felber, Siegfried Matthus und Reiner Bredemeyer
West, Paul
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Manns Verlegenheit
Wesuls, Elisabeth
Weyembergh, Maurice
- 4/1993 | Camus und Nietzsche
Weyers, Bianca
- 6/2006 | Autobiographisches 'Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn
Weymann, Frank
Weyrauch, Wolfgang
Wicht, Wolfgang
- 1/1985 | Die Ermordnung des Hausengelchens
- 5/1986 | William Goldings parabolische Welten
- 6/1990 | Die Autorisation der Inoffiziellen Zeichen
- 1/1994 | Der uneigennützige Agent - Paul Léon und James Joyce
- 2/1994 | Einmal Hamlet und das Manifest, und zurück. Anmerkungen zu Alan Posener
- 6/1994 | Kurzsichtige Politiker, weitsichtiger Dichter: England und der Machtantritt Hitlers
- 4/1996 | Shakespeares Globe Theatre in historischer Rekonstruktion?
Widera, Thomas
- 2/1978 | Gedichte
Wiedemann, Barbara
- 6/2022 | »Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider«. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch, S. 756 Leseprobe
Wiedemann, Barbara
»Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider«. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch
»2011 wurde bekannt«, so ist noch im Sommer 2022 im Wikipedia-Eintrag zu Ingeborg Bachmann zu lesen, »daß sich im Max-Frisch-Archiv in Zürich rund 250 zumeist handschriftliche Briefe Bachmanns an Frisch befinden, ebenso Kopien seiner Briefe an sie. Frisch hatte das Material für 20 Jahre nach seinem Tod gesperrt; nun we rden die Bachmann-Erben mit den Frisch-Erben darüber zu beraten haben, ob bzw. wann und wie diese Korrespondenz veröffentlicht werden soll.« So steht das, wohlgemerkt, nicht im Wikipedia-Eintrag zu Frisch, sondern in dem zu Bachmann, und zwar nach der Zusammenfassung dessen, was man über das Paar und dessen gemeinsame Zeit zu wissen meint. Ähnliche Informationen, die geeignet sind, Neugierde, Voyeurismus und damit das Kaufbedürfnis der geschätzten Leser anzuregen, gab es seinerzeit auch zum Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (2008).
Im »Spiegel«-Artikel »Schätze der Selbstkontrolle« vom 27. Juni 2011, den der Wikipedia-Eintrag zitiert, ist die Bemerkung zum Brieffund eingebettet in kritische Bemerkungen zur Angewohnheit Frischs, selbst »von sehr privaten Briefen « Durchschläge oder Fotokopien aufzubewahren. In diesem Fall sei das allerdings »ein großes Glück«, es handle sich nämlich »um Zeugnisse einer großen gegenseitigen Leidenschaft«. Außerdem wird Appetit gemacht auf weitere »literarische Schätze« im zunächst nur für den Stiftungsrat der Max Frisch-Stiftung geöffneten Nachlaß, und den Lesern Geduld empfohlen, auch »wenn die Bachmann- Erben wohl keine prinzipiellen Einwände gegen eine Veröffentlichung des Briefwechsels haben« – wohl keine Einwände! Zu Wort kommen die Erben von Ingeborg Bachmann im »Spiegel« nämlich nicht. Erst jetzt, im November 2022, kann der Briefwechsel nach langen Verhandlungen unter dem Titel »›Wir haben es nicht gut gemacht.‹ Der Briefwechsel« erscheinen, mit zwei Herausgebern aus dem Kreis der Salzburger Bachmann Edition und zwei von der Max Frisch- Stiftung berufenen. Auch die zu erwartende Frage nach den Originalbriefen von Frisch im Bachmann-Nachlaß wird im »Spiegel« nicht gestellt und damit keine Erklärung dafür gegeben, warum Frischs Durchschläge (Fotokopien gibt es keine) in diesem Fall wirklich ein so »großes Glück« darstellen.
Solange die Briefe nur von Auserwählten eingesehen und zitiert werden durften, blieb das Sprechen über die fast fünfjährige Beziehung geprägt von Gerüchten und Hypothesen. Ein Kommentator zitiert den anderen, eine Biographin übertrifft die andere, wenn sie ergänzend die Phantasie bemüht, um die Wissenslücken zu füllen. Anschaulich läßt sich das für den Beginn der Beziehung zeigen. Frischs erster Brief ist nicht überliefert, bekannt sind er und das daraus unmittelbar Folgende aus der knappen erinnernden Zusammenfassung in Frischs 1974 / 75 entstandener Erzählung »Montauk«: »Ich hatte zu tun beim Sender in Hamburg und ließ mir das Hörspiel vorführen, dann schrieb ich einen Brief an die junge Dichterin, die ich persönlich nicht kannte: wie gut es sei, wie wichtig, daß die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt. Sie hörte Lob genug und großes Lob, das wußte ich, trotzdem drängte es mich zu dem Brief. Ich wollte sagen: Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau. Ihre briefliche Antwort verblüffte mich: sie fahre nach Paris und komme über Zürich, doch habe sie nur vier oder fünf Tage Zeit. Was war damit gemeint? Sie kam dann nicht. Ich hatte weder ihre Adresse in München noch in Paris; ich hatte über den Verlag geschrieben. Als ich später in Paris war, erfuhr sie es aus der Zeitung und fand heraus, wo ich wohnte, HOTEL DU LOUVRE.«
Obwohl hier über die näheren Umstände wenig gesagt ist, ›wissen‹ alle, die über die erste Begegnung schreiben, ganz genau, wie und wann sie ablief, und lesen dabei die Stelle in »Montauk« erstaunlich wenig genau. Man datiert den ersten Brief auf Juni 1958, wenige Tage nach der Erstsendung des Hörspiels »Der gute Gott von Manhattan«. Man weiß, Bachmann habe aus der Zeitung erfahren, in welchem Hotel Frisch wohnt. Der große Erfolg ihres Hörspiels habe im Sommer 1958 zur ersten Begegnung in Paris geführt. Und man spricht von einer Premiere am Abend des Treffens. In »Montauk« aber steht nichts von einem Brief Frischs im Juni (das ist auch nicht richtig), nichts davon, daß Bachmann sein Pariser Hotel in der Zeitung erwähnt fand (das konnte sie nicht), und da steht auch nichts davon, daß es sich bei der Aufführung von »Biedermann und die Brandstifter«, einem Gastspiel des Schauspielhauses Zürich, um eine Premiere handelte (es war keine). Das »große Lob« schließlich ist in »Montauk« ganz allgemein formuliert, es gilt der Autorin, nicht dem Hörspiel, das zunächst keineswegs euphorischen Zuspruch fand.
Aus Presse wie Sekundärliteratur ergeben sich die beiden grundlegenden Probleme im Zusammenhang mit dem Briefwechsel: einerseits die Frage nach der Textgrundlage für die Edition, andererseits die nach dem zu erwartenden Ertrag für unsere Kenntnis der beiden Autoren und ihrer Werke.
Die im »Spiegel« für das Max Frisch-Archiv an der Bibliothek der ETH Zürich genannten Zahlen entsprechen zumindest in der Tendenz dem abschließenden Befund: In Max Frischs Nachlaß wurden zu diesem Briefwechsel 216 Korrespondenzstücke aufgefunden. Allein 165 Originalbriefe, -karten oder -telegramme von Bachmann (die Briefe jedoch nicht »zumeist«, sondern nur zu etwas mehr als einem Drittel handschriftlich), dazu die Teilabschrift eines ihrer Briefe durch Frisch, eine in der Wohnung für sie hinterlegte Originalnotiz von ihm, 51 Durchschläge oder Abschriften eigener Briefe durch ihn sowie einige Entwürfe und nicht abgesandte Briefe.
Der im »Spiegel«-Artikel nicht erwähnte, Frisch betreffende Bestand im Bachmann- Nachlaß liegt im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Dort befinden sich nur 43 teils mehrteilige Korrespondenzstücke: acht Originalbriefe und ein Originaltelegramm von Frisch, acht Blätter mit Teilabschriften durch ihn von elf eigenen Briefen (nur einer davon ist vollständig bekannt), außerdem 22 Durchschläge bzw. handschriftliche Durch- oder Abschriften eigener Briefe durch ihn, zwei keinem der Originalbriefe zuzuordnende, von Frisch beschriftete Kuverts und ein Brief von Frischs Töchtern an beide. In anderen Nachlaßteilen konnten zudem der Maschinendurchschlag eines ihrer Briefe aus den 1970er Jahren, dem im Versand Gedichttyposkripte beigefügt waren, und fünf Briefentwürfe von Bachmann aufgefunden werden.
Wir haben also ein Verhältnis von 165 zu 9 Originalen in den beiden Nachlässen. Zählt man die Durchschläge bzw. Abschriften und Teilabschriften in beiden Beständen mit, sind Bachmann 167 – von einem abgesehen – vollständig bekannte Briefe zuzuordnen, gegenüber 80 zumindest teilweise bekannten von Frisch an sie, also weniger als die Hälfte.
Aus dem Text der überlieferten Briefe ist zu schließen, daß im Nachlaß von Max Frisch mindestens zehn Korrespondenzstücke von Bachmann fehlen, darunter sieben Telegramme und eine Karte, aber nur zwei Briefe. Ein weiterer ist durch die erwähnte Teilabschrift bekannt. Die fehlenden Briefe wurden von Frisch auf Bachmanns Wunsch an sie zurückgegeben, im Wiener Nachlaß fehlen sie heute. Telegramme stellen keine Autographe dar, sie enthalten Kurzinformationen, die unter anderen Umständen auch telefonisch hätten übermittelt werden können: Der relativ große Verlustanteil, der bei Telegrammen – nicht nur in diesem Briefwechsel – zu beobachten ist, wundert also nicht. Der Befund zeigt aber: Frisch hat Bachmanns Briefe ohne Zweifel mit großer Sorgfalt behandelt.
Von einem sorgfältigen Umgang mit Frischs Briefen durch Bachmann kann dagegen keine Rede sein. Von mindestens 52 mit Sicherheit von Frisch versandten Korrespondenzstücken fehlt im Bachmann-Nachlaß jede materielle Grundlage, darunter auch hier drei Karten und 14 Telegramme. Die 35 in keiner Form überlieferten Briefe von Frisch betreffen den Korrespondenzbeginn im Juli und August 1958 und danach zumindest teilweise Phasen, in denen er mit der Hand schreiben mußte, weil ihm keine Schreibmaschine zur Verfügung stand, im Krankenhaus, auf Reisen. Nur bei wichtigen Briefen machte er dann Abschriften oder legte unter das Blatt ein Kohlepapier. Ein erheblich größerer Fehlbestand an seinen Briefen ist anzunehmen. Addiert man nämlich die als fehlend bekannten Briefe, Karten und Telegramme zum physisch zumindest teilweise überlieferten Bestand abgesandter Briefe, so ergibt sich ein Verhältnis von 177 Poststücken Bachmanns gegenüber 132 von Frisch. Das sind auf der Frisch-Seite zwar nun erheblich mehr, der Briefwechsel ist aber selbst nach dieser Rechnung noch recht unausgewogen.
Auch in anderen Korrespondenzen Bachmanns sind Asymmetrien zu beobachten, auffallende Lücken gibt es meist aber nicht bei den Briefen ihrer Korrespondenzpartner. Die weitgehende Vollständigkeit, mit der die Briefe von Hans Werner Henze (2004), Paul Celan (2008) sowie Ilse Aichinger und Günter Eich (2021) in ihrem Nachlaß überliefert sind, sollte aufhorchen lassen. Ebenso die Tatsache, daß im Briefwechsel Bachmanns mit Hans Magnus Enzensberger (2018) entscheidende, mit Sicherheit abgesandte Briefe fehlen.
Grund für den Befund im Fall Frisch ist ein Eingreifen von Bachmann selbst: Alle Spuren ihrer Jahre mit Frisch sollten ausgelöscht werden. Sie werde »nichts aufbewahren«, schreibt sie im März 1964 an Frisch und fordert in diesem Zusammenhang auch ihre an ihn gesandten Briefe zurück. Das lehnt er ab, weil diese ihm gehörten, so wie seine Briefe ihr. In einem Briefentwurf von frühestens 1963 wird Bachmann noch deutlicher: »Ich hätte nie gedacht, daß ich Jahre auslöschen möchte, weil mir alle schlimmen und guten Jahre kostbar sind, und diese möchte ich auslöschen«.
Die frühen Sicherungskopien und die Teilabschriften Frischs im Bachmann- Nachlaß, die ja nicht dort, sondern im Frisch-Nachlaß zu erwarten wären, gelangten spätestens in ihren Besitz, als sie sich Anfang 1963 allein in Uetikon aufhielt. Die Aneignung eines älteren Tagebuchs von Frisch ohne literarischen Anspruch im März 1963 aus einem verschlossenen Schrank in der dortigen Wohnung zeigt, wozu sich Bachmann berechtigt sah. Nach November 1960, als das Paar in Rom eine zusätzliche Wohnung angemietet hatte, entstandene Durchschläge waren nicht in Uetikon gelagert, sondern in Rom – sie befinden sich heute im Max Frisch-Archiv.
Zur Textgrundlage der Edition ist zweierlei abschließend zu bemerken: Publiziert sind zum einen ohne Ausnahme alle im Wiener Bachmann- und im Zürcher Frisch-Nachlaß aufgefundenen Korrespondenzstücke mit ihren brieflichen Beilagen, gleichgültig ob Originale, Sicherungskopien oder Fragmente aus den Sammeldokumenten mit Teilabschriften, dazu Briefentwürfe und nicht abgesandte Briefe von beiden Seiten. In den 299 Dokumente umfassenden Textbestand sind zum anderen fünf Schriftstücke aufgenommen, die, obwohl keine Korrespondenzstücke im eigentlichen Sinn, beide Partner betreffen, zum Beispiel Frischs Testament von 1960 zugunsten Bachmanns, ein spätes Dokument zur gemeinsamen Wohnung in Uetikon sowie Materialien zu »Mein Name sei Gantenbein « aus Bachmanns Nachlaß; außerdem 34 Briefe von Bachmann und /oder Frisch an Dritte oder von diesen – insgesamt zehn verschiedene Personen oder Ehepaare. Diese Briefe zeigen einerseits die anfängliche Vertrautheit mit der Familie des jeweils anderen und machen andererseits deutlich, daß in Krisen, vor allem gegen Ende der Liebesbeziehung und danach, die Korrespondenz teilweise auf dem Umweg über Freunde, Verwandte und Bekannte geführt wurde.
Die Frage nach dem zu erwartenden Ertrag und der Notwendigkeit einer solchen Edition ist uneingeschränkt positiv zu beantworten: Eine Veröffentlichung des Briefwechsels ist sinnvoll, trotz des Fehlenden, und sie ist längst überfällig. Seit der Öffnung des Zürcher Nachlaßteils, der Frischs gesperrte Korrespondenzen betrifft, wurde in Kommentaren vor allem aus Bachmanns Briefen zitiert. Öffentlich gemacht wurde daraus, was man bereits zu wissen und das, wodurch man Vermutungen zur Beziehung zwischen Bachmann und Frisch bestätigen zu können meinte. Kaum aber, was die eingeschränkte Überlieferung von Frischs Briefen hätte erklären oder Bachmanns spätere subjektive Sicht auf ihre Liebesbeziehung zu Frisch mit seiner eigenen, ebenso subjektiven Sicht und mit Fakten aus der Zeit selbst hätte konfrontieren können.
Ein solches Vorgehen zementiert die von Bachmann zumindest intendierte Beseitigung aller Spuren Frischs aus ihrem Leben und damit ihre ›Deutungshoheit‹ über die gemeinsame Zeit. Eine neutrale Bewertung der kursierenden Gerüchte und Mythen, die sich um die am 3. Juli 1958 in Paris begonnene und am 12. März 1963 in Uetikon beendete Beziehung im engeren Sinn und den von Mai 1958 bis April 1973 geführten Briefwechsel ranken, wird dadurch unmöglich. Das gilt auch für die Rolle des Romans »Mein Name sei Gantenbein« darin.
Neben der vollständigen Wiedergabe aller greifbaren Briefe ist daher ein sorgfältiger Kommentar notwendig, in dem auch für schwierige Datierungsfragen plausibel zu begründende Lösungen gesucht und etwaige Zweifel diskutiert werden. Denn es gibt sowohl Briefe mit fehlendem oder eindeutig falschem, in Einzelfällen wohl aktiv gefälschtem Datum als auch solche, die erst erheblich späteren Briefen beigelegt waren. Notwendig ist zudem ein Kommentar, der diese Briefe mit biographischen Erkenntnissen aus anderen Briefwechseln der beiden konfrontiert und der die beiderseitige literarische Verarbeitung der Ereignisse den Briefen nüchtern zuordnet, und zwar ohne aus der Fiktionalisierung »Belege« als Ersatz für nicht vorhandene biographische Dokumente zu gewinnen. Der Mangel an Informationen ist im Zweifel zu betonen, nicht durch Vermutungen zu kompensieren.
Ingeborg Bachmann und Max Frisch waren – zumindest in bestimmten Kreisen – öffentliche Personen. Ihre Beziehung fand sogar Eingang in große allgemeinbildende Lexika wie das Große Duden Lexikon und wurde dort zur Ehe gemacht. In einem Fazit formuliert Frisch Anfang Juni 1963 zu Recht: »wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider, ohne unser Zutun«. Ein solcher Briefwechsel bleibt zwar trotz der Bekanntheit der Schreibenden ein privates, ja, intimes Gespräch zwischen Liebenden und Streitenden. So privat die Korrespondenz aber ist: Das Briefgeheimnis gilt für sie auch im juristischen Sinn nicht mehr. Weil die Briefe vor allem für Frisch wichtig genug waren, um sie sorgfältig aufzubewahren – er zählt die Begegnung mit Ingeborg Bachmann in einem Interview mit Philippe Pilliod 1986 unter die »drei oder vier oder fünf entscheidende[n] Erfahrungen« in seinem Leben –, sind die Grundlagen für die heutige Edition erhalten geblieben. Und sie sind mehr als eine neu erschlossene biographische Quelle für ein neugieriges Publikum. Die anderen Briefwechsel helfen beim Verständnis, und sie relativieren sich gegenseitig: Der deutlich kleinere zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann etwa hätte sich nicht als das Dokument einer Jahrhundertliebe stilisieren lassen, wenn der Bachmanns mit Frisch bereits hätte danebengelegt werden können. Im Briefwechsel zwischen Bachmann und Enzensberger, die während ihrer Jahre mit Frisch ein Liebesverhältnis begannen, können und müssen Fehlbestände und deren Gründe jetzt deutlicher wahrgenommen werden. (…)
SINN UND FORM 6/2022, S. 756-767, hier S. 756-761
Wiegler, Paul
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Wiens, Paul
Wierzbicka, Anna
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Wilberg, Petra-Hildegard
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Willett, John
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Williams, William Carlos
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Williams, Lili
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Williams, N. D.
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Wills, Garry
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Winhranowsky
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Winkels, Hubert
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Winkels, Hubert
Der Ziegen-Zyklus
Ich hatte es vergessen, es war verschwunden in den Falten des Gedächtnisses. Und wie so oft, wenn Abgelehntes, Abgelegtes sich zurück ins Bewußtsein drängt, hat man ein spontanes Gefühl für den ursprünglichen Grund der Verdrängung oder den nachträglichen, wie in diesem Fall. Bei einer Reise durch Jordanien konnte ich wie einst Moses vom Berg Nebo aus nicht nur das Heilige Land sehen, sondern auch Jerusalem, die Heilige Stadt, und weiter nördlich bis Jericho, den Ort selbst nicht richtig. Die biblische, heute palästinensische Stadt auf der Westbank liegt tief im Jordantal und ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, wie es heißt. Und die älteste, wie es ebenfalls heißt. Hier hatte ich mich in einen zweibeinigen Ziegenbock verwandelt, vor etlichen Jahren, als junger Student, bei einem halbjährigen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz; in einen großen, zweibeinigen, stinkenden Ziegenbock, und das gefiel mir, ich fürchte, ich gefiel mir so. Jedenfalls lief ich versehentlich, noch im Gespräch mit einem zähen Verkäufer von alten (biblischen!?) Münzen beim benachbarten Marktstand, in ein ausgehängtes weißes Ziegenfell. Ich roch es, bevor ich es sah. Es war eine Art bodenlanger Mantel aus schwach gegerbtem Leder, auf der einen Seite halbwegs glatt gearbeitet, aber wie von einem leicht rötlichen Aussatz überzogen, auf der anderen Seite noch voller drahtiger Haare, die am Kragen und an den Ärmeln besonders dicht und lang waren. Ich steckte schon mitten in der Tierhaut, als ich es verstand, und fühlte mich geradezu hineingerissen in eine exquisite Naturgeschichte: Tier, Lust, hoher Mittag, Pan, brüllende Sonne, Frauen mit schwarzen Ray-Ban-Sonnenbrillen und Schlangen um den Hals, verschwimmende Konturen, Glast, Erlösung von der Gedankenschwere, Ziege werden.
Ich sah mich mit einem menschenhohen Stecken, gekrümmt, mit starker Gabelung am oberen Ende, durch wüstenhaftes Geröll schreiten und in einem Beduinenzelt beim Tee sitzen. Das ganze Bild hineinkopiert in eine europäische Stadt meiner Wahl, Amsterdam, Köln, Düsseldorf, Frankfurt. Ein Prediger ohne Worte, die Beredtheit ganz nach außen gewendet, in Fell und Haar und Huf und Hunger und Kraft, und war mit einem riesigen Joint auf dem Weg vom Ratinger Hof zum Creamcheese in der Düsseldorfer Altstadt, zu den Kellerkneipen und Bars besetzter Fabriken (Kölner Stollwerck) und den Wiesen vor den Universitätsgebäuden. Ich kaufte das gute, von den dürren Wiesen Judäas genährte Fell sofort, das heißt, den lokalen Üblichkeiten folgend feilschte und tändelte ich herum, trank Tee mit dem nach Ziege riechenden Verkäufer und seiner seltsamen Sippschaft, die meine deutsche Herkunft zu einem »Hitler-gut«-Schulterklopfen bewegte, kaufte es von der Stange weg, zog es über … und flog bald schon mit diesem riechenden Riesenteil, das alleine einen ganzen Koffer ausfüllte, zurück nach Deutschland. Dort wußte ich nicht richtig weiter. Studium, Journalismus, Freundin … Ach ja, der Mantel! Man könnte sagen, man drückte mich einmal herzlich als hippie-eske Ziege, dann rümpfte man die Nase. Auch meine kleine Wohnung in einem Bilker Hinterhof, früher ein Pferdestall, mitten in Düsseldorf in der Konkordiastraße, roch nun nach Ziegenstall.
Ziegenwaschanlage
Eine andere Reise in den Nahen Osten kommt mir in den Sinn, ein Aufenthalt, Jahre später, in einem recht luxuriösen Hotel im Golf von Aqaba in Jordanien, am Toten Meer gelegen, genau gegenüber von Eilat in Israel. Ich verbrachte dort eine ärztlich empfohlene Auszeit, um eine Hautkrankheit zu lindern, eine schuppenbildende Psoriaris-Variante. Bekanntlich ist die Verbindung von starker Sonnenstrahlung an diesem tiefgelegenen Ort mit dem außerordentlichen Salzgehalt des Wassers sehr heilsam. Für die Haut und, wie sich zeigte, auch für das Fell. So durfte ich beobachten, wie das Bad im zubeißenden Wüsten-Salzsee der äußeren Leibesschicht der Ziege ebenso zuträglich ist wie der des Menschen.
Dreimal am Tag schritt ich mit wohlsituierten, meist westlichen, aber auch einigen arabischen Menschenkindern an einer fein terrassierten Kaskade von Swimmingpools von der Hotellobby vorbei hinunter zum berühmten Toten Wasser; als ob die blaugrün glitzernde Treppe aus gepflegten Schwimmbädern die Begegnung mit dem archaischsten aller Gewässer erst erträglich machte, mit einem Wasser, das reißt und beizt, die Haut in jede Schmerzrichtung reizt (höchste Warnung: nicht mit den Augen in Berührung bringen).
Nachdem wir nach vorsichtigster Annäherung an das flüssige Element, in das wir uns, als enthielte es Nitroglyzerin, zeitlupenlangsam rücklings hineinschweben ließen, eine komfortable Liegeposition gefunden hatten, konnten wir, da wir den Kopf mit einer ungewöhnlichen Anstrengung über der Wasseroberfläche halten mußten, sanft kreiselnd und umeinander treibend täglich beobachten, wie eine Herde Ziegen, zwischen zwanzig und dreißig Tiere stark, gleich neben unserem drahtgesicherten Ressort, auf einem von Disteln, Moos und Steinen grüngesprenkelten Wüstenareal ins Wasser gezwungen wurde; um sie, ja was? zunächst zu reinigen und dann zu heilen und zu imprägnieren?
Nach Auskunft unserer mit Handtüchern am Meeressaum wartenden Badewärter tötet das Wasser Parasiten im Tierfell, wirkt antibakteriell, reinigt kleine Wunden und schützt so eine Weile vor Qualen aller Art. Das weiß eine in den Tag hineinlebende Wüstenziege natürlich nicht und erwartet offensichtlich das Allerschlimmste. Sie will partout nicht hinein ins Nasse, aber sie muß! So daß es rund zwei Stunden dauert, bis die kleine Gruppe von Hirten jede einzelne der großen Ziegen erst ziehend, dann reißend und stoßend, meist ihre Vorderbeine zur Seite tretend, sie an Kopf und Hörnern packend und zugleich von hinten drückend hinein in die ätzende Brühe bugsiert hat. Unter lautestem Geschrei der Hirten zudem, das wie ein vorzeitlicher Kanon klang und selbst die härteste Ziege zum Zittern hätte bringen müssen, wenn sie denn ein menschliches Gehör gehabt hätte. Die panischen Tiere schafften es jedoch, noch lauter zu schreien und zu blöken und mit ihrem Hochfrequenzmeckern, Jaulen und Röhren wie durstige Rinder die Luft erzittern zu lassen. Mit ihrem Bocken, Strampeln, plötzlichem Aufspringen und wieder Zurückdrängen brachten sie die ganze Landschaft zum Vibrieren, was noch gesteigert wurde durch schrille, nahezu menschliche Klagelaute bei den allfälligen Schlägen mit der Gerte auf die Kruppe – sie bekamen regelrecht und lustvoll von ihren Herren eins übergebrannt –, was uns als stumme Zeugen schmerzte und innerlich schwer bewegte. Dies um so mehr, als wir uns keinen einzigen Zentimeter unbedacht bewegen durften. Wir und die Hirten – sozialpsychologisch getrennt durch Tausende Jahre, Aktion und Leiden, lustvolle Arbeit und passiven Schmerz. Doch die Ohren können sich bekanntlich nicht selbsttätig verschließen, alles Gehörte geht ungefiltert ins Gemüt ein, fast jeden Tag ging das so mit den gehörnten Nachbarn und ihren Hütern, zwei heiße Stunden lang, zwanzig, dreißig Ziegen hintereinander, von denen jede, war sie erst mal im seichten Wasser zum Stehen gekommen, wie zur Salzsäule erstarrte, ohne eigenen Willen, sich bis hin zum gelegentlichen Wegsacken ihrem Schicksal ergab, so daß ihr Hirte, dessen Stimme sie gewiß als Teil ihrer selbst vernahm und die nun eher murmelnd oder betend klang, sie nun ein übers andere mal vorsichtig mit Wasser übergoß und mit Bedacht abrieb. Ein schönes Paar! Und schon tobte das nächste hybride Pärchen von der steinigen Uferzone hinein ins erneut belebte tote Meer.
Indessen trieben hinter zwei Reihen eng ins Seil geflochtener Bojen wir konsternierten Kurgäste bewegungslos und stumm um das infernalische Getöse herum. Das ganz andere zweifellos. Aus der Tiefe von Zeit und Raum. Ohne die Ziegenwaschanlage neben unserem Sanatorium, so dämmerte es mir in den Wochen danach, hätte mir die quietistische Sonnen- und Salzkur nicht wirklich geholfen.
Der Ort war geologisch und therapeutisch und, ja, auch politisch, also im wesentlichen profan bedeutsam. Und doch hallte ein rätselhafter biblischer Satz aus dem Buch Daniel durch die ganze Szene. Eine unfaßbare Ziege wird dort in einer Vision aufgerufen: »Der zottige Ziegenbock aber ist der König von Griechenland; und das große Horn zwischen seinen beiden Augen, das ist der erste König.« So rätselhaft klingt Vers 21 im 8. Kapitel. Der »zottige Ziegenbock« meint prophetisch (in Unkenntnis der genauen Entstehungszeit hat man es als Vorhersage verstanden) den mazedonischen Welteroberer Alexander den Großen und sein riesiges Reich. Vers 22 setzt dann fort: »Und daß es zerbrach und vier an seiner Statt aufkamen: vier Königreiche werden aus dieser Nation aufstehen, aber nicht mit seiner Macht.«
Die genannten »vier Königreiche« zielen, mit einer unwahrscheinlichen Präzision, auf Alexanders vier Nachfolger, darunter die Seleukiden, deren Herrschaftsbereich auch Judäa umfaßte, Feinde eines freien Israels.
Nun hat wiederum der jüdische Historiker Flavius Josephus in seinen »Jüdischen Altertümern« (Ant. Jud. X, 337) berichtet, man muß wohl sagen, gemutmaßt (es ist auch allzu schön und rund), daß eines Tages der Große Alexander tatsächlich jene Stelle im Buch Daniel gelesen und sich selbst als Erfüllung der jüdischen Prophetie erkannte habe; göttlich vorhergesagt, in einem schwindelerregenden Loop von Geschichte und Geschichtsschreibung: er, Alexander, der Herrscher der Welt, der Zottige Ziegenbock, dessen aufgeschriebene Geschichte dem tatsächlichen Ereignis vorangeht.
SINN UND FORM 2/2024, S. 216-228, hier S. 216-219
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Wiseman, Boris
- 2/2009 | Die westliche Kontamination. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss, S. 180 Leseprobe
Wiseman, Boris
Die westliche Kontamination. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss
BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine bewußte Wahl?
LÉVI-STRAUSS: Ich wünschte das nicht, weil ich ehrlich gesagt wenig Geschmack an gesellschaftlichen Kontakten finde. Mein erster Impuls ist immer, die Leute zu fliehen und nach Hause zu gehen.
WISEMAN: Man hat Ihnen mitunter eine sehr kritische Sicht auf die Kultur, der Sie angehören, zugeschrieben. Weisen Sie diese Kultur zurück?
LÉVI-STRAUSS: Der Kultur selbst bin ich zutiefst verbunden. Ich empfinde mich als Produkt dieser Kultur. Es ist vielmehr die Gesellschaft, die mich abstößt.
WISEMAN: Was stößt Sie insbesondere ab?
LÉVI-STRAUSS: Tausenderlei Sachen. Aber mir scheint, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen: Als ich zur Welt kam, gab es eine Milliarde Menschen auf Erden, und als nach dem Staatsexamen mein aktives Leben begann, waren es eineinhalb Milliarden; es sind nun sechs Milliarden und morgen werden es acht oder neun sein. Diese Welt ist nicht mehr die meine.
WISEMAN: Wie stellt sich Ihnen das Alltagsleben im Paris des 21. Jahrhunderts dar?
LÉVI-STRAUSS: Es ist so leicht für einen Greis, zu sagen, es sei alles besser gewesen, als er jung war, daß man sich verbieten müßte, auf solche Fragen zu antworten. Aber sei’s drum, wenn Sie möchten, daß ich mich gehenlasse, würde ich sagen, abgesehen vom unbestreitbaren Fortschritt der Medizin, der für jeden von uns von Vorteil ist, bot das Leben für jemanden meines gesellschaftlichen und intellektuellen Milieus in jeder Hinsicht mehr Annehmlichkeiten.
WISEMAN: Würden Sie sich als wesentlich nostalgisch beschreiben?
LÉVI-STRAUSS: Nicht nur nostalgisch im Hinblick auf meine Jugend, sondern auf viele Epochen, die ich nicht gekannt habe.
WISEMAN: Welche zum Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Das hängt von dem Buch ab, das man liest, dem Gemälde, das man betrachtet, der Musik, der man lauscht, oder der Stimmung des Augenblicks. Meistens fühle ich mich als Mensch des 19.Jahrhunderts. Die Epoche zu wechseln ist ein frivoles Spiel: was man auf der einen Liste zu gewinnen glaubt, verliert man auf der anderen.
WISEMAN: Wie nehmen Sie die aktuelle Situation der Anthropologie wahr?
LÉVI-STRAUSS: Es gibt noch jede Menge zu tun, weil es in der Welt noch viele Dinge gibt, die wenig oder schlecht erforscht sind. Aber zuletzt wird es sich nur noch darum handeln, Krümel aufzuklauben.
WISEMAN: Denken Sie, daß die Anthropologie unausweichlich dem Untergang geweiht ist?
LÉVI-STRAUSS: Eher einer Transformation. Die Aufgabe der Anthropologie hing ganz von einer historischen Konstellation ab: dem Augenblick, in dem der abendländischen Kultur bewußt wurde, daß sie die ganze Welt beherrschen würde. Man mußte sich also beeilen, um alle menschlichen Erfahrungen einzusammeln, die ihr nichts schuldeten und deren Kenntnis unentbehrlich ist, wenn man sich von einer Menschheit einen Begriff machen wollte, die nicht auf eine persönliche Betrachtung reduziert werden kann oder gar auf die abendländische Zivilisation selbst. Ich denke, die Anthropologie hat ihre Pflicht, sagen wir mal in den letzten beiden Jahrhunderten, gut erfüllt, aber wir haben den Zeitpunkt erreicht, an dem keine der menschlichen Erfahrungen, die wir noch kennenlernen werden, von der westlichen Kontamination frei sein wird, so daß uns diese Erfahrungen nicht mehr über das unterrichten können, was zu suchen wir ehedem ausgezogen waren.
WISEMAN: Obwohl man das Objekt der Anthropologie in gewissem Sinne als etwas erachten kann, das im Verschwinden begriffen ist, das zerbröselt, entstehen auch neue Objekte. Sie sagen selbst irgendwo, daß, wenn die Unterschiede der Kulturen aufgrund dieser westlichen Kontamination dahinschwinden, andere Unterschiede entstehen können, gleichsam unsichtbare, im Inneren der Kultur, welcher man angehört, Unterschiede, die zum Objekt anthropologischer Studien werden können.
LÉVI-STRAUSS: Das waren freundliche Worte der UNESCO zuliebe, aber man darf sich keinen Illusionen hingeben. Es gab nun einmal Schätze des Glaubens und der Sitten, der Gebräuche und Institutionen, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden waren und sich entwickelt hatten wie seltene tierische und pflanzliche Arten. Es wird neue Unterschiede geben, aber anderer Art.
WISEMAN: Welche Vorstellung machen Sie sich von der Transformation der Anthropologie?
LÉVI-STRAUSS: Es wird sich eine Disziplin herausbilden, dem Studium der neuen Unterschiede gewidmet, die hier und da entstehen werden, aber das ist nicht mehr mein Problem. Ansonsten wird sich die Anthropologie in eine Philologie verwandeln, eine Geschichte der Ideen, so wie die antike Welt, Griechenland, Rom, das vedische Indien verschwunden sind, aber uns seit Jahrhunderten beschäftigen, und das wird noch Jahrhunderte anhalten. Der Umfang an bestehendem anthropologischem Material, das noch nie gesichtet oder publiziert wurde, ist immens.
WISEMAN: Es ist eine Besonderheit der französischen Anthropologie, tief in der Philosophie zu wurzeln. Zahlreiche französische Ethnologen haben eine philosophische Ausbildung. Meinen Sie, daß diese Beziehung zur Philosophie für die Anthropologie ebenso nachteilig wie vorteilhaft sein kann?
LÉVI-STRAUSS: Ich bin überzeugt, daß es ein Vorteil ist.
WISEMAN: Einverstanden, aber meine Frage war: Ist es auch ein Nachteil?
LÉVI-STRAUSS: Es könnte insofern ein Nachteil sein, als es zu voreiligem Theoretisieren einlädt, doch das gilt nicht für alle … Aber sagen wir mal, es rüstete die französischen Ethnologen mit einer allgemeinen philosophischen Bildung aus, die umfassender war als die vieler unserer ausländischen Kollegen.
WISEMAN: Gibt es anthropologische Probleme, die Sie ohne diese philosophische Bildung, ohne den Beitrag der Philosophie, nicht hätten lösen können?
LÉVI-STRAUSS: Schwer zu sagen. Der Beitrag der Philosophie war eine allgemeine Bildung, aber vor allem eine gewisse Gymnastik des Geistes, eine bestimmte Art, die Reflexion zu lenken.
WISEMAN: Welcher philosophischen Tradition fühlen Sie sich in dieser Hinsicht zugehörig?
LÉVI-STRAUSS: Man hat oft gesagt, ich sei Kantianer, was wahrscheinlich wahr ist.
WISEMAN: Die strukturale Anthropologie ermöglicht es unter anderem, die Phänomene zu erhellen, die den Ethnologen interessieren. Welche Typen von Phänomenen entziehen sich der strukturalen Erhellung? Was kann der Strukturalismus am schwersten erkennen?
LÉVI-STRAUSS: Das sind keine Typen von Phänomenen, eher Ebenen, die man einnimmt, um irgendwelche Phänomene zu beobachten.
WISEMAN: Wären Sie einverstanden mit der Feststellung, daß die vom Strukturalismus bevorzugten Ebenen der Beobachtung diejenigen sind, die dem Unbewußten am nächsten sind?
LÉVI-STRAUSS: Ja, aber vor allem gibt es Phänomene, für die wir hoffen, bereits die passende Ebene der Beobachtung gefunden zu haben, und andere, für die sie sich uns entzieht. Vielleicht werden wir sie niemals finden.
WISEMAN: Haben Sie dafür ein Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Ich würde sagen, die Ebenen, auf denen es unerläßlich ist, dem Individuum einen Platz einzuräumen.
WISEMAN: In dem Maß, in dem der Geist mit einer kleinen Anzahl rekurrenter Strukturen funktioniert, bilden diese Erzeugnisse eine geschlossene kombinatorische Einheit. In »Traurige Tropen« beschwören Sie die Möglichkeit eines periodischen Systems bestehender oder möglicher sozialer Strukturen. Was erwidern Sie den Kritikern, die sagen, daß eine derartige Auffassung des Geistes den Menschen eines seiner fundamentalen Werte beraubt: der Freiheit?
LÉVI-STRAUSS: Das ist eine Sprache, die mir so dunkel ist wie eine Fremdsprache. Ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich sagte Ihnen soeben, daß, wenn man das Individuum in Rechnung stellen will, es viele Annäherungen gibt, die legitim wären, aber nicht der Strukturalismus, denn dieser bedingt, daß wir imstande sind, vom Individuum zu abstrahieren. Wenn Sie ein Mikroskop mit verschiedenen Vergrößerungen haben und eine schwache Vergrößerung wählen, werden Sie in einem Wassertropfen kleine Tierchen sehen, die sich ernähren, kopulieren, sich lieben, sich hassen und für die die Freiheit existiert. Wenn Sie sich einer etwas stärkeren Vergrößerung bedienen, werden Sie nicht mehr die Tiere sehen, sondern die Moleküle, aus denen ihre Körper zusammengesetzt sind. Das Thema der Freiheit verliert dann seinen Sinn. Es ist nur auf einer anderen Ebene der Realität anwendbar.
WISEMAN: Ich glaube, meine Frage war: bis zu welchem Punkt determinieren die strukturalen Ebenen unsere Erfahrungen, unsere Wahrnehmungen, so wie wir sie auf der Ebene erleben, auf der wir als Individuen funktionieren, in der Welt handelnd und lebend.
LÉVI-STRAUSS: Es gibt so viele Determinismen, die auf allen Ebenen wirken, auf den Ebenen, die zur Molekularbiologie gehören oder zur Tierphysiologie, und was sonst noch alles, so daß die Art und Weise, in der all diese Faktoren ineinandergreifen, ungeheuer komplex ist und diese Art Frage jeglichen Sinn verliert.
WISEMAN: Glauben Sie an die Möglichkeit vollkommen freier Handlungen, die sich den von Ihnen beschriebenen Determinismen entziehen?
LÉVI-STRAUSS: Ich weiß nicht, was das heißen soll.
WISEMAN: Sie wissen nicht, was das heißen soll, eine freie Handlung?
LÉVI-STRAUSS: Nein, ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich fühle mich frei, wenn ich nichts in mir verspüre, was sich in mir gegen das, was ich tun will, sträubt.
WISEMAN: Es gibt eine etwas heikle Frage, die ich gern mit Ihnen erörtern würde. Montaigne sagte, Philosophieren heißt Sterben lernen. Hat Philosophieren für Sie auch diese Bedeutung?
LÉVI-STRAUSS: Das ist die Betrachtung eines Greises. Montaigne ist nicht alt gestorben, aber er erachtete sich als Greis, weil man damals häufig jung starb. Jedenfalls hört der Tod am Ende des Lebens auf, eine Abstraktion zu sein, was er die meiste Zeit unseres Daseins ist, und wird dann zu etwas sehr Konkretem. Also ja, gewiß. Man kann sich den Fragen, die sich die Menschen stellen, seit es sie auf Erden gibt, nicht nicht stellen. Und die Philosophie lehrt uns zu versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die uns annehmbar erscheint.
WISEMAN: Denken Sie oft an den Tod?
LÉVI-STRAUSS: Oft.
WISEMAN: Mit Zufriedenheit?
LÉVI-STRAUSS: Ich rufe den Tod nicht herbei, aber ich sehe nicht recht, was noch mein Platz auf dieser Erde ist.
WISEMAN: Warum das?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich mein Werk vollendet habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich dem, was ich geschrieben habe, nichts mehr hinzufügen. Was ich hinzufügen könnte, wäre von minderer Qualität und also entbehrlich.
WISEMAN: Ist die Tatsache, dieses Werk geschrieben zu haben, für Sie mit großer Befriedigung verbunden?
LÉVI-STRAUSS: Sie ist mit der Befriedigung verbunden, mich nicht gelangweilt zu haben.
WISEMAN: Sie schreiben nicht mehr?
LÉVI-STRAUSS: Das ist nicht so einfach. Es kommt vor, daß ich noch an kleinen Sachen arbeite. Aber es ist keine Frage von Schreiben oder Nichtschreiben, es ist die Frage, ob das Denken noch fruchtbar ist oder aufhört, es zu sein.
WISEMAN: Sie haben wiederholt über die Riten geschrieben, die die Völker erfanden, um die Beziehung zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten zu symbolisieren. Was halten Sie als Anthropologe von der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft ihre Beziehungen zur Welt der Toten darstellt?
LÉVI-STRAUSS: Ich erinnere mich, daß mir in dem kleinen Dorf, in dem ich meine Ferien verbringe und das keinen ständigen Pfarrer hat, derjenige, dersechs oder sieben Gemeinden betreut, eines Tages sagte, daß den Franzosen als einzige Religion der Totenkult verblieben ist.
WISEMAN: Die Religion als religiöse Praxis ist verschwunden?
LÉVI-STRAUSS: Wenigstens ist es im bürgerlichen Leben die Form, in der die Religion ihre Realität bezeugt.
WISEMAN: Ich glaube, hier können wir aufhören.
LÉVI-STRAUSS: Das ist ganz in meinem Sinn. Allmählich finde ich keine Worte mehr, um Ihnen zu antworten.Aus dem Französischen von Anita Albus
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- 6/2011 | Das Ausland des Alters, S. 243 Leseprobe
Wodin, Natascha
Das Ausland des Alters
Zuerst hatte sie geglaubt, die Schwäche, mit der sie eines Morgens aufgewacht war, sei eine der ganz gewöhnlichen kleinen Unpäßlichkeiten, die kamen und genauso schnell wieder gingen, spätestens nach der nächsten Nacht mit erholsamem Schlaf. Doch am nächsten Tag, Lea hatte acht Stunden lang tief und entspannt geschlafen, war die unerklärliche Schwäche immer noch da. Am Tag darauf und eine Woche später immer noch. Alles fiel Lea auf einmal schwerer als bisher, das Aufstehen von ihrem Bett, das Ankleiden, sogar das Zähneputzen. Fast alles, was bisher völlig unmerklich vor sich gegangen war, forderte jetzt zwar keine große, aber doch eine deutlich fühlbare Kraftanstrengung. Ging sie hinunter auf die Straße, um etwas zu erledigen, fühlte sie sich schon zwei Häuser weiter so erschöpft, daß sie am liebsten umgekehrt wäre. Der Weg bis zu dem kleinen Supermarkt in der Nachbarstraße war weiter geworden, die Tasche mit den Einkäufen schwerer, die Treppe bis zu ihrer Wohnung höher. Es schien ihr, als müsse sie bei jeder Bewegung irgendeinen unsichtbaren Widerstand überwinden, eine Kraft, die sich ihr ständig von außen entgegenstellte. Ähnlich hatte Lea sich nur vor langer Zeit einmal in den Tropen nahe dem Äquator gefühlt, in jener schweren, zähen Luft, durch die man wie durch Wasser watete. Was war los mit ihr? Was ging vor sich im unheimlichen Dunkel ihres Körpers? War es nun soweit, war dies der Anfang der früher oder später unabwendbaren Krankheit zum Tode?
Leas Ärztin ordnete die üblichen Untersuchungen an, aber die Befunde waren alle negativ. Lea litt schon seit Jahren an der Alterskrankheit Nummer eins, an essentieller Hypertonie, die mit erhöhtem Cholesterinspiegel einherging, beide Leiden wurden mehr oder weniger erfolgreich mit dem üblichen Medikamentencocktail in Schach gehalten, was Lea ein paar unangenehme, aber nicht schwerwiegende Nebenwirkungen einbrachte. Die Schwäche kam ganz offensichtlich aus einer anderen Quelle, aber diese war nicht auszumachen. Die Ärztin schickte Lea wieder nach Hause, vielleicht handelte es sich um einen harmlosen Infekt, um eine vorübergehende Erschöpfung, die von selbst wieder vergehen würde. Aber nichts verging, vier Wochen später war die Schwäche immer noch da. Die Ärztin überwies Lea zum Herzspezialisten, zum Internisten, es wurden neue Blut- und Urinproben genommen, Darmspiegelung, Sonographien, Computertomographien. Lea erwartete das Schlimmste, aber wieder gaben die Befunde keinerlei Hinweis auf eine Erkrankung. Mal ging es Lea besser, ein paar Tage lang fühlte sie sich wieder fast wie früher, schon glaubte sie sich wieder ins Leben entlassen, aber dann holte die unerklärliche Schwäche sie um so unerbittlicher wieder ein, und nach und nach begann ihr zu dämmern, daß es sich hier nicht um eine Krankheit handelte, und wenn, dann um eine ganz allgemeine, dem Leben immanente Krankheit, von der die gesamte Menschheit befallen wurde, die Krankheit zum Tode namens Alter.
Lea erlebte gerade ihren dreiundsechzigsten Sommer und war nach heutigen Maßstäben noch nicht wirklich alt zu nennen, von den prominenten Methusalems, die zum Inventar jeder Talkshow über die neue Langlebigkeit gehörten, war sie noch weit entfernt, aber trotz immer mehr Fitness, Wellness und High-Tech-Medizin lebten auch heute noch viele Menschen nicht länger als ihre Eltern. Vor kurzem hatte ein ehemaliger Mitschüler Lea nach Jahrzehnten ausfindig gemacht, er lebte immer noch in der ländlichen Kleinstadt von damals und wußte, daß sich von den einst vierundvierzig Sieben- bis Achtjährigen, die auf einem historischen Klassenfoto zu sehen waren, kleine Nachkriegsjungen und -mädchen mit Strickstrümpfen und hungrigen Gesichtern, inzwischen bereits sechs oder sieben unter der Erde befanden. Das waren erschreckende dreizehn bis sechzehn Prozent.
Auch in Leas Freundeskreis waren bereits Tote zu beklagen. Als erster war Dinesh gegangen, ein sanfter, samthäutiger Inder, mit dem Lea einst in einer Wohngemeinschaft zusammengewohnt hatte, ein Nichttrinker, Nichtraucher, Vegetarier, der innerhalb weniger Monate an einer unheilbaren Autoimmunerkrankung gestorben war, noch nicht einmal sechzig Jahre alt. Dann war Elvira, ebenfalls eine Freundin aus der damaligen Zeit, an Blasenkrebs erkrankt, man wußte nicht, was sie schließlich zerstört hatte, der Krebs oder die höllischen Therapien.
Vor kurzem war Lea in einer Zeitschrift auf das Foto einer Kultautorin der achtundsechziger Jahre gestoßen. Lea hatte sie vor langer Zeit einmal auf einem Friedenstribunal kennengelernt. Toll, daß du auch schreibst, hatte sie zu Lea gesagt, während sie in der Mittagspause einander an einem Tisch gegenübersaßen und Spargel aßen. Lea war erglüht vor Glück, die Göttin der damaligen Literatur hatte sie fast in ihren Olymp geholt, und gleichzeitig hatte Lea sich gefühlt wie im Blick einer Boa constrictor, während die berühmte Autorin sie über den Tisch hinweg mit ihren kristallblauen Augen anblitzte und sich die aufgespießten Spargelstangen eine nach der anderen in die kolossale Öffnung ihres weit aufgerissenen Mundes schob. Nach dem Tribunal war sie auf ihrem Motorrad davongebraust, ein Feuervogel, eine Himmelsstürmerin in einer prall gefüllten schwarzen Lederkluft, mit einem wilden, rot flammenden Haarbusch. Etwa fünfundzwanzig Jahre später war sie tot, sie war nur achtundfünfzig Jahre alt geworden. Das Foto in der Zeitschrift zeigte eine Sterbende. Den Rest eines Menschen, eine gewichtlos gewordene, an einen Baumstamm gelehnte Gestalt, die Zuflucht, Rettung bei diesem Baum zu suchen, in ihn hineinkriechen zu wollen schien, ein transparent gewordener Körper, der bereits ins Formlose überging.
Das Leben ist so kurz … das Leben vergeht so schnell … wie formelhaft und nichtssagend hatten diese Klagen alter Menschen einst in Leas jungen Ohren geklungen. Nun verstand sie zum ersten Mal, was gemeint war. Sie war noch gar nicht dazu gekommen, sich zu orientieren, zu begreifen, wo sie überhaupt war, sie fühlte sich noch am Anfang, in den Startlöchern des Lebens, und schon hatte das Ende ihr einen ersten großen Gongschlag gesandt. Alles, ihr ganzes Leben war unwirklich, aber nichts so unwirklich wie das Alter, vor dem sie jetzt stand. Es kam ihr vor wie ein Spuk, ein böser Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen mußte. Bei Simone de Beauvoir las sie: »Ich bin vierzig Jahre alt. Als ich mich von diesem Staunen erholt hatte, war ich fünfzig. Die Betroffenheit, die mich damals befiel, hat sich nicht mehr gegeben.« Und: »Eine nach der anderen werden die Bindungen brüchig werden, die mich auf der Erde zurückhalten, eine nach der anderen werden sie zerreißen … Die ganze Musik, die ganze Malerei, die ganze Kultur, so viele Bindungen: plötzlich bleibt nichts mehr.«
Der aus dem Dunkel der Vergangenheit aufgetauchte Mitschüler, den Lea nach über einem halben Jahrhundert tatsächlich noch auf dem Klassenfoto erkannt hatte, hatte ihr auch ein aktuelles Foto von sich geschickt. Im Vergleich mit dem kleinen schmächtigen Jungen mit dem Mädchengesicht und der Haarklemme in den ungehorsamen Locken wirkte der Dreiundsechzigjährige monströs. Er war nicht dick, aber in seiner Gestalt, so schien es, hätten zehn Jungen von damals Platz gehabt. Wieviel Körper, wieviel Fleisch der Mensch doch anhäufte im Lauf seines Lebens! Im Vergleich mit dem einst so zarten Kindergesicht wirkte das jetzige erschreckend grobschlächtig, anmutlos, es war schlechthin ein anderes, ein völlig anderes Gesicht als das des einstigen Jungen. Und trotz seiner gewaltigen Expansion war das Fleisch dieses Körpers, man sah es deutlich, schon wieder ein vergehendes, abnehmendes, eine verschrumpelnde, von beginnender Austrocknung gezeichnete Frucht. Dürres, ergrautes Haar, ein vom Leben zerfurchtes, durchpflügtes Gesicht, das Lea die Wahrheit über ihr eigenes Alter spiegelte.
So also begann es, dachte sie. Es kam nicht nach und nach, wie man sich das vorstellte, sondern ganz plötzlich, mit einem Ruck, nachts, während man schlief. In einem einzigen Augenblick bildete sich im abgenutzten Körper ein Riß, ein Leck, durch das die Kraft auszulaufen begann. Und wenn man aufwachte, war man alt geworden, ohne zu begreifen, was einem geschehen war. Sie mußte an ihren alternden Vater denken, der vor langer Zeit gestorben war. Die Zeit schien immer mehrere Jahre in seinem Körper stillgestanden zu haben, er sah jedes Mal gleich aus, wenn Lea ihn besuchte, einen Sommer lang, einen zweiten und auch einen dritten, aber dann machte sie einen Sprung, und plötzlich, wenn Lea ihn nach ein paar Wochen wieder sah, war er um Jahre gealtert. Nun hatte die Zeit auch in ihr so einen Sprung gemacht, nicht den ersten natürlich, das ganze Leben bestand aus solchen Sprüngen, aber dieser war ein qualitativ anderer, er hatte in eine andere Dimension geführt, wie sonst vielleicht nur in der Kindheit mit ihren jähen, einschneidenden Entwicklungssprüngen. Der Kreis der Zeit hatte sich zu schließen begonnen. Lea war angekommen in ihrem Namen, der auf das hebräische Le’ah zurückging und »die Ermüdete« hieß, sie war hineingealtert in ihren Namen, identisch geworden mit ihm.
Früher hatte sie alte Menschen oft beneidet. Sie hatten das geschafft, was ihr selbst unmöglich erschien. Sie hatten ihr Soll an Jahren erfüllt, die gesamte Lebensstrecke zurückgelegt, ohne unterwegs zu verunglücken. Es war ihnen auf wundersame Weise gelungen, über alle Klippen und Abgründe des Alltags zu kommen, das Leben zu überleben. Sie hatten die Lebensnorm erfüllt, ihre Pflicht getan und sich die Freiheit der Kür erworben. Sie waren entbunden von allen Zwängen, entlassen in einen Urlaub auf Lebenszeit, in einen Tod, der keine Tragödie mehr war, sondern das natürliche Gebot ihrer Zeit.
Jetzt verstand Lea nicht mehr, warum die Welt nicht voll war von alten Menschen, die schreiend vor Angst durch die Straßen liefen. Wie konnte man es aushalten in so unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Tod? Herrschte in den von alten Menschen bewohnten Gefilden, an deren Eingang Lea stand, so etwas wie Einverständnis mit dem Unabwendbaren, eine stille Ergebenheit, waberte dort ein gnädiger Nebel, der sich um das Grauen legte? Sorgte die alternde Physis dafür, daß auch die Kraft für die Angst allmählich ausging? Büßte das alternde Gehirn nach und nach die Phantasie ein, sich das eigene Ende auszumalen? Nicht erst jetzt begehrte Lea gegen ein Leben auf, das bereits im Augenblick seiner Zeugung den Tod gebar, gegen die unabwendbare Tatsache, daß mit jedem neuen Menschen auch ein neuer Tod in die Welt kam. Wenn hinter der Schöpfung eine Absicht stand, wenn es Gott gab, dann konnte er nur ein Sadist sein. Er hatte eine sterbliche Kreatur erschaffen und ihr gleichzeitig die Angst vor ihrer Vergänglichkeit eingepflanzt, ein Lebewesen, das als Sterbewesen geboren wurde, in jedem Augenblick gefangen in dem unauflösbaren Widerspruch zwischen Vergänglichkeit und Selbsterhaltungstrieb, in einem Leben, das von Anfang an eine Todesfalle war. Es gab Augenblicke, in denen Lea am liebsten selbst das Ende herbeigeführt hätte, um die Wartezeit abzukürzen, um die schreckliche Angst vor dem Ende zu beenden. Oder, so fragte sie sich im nächsten Augenblick, gab es gar keinen Ausweg, war nicht einmal der Tod der Tod des Todes? Wurden wir vielleicht im Augenblick unseres Endes sofort in ein neues Leben und damit in eine neue Todesfalle gestoßen, und das immer wieder, ohne Ende, das Leben als Todesfalle in Ewigkeit? Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß die Ewigkeit nicht etwas war, das erst nach unserem Tod einsetzte. Die Ewigkeit war jetzt, die Ewigkeit war immer, alles spielte sich in der Ewigkeit ab. Unsere Geburt, unser Leben, unser Tod fanden in der Ewigkeit statt. Wir putzten uns die Zähne in der Ewigkeit, wir telefonierten in der Ewigkeit, die Autos auf den Straßen fuhren durch die Ewigkeit. Es existierte nur die Ewigkeit, immer, in jedem Augenblick war Ewigkeit, und es gab keine Zeit außerhalb von ihr. Genauso wie die Erde ein Ort des Universums war und alles, was auf ihr geschah, im Universum geschah. Die Erde und das Universum waren keine getrennten Orte, sondern ein einziger, unser Wohnort war das Universum, und unsere Uhren tickten in der Ewigkeit.
Mehr und mehr wurde Lea von einer regelrechten Todesmanie, einer Art Thanataphobie ergriffen. Der Tod war nicht mehr ein Ereignis, das sie irgendwann in ferner, noch unsichtbarer Zeit erwartete, er stand unmittelbar bevor, in der nächsten Stunde, in den nächsten fünf Minuten. Die Panik war ihr unentwegt auf den Fersen, sie überfiel sie auf der Straße, im Supermarkt, sie riß sie nachts aus dem Schlaf, sie schlug mitten in sie hinein beim Aufbrühen ihres Frühstückstees oder irgendeiner anderen harmlosen Verrichtung. Wörter wie Leiche, Sarg, Friedhof waren wie Minen in ihrem Kopf geworden. Sie dachte an Epikur. »So ist also der Tod, das schrecklichste Übel«, sagte er, »für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.« Aber das ging an der Sache vorbei. Die meisten Menschen fürchteten sich ja nicht vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Milena Jesenská, die 1944 im KZ Ravensbrück umkam, brachte diese Furcht auf den Punkt: »Ach, könnte ich tot sein, ohne sterben zu müssen.« Es ging nicht um den Tod, sondern um den Übergang, die Nahtstelle zwischen Sein und Nichtsein. An dieser Nahtstelle waren wir sehr wohl noch, wir starben bei lebendigem Leib, wir wurden ermordet. Bei lebendigem Leib wurde uns alles entrissen, was wir waren, alles, was wir liebten, womit wir verwachsen waren, bei lebendigem Leib wurde uns unser gesamter Leib entrissen, während es doch bereits eine Katastrophe für einen Menschen war, eine Hand oder einen Fuß zu verlieren.
Lea begann sich bereits zu fragen, ob sie drauf und dran war, ein Fall für die Psychiatrie zu werden, eine Patientin mit einer Todespsychose, da trat eines jener beiläufigen, alltäglichen Ereignisse ein, die sich plötzlich als schicksalhaft für uns erweisen, unser ganzes Leben verändern. In diesem Fall war es nicht mehr als irgendein winziges elektrisches Teilchen, das kaputtging, vielleicht nur ein bißchen Staub an einer falschen Stelle. Jedenfalls gab Leas Drucker seinen Geist auf. Ausgerechnet jetzt, da sie ihre Arbeit dringender brauchte denn je, das Schreiben als rettenden Strohhalm, als Versteck, das es ihr immer gewesen war, im Grunde immer schon ein Versteck vor dem Tod.
Nachdem sie zwei Tage lang durch die Wüste der Elektronikmärkte geirrt war, mußte sie sich mit dem Gedanken abfinden, daß es offenbar tatsächlich auf dem gesamten Markt keinen einzigen Drucker mehr gab, der mit ihrem etwa sechs Jahre alten, aber noch völlig intakten Rechner kompatibel war. Sie fand sich in der Lage eines Menschen, der einen neuen Wasserhahn brauchte und gezwungen wurde, sich ein neues Bad anzuschaffen.
Lea rief bei der Tauschbörse ihres Kiezes an, in der sie Mitglied war, und tatsächlich hatte jemand einen noch fast neuwertigen Rechner mit allem Zubehör abzugeben. Es kam ein junger Mann, der ihr die neue Technik installierte, und bevor Lea es begriff, war sie ans Internet angeschlossen, das zwar auch damals schon weit verbreitet, aber noch nicht alltäglich war. Im Nu hatte der junge Mann ihr auch so etwas Rätselhaftes wie eine E-Mail-Adresse eingerichtet, obwohl sie gar nicht wußte, was man damit machte und was das gesamte Internet überhaupt war.
Die Existenz von Internetadressen war ihr unbekannt, tagelang klickte sie verwundert und seltsam fasziniert auf den rätselhaften Seiten herum, die auf ihren Monitor sprangen und sie endlos auf neue Seiten führten, in irgendeine unbegreifliche Wüste von Buchstaben, farbigen Bildern und Lichtzeichen. Ihr Rechner wurde zur Camera obscura, die sie in unbekannte Welten entführte, während das Modem leise zwitscherte und fiepte, als würde es Zeichen aus dem Weltraum senden. Der neue Rechner war mit zwei Lautsprecherboxen versehen, so daß sie nicht nur zum ersten Mal vor bewegten Bildern saß, die über ihren Monitor liefen, ihr bis vor kurzem noch völlig stummer Computer sprach plötzlich auch und machte Musik.
Als sie wieder einmal ziellos den zappelnden bunten Bildern folgte, ertönte plötzlich ein Song von Cat Stevens, Musik aus Leas jungen Jahren. Sie hielt inne und hörte zu. I’m bein’ followed by a moonshadow ... Der Song erinnerte sie an eine weit zurückliegende Nacht an einem abgelegenen griechischen Strand, an den es ein paar Rucksacktouristen verschlagen hatte, es wurde Retsina getrunken und Marihuana geraucht, über dem dunklen, leise plätschernden Meer ein Mond wie eine pralle, überreife Orange, und ein bärtiger junger Amerikaner mit Stirnband saß im Sand und spielte Moonshadow auf der Gitarre. Immer wenn Lea den Song wieder hörte, sah sie dieses Bild vor sich, und sie erinnerte sich an das Gefühl einer überwältigenden Freiheit, in die sie aus der tödlichen Enge der fünfziger und sechziger Jahre entkommen war, eine Freiheit, die noch ganz an eine Zukunft mit grenzenlosen Wundern und Verheißungen geknüpft war. Nachdem der Song abgelaufen war, begann er sofort wieder von vorn ... leapin’ and hoppin’ on a moonshadow, moonshadow ... der Bildschirm sendete irgendwelche Signale in Form blinkender roter Herzen aus, und plötzlich erschien zwischen diesen Herzen Text, der eben noch nicht dagewesen war. Das fettgedruckte Wort »Ghostdog«, ein Doppelpunkt und dahinter: Wer bist Du? Es dauerte eine Weile, bis Lea begriff, daß sie gemeint war. Jemand hatte sie angesprochen aus diesem anonymen elektronischen Universum, offenbar irgendein zweiter, lebendiger Mensch. Sie war so perplex, als hätte der ewig stumme Gott sie plötzlich angesprochen, als sei ihm zum ersten Mal ihre Existenz aufgefallen.
Gott war, wie sich herausstellte, ein neunundzwanzigjähriger Elektroingenieur aus Bochum. Lea war an einem Ort namens Chatroom gelandet, wie der Fremde ihr erklärte, hier trafen sich Leute, um sich miteinander zu unterhalten, sich kennenzulernen. Das ging so vor sich, daß man das, was man zu sagen hatte, in ein Textfeld hineintippte und anschließend auf die Entertaste drückte. Sobald der unsichtbare Gesprächspartner die Nachricht erhalten hatte, schrieb er eine Antwort in das Textfeld auf seinem Monitor und drückte ebenfalls auf die Absendetaste. Sofort erschien sein Text auf dem Monitor am anderen, ihm ebenfalls unbekannten Ende. Im Grunde war es wie Telefonieren, nur in schriftlicher Form. Nur daß man mit völlig fremden Menschen »telefonierte« und sich nicht gegenseitig anrief, sondern einander rein zufällig in den unendlichen Weiten des Cyberspace kreuzte.
Die Unterhaltung mit dem neunundzwanzigjährigen Elektroingenieur war der Anfang von Leas nie geahnter Chatkarriere, die sie unversehens aus ihrer Todeswelt herausriß, in ein Leben, das sie weniger erwartet hatte als eine Giraffe auf der Straße vor ihrem Haus. Ihr geheimes Zweitleben, das mehr und mehr zu ihrem ersten und hauptsächlichen Leben werden sollte. Lea zog um an einen Wohnort jenseits der physischen Welt, sie wurde Mitglied in einem riesigen virtuellen Tauschring menschlicher Phantasien, Erfindungen, Sehnsüchte und Begierden, der Chatroom war die größte weiße Leinwand der Welt, auf die man alles projizieren konnte, was man wollte, jenseits der beschränkten Wirklichkeit, jenseits der üblichen Spielregeln, Grenzen und Konventionen. Hier, im Schutz der Anonymität, kam man sofort zum Eigentlichen, zu den geheimen, in Dunkelzonen verbannten Wirklichkeiten der Menschen. Sofort war Lea dem neuen Medium verfallen, als hätte sie ihr ganzes Leben eigentlich nur darauf gewartet, endlich in einem Chatroom anzukommen, als würde ihr Leben eigentlich erst jetzt beginnen.
Der Elektroningenieur aus Bochum, der in Wirklichkeit vielleicht ein Bäcker aus Sindelfingen war, auch wenn Lea als Anfängerin noch weit entfernt von solchen Unterstellungen war, der junge Mann, der vielleicht ein alter war, hatte ein Geheimnis, mit dem er nicht herausrücken wollte. Das war der perfekte Köder für jemanden, der so süchtig nach Geheimnissen war wie Lea. Der Fremde hatte sie an der Angel, er erklärte ihr, wie sie am nächsten Tag zur vereinbarten Zeit an ihren Treffpunkt zurückkehren konnte, von ihm erfuhr sie, daß es so etwas wie eine Suchmaschine und Internetadressen gab, und nach einigen Fehlschlägen gelang es Lea tatsächlich, am nächsten Tag in den grenzenlosen Weiten des Cyberspace den Chatroom der blinkenden Herzen wiederzufinden, wo bereits der vielversprechende Name »Ghostdog« in der Anwesenheitsliste auf sie wartete, wie Romeo unter Julias Balkon. Das Geheimnis des Mannes, auf das sie so neugierig war, bestand darin, daß er sich seit jeher in unerfüllter Liebe zu gelähmten Frauen verzehrte, die im Rollstuhl saßen. Er hielt sich selbst für pervers und hatte angeblich noch nie jemandem von seiner ihm selbst unerklärlichen Neigung erzählt, alle Versuche, es mit einer ganz normalen Frau zu versuchen, waren fehlgeschlagen, so daß seine zweite Schmach darin bestand, daß er bis heute noch Jungfrau war. Seit Jahren reiste er von Behindertenmesse zu Behindertenmesse, aber je länger, desto weniger brachte er den Mut auf, sich einer seiner Angebeteten im Rollstuhl zu nähern, ihr schließlich gestehen zu müssen, daß er wegen ihrer gelähmten Beine verrückt nach ihr war.
Sie trafen sich noch ein drittes Mal im Chatroom, aber tags darauf, als Lea bereits angefangen hatte, sich den Kopf über die tragische Geschichte des Fremden zu zerbrechen, zu überlegen, wie er endlich die so ersehnte Bekanntschaft machen könnte, als bereits ihr unheilbares Mitgefühl für alle Einsamen und Außenseiter alarmiert war und sie schon fast zu wünschen begonnen hatte, selbst im Rollstuhl zu sitzen, um ein so mächtiges Verlangen auf sich zu ziehen, erschien er nicht mehr zu ihrer Verabredung. War ihm etwas dazwischengekommen? Hatten sie sich vielleicht erst für den nächsten Tag verabredet? Erst jetzt begriff Lea, daß sie zwar sein geheimstes Geheimnis kannte, aber weder seine Telefonnummer noch seine Adresse. Sie wußte nicht einmal, wie er hieß. Später dachte Lea noch oft an Ghostdog, ihren ersten Geisterhund, zurück. Er hatte sein Pseudonym dem gleichnamigen Film von Jim Jarmusch entliehen, aber damals ahnte Lea noch nicht, daß er ihr mit seinem Namen gleich bei ihrem Debüt in der virtuellen Welt alles über diese Welt gesagt hatte. Eine Welt der Geister, der namenlosen, körperlosen Wesen, die sich vorübergehend in Form von Worten materialisierten und in jedem Moment für immer in Luft auflösen konnten. Lea hatte falsch gelogen. Sie hatte sich um fünfunddreißig Jahre jünger gemacht, um sich dem Alter des jungen Mannes anzupassen, aber ihr gravierendster Mangel waren für ihn wahrscheinlich gar nicht ihre dreiundsechzig Jahre, sondern ihre zwei gesunden Beine. Mit der Naivität der Anfängerin wartete Lea in den nächsten Tagen noch mehrmals auf ihn, aber es blinkten weiterhin nur noch die roten Chatherzen auf ihrem Monitor, und Moonshadow wurde weiterhin in Endlosschleife abgespielt, und auch das nur deshalb, weil Lea nicht wußte, daß es eine Liste gab, auf der sie zwischen Dutzenden von Musikstücken wählen konnte, von den Beatles über Heino und Madonna bis zu Mozarts Türkischem Marsch.
Lea ging mit ihren Walkingstöcken in Richtung Thälmannpark. Sie befolgte einen Rat ihrer Ärztin. Es galt, ihre Kondition zu stärken, den Bluthochdruck zu bekämpfen, das Erschlaffen der Muskeln, die Versteifung der Gelenke. Außerdem litt Lea schon seit Jahren an mysteriösen Brennschmerzen im Gewebe, die wahrscheinlich einer der über vierhundert Rheumaarten zuzuordnen waren und in unregelmäßigen Abständen ein regelrechtes Höllenfeuer in ihrem Körper entfachten. Zudem hatte ihre Ärztin bei ihr schon vor längerer Zeit eine chronisch obstruktive Bronchitis im zarten Anfangsstadium diagnostiziert. Lea hatte mit achtzehn Jahren zu rauchen angefangen und erst mit achtundfünfzig aufgehört. Vierzig Jahre hatte sie geraucht, zwanzig davon Kette. Erst eine akute Bronchitis, bei der sie am Bettrand saß und nach Luft japste wie ein verendender Fisch, den eine Welle an Land gespült und nicht wieder mitgenommen hatte, heilte sie von ihrer Sucht. Sie hatte einmal nachgerechnet. In vierzig Jahren hatte sie sich, in Zigarettenlängen gemessen, von ihrer Berliner Wohnung bis an die Alte Oder bei Wriezen geraucht, eine Strecke von etwa achtundfünfzig Kilometern auf der Landstraße. Das war nicht ohne Folgen für ihre Lunge geblieben. Sie pfiff, sie knarrte, sie schnorchelte oder begann plötzlich zu singen, mit den hübschen, melodischen Tönen einer leise wimmernden chinesischen Ziehharmonika. Nicht jede obstruktive Bronchitis ging mit dieser seltsamen Sangeslust einher, aber Leas körperliche Symptome waren seit jeher von unerschöpflichem Erfindungsreichtum. Sie hatte nachgelesen und erfahren, daß diese Art von Bronchitis oft ins Lungenemphysem führte, manchmal in den Lungenkrebs, auf jeden Fall wurde die statistische Lebenserwartung um fünf bis sieben Jahre verkürzt.
Lea konnte sich ihre eingefleischte Abneigung gegen Sport nicht mehr leisten, die Vorschüsse der Jugend waren endgültig verbraucht, jetzt ging es an die Substanz, und das Nordic Walking hatte sich für sie als eine durchaus annehmbare sportliche Betätigung erwiesen. In gewisser Weise waren die Stöcke Gehhilfen, Krücken, die das Gewicht aus ihrem von den üblichen Allerweltsschmerzen geplagten Rücken auf die Arme verlagerten und ihrem Schritt wieder mehr Kraft verliehen. Es dauerte eine Weile, aber mit Hilfe der Stöcke gelang es ihr schließlich immer wieder, ihre neue Altersschwäche zu überwinden, und wenn sie erst einmal in die rhythmische Bewegung des Walkens gekommen war, vergaß sie oft sogar ihren Körper, er ging wieder von selbst, wie früher. Eins hatte Lea inzwischen verstanden: Alter bestand vor allem in einer zunehmenden Präsenz des Körpers. Ein Paradox. Je näher das Ende des Körpers kam, desto gegenwärtiger wurde er. Wenn dieser Prozeß sich konsequent bis zum Schluß fortsetzte, mußte die Physis im Augenblick des Todes am gegenwärtigsten sein.
Zwei- bis dreimal die Woche ging Lea mit den Stöcken in den Thälmannpark. Er war zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt, die Straßen bis dorthin waren gesäumt von Straßencafés und kleinen Geschäften. Als Lea ein paar Jahre nach dem Mauerfall in die Stadt gekommen war, hatte hier noch die Freiheit der Wildnis geherrscht. Sie war mit Max gekommen, die Stadt sollte sie anstecken mit ihrem Aufbruch, ihrem Neubeginn, mit ihren offenen Möglichkeiten, sie sollte retten, was nicht mehr zu retten war. Nichts mehr war zu retten gewesen. Nicht die Liebe und nicht die Stadt. Die Gegend, in der Lea wohnte, inzwischen seit sieben Jahren allein, hatte sich in dieser Zeit in eine Art multikulturelles Disneyland verwandelt. Obwohl sich in den Straßen Sprachen aus allen Teilen der Welt mischten, entstand der Eindruck, daß alle, die sich hier tummelten, eine Einheitssprache sprachen, eine neue Weltsprache der Jugend, der Liberalität, der grenzenlosen Toleranz und guten Laune. Was dem Ort vollkommen fehlte, war Vergangenheit. Im Gegensatz zu den gewachsenen westlichen Stadtteilen war hier alles neu. Die Menschen, die Häuser, die Kneipen, die Läden, sogar der Asphalt der Straßen, die ständig aufgerissen, geschlossen und wieder aufgerissen wurden. Nichts hielt sich hier lange, alles war kurzlebig, in ständigem Wechsel begriffen, immer in Bewegung, eine Welt der Flüchtigkeiten und Fluktuationen, der ständigen Untergänge und Neuanfänge. Alles wurde immer schicker, immer teurer, die heißbegehrten Wohnungen konnten sich zumeist nur noch Leute der oberen Einkommensschichten leisten. Es gab noch ein paar billige alte Kneipen, in denen man für fünf Euro essen konnte, in den neuen Gourmetrestaurants kostete ein Besuch das Zehnfache. »Eßt die Reichen« hatte einer der unsichtbaren Sprayer an die Fassade eines solchen Restaurants gesprüht. An die DDR erinnerte nur noch ein letztes unsaniertes Haus, das rußgeschwärzt und wie verwüstet von steinfressenden Heuschreckenschwärmen in Leas Nachbarstraße stand und, obwohl nach wie vor bewohnt, ein Denkmal sozialistischen Bankrotts geworden war, zum genußvollen Grausen der Touristengruppen, denen die historische Ruine auf Stadtrundfahrten vorgeführt wurde. Eine Gestalt kam Lea entgegen, die zum alltäglichen Straßenbild gehörte. Ein Wesen undefinierbaren Alters und vermutlich männlichen Geschlechts, halb Dandy, halb Stadtindianer, bei jedem Wetter in einen langen, wallenden Mantel gehüllt, in der Hand einen eleganten Spazierstock, die Füße in zierlichen Stiefeletten. Auf seinem Kopf schwebte ein Kunstwerk aus bunten Tüchern, ein ganzer Stoffladen, der Kopfschmuck einer ausgeflippten Diva oder eines geheimnisvollen Wüstenprinzen. Oft hörte man ihn etwas murmeln, kehlige, keltisch anmutende Laute ausstoßen, die nach Verwünschungen klangen und nicht unbedingt den Wunsch weckten, ihm im Mondschein zu begegnen. Man konnte beobachten, wie der Tücherberg auf seinem Kopf stetig zunahm, wie der Träger allmählich zu einem wandelnden Pilz mit wachsender Kappe und immer dünner werdendem Stiel mutierte. Je größer die Last auf seinem Kopf wurde, desto kleiner wurde er selbst, er schrumpfte proportional zur Vermehrung des Stoffs auf seinem Kopf, er fügte, so schien es, der Welt in Form dieses Stoffs immer genau so viel an Materie hinzu, wie er selbst an Substanz verlor, bis er schließlich ganz in seinen Kopfschmuck übergegangen sein würde, bis von ihm nichts mehr übrig sein würde als ein Haufen bunter, herrenloser Lumpen.
Vor der Tür des afrikanischen Shops, der nicht viel größer war als der Innenraum eines Schranks, vollgestopft mit Masken, Matten, geschnitzten Kleinmöbeln, hockten zwei junge Schwarze mit staubigen Rastalocken und rauchten selbstgedrehte Zigaretten, vor ihnen auf dem Trottoir eine kleine Trommel, die sie als Tisch für zwei Kaffeetassen und eine Tüte Zucker benutzten. So saßen sie immer hier, im Schatten eines Ahornbaums, rauchend, schweigend, schauend, wie in einem Dorf im Busch. Eine Lea in europäischen Breitengraden ganz und gar unbekannte Sanftmut ging von ihnen aus, ein scheinbar unerschütterliches, zutiefst körperliches Ruhen in sich selbst.
Am Eingang zum Park stand das Zeiss-Planetarium, eine riesige, in der Sonne gleißende Silberkugel, die in ihrer Geschlossenheit an eine indische Dagoba erinnerte oder an einen Atommeiler. In diesem Planetarium hatte Lea einst eine Erfahrung gemacht, die sie bis heute nicht losließ. Es war in ihrer Anfangszeit in der Stadt, als alles noch neu, verblüffend, unfaßbar gewesen war, als sie sich mit Max täglich durch die einstige Terra incognita der Stadt treiben ließ, durch den unbekannten deutschen Osten, den sie ihr Leben lang nur von Fahrten auf der Transitautobahn nach Westberlin gekannt hatte, auf einem dieser Streifzüge hatten sie in einer Winternacht, in der der Regen durch einen jähen Temperatursturz zu stalaktitenartigen Eiszapfen an den Bäumen gefroren war, im Zeiss-Planetarium Zuflucht gesucht und waren durch Zufall gerade rechtzeitig zu einer Veranstaltung gekommen. Das Programm des Abends, das »Sternenwelten« oder ähnlich hieß, stammte noch aus DDR-Produktion. Die Vorstellung begann mit dem Sonnenuntergang über dem stillen, vom westlichen Kommerz noch unangetasteten Alexanderplatz, nach und nach leuchteten in der gigantischen schwarzen Planetariumskuppel die ersten Sterne aus dem Sternfeldprojektor auf. Zu feierlichen Klängen von J. S. Bach wurde man auf eine Weltreise über den Sternenhimmel mitgenommen, vom kleinen Wagen über der Lausitz ging es durch riesige Sternenhaufen, galaktische Nebel und Feuerschweife stürzender Kometen bis zum Kreuz des Südens über dem nächtlichen Papua-Neuguinea. Auch das sowjetische Raumschiff fehlte nicht, das plötzlich irgendwo zwischen Andromeda und Pegasus wie eine absurde Wunderkerze durch die Ewigkeit schoß, begleitet von einem pathetischen Kommentar über den technischen Fortschritt und den sozialistischen Menschen als Eroberer des Alls. Als das Licht in der Kuppel wieder anging, stellte sich heraus, daß die Veranstaltung noch nicht zu Ende war. Ein unscheinbarer grauhaariger Mann trat vor das kleine, in wenigen Sitzreihen zusammengedrängte Publikum und begann eine Art Unterricht in Sternenkunde abzuhalten. Offenbar hatte es in der DDR das Vergnügen nicht umsonst gegeben, es mußte mit dem Lehrreichen und Bildenden verbunden werden. Das deutlich als ostdeutsch zu erkennende Publikum hörte brav und interessiert zu, Lea hatte keine Lust auf nachgetragene Theorie, sie wollte aufstehen und gehen, aber plötzlich war sie gelähmt von dem Gefühl, es nicht zu dürfen. Sie befand sich in der Zeit vor der Wende in der DDR, sie war in einer Parteischulung gefangen, die zu verlassen eine politische Provokation, ein staatsfeindlicher Akt gewesen wäre. Unter dem Bann dieser gespenstischen Vorstellung konnte sie sich nicht von ihrem Sitz lösen. Blut und Wasser schwitzend, wie das von der Schlange hypnotisierte Kaninchen harrte sie aus bis zum Schluß, obwohl sie mit ihrem Bleiben zur Komplizin eines totalitären Systems wurde.
Seit damals fragte sie sich oft, wer sie in einer Diktatur gewesen wäre, auf welcher Seite sie gestanden hätte. Immer hatte sie von sich geglaubt, daß sie Zivilcourage besaß, daß sie nicht korrumpierbar war von der Macht, aber das Erlebnis im Planetarium hatte ihr die Gewißheit genommen. Hätte sie, wenn es darauf angekommen wäre, mitnichten die Freiheit gewählt, sondern das Schicksal des Kaninchens? Und hatte sie einfach nur Glück gehabt, daß es nie in ihrem Leben darauf angekommen war, daß sie sich dieser Nagelprobe nie hatte unterziehen zu müssen?
Damals war die Gegend um das Planetarium eine Wüste aus Nacht und Eis gewesen, jetzt lagen auf der Liegewiese hinter dem kugelförmigen, nachts von einem neonblauen Licht erleuchteten Gebäude junge Leute auf der Liegewiese in der Sonne, andere spielten Frisbee, ein drolliger junger Hund jagte unermüdlich Stöckchen hinterher, die ihm ein junges Mädchen mit langen staksigen Beinen warf. Lea mußte ihre Stöcke in eine Hand nehmen und ein Papiertaschentuch aus ihrer Gürteltasche nesteln. Seit ein paar Jahren begannen draußen an der Luft sofort ihre Augen zu tränen, wie man es kannte von alten Leuten. Die Augenärztin hatte ihr erklärt, daß ein übermäßig tränendes Auge in Wirklichkeit ein austrocknendes Auge war. Der vermehrte Tränenfluß war ein Zeichen dafür, daß der fetthaltige Anteil der Tränenflüssigkeit abnahm, während der wäßrige zunahm. Lea nahm ihre Sonnenbrille ab und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht, peinlich berührt von dem Gedanken, Vorübergehende könnten glauben, daß sie weinte. Dabei hatten nicht nur ihre Augen zu lecken begonnen. Sobald sie etwas Warmes aß, fing ihre Nase an zu laufen, manchmal bemerkte sie es erst, wenn ihr das wäßrige Rinnsal schon in die Suppe tropfte. Auch der Schließmuskel ihrer Blase zeigte erste Erschlaffungserscheinungen. Nicht nur das Papiertaschentuch war Leas obligatorischer Begleiter geworden, sondern auch die Slipeinlage für leichte Blasenschwäche. Natürlich hatte Lea gewußt, daß alles das zum alternden Körper gehörte, aber aus irgendeinem Grund hatte das nie für sie selbst gegolten. Die ersten Symptome des Alters hatten sie genauso überrumpelt wie einst die ersten Symptome der Pubertät, das erste Blut, die kleine Verdickung in ihrer rechten Brust, die sie für eine tödliche Geschwulst gehalten hatte, bis sich auch in der linken Brust so ein kleiner Klumpen bildete und sie verstand, was es damit auf sich hatte. Offenbar, so dachte sie manchmal, gingen alle Menschen unvorbereitet und bestürzt, wie zum ersten Mal in der Weltgeschichte, durch die entscheidenden Portale ihrer Entwicklung.
Hinter der großen Spiel- und Liegewiese begann eine Plattenbausiedlung, die einst als vorbildliche sozialistische Wohnanlage konzipiert war. Früher hatten die Wohntürme ausgesehen wie aus schmutziger, zerfledderter Pappe, der Westen hatte sie in riesige, bunte Schokoladentafeln verwandelt, die in den Himmel ragten. Als Westdeutsche fühlte Lea sich an solchen Orten immer noch fremd, sie bargen immer noch das Geheimnis der anderen deutschen Wirklichkeit. Einst, so hatte Lea gehört, sollen Plattenbausiedlungen Hochburgen sozialen Lebens gewesen sein, jetzt herrschte hier eine gespenstische Stille und Menschenleere. Niemand ging auf den asphaltierten Wegen, die die Eingänge miteinander verbanden, auf den Balkonen sah man nur Blumenkästen und Sonnenschirme, aber keine Menschen, aus den geöffneten Fenstern drang kein einziger Laut, alles war ordentlich, sauber und schmuck, aber vollkommen leblos. Ein älterer Mann in einem Trainingsanzug, der seinen Kurzhaardackel an der Leine führte und Lea einen feindseligen Blick zuwarf, kam ihr vor wie ein Zerberus, der jetzt eine Totenstadt bewachte.
Lea holte ihren MP3-Player aus der Gürteltasche, hängte ihn um den Hals, steckte sich die Hörstöpsel in die Ohren und drückte den Startknopf. Immer wieder erstaunte sie das Rätsel eines technischen Geräts von der Größe eines Feuerzeugs, das die Akustik eines Konzertsaals erzeugte und eine Musiksammlung enthielt, für die man einst einen ganzen Schallplattenschrank gebraucht hatte. Die Schluchten zwischen den Wohntürmen füllten sich mit Musik. Mozarts Haffnerserenade. Alle Schwere fiel augenblicklich von Lea ab. Das, was in ihre Ohren eindrang, verwandelte das Gehen in Fliegen. Die Musik löste die Kausalitäten auf, sprengte den Körperkäfig und riß Lea mit in ihre Bewegung, in die Mozartsche Leichtigkeit. Sie schwang ihre Stöcke im Takt, ihre Füße in den Luftpolsterschuhen schienen kaum noch den Boden zu berühren. Sie tauchte ein in einen kleinen Wald aus Trauerweiden und Birkendickicht. Eine Brücke führte über einen Teich, auf dem Enten umherfuhren. Ein seltsam lauschiges Plätzchen inmitten der industriellen Typenbauten. In dem dunkelgrünen, trüb wirkenden Teich spiegelte sich glasklar der Himmel mit seinen weißen Federwolken, und von dort, aus diesem Wasserhimmel, kam jetzt Mozarts Musik. Lea blieb eine Weile stehen und gab sich dem bizarren Eindruck der auf den Kopf gestellten Welt hin, der Himmel unten, das Wasser mit den Enten darüber, und über allem die Musik.
Etwas weiter das Thälmanndenkmal, ein Koloß, der einst den gesamten Bronzevorrat der DDR verschlungen hatte und auf einem Sockel aus ukrainischem Granit vor dem Haupteingang zum Park stand. Angesichts dessen, daß man nach der Wende auf schnellstem Weg alles ausgemerzt hatte, was an das sozialistische Deutschland erinnerte, und dieser Zerstörungswut zum Beispiel auch eine Clara-Zetkin-Straße zum Opfer gefallen war, verwunderte es, daß Ernst Thälmann unangetastet geblieben war. Womit hatte der Arbeiterführer das verdient? Hätte ihm vielleicht gegraut vor dem Denkmal, das man ihm errichtet hatte? Ein furchterregendes, gigantomanisches Monument der Macht, das, mit dem Rücken zum Park, vor einer riesigen steinernen Leere für jubelnde Massen stand, besprüht mit den Worten »Rotfront« und »Antifa ist Inzest«.
Auf Leas MP3-Player waren die Stücke wie Kraut und Rüben gespeichert, der Haffnerserenade folgte Joe Cockers »Summer in the City«. Eine völlig neue Stimmung, ein neuer Gehrhythmus, und es war Sommer in der Stadt, ja, eine überraschende Deckungsgleichheit zwischen Song und Realität. Ein Lokal am Wegrand hieß nach alter Ostmanier »Café Metropol«, jetzt mit dem Beinamen »Grillhaus« versehen, nicht mehr als ein schäbiger Imbiß in einem trostlosen Verkaufspavillon mit Backshop, Drogerie, Supermarkt. Draußen vor dem Eingang drei Männer und eine Frau, rauchend, mit Bierflaschen in der Hand. Man sah ihnen an, daß sie zu den Entwurzelten gehörten, zu den Deutschen von der anderen Seite, die den Sprung in die neue Welt nicht geschafft hatten und denen man in manchen Gegenden der Stadt in beängstigenden Massen begegnete. Die vier Gestalten vor dem einstigen Café Metropol standen in der Leere, man sah es ihnen deutlich an, die Bierflaschen in ihren Händen waren ihr einziger Halt. Die auf der Strecke Gebliebenen, die Perspektivlosen, die ihren Hartz-IV-Regelsatz vertranken und in deren Gesichtern ein gefährlicher Haß geschrieben stand.
Ein weiterer Pavillon aus verrottenden Betonfertigteilen und verschmierten Glasfassaden stand leer und war über und über mit aufgesprühten Hieroglyphen bedeckt. »Rosengarten« stand in kaum noch lesbaren Lettern über dem Eingang. Lea versuchte sich vorzustellen, welchen Zweck dieses Gebäude einst auf dem Gelände einer mustergültigen sozialistischen Wohnanlage erfüllt hatte. Ein Café, eine Art Kulturhaus? An manchen Stellen begann bereits der Wildwuchs das Gebäude zu verschlingen, da und dort standen noch ein paar verkümmerte, müde Rosen. Letzte Relikte der anderen deutschen Wirklichkeit, die im Ostteil der Stadt gelegentlich noch anzutreffen waren und keine neuen Besitzer fanden. In einer Welt, in der alles jemandem gehörte und alles verwaltet wurde, waren diese herrenlosen Ruinen letzte Stätten wilden, funktionslosen Lebens.
Auf einem etwas ansteigenden Wiesenstück waren viele kleine Inseln zu sehen, und jede Insel ein Paar. Eine helle Fläche mit dunklen Erhebungen, die Maulwurfhügel hätten sein können. Die jungen Leute saßen oder lagen in der Sonne, immer zwei und zwei, manche eng umschlungen, ungeniert Zärtlichkeiten austauschend. Mit den Stöpseln ihres Musikgeräts in den Ohren sah Lea alles wie in einem Stummfilm, die Bilder erschlossen sich ihr nur durch das Wissen, das sie von ihnen besaß, ihre Optik war ohne Akustik seltsam tot, so sahen vielleicht Taubstumme die Welt. Joe Cocker in ihren Ohren wurde durch Eva Cassidy abgelöst. Die Stimme der Melancholie. Flashback to warm nights ... die Frau, die das sang, war mit dreiunddreißig Jahren an Hautkrebs gestorben. War ihre Stimme so traurig, weil sie mehr von der Vergänglichkeit gewußt hatte als andere? Lea sah auf die Paare auf der Wiese und fühlte plötzlich die ganze Verwaistheit ihres eigenen Körpers, seine monströse Verworfenheit. Seit wann hatte sie kein Mann mehr berührt? Schon in den letzten Jahren mit Max hatte es keine Berührungen mehr gegeben, und schon in dieser Zeit war Lea aufgefallen, daß sich etwas verändert hatte in der Luft um sie herum. Lange hatte sie nicht verstanden, was es war, etwas seit jeher Gewohntes, Vertrautes war verschwunden, und dann war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Aus den Augen der Männer, die sie ansahen, war der Funke verschwunden. Dieser Funke, der immer da gewesen war, ein selbstverständlicher Teil der Welt, ihrer Wärme, ihrer Farbigkeit, ihrer Elektrizität. Dieser Funke, der seit jeher eine natürliche Eigenschaft von Männeraugen war und der ihr gesagt hatte, daß sie eine Frau war, dieser Funke war erloschen. Die Männer sahen sie jetzt durchaus freundlich an, manchmal mit Bewunderung oder Verehrung, oft mit Dankbarkeit für ihr aufmerksames Ohr, aber sonst war in diesen Augen nichts mehr. Die Männer hatten aufgehört, sie zu begehren. Das Begehrtsein, das immer ein ganz normaler, selbstverständlicher Lebenszustand für Lea gewesen war, das Begehren, das sie ohne jedes eigene Verdienst, ohne ihren Willen und manchmal auch gegen ihren Willen, allein kraft ihres Geschlechts besessen hatte, war nicht mehr da. Erst mit dieser Erkenntnis war Lea bewußtgeworden, wie abhängig sie von diesem Begehren war, wieviel von ihrem Selbstbewußtsein sie daraus bezogen hatte. Wahrscheinlich hatte es ihr das einzige kleine Gefühl von Macht in ihrem Leben verliehen. Und vielleicht war es ihre tiefste Gewißheit gewesen. Wenn nichts an ihr liebenswert war, wenn nichts an ihr Wert besaß, dieser eine Wert, der Wert ihrer Weiblichkeit für einen Mann, blieb eine unerschütterliche, naturgegebene Tatsache. So hatte sie geglaubt. Nie hatte sie den Gedanken gedacht, daß gerade die Natur ihr diesen Wert auch wieder nehmen würde. Sie wußte nicht, ob sie ein typisches Beispiel ihres Alters war oder ob noch etwas anderes an ihr abschreckte, vielleicht eine gewisse gravitätische Unnahbarkeit, die man ihr nachsagte, aber seit etwa zehn Jahren hatte sich kein einziger Mann mehr für sie interessiert. Zuerst war sie noch mit Max zusammen gewesen, vielleicht hatten sie die Verletzungen ihrer letzten gemeinsamen Jahre so wund und grau gemacht, daß kein Auge sich mehr an ihr hatte entzünden können, aber seit ihrer Trennung waren sieben Jahre vergangen, und nichts hatte sich verändert. Wenn der Tod in der Trennung von Körper und Seele bestand, dann hatte ihr Tod bereits begonnen. Ihr Körper und ihre Seele gingen längst getrennte Wege, und vielleicht war das eine weise Vorsehung der Natur. Man sollte sich schon im Leben an diese Trennung gewöhnen, schön langsam, Tag für Tag, damit es dann, im Augenblick des Todes, nicht so abrupt kam, damit man auf den endgültigen Riß zwischen Körper und Seele vorbereitet war. Ihr größter Neid galt jedem, der die Strecke bis dorthin nicht allein zurücklegen mußte, der einen Weggefährten hatte. Sie hatte es versäumt, sich in jungen Jahren den Ofen zu bauen, der im Alter wärmte, sie hatte die letzten Jahre, in denen es vielleicht noch möglich gewesen wäre, an eine Beziehung ohne Zukunft verschwendet, sie war zu spät gegangen. Nun blieb ihr nur noch die Reue, die Reue und der Neid auf die geheimnisvolle Welt der sicheren Paarbeziehungen, auf jene Menschen, die im Alter in Ehen und Familien aufgehoben waren, die Eltern und Großeltern waren, Kinder und Enkel hatten. Sie hatten ein Leben gelebt, das sie im Alter in den Schutz natürlicher Bindungen einbettete, Bindungen, die Lea nie gelungen waren. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte zwar auch sie in Beziehungen gelebt, aber nie hatte sie sich vorstellen können, für immer zu bleiben, zu heiraten, Kinder zu bekommen, sich für ein einziges von allen möglichen Leben zu entscheiden. In keiner ihrer Beziehungen hatte sie sich einrichten können, in keiner hatte sie sich heimisch gefühlt. Etwas Unseßhaftes war in ihr, sie konnte sich nicht dauerhaft binden, aber sie konnte auch nicht dauerhaft mit sich allein sein. Sie hatte immer die Wildnis gebraucht und war nicht ausgekommen ohne Nest, sie hatte sich immer nach Feuer gesehnt und war gleichzeitig angewiesen auf Wärme. Nun, da sie das Feuer wahrscheinlich gar nicht mehr vertragen hätte, da es keine Ambivalenzen mehr gab und sie sich nur noch nach Wärme sehnte, war keine Wärme mehr da, jene Temperatur, die mit zunehmendem Alter immer notwendiger und unentbehrlicher wurde. Wehe dem, der ohne den Schutz der Liebe altern muß! Wo hatte sie das gelesen? Die Beziehungen um sie herum kamen ihr jetzt wie Festungen vor, Dämme gegen den Tod, dem sie, Lea, weil sie ein falsches Leben gelebt hatte, nun schutzlos gegenüberstand, allein in einem leeren Raum.
Auf einer Bank hüpften ein paar Spatzen herum, rissen mit ihren kleinen Schnäbeln an dem Rest einer Pizza. Lea mußte daran denken, was ihre russische Freundin Marina aus der Nachbarstraße ihr einmal erzählt hatte: In der Sowjetunion wurde den Kindern in der Schule beigebracht, daß Zugvögel schlechte Vögel waren, Vaterlandsverräter, die sich ständig im feindlichen Ausland herumtrieben. Gute Vögel waren nur die Spatzen, weil sie ihre Heimat nie verließen, die bodenständigen Spatzen waren vorbildliche sowjetische Patrioten, an denen die Kinder sich ein Beispiel nehmen sollten.
Leas erster Chatroom, in den sie der Meister Zufall hineingelotst hatte, war, wie sie inzwischen wußte, ein abseitiger, unschuldiger Ort gewesen, an den sie sich kurze Zeit später erinnerte wie an einen Sandkasten, in dem sie ihre ersten, rührend ahnungslosen Schritte im Reich der virtuellen Wirklichkeiten gemacht hatte. Nachdem der Elektroingenieur mit seiner unheilbaren Leidenschaft für Rollstuhlfahrerinnen sie in das Geheimnis der Internetadressen eingeweiht hatte, hatte sie sehr schnell herausgefunden, daß es Chatrooms wie Sand am Meer gab, daß rund um die Uhr die zumindest potentielle Möglichkeit bestand, per Knopfdruck mit allen ans World Wide Web angeschlossenen Bewohnern des Erdballs in Kontakt zu treten.
Seit jeher verwunderte Lea die romantische Überzeugung mancher Menschen, die glaubten, den Mann oder die Frau mit der zweiten Hälfte ihres Herzens gefunden zu haben. Hätte man nicht die gesamte, aus annähernd sieben Milliarden Menschen bestehende Weltbevölkerung kennenlernen müssen, um so etwas behaupten zu dürfen? Und würde auch nur ein einziges Paar der Welt zusammenbleiben, wenn es plötzlich durch Zauberei möglich würde, alle restlichen auf dem Erdball lebenden Menschen des anderen Geschlechts kennenzulernen? Auch im WWW konnte man nicht die gesamte Weltbevölkerung kennenlernen, aber doch einen deutlich größeren Teil als in der körperlichen Bewegung durch den Raum, erst recht, wenn man in dieser Art Fortbewegung so eingeschränkt war wie Lea. Sie hatte noch die altmodische Sehnsucht nach fernen Ländern in sich, weil sie in ihrem Leben so wenig gereist war, immer angewiesen war auf einen festen Punkt, auf das Bekannte und Vertraute, auf die Kante ihres Schreibtisches und ihres Bettes. Um so überwältigender war für Lea ihr neuer Anschluß an das internationale, weltumspannende Kommunikationsnetz. Es weckte nicht unbedingt die Hoffnung in ihr, dem Mann mit der zweiten Hälfte ihres Herzens zu begegnen, dem war sie schon mehrmals in ihrem Leben begegnet, in ihren sehr jungen und einsamen Jahren sogar ziemlich oft, aber ihre schon fast begrabene Hoffnung auf einen Gefährten für ihre letzte Wegstrecke war wieder zu neuem Leben erwacht. Die Hoffnung auf eine am Ende doch noch lebbare, tragende Liebe, auf ihren Philemon, womöglich doch den einen mit ihrer zweiten Herzhälfte, dem sie mangels Gelegenheit nie begegnet war und jetzt dank der neuen technischen Möglichkeiten vielleicht doch noch begegnen konnte. Vielleicht saß er, inzwischen ebenfalls alt geworden, irgendwo am anderen Ende der Welt auch vor seinem Monitor und wartete, vielleicht hatte auch er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, sie am Ende doch noch zu finden. Jeder Augenblick, den sie nicht an ihrem PC verbrachte, konnte der Augenblick sein, in dem sie ihn verpaßte. Ob sie sich schnell ein Stück Fleisch in der Küche briet, die Wäsche im Bad aufhängte oder schlief – genau in dieser Zeit konnte er auf der Bildfläche erschienen und wieder verschwunden sein, für immer verschwunden, bevor sie ihn bemerkt hatte. Sie wagte es kaum noch, sich von ihrem Rechner zu lösen. Den größten Teil des Tages und der Nacht verbrachte sie auf ihrem Warteposten, so unsicher und fragwürdig er auch war, aber immerhin gab es jetzt einen Warteposten, auf dem Lea auch eine viel bescheidenere Variante angenommen hätte, wenn sie sich ihr geboten hätte. Einfach einen sympathischen, verträglichen Mann ihrer Generation, mit dem sie der Eiszeit eines einsamen Alters hätte entfliehen können. Die Chance, so einem Mann in einem Chatroom zu begegnen, tendierte allerdings gegen Null. Ganz abgesehen von der ungünstigen demographischen Lage, davon, daß es in Leas Alter einen deutlichen Frauenüberschuß gab, war sie in den Chatrooms nicht nur eine Verirrte im Raum, sondern auch in der Zeit. Es hielten sich dort fast ausschließlich junge Leute auf, im Lauf von mehreren Wochen war sie nur zwei bemitleidenswerten Trotteln ihrer eigenen Altersklasse begegnet. Der eine hatte sich »Reifer Herr« genannt, der andere »Geiler Rentner«.
Eines der ersten neuen Worte, die Lea in der virtuellen Wirklichkeit kennenlernte, war Avatar. Google hatte ihr erklärt, daß es sich dabei um den grafischen Vertreter einer echten Person handelte, daß das Wort aus dem Sanskrit stammte und für eine in irdische Sphären herabgestiegene Gottheit stand. Jeden Tag stiegen in den Chatrooms Hunderte, Tausende von Gottheiten in irdische Sphären herab, obwohl es eigentlich umgekehrt war. Irdische Menschen, so ungöttlich und unansehnlich sie in ihrer Gestalt als echte Personen auch sein mochten, verwandelten sich beim Eintritt in den Chatroom in Götter, jeder schlüpfte in die Gestalt einer der Werbeikonen, die als Avatare angeboten wurden. Jede Frau und jeder Mann hatte am Eingang die Wahl zwischen zehn verschiedenen Bildchen, nolens volens mußte man sich für eines davon entscheiden, bevor man das Allerheiligste betreten durfte. Für Frauen reichte das Spektrum von der unschuldigen Kindfrau bis zur Femme fatale, für den Mann vom sanften Träumer bis zum zupackenden Draufgänger. Jeder wählte sein Wunschbild und gab dadurch etwas von sich preis, ob nun gewollt oder nicht. Neben dem Pseudonym, unter dem man sich einloggte, war der Avatar der einzige Anhaltspunkt für die verborgene Persönlichkeit des Chatters, wobei das Pseudonym zweifellos die größere Aussagekraft besaß, weil hier keine Vorgaben existierten und jeder auf seine eigene Phantasie angewiesen war.
Hatte man sich für eine Gottheit entschieden und ihr einen möglichst klangvollen Namen verliehen, gelangte man vom Olymp in die irdischen Sphären, zunächst in die sogenannte Lobby. Es handelte sich um die Wandelhalle, den Marktplatz, die Piazza des Chats. Ausgerechnet an einem Ort, wo es nur die Sprache, nur die Schrift gab, schienen sich die sprachlosesten Gemüter der Nation zu versammeln. Über den Bildschirm scrollten Unterhaltungen, die in einer Art Chatpidgin geführt wurden, in einer virtuellen Primatensprache, die weitgehend aus Kürzeln und Smileys bestand. Erschien mal ein halber oder gar ein ganzer Satz auf dem Bildschirm, wimmelte er gewöhnlich von grammatikalischen und orthographischen Fehlern. Die unsichtbaren Chatter erinnerten Lea an die Teilnehmer gewisser Fernsehtalkshows, in denen zynische, selbst minderbemittelte Moderatoren den vom ersten und letzten Scheinwerferlicht beglückten Mob in seiner ganzen Sprachlosigkeit vorführten. In der Anwesenheitsliste wimmelte es von Nicknamen wie HeißeStute, ScharfesLuder, GeilerEhemann, Sexgun und so weiter. Ein virtueller Ballermann, ein virtueller Swingerclub, ein virtueller Stammtisch, eine virtuelle Jugendclique, eine virtuelle Diskothek, ein virtueller Bolz- und Balzplatz, ein virtuelles Sammelbecken für jedermann und jedefrau. Es ging vor allem um die anatomischen Daten der Anwesenden, genau um das, was hier unsichtbar und unüberprüfbar war. Dementsprechend waren hier alle Frösche Prinzen, es gab nur Supermänner. Sie priesen ihren Waschbrettbauch an, ihre Potenz, die phänomenalen Maße ihres Geschlechtsteils in Länge und Durchmesser. Die Frauen sahen alle aus wie Claudia Schiffer. Lea wurde ständig nach ihrer Körpergröße, nach ihrem Gewicht, nach ihrer Körbchengröße, nach ihren sexuellen Vorlieben gefragt. Die etwas romantischer Veranlagten erkundigten sich auch nach der Augen- und Haarfarbe, zu den Standardfragen gehörte, was sie gerade anhatte, darüber hinaus wollte niemand etwas von ihr wissen. Es wurde gekalauert und geschunkelt, gelästert und gepöbelt, geschäkert und angemacht, und auch die Voyeure kamen auf ihre Kosten. Sex war hier eine Familienangelegenheit, volkstümlicher Zeitvertreib, und das einschlägige Vokabular kannte auch der Ärmste im Geist. Der Gedanke an heimliche Zuschauer, denen hier eine verbale Peepshow geliefert wurde, war für manche Beteiligten vielleicht ein zusätzlicher Ansporn. Alles das nahm Lea nach ersten Fluchtreflexen kaum noch wahr, es war eine unvermeidbare Begleiterscheinung auf ihrem Warteposten. Und während sie ausharrte und beobachtete, stellte sie fest, daß sie hier nicht die einzige Außenseiterin war. Es gab noch andere wie sie, seltene Schriftkundige, die hier, genau wie sie, an den Rändern herumlungerten, blinde Passagiere, Wilderer, Wegelagerer, die Lea sofort an ihrer Sprache erkannte. Es genügte ein einziger Satz, und es war klar, daß es sich um die seltene Ausnahme handelte, um die Nadel im Heuhaufen, nach der sie suchte. Die ganz normale deutsche Sprache, die Lea von diesen seltenen Chatbesuchern erreichte, nahm sich an diesem Ort aus wie eine Fremdsprache, wie höhere Dichtkunst.
Um sich dem Zugriff der Chatfamilie zu entziehen, Dauerchattern wie sie selbst, die sich durch einen festen Nicknamen zu erkennen gaben, mußte Lea ihre Chatidentität jedes Mal wechseln. Oft mehrmals am Tag, da sie nur eine Leitung für Internet und Telefon besaß und diese Leitung wenigstens hin und wieder für Anrufer oder eigene Telefonate freigeben mußte, ohnehin schon bedrängt durch die Fragen ihrer Freunde, warum ihr Telefon in letzter Zeit ständig besetzt sei.
Sie durchforstete ihren alten, dickleibigen Weltatlas und gab sich die Namen indischer Städte und afrikanischer Flüsse, sie lieh sich Frauennamen aus der Literatur, aus der Mythologie, aus der Oper. Sie nannte sich Noumea, Jalta, Effie, Nana, Rienzi, Lulu, Moira, Artemis. Mittags war sie Katonga, abends Undine, nachts Ernani. Das Italienische gab auch andere klangvolle Namen her: Allora, Aspetta, Mozzarella. Manchmal kleidete Lea sich in Süßes: Nutella, Hanuta, Milka. Man konnte sich auch Nanu oder Soso nennen oder schlicht beliebige Buchstaben aneinanderreihen.
Sobald sie in Gestalt ihrer Ikone den Chatroom betrat, eilten die Massen herbei, um ihr zu huldigen. In den Chatrooms herrschte drastischer Frauenmangel, und mindestens die Hälfte der Männer stürzte sich sofort auf jeden neuen weiblichen Avatar, der auf der Bildfläche erschien. Lea wurde überflutet von Anfragen, die sie im sogenannten Flüstermodus erreichten, ein Wort, das einen falschen Eindruck erweckte. Man sprach nicht etwa leiser miteinander als die anderen, wie hätte das in schriftlicher Form auch vor sich gehen sollen, die Nachricht wurde an eine bestimmte Person gesandt und blieb unsichtbar für die anderen, nur die durch einen besonderen Klick ausgewählte Person konnte sie lesen. Die Männer schickten Lea Smileys, reichten rote Rosen, luden zu Sekt ein, andere kamen ohne Umschweife zur Sache: Bist du geil? Willst du hart durchgefickt werden? Worauf stehst du? Hast du Lust auf CS? CS war das gängigste der ständig über den Bildschirm flimmernden Kürzel, ein freundlicher Chatter hatte Lea erklärt, daß es sich dabei um die Abkürzung von Cybersex handelte. Lea hatte nicht zuzugeben gewagt, daß sie das Wort noch nie gehört hatte, Cybersex blieb für sie das große, ungelüftete Geheimnis der Erotikchats.
In einer Zeit, in der Sex als etwas galt, das für jeden jederzeit zu haben war, spielten sich in den Erotikchats Szenen erschütternden männlichen Elends ab. Die Männer demütigten sich, sie bettelten und flehten um Antwort, breiteten öffentlich oder im Flüstermodus ihr ganzes sexuelles Desaster aus. Andere beschimpften die Frauen als Schlampen, als Flittchen, als eiskalte Nutten, es ging bis zu Morddrohungen. Die Welt schien voll zu sein von abgewiesenen, verschmähten Männern, die mit einem dunklen, unberechenbaren Haß gegen Frauen herumliefen, im Schutz der Anonymität konnte dieser Haß sich hemmungslos austoben. Gleichzeitig war Lea sich nicht sicher, ob die Chatter wirklich dieselben Leute waren, die draußen auf der Straße herumliefen. Von keinem Menschen, dem sie auf der Straße begegnete oder den sie gar persönlich kannte, konnte sie sich vorstellen, daß er chattete. Die Chatter waren nicht dieselben Menschen, die in den U-Bahnen fuhren, in den Geschäften einkauften, in den Kneipen und Kinos saßen. Sie stammten von irgendeinem ganz anderen, Lea unbekannten Ort, sie waren ein Volk, eine Nation für sich und Lea die heimliche, unerkannte Grenzgängerin zwischen zwei Welten.
Die Lobby, in der die Kontaktaufnahme stattfand, war nur ein Vorraum, so etwas wie ein Bahnhof, von dem die Züge zu den eigentlichen Zielorten abgingen, zu den sogenannten Séparées. In der Lobby sah man sich um, taxierte, testete, traf die Vorauswahl. Auch im Flüstermodus war man noch nicht allein, man stand nur abseits und behielt, während man sich gegenseitig abtastete, den Rest der Chatter im Auge. Erst im Séparée war man wirklich allein, auf dem Monitor erschienen nur noch die Mitteilungen, die der Fremde am anderen Ende in seine Tastatur tippte. Man war hier anders allein als in der physischen Welt, man war mit einem Fremden allein im Äther, in irgendeinem sang- und klanglosen Nichts. Ihr erstes Séparéegespräch führte Lea mit einem zweiundvierzigjährigen Mann, der aus einem Hotelzimmer in Budapest chattete. Der erste Schriftkundige, dem sie nach ihrem allerersten Ghostdog, dem Elektroingenieur, im Cyberspace begegnet war. Ungarn war eines der Länder, die Lea einmal vor langer Zeit besucht hatte, und etwas von diesem Land hing nun an dem Fremden, obwohl er sich nur auf einer Geschäftsreise dort aufhielt. Sie brachte ihn in Verbindung mit der dröhnenden Stille der Hortobágy-Puszta, mit den Bildern der kleinen, verschlafenen Dörfer zwischen Tabak- und Maisfeldern, mit den schluchzenden Geigenklängen der stolzen, mit Gold und Klimper behängten Zigeuner. Aus irgendeinem Grund schrieb der Fremde mitten im Frühsommer von der herbstlichen Melancholie in seinen Schreibfingern. Bis zum Morgen unterhielten sie sich über Melancholie, über Ungarn, über die Liebe und über den Tod, und nachdem Lea bereits zu glauben begonnen hatte, daß sich eine Liebe zwischen ihnen anbahnte, für die es weder Altersgrenzen noch andere kleinliche Beschränkungen gab, sprang plötzlich eine Mitteilung des Systems auf ihren Monitor: »›Augenblick‹ hat den Raum verlassen.« Lea ging davon aus, daß die Verbindung zusammengebrochen war, Verbindungen nach Osteuropa waren immer labil, mit ihren brennenden, übermüdeten Augen starrte sie in die um diese Uhrzeit nur noch schmale Anwesenheitsliste, in der gleich wieder »Augenblick« erscheinen mußte, aber nach einer Stunde gab sie auf. Entweder kam ihr ferner Gesprächspartner in seinem Hotelzimmer tatsächlich nicht mehr ins Internet, oder er war Leas zweiter Ghostdog, der sich wortlos für immer verabschiedet hatte. Im Cyberspace, das war Lea noch nicht bewußt, mußte man nichts erklären, sich keinen unerwünschten Fragen stellen, es gab den praktischen Klick, mit dem man sich sekundenschnell und folgenlos für immer aus dem Staub machen konnte. Und wozu hätte ein Chatter, der sich »Augenblick« genannt hatte, ihr auch erklären sollen, daß aus ihnen nichts werden konnte, weil er ein verheirateter Mann und Familienvater war?! Und wozu hätte Lea ihn mit der Tatsache schockieren sollen, daß er sich in seiner einsamen ungarischen Hotelnacht für eine Frau entflammt hatte, die im Alter seiner Mutter war?! Manchmal, das sollte Lea noch einsehen, war der wortlose Klick an diesem Ort die weiseste Art, sich zu verabschieden. Statt banaler Enttäuschung hinterließ er ein Geheimnis, einen flüchtig schönen Schmerz. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag im Juni, als Lea den sechsunddreißigjährigen Alexander kennenlernte. Von Anfang an war klar, daß er ein Mann von ungewöhnlicher Herkunft war, daß er in einer Welt schöner, verbürgter Sicherheiten leben mußte, das konnte er nicht verbergen, so eisern er das Geheimnis seiner Identität an diesem Tag und auch in Zukunft hüten sollte. An Unverschämtheit und Direktheit übertraf er alle anderen in den Chatrooms, zugleich verfügte er über auffällig gute Manieren, er war gebildet, ein Kenner der Literatur und Musik, er war ironisch, fordernd, weltläufig, dekadent, völlig unromantisch und zutiefst gespalten. Der eine Alexander war ein liebender Ehemann und Vater zweier Kinder, der andere hielt die Monogamie für das größte Übel der Welt und führte im verborgenen das Dasein eines Wüstlings, eines sexbesessenen Widersachers des Establishments, der bürgerlichen und kirchlichen Moral, die er aus tiefstem Herzen haßte und verachtete.
Nachdem Lea mit ihm ein paar Stunden in einem Séparée verbracht hatte und über Grenzen gegangen war, die sie mit einem Fremden noch nie überschritten hatte, erst recht nicht mit Hilfe der Technik, widerfuhr ihr eine der schlimmsten Blamagen ihres ganzen Lebens. Alexander hatte sich zum Schluß nicht in Luft aufgelöst wie
- 5/2015 | Ich war nie in Mariupol
- 6/2023 | »Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Tanja Walenski über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit, S. 243 Leseprobe
Wodin, Natascha
»Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Tanja Walenski über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit
TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde?
NATASCHA WODIN: Das Schreiben kann in der Tat sehr hart sein, aber ich habe nie an einem Lebenswerk gearbeitet. Daß ich immer mit den Worten kämpfen mußte, gehörte einfach dazu, es liegt in der Natur der Sache und hat nie etwas daran geändert, daß das Schreiben mein Ort war, meine Zuflucht, meine Arche. In meinem Leben sind mir mehrere Wunder widerfahren, und das größte war zweifellos, daß ich meine Mutter gefunden habe – sechzig Jahre nach ihrem Tod. Ich konnte das Buch »Sie kam aus Mariupol« schreiben, das war ein großes Glück für mich. Das zweitgrößte Wunder war der Erfolg des Buchs, das inzwischen die zehnte Auflage erreicht hat und in alle möglichen Sprachen übersetzt wird. Menschen in Vietnam, in Griechenland, in Japan lesen jetzt die Geschichte meiner Mutter. Das hätte sie sich nie träumen lassen, und ich mir auch nicht.
WALENSKI: Ihre Beziehung zur Welt war lange zwiespältig, sie erinnert an Christa Wolfs Medea. Diese Figur lebt vereinsamt in einer Höhle, an einem Ort innerhalb und gleichzeitig außerhalb der Gesellschaft. Durch Ihre Angsterkrankung Agoraphobie sind Sie jahrzehntelang kaum aus der Wohnung gekommen. Haben Sie einen Großteil Ihres Lebens verpaßt?
WODIN: Eindeutig ja. Meine Außenweltphobie war noch weitaus schlimmer als meine Kindheit. In meiner Kindheit und Jugend hatte ich wenige Chancen, später, als ich zu schreiben und zu veröffentlichen begann, öffneten sich mir viele Türen. Aber ich konnte durch kaum eine dieser Türen gehen, ich konnte die Angebote, die mir das Leben machte, nicht annehmen und blieb gefangen in den Mustern meiner Kindheit. Das ist auf jeden Fall die psychologische Deutung. In meiner Kindheit, als ich wirklich von vielem bedroht war, hatte ich keine Angst. Aber als ich so etwas wie ein rettendes Ufer erreicht hatte, stürzte die Angst wie ein nicht endender Steinschlag auf mich ein. Eine Angst ohne jeden Grund. Der einzige Grund war die Angst selbst, die Angst vor der Angst. Ich lebte wie eine Gefangene in jeder meiner Wohnungen, immer auf den nächsten Einschlag der Angst gefaßt. Das Leben ging an mir vorbei, ich saß immer nur am Schreibtisch und suchte nach Worten für das, was mir widerfuhr. Ich habe diese Worte nie gefunden. So sind meine Bücher entstanden – auf der Suche nach den Worten für die Angst, den Worten für ein Buch, mein eigentliches Buch, das ich nicht schreiben konnte.
WALENSKI: Haben Sie sich aus dem Leben herausgeschrieben oder ins Leben zurückgeschrieben?
WODIN: Beides.
WALENSKI: Die Publikation von »Sie kam aus Mariupol« mit zweiundsiebzig Jahren war der Wendepunkt. Aus sozialer Isolation heraus wurden Sie ins Licht einer großen Öffentlichkeit katapultiert. Woher kam der Mut, plötzlich im Rampenlicht vor Hunderten Menschen zu lesen und zu sprechen?
WODIN: Es war der Mut der Verzweiflung. Ich wußte, daß es meine letzte Chance war. Hätte ich abgelehnt, wäre die Tür zur Welt für immer zugeschlagen, wäre ich wohl nie mehr herausgekommen aus meiner fast lebenslangen Einzelhaft. Am Anfang war jede Lesereise ein Alptraum. Inzwischen ist es Routine geworden. Das genieße ich immer wieder: daß das einst Schrecklichste etwas Alltägliches und sogar Erfreuliches geworden ist.
WALENSKI: »Einzelhaft«: Der französische Philosoph Gilles Deleuze sagte einmal, im Akt des Schreibens liege der Versuch, das Leben aus dem zu befreien, was es einkerkert.
WODIN: Das Schreiben kann selbst zum Kerker werden in dem Versuch, aus dem Kerker auszubrechen. Aber das Ausgangsmotiv ist zweifellos immer auch das Verlangen nach Befreiung, man möchte seine eigenen inneren Grenzen überwinden, die Not und Verzweiflung, in der man eine existentielle Verengung erlebt. Es ist auch der Versuch, dem Tod zu entkommen, die irrwitzige Hoffnung, Unsterblichkeit zu erlangen.
WALENSKI: »Sie kam aus Mariupol« wurde inzwischen in sechzehn Sprachen übersetzt, darunter ins Ukrainische und Chinesische. In dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land stand es mit fünfzehn Auszeichnungen auf der »Annual Awards List 2021«, darunter auf Platz 3 in der Kategorie der besten sozialwissenschaftlichen Dokumentationen. In der Topliste der Frauenliteratur – ausgewählte Literatur von Frauen für Frauen – werden Sie als »Hüterin des weinenden Feuers« geführt. Weshalb sind die Chinesen so berührt von Ihrem Text?
WODIN: Das ist mir selbst ein Rätsel. Ich habe gehört, daß dort auch Holocaust-Literatur hoch im Kurs steht. Es soll so etwas wie Stellvertreterliteratur für die Chinesen sein, die noch keine Möglichkeit hatten, ihre eigene traumatische Geschichte zu bearbeiten. So wenden sie sich erst einmal an Bücher aus anderen Ländern, in denen sie auf die politische und persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stoßen. Aus keinem anderen Land, in dem meine Bücher übersetzt wurden, kamen so betroffene, gefühlsstarke Reaktionen. Aus China hatte ich das am wenigsten erwartet, da den Chinesen ja der Ruf besonderer Verschlossenheit anhängt. Auch die Buchcover sind mit einer ungewöhnlichen Emotionalität gestaltet, sehr intelligent und gleichzeitig so dramatisch, wie wir es uns hier wohl kaum je erlauben würden. Könnte ich eine so weite Reise noch bewältigen, würde ich nach China reisen. Das Land interessiert mich sehr.
WALENSKI: Ausgerechnet ins Russische wurde der Text bislang nicht übersetzt.
WODIN: Nein, ins Russische wurde nie etwas von mir übersetzt. Ich scheine dort nicht in die Landschaft zu passen. Ich weiß nicht, ob das politische oder ganz andere Gründe hat. Vielleicht besteht bei den Lesern kein Interesse daran, wie eine im Ausland geborene und lebende Russin Rußland sieht. Im Grunde bin ich darüber aber nicht unglücklich, weil Rußland immer eine sehr ambivalente Liebe war, immer auch Beunruhigung und Verwirrung. Hätte man mich dort übersetzt, wären wohl neue Beziehungen entstanden und hätten wieder an die frühere Ambivalenz gerührt, an eine einst lebensgefährliche Wunde, die inzwischen verheilt ist.
SINN UND FORM 6/2023, S. 725-738, hier S. 725-727
Wogatzki, Benito
- 5/1969 | Der Schmied und seine Frau
- 5/1970 | Die Wichelsbacher Initiative
- 6/1970 | Der Mann aus dem Kessel
- 1/1972 | Christine
- 5/1974 | Karin vor dem Tor
- 1/1977 | Romanze mit Amélie
- 2/1981 | Der Fuchs
- 2/1985 | Kolke
Wohlgemuth, Gerhard
- 6/1979 | Paul Dessau zum Gedenken
Wohmann, Gabriele
- 2/2016 | Schlußapplaus. Gedichte
Wojdowski, Bogdan
- 3/1977 | Der kleine Mensch, der stumme Vogel, der Käfig und die Welt
- 2/1980 | Der Wächter auf der Baustelle
Wolf, Christa
- 2/1967 | Tradition und Fortschritt im Werk Sembène Ousmanes
- 2/1968 | Verwandlungen
- 5/1969 | Ein Besuch
- 1/1971 | Zu einem Datum
- 4/1972 | Gedächtnis und Gedenken
- 2/1973 | Selbstversuch
- 2/1976 | Kindheitsmuster
- 2/1980 | Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an
- 5/1980 | Zu Anna Seghers
- 1/1983 | Aus den »Frankfurter Vorlesungen.« Ein Brief über Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit; Über sehr alte Zustände und neue Seh-Raster; Über Objektivität
- 4/1983 | Zur Information
- 4/1984 | Rede auf Schiller
- 5/1984 | Worte des Gedenkens
- 2/1986 | Transit: Ortschaften
- 2/1987 | Störfall
- 2/1989 | Gespräch mit Therese Hörnigk
- 6/1990 | Kurt H. Biedenkopf zu Gast bei Christa Wolf: Soziale Marktwirtschaft, Kultur und Utopie
- 6/1995 | »Winterreise« - Wolfgang Heise zum Gedenken
- 1/2001 | Im Widerspruch. Zum 100. Geburtstag von Anna Seghers
- 2/2011 | Begegnungen mit Uwe Johnson, S. 863 Leseprobe
Wolf, Christa
Begegnungen mit Uwe Johnson
Ich stelle mir vor, Uwe Johnson, der Mann, an den wir heute hier erinnern wollen, wäre unter uns. Er säße zum Beispiel, wie es ihm zukäme, in der ersten Reihe unserer Versammlung und wunderte sich, daß jemand und wer in seinem Namen einen Preis bekommen soll. Das wäre doch möglich. Das wäre doch normal, er war ja vier Jahre jünger als ich, er könnte doch leben. Es müssen besondere Begleitumstände gewesen sein, die ihn mit fünfzig Jahren sterben ließen. Ich versuche, vorsichtig, einige dieser Umstände anzudeuten, indem ich schildere, wie ich ihn erlebt habe.
Soll ich sein Leben tragisch nennen? Ich halte das Wort zurück. Eine Versuchung, es zu verwenden, geht von dem Land aus, in dem wir uns befinden, in dem manche von uns leben, in dem er nicht bleiben konnte und nach dem er sich immer gesehnt hat. Mecklenburg. Es war Johnsons Land. »… aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel …« Ich glaube, es gab zu seinen Lebzeiten kaum einen Menschen, der umfassender und genauer über Mecklenburg Bescheid wußte als er. Es gibt ein Verzeichnis der Mecklenburgischen Orte, die in seinen Büchern, insbesondere in den »Jahrestagen«, vorkommen: Es sind über hundert. Sechshundert Bücher über Mecklenburg fanden sich in seiner Bibliothek. Auf Johnsons letzter Reise durch Mecklenburg, von der noch die Rede sein wird, berührt er auch Neubrandenburg, und natürlich Güstrow – jene Stadt, in der er zehn Jahre gelebt hat, in der er auf die John- Brinckman-Schule gegangen ist, vor der heute seine von Wieland Förster geschaffene Stele steht. Ich war dabei, als sie enthüllt wurde, ich sah sie zuerst von schräg hinten und fand, der Bildhauer hatte die Haltung des Rückens gut getroffen, der sich, etwas gebückt, vom Betrachter wegbewegt. Und ich war mir bewußt, daß dieser Schriftsteller nun – als Denkmal – zurückgekehrt war in jene Stadt, die er, zusammen mit Grevesmühlen, zu seinem fiktiven Ort Gneez verwandelt hat, der für die Personen seiner »Jahrestage«, in der Mehrzahl Mecklenburger, eine so große Rolle spielt. Ich streiche auf seiner Mecklenburger Liste die Namen der Orte an, in denen auch ich gewesen bin, ich komme auf knapp dreißig. Wie er sind wir ja im Frühjahr 45 als Flüchtlinge in dieses Land gekommen, weiter westlich allerdings. Später kam dieser Teil Mecklenburgs mir aus den Augen. Heute biegen wir, aus Berlin kommend, bei der Abfahrt Malchow von der Autobahn ab – ein Ort, in dem Heinrich Cresspahl gelebt hat, den wir aber rechts liegen lassen, um in Richtung Sternberg über Goldberg und Dobbertin zu unserem kleinen Dorf am Rande der Mecklenburgischen Seenplatte zu fahren. Mancherorts hätten wir, Johnson und ich, uns damals begegnen können. Die Zeitverschiebung in unserem Leben hat das verhindert. Sie hat auch verhindert, daß wir in den gleichen Jahren im Hörsaal 40 an der Leipziger Universität die Vorlesungen von Hans Mayer hörten – jenes Professors, der das außergewöhnliche Talent seines Studenten Johnson erkannte und ihn ideell und materiell förderte.
Verfehlt haben wir uns auch, als Johnson im August 1982 zum letzten Mal in Güstrow war, als ein „Mr. Johnson“, Mitglied einer englischen Reisegruppe. Ein, zwei Jahre später begannen wir, nicht mehr als zwanzig Kilometer südlich von Güstrow, unsere Sommer in einem alten mecklenburgischen Pfarrhaus zu verbringen. Wie oft sind wir seitdem in Güstrow gewesen, haben Freunde von der Bahn abgeholt, haben ihnen die Stadt gezeigt, mit ihnen vor den Barlach- Skulpturen gestanden, den Schwebenden Engel im Dom besucht. Wie oft habe ich dabei an Uwe Johnson gedacht. Da war er schon tot. Da war er 1984 in einem entfernten Ort an der englischen Themsemündung gestorben. Sein Herz hatte »versagt«. Es war ihm zuviel zugemutet worden.
Als unser erstes Mecklenburger Haus abgebrannt war, hat Uwe Johnson mir eine Karte geschrieben: »Ich höre, Ihr Haus ist abgebrannt, kann ich etwas für Sie tun?«
[...]
SINN UND FORM 2/2011, S. 269-274
- 6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Hans Stoffels 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels, S. 863 Leseprobe
Wolf, Christa
Aus dem Archiv der Akademie der Künste »Die vielen ungelebten Leben« Briefwechsel mit Hans Stoffels 1971–74
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von somatischer und psychologischer Medizin« hin. Der Vortragende war Wilhelm Kütemeyer (1904 – 1972), ein Schüler des Mitbegründers der psychosomatischen Medizin in Deutschland Viktor von Weizsäcker. Die kasuistisch gehaltenen Vorlesungen elektrisierten mich, und Kütemeyer selbst war ein Faszinosum. Seine Thesen waren radikal: Jede Krankheit, auch die schweren körperlichen Krankheiten, sind psychosomatisch; die Organkrankheit ist Stellvertreter eines ungelösten Konflikts; der therapeutische Umgang von Arzt und Patient muß eine gemeinsame Widerstandsbewegung sein. Ich erfuhr, daß Kütemeyer zunächst Übersetzer und Schriftsteller gewesen war und schon vor 1933 aktiv gegen die Nazis gekämpft hatte. Den Beginn seines Medizinstudiums 1939 bezeichnete er als eine Form innerer Emigration. Nach 1945 gehörte er zur »Gesellschaft Imshausen«, einer Gruppe von Publizisten, Professoren und Politikern, die aus dem Geist der Widerstandsbewegung eine Erneuerung Deutschlands anstrebten.
Anstatt das geregelte Studium Semester für Semester fortzusetzen, stürzte ich mich in das Studium der psychosomatischen Medizin, ihrer Geschichte, ihrer Theorien und Kontroversen. Gleichzeitig engagierte ich mich in Seminaren der von Studenten gegründeten »Kritischen Universität«, wo sich eine Fülle von Stoff bot für radikale Thesen und Theorien, für Empörung und Aufbegehren, für die Forderung nach einer neuen Medizin. In dieser Zeit konsultierte ich immer häufiger Kütemeyer in seiner Praxis, um das Gleichgewicht zwischen öffentlicher Aktion und innerseelischer Stabilität zu wahren.
Zunehmend kam bei mir die Sorge auf, ich könne in eine Außenseiterposition geraten und mich immer weiter von der anerkannten Wissenschaft entfernen. Seinerzeit kämpfte die universitäre Psychosomatik um ihre wissenschaftliche Anerkennung. Die Weizsäcker-Schule galt als spekulativ, manch einer hätte sie lieber bei den Geisteswissenschaften angesiedelt. War ich in Gefahr, einem Irrglauben anzuhängen oder gar in eine sektiererische Verengung zu geraten? In dieser Bedrängnis las ich Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«. Ich las das Buch mit ganz anderen Augen als die damaligen Rezensenten in Ost und West. Ich las den Roman als Darstellung einer psychosomatischen Krankengeschichte und erlebte die Lektüre gleichsam als Befreiung, denn mir schien, daß sich hier das neue psychosomatische Krankheitsverständnis Bahn brach.
»Nachdenken über Christa T.« erschien 1969 und begründete Christa Wolfs Weltruhm. Der Roman wurde in viele Sprachen übersetzt und führte lange die Bestsellerlisten an. Aber das bereits 1967 fertiggestellte Manuskript konnte in der DDR zunächst nicht erscheinen. Christa Wolf wurde der Vorwurf gemacht, mit ihrem Buch dem politischen Gegner in die Hände zu arbeiten. Sie übe Verrat an ihren eigenen Idealen und hämische West-Rezensenten lägen bereits auf der Lauer, um nachzuweisen, daß Christa T. nicht an einer Leukämie, sondern an der DDR-Gesellschaft gestorben sei. Das Buch war zu einem Politikum geworden, die Debatten gingen noch jahrelang weiter.
Im Rückblick auf die Zeit vor der Publikation sprach Christa Wolf von einem »Wirbel von Beschuldigungen, Selbstverteidigung, Abwehr, Beteuerung, Verschleierung, Gewissenserforschung, Selbstverleugnung, Lüge und Verschweigen«. Sie sei, schrieb sie an Brigitte Reimann, inzwischen bereit, von einem »Unglücksbuch« zu sprechen. Reimann hatte ihre Freundin in einem Brief vom 29. Januar 1969 mit den Worten gewarnt: »Halt Dein Herz fest; Du weißt ja, was Dich erwartet. Man hört schon allerlei von gewetzten Messern …«, worauf diese am 5. Februar antwortete: »Das Erlebnis ›Die Hände weggeschlagen‹ ist eines meiner Grunderlebnisse der letzten Jahre, sozusagen das Letzte, was ich je als Erfahrung erwartet hätte.«
Inzwischen gab es in der DDR erste Rezensionen (unter anderem in Sinn und Form 1 / 1969), aber das Buch war immer noch nicht erschienen. Zunächst wurde der Verleger genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen, Selbstkritik zu üben und der Autorin zu bescheinigen, daß sie in einer pessimistischen Grundstimmung verharre und keine Distanz zu ihrer Protagonistin finde. Schließlich wurde »Nachdenken über Christa T.« in einer Erstauflage von wenigen tausend Exemplaren ausgeliefert. Nach zwei Jahren wurden weitere Auflagen genehmigt, und bis 1989 wurde der Roman mit 250 000 verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Buch der DDR.
Als ich 1971 – damals vierundzwanzig Jahre alt, das medizinische Staatsexamen lag noch in weiter Ferne – Christa Wolf einen Leserbrief schrieb, spielte die politische Auseinandersetzung um diesen Roman keine Rolle. Ich wollte ihr berichten, daß ich das Buch als Krankengeschichte gelesen hatte, als Bestätigung des neuen psychosomatischen Krankheitsverständnisses. Zu meiner größten Überraschung erhielt ich eine Antwort. Kein Zweifel, Christa Wolf war an medizinisch-psychosomatischen Fragestellungen und Forschungen außerordentlich interessiert, auch an der Schule Viktor von Weizsäckers. Später erfuhr ich, daß sie sich auch mit anderen Wissenschaftsgebieten wie der Genetik beschäftigte und von der Literatur erwartete, sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Bücher sollen, schrieb sie später, den Mut zu radikalen Fragestellungen fördern und zu einer differenzierten Darstellung eigener Erfahrungen anregen. Ich schickte Christa Wolf Manuskripte, Textentwürfe und Publikationen aus dem Umkreis der psychosomatisch-anthropologischen Medizin, auch die Reflexionen eines Carcinomkranken, der sich bei Kütemeyer in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte.
Als Christa Wolf im Herbst 1974 mit ihrem Mann Gerhard zur Buchmesse nach Frankfurt kam, unternahm sie auch einen Abstecher nach Heidelberg, um den leserbriefschreibenden Medizinstudenten in Augenschein zu nehmen und ihn in seiner Studentenwohnung zu befragen. Es entwickelte sich eine lebenslange Beziehung. In den folgenden Jahrzehnten kam es wiederholt zu persönlichen Begegnungen, wenngleich der Briefwechsel allmählich spärlicher wurde.
Das Thema des verborgenen Zusammenhangs von Krankheit und Selbstverwirklichung hat Christa Wolf nicht mehr losgelassen. 1991 sprach sie auf der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft über »Krebs und Gesellschaft« und erinnerte sich ihrer Romanfigur Christa T. Elf Jahre später publizierte sie die Erzählung »Leibhaftig«. Darin geht es um die Erinnerungen einer Frau, die wegen einer schweren Sepsis tagelang auf einer Intensivstation behandelt werden muß. Die Kranke spricht von sich in der ersten und in der dritten Person und fragt: »Warum ist ihr Immunsystem zusammengebrochen? Vielleicht, Herr Professor, weil es ersatzweise den Zusammenbruch übernommen hat, den die Person sich nicht gestattete.«
Zuletzt begegnete ich Christa Wolf am 28. Oktober 2010 – ein Jahr vor ihrem Tod. Ich hatte sie anläßlich der 16. Jahrestagung der »Viktor von Weizsäcker Gesellschaft« zu einer Lesung nach Berlin-Charlottenburg eingeladen. Das Thema der Tagung lautete »Ereignis und Erlebnis«. Der Vortragsraum vermochte die Zuhörer kaum zu fassen, und Christa Wolf las aus ihrem gerade erschienenen Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. Alle lauschten gebannt, wanderten mit der Autorin durch die Stadt der Engel, begegneten Thomas Mann und Bertolt Brecht und betrachteten von allen Seiten den »Overcoat of Dr. Freud«.
Nach der Lesung schickte ich Christa Wolf einige Fotos zu, wofür sie sich sogleich bedankte: Die Fotos gefielen ihr, »weil sie lebendig sind«.
Hans Stoffels
SINN UND FORM 6/2020, S. 725-750, hier S. 725-727
Wolf, Friedrich
- 6/1951 | Menetekel
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste an ihren Präsidenten [Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf]
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 6/1963 | Maria vom Westerwald
- 3/1968 | Briefe
- 6/1968 | Präludium
- 5/1973 | Rache in den Bergen
- 6/1978 | Aufzeichnungen und Briefe
- 6/1983 | Konrad Wolf an Friedrich Wolf
- 6/1983 | Briefwechsel
- 6/1988 | Friedrich Wolf zum 100. Geburtstag
Wolf, Gerhard
Wolf, Konrad
- 5/1968 | War das so? Gespräch über den Film »Ich war neunzehn«
- 3/1975 | Fünfundzwanzig Jahre Akademie der Künste der deutschen demokratischen Republik
- 6/1978 | Gesprächsprotokolle
- 4/1979 | Kein Sozialismus ohne Antifaschismus
- 3/1980 | Über den Auftrag
- 3/1981 | Kunst und Gesellschaft im Jahr 2000
- 5/1982 | Gespräch mit Günter Netzeband und Wolfgang Kohlhaase
- 5/1982 | Aus dem Kriegstagebuch des Siebzehnjährtigen
- 2/1983 | Briefe von der Front
- 5/1984 | Selbstäußerungen
- 2/1985 | Das Gemeinsame. Akademie-Plenartagung Rostock 1981. Aus dem Schlußwort
- 6/1985 | Briefe
- 2/1987 | Die Troika
Wolf, Markus
- 1/1989 | Die Troika
Wolf, Sabine
- 5/2007 | Kurt Stern. Heimkehr nach Deutschland. Mit einer Vorbemerkung von Sabine Wolf
Wolfe, Thomas
- 4/2020 | Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow, S. 508 Leseprobe
Wolfe, Thomas
Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Zeitlose Zeit. Eine Vorbemerkung
Die Legende vom »hungrigen Gulliver« ist schon oft erzählt worden. Daß Thomas Wolfe (1900–1938) sein Erwachsenwerden in zwei wortgewaltigen Großerzählungen ausgebreitet hat, die sein Entdecker Maxwell E. Perkins vom Verlag Charles Scribner’s Sons erst auf ein zumutbares Format eindampfen mußte, hat sich herumgesprochen; auch den schwelenden Streit um die Authentizität zweier postum erschienener Werke Wolfes, in denen er seine »Geschichte vom begrabenen Leben« mit anderem Personal und in weniger Worten nochmals aufrollt, kann man getrost der amerikanischen Wolfe-Philologie und ihrem Hausorgan »The Thomas Wolfe Review« überlassen.
Es wäre zwar verlockend, die vier Breitwandromane »Schau heimwärts, Engel« (1929), »Von Zeit und Fluß« (1935), »Geweb und Fels« (1939) und »Es führt kein Weg zurück« (1940) mit den beiden Fassungen des Bildungsromans »Der grüne Heinrich« zu vergleichen, aber Gottfried Keller konnte sich für die Revision seines zwischen Selbstbeobachtung und Tatsachenbeschreibung ähnlich schwankenden Jugendwerks bis ins hohe Alter Zeit lassen; der »früh Unvollendete« aus North Carolina dagegen hatte in seinem kometenhaften Leben nicht die Möglichkeit, abgeklärt zu werden. Gegen Ende seiner Tage beschleunigte er sein ohnehin schon hohes Lebenstempo nochmals. Er trennte sich Hals über Kopf von seinem langjährigen Mentor Perkins und begab sich unter die Fittiche des jungen Lektors Edward C. Aswell von Harper & Brothers, dem er mit einem Kehraus sämtliche Manuskripte aushändigte.
Wolfe wollte offenbar mit siebenunddreißig noch einmal ganz neu anfangen. Der riesige Stapel seiner Skizzen und Entwürfe war ihm über den Kopf gewachsen. Es grauste ihn davor, aus dem Wust die beiden nachgelassenen Romane und die unfertige Novelle »Die Party bei den Jacks« zu fischen. »Genie genügt nicht«, hatte der Literaturkritiker Bernard de Voto im April 1936 in »The Saturday Review of Literature« gegen seine als redundant und formlos empfundene Prosa eingewendet, und sein Kollege Robert Penn Warren pflichte ihm bei: »Es sei daran erinnert, daß Shakespeare zwar Hamlet schrieb; aber nicht Hamlet war.« Solche Formulierungen wollte der »gigantomanische Rhapsode« (Paul Nizon) nicht auf sich sitzenlassen und nahm sich eine objektivere Diktion mit weniger puerilem Pathos und weniger sprachlichen Manierismen vor.
Die Einladung zu einem Vortrag an der Purdue University in Indiana im Mai 1938 kam für Wolfe wie gerufen. Er sei zwar kein Redner, aber für ein fettes Honorar von d-drei- hundert Dollar k-könne er einen beträchtlichen Haufen Gestotter zum Thema »Writing and Living« von sich geben, witzelte er gegenüber Freunden in New York, wo er im Chelsea Hotel zuletzt mehr gehaust als gewohnt hatte. Danach werde er in den Nordwesten der USA weiterreisen, wo er noch nie gewesen sei, und spätestens im Juli wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Doch er hatte sowohl die Weite des Kontinents als auch eine unbändige Reiselust unterschätzt. »Ich habe noch nie so viel Üppigkeit, so viel Behäbigkeit, so viel Fruchtbarkeit gesehen«, schrieb er aus dem Mittleren Westen, aber er sei heilfroh, nicht aus diesem satten Flachland zu stammen, sondern aus den »rauhen Bergen« von North Carolina. Nach einem Aufenthalt in Chicago reiste er im Stromlinienzug »Burlington Zephyr« über Denver und Cheyenne nach Portland, Oregon, wo der Mount Hood ihn auf die uralte Felsenwelt der Cascade Range, der Sierra Nevada und der Rocky Mountains vorbereitete.
Eigentlich wollte er dort nach einem Zweig seiner Sippe suchen, von dem er sich Material für ein neues Romanprojekt erhoffte, das weit in die Geschichte zurückgehen und den ganzen Kontinent in den Blick nehmen sollte. Doch es kam anders: Richard Conway von der Oregon State Motor Association und Edward Miller von der Tageszeitung »The Oregonian« hatten von seiner Anwesenheit in Portland gehört und boten ihm für fünfzig Dollar eine Mitfahrgelegenheit an. Sie wollten mit dem Auto in nur zwei Wochen elf Nationalparks abklappern, um ihren Landsleuten zu zeigen, was für wenig Geld in ein paar Urlaubstagen möglich war. Die Idee hätte vom Verfasser der »Reise um die Erde in 80 Tagen« stammen können; in der »runaway world« von heute ist sie zur Normalität geworden.
Die Frage nach dem Sinn solcher Höllentrips hat sich für Thomas Wolfe anscheinend gar nicht gestellt. Er war aufreibende Besichtigungen gewohnt. Zwischen 1924 und 1936 hatte er auf Luxuslinern wie der »Olympic«, einem Schwesterschiff der »Titanic«, siebenmal den Atlantik überquert. Er war durch das fidele Paris und das neblige London gestreunt, hatte Goethes Gartenhaus besichtigt und im Romanischen Café gesessen. Doch die Naturwunder des amerikanischen Westens kannte er nur vom Hörensagen. Um diese Wissenslücke zu füllen, zwängte er sich am 20. Juni 1938 auf den Rücksitz eines cremeweißen Ford 81A und ließ in den nächsten zwei Wochen zackige Bergkämme und gigantische Felstafeln, dunkle Talgründe und gleißende Schneefelder, hitzeflirrende Salbeiwüsten und strotzende Obstfarmen an sich vorbeidefilieren.
Was hatte es mit dieser zyklopischen Bergwelt auf sich? Warum nahmen die Naturwunder zwischen Kalifornien und Colorado kein Ende? Bei den geologischen Vorträgen der Park-Ranger hörte er weg. Von Subduktion und Laramischer Gebirgsbildung wollte er nichts wissen. Die gigantischen Kräfte in der Erdkruste berührten ihn nicht. Als ihn am feingliedrigen Bryce Canyon eine »schicke junge Frau« über dessen 125 Millionen Jahre zurückreichende Erosionsgeschichte aufklären wollte, war er mehr an ihren engen Pyjamahosen als an der geologischen Tiefenzeit interessiert. Doch die elf Naturparks, mit denen er auf einer Strecke von mehr als siebentausend Kilometern konfrontiert wurde, ließen ihn natürlich nicht kalt: Crater Lake, Mount Shasta, Yosemite, Sequoia, Grand Canyon, Zion, Bryce Canyon, Grand Teton, Yellowstone, Waterton-Glacier, Mount Rainier.
Während Miller und Conway sich am Steuer abwechselten, war der Zweimetermann auf dem Rücksitz einem Feuerwerk von Bildern ausgesetzt. Abends im Schlafquartier trug er die optische Tagesausbeute in eines jener großformatigen Kontorbücher ein, die ihm schon bei der Niederschrift von »Schau heimwärts, Engel« zu Diensten gewesen waren. Sein fotografisches Gedächtnis kam ihm dabei entgegen: »Die Art und Eigenheit meines Gedächtnisses ist durch einen, wie ich glaube, mehr als gewöhnlichen Heftigkeitsgrad bewahrter Sinneseindrücke gekennzeichnet, durch ein Vermögen, dinghaft-lebendig die Gerüche, Laute, Farben, Formen und stofflich Tastbares wieder aufzurufen«, heißt es in seiner Programmschrift »Die Geschichte eines Romans« aus dem Jahr 1936, in der er seine Schreibweise erklärt. Abgesehen von ein paar Briefen sind die vorliegenden Reisenotizen das letzte Zeugnis, das der »gehetzte Reporter seines eigenen Lebens« (Alfred Andersch) hinterlassen hat. Vollständig veröffentlicht wurden sie erstmals 1951 von der University of Pittsburgh Press unter dem Titel »A Western Journal. A Daily Log on the Great Parks Trip«. Die Herausgeberin Agnes Lynch Star macht für den Telegrammstil der Aufzeichnungen die Bilderflut verantwortlich, die der Protokollant im zerknitterten Straßenanzug zu verarbeiten hatte. Doch sie hält den vom Fahrtwind durchwehten Notaten bei aller Flüchtigkeit auch ihren fiebrigen Eifer und ihre elementare Poesie zugute. Nirgends sonst in Wolfes Werk komme man dem Funkenflug der Inspiration so nahe wie hier.
Ein bloßer Mitschreiber ist der Verfasser der »Reise in den Westen« also nicht gewesen. Dagegen sprechen allein schon die bizarren Komposita und komplexen Wortspiele, mit denen er Lichtzauber und Farbenglanz der Landschaft einfängt. Mit dem Stakkato seiner Aufzählungen und Wiederholungen bildet er zudem das Höllentempo der Fahrt ab. Daß er ein sprachlicher Feinarbeiter von hohen Graden war, fiel schon Gottfried Benn auf: »Sätze reiner Lyrik« attestierte er Wolfes Novellensammlung »From Death to Morning« von 1936, die ein Jahr später unter dem Titel »Vom Tod zum Morgen« in Deutschland herauskam.
Im »Land seiner Vorfahren« wurde der Sohn eines pennsylvaniadeutschen Vaters von Beginn an begeistert aufgenommen. Eine Zeitlang war er hier sogar populärer als in seiner amerikanischen Heimat. Mit seinem faustischen Gebaren schien er den Deutschen aus der Seele zu sprechen; sie ernannten ihn kurzerhand zum »germanischen Berserker«. Nur der Emigrant Klaus Mann sah genauer hin und widersprach der vorschnellen Eingemeindung: »Im Gegensatz zu den Repräsentanten der älteren Generation, den nüchternen Chronisten und Gesellschaftskritikern Dreiser, Sinclair Lewis und Upton Sinclair, erscheint Wolfe durchaus lyrisch bekenntnishaft gestimmt; sein Stil ist weder journalistisch-tendenziös noch episch-objektiv, sondern primär poetisch; er ist der Visionär, der inspirierte Sänger unter den großen Erzählern des erwachenden, zu sich selber kommenden Kontinents.«
Daß Wolfe sich den Naturparks des amerikanischen Westens zuwandte, hat auch mit der politischen Versteinerung seiner Wunschheimat zu tun. Spätestens seit dem Jahr der Berliner Sommerolympiade 1936 ließ er sich nicht mehr von romantischen Giebelhäusern und Butzenscheiben täuschen, sondern nahm auch die Folterkeller und den Gesinnungsterror wahr. Im weltoffenen Berlin ging plötzlich die Angst um. Argwohn schlich sich in alle Gespräche ein. Die wulstnackigen Männer mit den geschorenen Köpfen, die dem jungen Wolfe schon bei seiner ersten Deutschlandreise im Jahr 1926 nicht ganz geheuer waren, hatten die Macht ergriffen.
Ein Foto zeigt ihn in Rückenansicht beim Ausbruch des berühmten Geysirs »Old Faithful«. Wie seine respektlose Akimbo-Pose ("legs apart and hands on the hips«) verrät, beeindruckte ihn der geothermische Kraftakt nicht sonderlich. Den majestätischen Redwoods dagegen, auf die er im Sequoia National Park traf, fühlte er sich auf Anhieb verbunden. Vor einem dieser bis zu dreitausend Jahre alten Bäume soll er eine Stunde lang verharrt haben. Erst die Meldung eines Parkbesuchers, Joe Louis habe Max Schmeling auf die Bretter geschickt, holte ihn in die Gegenwart zurück. Gern wüßte man, was der »amerikanische Homer« und der Baumriese aus der Familie der Zypressengewächse sich bei dieser Gelegenheit zu sagen hatten. Seiner Bewunderung waren die größten Geschöpfe der Erde allemal sicher, die mit einer Höhe von bis zu hundert Metern und einem Gewicht von zweitausend Tonnen selbst den Blauwal in den Schatten stellen. Daß es im Sequoia National Park zu der denkwürdigen Begegnung kam, ist John Muir (1838 –1914) zu verdanken, der Präsident Theodore Roosevelt auf einer Bergtour für die Idee der Naturreservate gewinnen konnte. Muir hatte die Sierra Nevada nicht im Auto durchquert, sondern auf alten Indianerpfaden erwandert. Er nächtigte in keiner Touristen-Lodge, sondern im Freien oder in einer selbstgezimmerten Hütte wie Henry David Thoreau. Für sein leibliches Wohl reichten ihm ein Brot und ein paar Becher Tee pro Tag. Statt uferloser Romane schrieb er naturgeschichtliche Studien und philosophische Traktate. Vor allem aber verfügte er über etwas, das Thomas Wolfe am allerwenigsten besaß: Zeit. »Nachdem ich mir einen Zinnbecher voll Tee gemacht hatte, setzte ich mich ans Feuer und dachte über die Erhabenheit der Gletscher nach, die ich gesehen hatte. Als die Nacht fortschritt, schienen die gewaltigen Felswände meiner Unterkunft näher zu rücken, während sich der Sternenhimmel strahlend hell wie eine Zimmerdecke von der einen Felsmauer zur anderen erstreckte«, schreibt er in einer Abhandlung über die Gletscher des Yosemite Valley (Die Berge Kaliforniens, Berlin 2013).
Nie wäre der Vordenker der Entschleunigung auf die absurde Idee gekommen, elf Naturparks in dreizehn Tagen zu bereisen. Und doch hat er durch sein stimmungsvolles »Nature Writing« dazu beigetragen, daß auch die letzten unberührten Wildnisse zur Beute der Zivilisation werden konnten. Am Ende dieser touristischen Aneignung der Natur stehen die Autos vor dem gigantischen Wahrzeichen »El Capitan« Stoßstange an Stoßstange. Ein Besucherstrom von mehr als vier Millionen Menschen jährlich trifft auf eine Infrastruktur aus asphaltierten Straßen, Parkplätzen, Unterkünften, Restaurants, Sportstätten und Informationszentren.
"Menschen, Menschen, Menschen« waren längst massenhaft in den Naturparks unterwegs, als die skurrile Fahrgemeinschaft den Tourismus weiter ankurbeln wollte. Wolfe nimmt in seinem Reisebericht nicht nur schneebedeckte Berge und düstere Schluchten, smaragdgrüne Ströme und schroffe Canyons, verbrannte Teufelswüsten und fruchtberstendes Farmland in den Blick, sondern vermerkt auch die Kellnerin mit dem müden Gesicht, den einsamen Tankwart, das putzige alte Mädchen, die Griesgrame auf der Veranda, den Eastern Cowboy und das blonde »Flittchen-Engelchen«. Wie der Maler Edward Hopper registriert er neben ausdruckslos ins Leere starrenden Menschen am Straßenrand auch architektonische Sinnbilder des Stillstands: verwitterte Geisterstädte, geschlossene Postämter, verlassene Tankstellen, leere Hot-Dog-Läden, riesige Getreidesilos, monströse Zementwerke und irre glitzernde Ladenfronten.
Der magische Moment seiner Aufzeichnungen kommt, als er in der verdorrten Wüstenwelt Arizonas einen Güterzug erblickt, der klein wie ein Insekt über eine ferne Bergflanke kriecht. Während John Muir es sich inmitten zerklüfteter Felswände und lichtloser Canyons gemütlich machte, löst die bewegungslose, die fortschrittslose, die »zeitlose Zeit« der Felsen bei Wolfe ein dunkles Vorgefühl kommender Schrecken aus.
Ob es sich um die rosafarbigen und grellweißen Erosionen des Bryce Canyon, die »teufelsverzerrte Röte« der Vermilion Cliffs oder die vom Colorado River ausgefräste Urlandschaft des Grand Canyon alias »Big Gorgooby« handelt, immer ist die anorganische Welt für ihn mit Ängsten besetzt, die von weit her kommen. Aus solchem toten Material stellte der aus Deutschland stammende Steinmetz William Oliver Wolf einst am Pack Square von Asheville Grabsteine und Friedhofsengel her. Sein jüngster Sohn entschied sich für biegsameren, verletzlicheren Stoff. Sein Thema war nicht die stoische Zeit der Felsen, sondern die flüchtige Zeit der Menschen: »Die Menschen! Ja, die Menschen! Die bestechlichen und die irregeführten Menschen, die übertölpelten und die abergläubischen Menschen, aber am Ende immer wieder die unbesiegbaren und ewigdauernden Menschen«, sagte er in seinem Vortrag an der Purdue University.
Nach dreizehn Tagen der »Vergeblichkeit, des Terrors, der Fremdheit und der Großartigkeit« nahm er am 2. Juli 1938 in Olympia, der Hauptstadt des Bundesstaats Washington, »mit ein bißchen Traurigkeit im Herzen« Abschied von seinen Begleitern Collins und Mitchell. Statt sich ein paar Tage auszuruhen, floh er vor der »kalten Bedrohung und Entsetzlichkeit« der Berge nach Seattle. Aus dem New Washington Hotel schrieb er an seine Agentin Elizabeth Novell: »Die Reise war wunderbar und entsetzlich zugleich – ich habe in den letzten zwei Wochen 5000 Meilen zurückgelegt, erst die ganze Küste hinab bis beinahe nach Mexiko, dann 1000 Meilen landeinwärts und schließlich nach Norden bis zur kanadischen Grenze – natürlich sind die Naturparks großartig, aber wichtiger waren für mich die Städte, die Dinge, die Menschen, die ich unterwegs traf – ein Kaleidoskop des Westens und seiner Geschichte entrollte sich in kurzer Zeit vor meinen Augen.« Doch der »hungrige Gulliver« wollte noch mehr sehen, erleben, aufnehmen. Er buchte eine Schiffspassage von Seattle nach Vancouver durch den Puget Sound. Dort kam er mit Schüttelfrost und hohem Fieber an. Auf dem kalten Deck des Küstendampfers hatte er einem »armen zitternden Kerl« einen Schluck aus seiner Schnapsflasche genehmigt und sich dabei nach eigenem Bekunden eine Grippe eingehandelt. Es dürften aber eher die Reisestrapazen und das exzessive Rauchen und Trinken gewesen sein, die ihn dafür anfällig gemacht hatten. Schwerkrank kehrte er nach Seattle zurück, wo ein überforderter Hausarzt ihn mit Hochfrequenz-Diathermie und Hustenmedikamenten traktierte. Wirksame Antibiotika gegen die viel zu spät diagnostizierte Lungenentzündung gab es noch nicht. Als die Kopfschmerzen und das Fieber nicht weichen wollten, legte man ihm eine Einweisung in das Providence Hospital von Seattle nahe. Dort wurde ein tuberkulöser Herd in seiner Lunge entdeckt.
Das Wort Tuberkulose versetzte den Patienten in Panik. Was es bedeutet, wußte er aus eigener Erfahrung. Seine Heimatstadt Asheville war ein bekannter Luftkurort, in der Pension seiner Mutter hatten auch Lungenkranke logiert. Als die Kopfschmerzen schließlich unerträglich wurden und alles auf eine Hirnhautentzündung hinwies, konnte ihm auch eine mehrtägige Bahnfahrt an die Ostküste nicht mehr helfen. Nach einer Schädelöffnung durch den angesehenen Hirnchirurgen Walter Dandy im Johns Hopkins Hospital zu Baltimore starb Thomas Wolfe am 15. September 1938 an tuberkulöser Meningitis.
"Ich habe wunderbare Dinge gesehen und alle Arten von Menschen getroffen – Ärzte, Anwälte, Holzfäller –, und wenn hier alles vorbei ist, habe ich einen Haufen großartigen Materials beisammen«, hatte er aus Seattle an seine Agentin geschrieben. Vor allem unter diesem Aspekt ist die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegte »Reise durch den Westen« lesenswert. Auf dem Tiefpunkt deutscher Wolfe-Vergessenheit, in der von Hubert Zapf herausgegebenen »Amerikanischen Literaturgeschichte« von 1996, wurde Thomas Wolfe nur noch mit einem Halbsatz als »Verfasser von ins Universale ausgeweiteten Autobiographien« bedacht, während seine Zeitgenossen Ernest Hemingway, William Faulkner, John Dos Passos und F. Scott Fitzgerald seitenlang gewürdigt werden. Nach seiner Wiederentdeckung durch die Neuübersetzungen des Manesse Verlags kann der unterschätzte Klassiker der amerikanischen Moderne zwar nicht mehr ignoriert werden, aber sein früher Tod spricht nach wie vor gegen ihn. Er ließ ihm einfach keine Zeit zur literarischen Entfaltung.
Doch nicht nur Totgesagte, auch Frühverstorbene leben bisweilen länger. Die losen Enden ihres kurzen Lebens lassen der Nachwelt keine Ruhe. Wolfe hat in seiner auto- biographisch grundierten Prosa eine so intensive und lebensechte Gedächtnisspur hinterlassen, daß ihm ein spukhaftes Nachleben sicher ist. In seiner düsteren Kellerwohnung in Brooklyn Heights brennt immer noch Licht. Kein Wunder, daß die literarische Hinterlassenschaft des Wiedergängers für immer neue Überraschungen sorgt, wie die Nachlaßeditionen »The Hound of Darkness«, »The Good Child’s River«, »The Starwick Episodes« und die ins Deutsche übersetzten Kabinettstücke »Der verlorenen Knabe« und »Die Party bei den Jacks« zeigen. Wolfe war nicht nur ein ruheloser Vielschreiber, sondern auch ein emsiger Projektemacher. Da er seine Lebensgeschichte so gut wie aus- geschöpft hatte, mußte er das Erinnern durchs Erfinden ersetzen und ist dabei offenbar im Wilden Westen fündig geworden, wie Mark Kanada in seinem Buch »Out of the West. Thomas Wolfe’s Final Journey« (Bloomington 2014) andeutet.
Zwischen Chicago und Portland muß Wolfe die Idee zu einer fiktiven Stadt namens Rolesby gepackt haben. Ein in dieser Finanzmetropole angesiedelter Roman sollte anscheinend die verderbtesten und ruchlosesten Seiten des amerikanischen Kapitalismus schildern. Als reale Vorlage des imaginären Sündenbabels kommt die von »schmutzigen kleinen Mormonendörfern« umgebene Kapitale Salt Lake City in Frage, wie die besonders ausführlichen und engagierten Notizen der »Reise durch den Westen« vom 26. Juni vermuten lassen. Mit ihren Wolkenkratzern, Hotelpalästen und dem »größten Tanzlokal der Welt« weist die bigotte Hauptstadt des Bundesstaates Utah genau die soziale Fallhöhe auf, die der Autor für seinen geplanten Roman brauchte. Obszöner Reichtum und krasse Armut existierten dort in unmittelbarer Nachbarschaft, ohne daß es die »Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints« gestört hätte. Ein Gott, der die Reichen segnete und die Armen verkommen ließ, mußte Wolfe als »armer Leute Kind« empören. Wäre der verlorene Sohn der amerikanischen Literatur in der Lage gewesen, diesem Erzübel seines Landes in einem hochkarätigen Depressionsepos zu begegnen, auf das in Ansätzen schon der Roman »Es führt kein Weg zurück« und die nachgelassene »Party bei den Jacks« hinweisen?
Wie W. R. Burnetts 1941 erschienener Roman »High Sierra« zeigt, lag das Thema damals in der Luft. Auch er ist im moralischen Zwielicht der Zwischenkriegszeit angesiedelt und kann zudem mit einer packenden Verfolgungsjagd und einer wilden Schießerei zwischen den Bergzinnen der Rocky Mountains aufwarten. Eine filmreife Räuberpistole aus der Feder des »inspirierten Sängers« Thomas Wolfe? Das wohl eher doch nicht, aber ein alle Prunkbauten und Kellerlöcher des Hochkapitalismus ausleuchtendes Gesellschaftspanorama war dem »größten Talent seiner Generation« (William Faulkner) allemal zuzutrauen: »Haar sprießt aprilgleich aus der begrabenen Brust. Und aus den Stirnhöhlen sprießen die Totenblumen« ("Von Zeit und Fluß«, 1935).
Kurt Darsow
SINN UND FORM 4/2020, S. 508-531 , hier S. 508-513
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Woolf, Virginia
- 1/2014 | Im Flug über London, S. 101 Leseprobe
Woolf, Virginia
Im Flug über London
Fünfzig oder sechzig Aeroplane waren in der Flugzeughalle versammelt wie ein Schwarm Grashüpfer. Der Grashüpfer hat die gleichen riesigen Schenkel, denselben kleinen bootsförmigen Körper, der zwischen seinen Schenkeln ruht, und wenn er mit einem Grashalm berührt wird, hüpft auch er hoch in die Luft. Die Mechaniker schoben das Aeroplan hinaus auf die Grasnarbe; Flieger-Leutnant Hopgood, auf dessen Einladung wir gekommen waren, um unseren ersten Flug zu unternehmen, beugte sich herunter und ließ den Motor aufheulen. Tausend Federhalter haben die Empfindung beim Verlassen der Erde beschrieben; »Die Erde fällt von einem ab«, sagen sie; man sitzt still und die Welt ist gefallen. Es ist richtig, daß die Erde fiel, aber merkwürdiger war das Herunterfallen des Himmels. Man war im Augenblick des Abhebens nicht darauf gefaßt, in ihn eingetaucht zu sein, allein mit ihm, mitten in seiner Dichte darin zu sein. Die Gewohnheit hat die Erde unverrückbar im Zentrum der Einbildungskraft festgemacht wie einen harten Ball; alles ist im Maß von Häusern und Straßen gemacht. Und wenn man aufsteigt in den Himmel, wenn der Himmel sich über einem ausschüttet, löst sich dieser kleine harte körnige Knopf mit seinen Schnitzereien und Verzierungen auf, zerkrümelt, verliert seine Kuppeln, seine Zinnen, seine Kamine, seine Gewohnheiten, und man wird sich bewußt, ein kleines heißblütiges, hartknochiges Säugetier mit einem Gerinnsel von rotem Blut in seinem Körper zu sein, das hier oben in einer linden Luft wildert; ihr widerwärtig, unsauber, unsympathisch. Wirbelsäule, Rippen, Eingeweide und rotes Blut gehören der Erde zu; der Welt des Rosenkohls und der Schafe, die unbeholfen auf ihren vier spitzen Beinen gehen. Hier sind Winde, die abnehmen, die verschwinden, und das zeitlich nicht meßbare Wolkenmanöver, und nichts dauerhaft, sondern vergehend und zerschmelzend bei der Berührung miteinander ohne Zusammenstoß, und die Felder, die bei uns nach Yards ausgemessen werden und pünktlich Weizen und Gerste tragen, werden hier unaufhörlich neugemacht und wieder neugemacht von Regenstößen und Hagelschauern und Räumen so ruhig wie das tiefe Meer, und dann ist schlagartig alles Wandel, bewegte Brise. Doch obwohl wir durch Gebiete ohne abteilende Hecken und Zäune flogen, namenlose, besitzlose, ist doch das Bewußtsein so eingefleischt anthropozentrisch, daß instinktiv das Aeroplan zum Boot wird, und wir segeln einem Hafen zu und dort werden wir von Händen empfangen werden, die sich von wehenden Gewändern lösen und erheben; uns willkommen heißen, aufnehmen. Geistwesen (unsere Wünsche und Einbildungen) haben hier ihre Heimat; und trotz unserer Wirbelsäulen, Rippen, Eingeweide sind wir auch Dunst und Luft und werden vereint sein.
Hier drückte der Flieger-Kommandant Hopgood mit einem Hebelgriff die Nase der Moth abwärts. Man könnte sich nichts Phantastischeres vorstellen. Häuser, Straßen, Banken, öffentliche Gebäude, und Gewohnheiten und Hammel und Rosenkohl waren zu langen Spiralen und Kurven von Rosa und Purpurrot hingestrichen, wie es ein nasser Pinsel macht, wenn er Berge von Farbe zusammenstreicht. Man konnte durch die Bank von England hindurchsehen; alle Geschäftshäuser waren durchsichtig; der Themse-Fluß war, wie ihn die Römer sahen, wie der Mensch der Altsteinzeit ihn sah, zur Morgenfrühe von einem Hügel mit zottigem Wald aus, wo das Rhinozeros sein Horn in die Wurzeln von Rhododendren stößt. So unsterblich frisch und jungfräulich sah London aus, und England war Erde nur, nur die Welt. Flieger-Leutnant Hopgood hatte seinen Finger immer noch auf dem Hebel, der das Aeroplan abwärts lenkt. Ein Schimmer blinkte auf einem Gewächshaus. Dort stieg eine Kuppel auf, ein Kirchturm, ein Fabrikschornstein, ein Gasometer. Kurzum, die Zivilisation tauchte auf; Hände und Hirne arbeiteten wieder; und die Jahrhunderte verschwanden und das wilde Rhinozeros war für immer aus der Sicht verjagt.
Immer noch sanken wir abwärts. Hier war ein Garten; hier ein Fußballplatz. Aber noch war kein menschliches Wesen zu sehen; England sah aus wie ein Schiff, das unbemannt dahinsegelt. Vielleicht war die Menschenrasse tot, und wir würden an Bord der Erde gehen wie jene Schiffsgesellschaft, die das Schiff, alle Segel gesetzt, dahinschwimmen fand, und den Kessel auf dem Feuer, aber ohne eine Menschenseele an Bord. Doch ein Fleck dort unten, etwas Gedrungenes und Winziges, mochte ein Pferd sein – oder ein Mensch … Aber Hopgood berührte einen anderen Hebel und wir stiegen wieder auf wie ein Geist, der die Beschmutzung von seinen Flügeln abschüttelt und Gasometer und Fabriken und Fußballplätze von seinen Füßen abstreift.
Es war ein Augenblick der Abkehr. Wir wollen lieber das andere, schienen wir zu sagen. Geistwesen und Sanddünen und Nebel; Einbildungskraft; dies ziehen wir dem Hammel und den Eingeweiden vor. Es war der Gedanke an den Tod, der sich jetzt einstellte; nicht empfangen und willkommen geheißen zu werden; nicht Unsterblichkeit, sondern Erlöschen. Denn die Wolken oben waren schwarz. Quer vor ihnen flog in einer einzigen Kette ein Möwenschwarm dahin, fahlweiß gegen den bleiernen Hintergrund, seinen Weg einhaltend mit der Befugnis von Eigentümern, die Rechte haben und uns unbekannte Verständigungsmittel, eine fremde, eine privilegierte Rasse. Aber wo nur Möwen sind, ist kein Leben. Das Leben endet; das Leben erlischt in jener Wolke, wie Lampen mit einem nassen Schwamm gelöscht werden. Dieses Erlöschen ist jetzt das Gewünschte geworden. Denn es war sonderbar, auf dieser Reise zu merken, wie blind die Wellen der Seelengezeiten und ihre Wünsche bald hierhin, bald dorthin rollten, und dabei das Bewußtsein wie eine Feder auf ihrem Kamm trugen, die Richtung markierend, aber nicht bestimmend. Und so schwebten wir nun weiter aufwärts in den Tod.
Hopgoods Kopf, in Leder gefaßt mit einem Pelzrand ums Gesicht, hatte Ähnlichkeit mit einem geflügelten Steuermann, mit Charons Haupt, der seine Reisenden gnadenlos zu dem nassen Schwamm brachte, der auslöscht. Denn das Bewußtsein (man kann diese Dinge nur wiederholen, ohne für sie Sinn oder Wahrheit zu beanspruchen – lediglich, daß sie so waren) ist in seiner eigenen Geschwindigkeit, in seiner Einsamkeit, vom Erlöschenmüssen überzeugt, und, mehr noch, stolz darauf, als ob es das Erlöschen verdiene, das Erlöschen ihm mehr nütze und erwünschter sei als ein Fortbestehen unter anderen Bedingungen durch den Willen anderer. Charon, so betete das Bewußtsein hin zum Rücken von Flieger-Leutnant Hopgood, trage mich weiter; schleudere mich tief, tief hinab; bis in mir jedes Fünkchen von Licht, von Wärme des Wissens, selbst das Prickeln, das ich in meinen Zehen fühle, betäubt ist; nach all diesem Leben, all diesem Jucken und Prickeln der Sinne, wird auch dies – Dunkel, Dumpfheit, das schwarze Naß – eine Sinnesempfindung sein. Und so groß ist die unheilbare Eitelkeit des menschlichen Geistes, daß die Wolke, der nasse Schwamm, der auslöschen sollte, jetzt, da man an einen Kontakt mit dem eigenen Bewußtsein dachte, ein glühender Schmelzofen wurde, in dem wir aufwärts loderten; und unser Tod war ein Feuer; entfacht auf dem Gipfel des Lebens, vielzüngig, blutrot, sichtbar über Land und Meer. Auslöschung! Das Wort ist Erfüllung.
Jetzt waren wir in den Rändern der Wolke, und auf die Tragflächen des Aeroplans prasselte der Hagel; Hagel blitzte in silbernen Streifen vorbei wie das Blinken stählerner Eisenbahnschienen. Zahllose Pfeile kamen auf uns zugeschossen, heraus aus der erhabenen Schneise unseres Anflugs.
Da wandte Charon den Kopf mit seinem Pelzrand und lachte uns an. Es war ein häßliches Gesicht, mit hohen Backenknochen und kleinen tiefliegenden Augen, und die eine Wange ganz hinunter war eine Falte, wo er versehrt und zusammengenäht worden war. Vielleicht wog er an die zwei Zentner; er war eichengliedrig und eckig. Aber bei alledem blieb jetzt von Flieger-Leutnant Hopgood nichts übrig als eine Flamme, wie man sie dünn und verstohlen in der Lampe an einer Straßenecke flackern sieht; eine Flamme, die trotz all ihrer Beweglichkeit kaum dem Tod entrinnen kann. Eine solche war der Flieger-Leutnant geworden; und auch wir, so daß die umklammernden Hände, die Umarmungen, die Gemeinschaft der dem Sterben Nahen dahin war; es gab nichts Fleischliches mehr. Doch gerade so, wie wenn man ans Ende einer Allee von Bäumen kommt und einen Teich mit Enten darauf findet, und nichts als bleifarbenes Wasser, so kamen wir durch die Schneise von Hagel hindurch und hinaus in einen Bereich so still, so ruhig, mit Dunst darüber und Wolken darunter, so daß wir zu treiben schienen wie eine Ente auf einem Teich treibt. Aber der Dunst über uns war dichtes Weiß. So wie Farbe ans Ende eines Malpinsels läuft, so war das Blau des Himmels in einen Klecks darunter zusammengelaufen. Es war weiß über uns. Und jetzt fingen die Rippen und Eingeweide des pflanzenfressenden Säugetiers an zu gefrieren, zu zerfallen, zu gefrieren zur Leichte und Weiße dieses geisterhaften Universums, und zum Nichts. Denn keine Wolken reisten oder lagerten dort oben; mit Licht, das sie gestreichelt hätte, und Haufen, die von ihren Hängen abgebrochen wären oder sich wieder türmten und anschwollen. Hier war keine Feder, keine Falte, die die steile Wand durchbrochen hätte, die dort für immer aufstieg, für immer und ewig.
Und diese gelblichen Lichter, Hopgood und man selbst, wurden wirkungsvoll überblendet, so wie die Sonne die Flamme auf einer Kohle bleicht. Kein Schwamm löschte uns aus, mit seiner feuchten Schnauze. Das Nichts wurde auf uns herabgegossen wie ein Haufen weißen Sandes. Dann, als ob irgendein Teil von uns seine Schwere beibehielte, fielen wir hinunter in Vliesähnliches, Gegenständliches, und Farbe; alle Farben zerstampfter Pflaumen und Delphine und Tücher und Meere und Regenwolken prallten zusammen, fleckten – purpurn, schwarz, stählern, all diese ganze sanfte Reife siedete um uns, und das Auge fühlte, wie ein Fisch fühlt, wenn er vom Felsen in die Tiefen des Meeres gleitet.
Eine Zeitlang waren wir in die Wolken eingewickelt. Dann erschien die Märchen-Erde, die weit, weit unten lag, eine bloße Scheibe oder Messerklinge von fließender Farbe. Sie stieg mit rasender Geschwindigkeit zu uns auf, sich verbreiternd und verlängernd; Wälder erschienen auf ihr und Seen; und dann wieder ein ungewisser dunkler Fleck, der bald mit Spitztürmen punktiert und zu Blasen und Kuppeln aufgebläht zu werden begann. Näher und näher kamen wir aufeinander zu und hatten wieder das Ganze der Zivilisation unter uns ausgebreitet, still, leer, wie eine zu unserer Belehrung veranstaltete Demonstration; der Fluß mit den Dampfern, die Kohle und Eisen bringen; die Kirchen, die Fabriken, die Eisenbahnen. Nichts bewegte sich; niemand bediente die Maschine, bis man auf einem Feld in der Umgebung von London ein Pünktchen sich tatsächlich und wahrhaftig bewegen sah. Obwohl der Punkt von der Größe einer Schmeißfliege war und seine Bewegung winzig, beharrte der Verstand darauf, daß es ein Pferd wäre und daß es galoppierte, aber alle Geschwindigkeit und Größe waren so vermindert, daß die Schnelligkeit des Pferdes sehr sehr langsam erschien und seine Größe minimal. Jetzt aber waren da oft Bewegungen in den Straßen, wie von Dahingleiten und Anhalten; und dann begannen allmählich die weiten Falten von Stoff da unten sich zu bewegen, und man sah in den Falten Millionen sich bewegender Insekten. In der nächsten Sekunde wurden sie Menschen, Geschäftsleute, im Herzen der weißen Gebäude der City.
Durch ein Zeiss-Fernglas konnte man jetzt in der Tat die Spitzen von Köpfen einzelner Menschen sehen und konnte einen steifen Hut, eine Melone, von einer Arbeitermütze unterscheiden und konnte soziale Schichten so sicher ausmachen – wer ein Arbeitgeber war und wer ein Arbeiter. Und man mußte dauernd Luftwerte in Landwerte umwechseln. Da gab es in der City oft Verkehrsstockungen fast einen Fuß lang; diese mußte man übersetzen in elf oder zwölf Rolls-Royce-Wagen hintereinander mit wütend wartenden City-Magnaten; und man mußte die Wut der Magnaten zusammenzählen; und sagen – obgleich alles still und die Stockung nur wenige Zoll lang war, wie skandalös die Verkehrsregelung in der City von London ist.
Aber mit einer Drehung seines Handgelenks flog der Flieger-Leutnant Hopgood über die Armenviertel, und dort konnte man durch das Zeiss-Glas Leute sehen, die beim Geräusch des Aeroplans nach oben schauten, und konnte den Ausdruck auf ihren Gesichtern beurteilen. Es war keiner, wie man ihn normalerweise sieht. Er war komplex. »Und ich muß die Stufen schrubben«, schien er unwillig zu sagen. Trotz allem, sie winkten, sie schickten uns Grüße; sie waren in der Lage zu fliegen. Und schließlich wandte hier der Kopf sich wieder nach unten und der Scheuerbesen wurde fest umklammert, aufs Pflaster zu fallen wäre nicht hübsch. Und sie schüttelten die Köpfe; aber sie schauten wieder zu uns hoch. Doch weiterhin, es war vielleicht über der Oxford Street, nahm uns überhaupt niemand wahr, sondern einer stieß an den anderen an, gefangen in seiner wütenden Begier, einen Blick auf irgend etwas in einer Auslage zu erhaschen (es gab einen gelblichen Blitz, als wir darüber hinflogen). Weiterhin, vielleicht auf der Höhe von Bayswater, wo das Gedränge dünner war, fiel einem ein Gesicht, eine Gestalt, etwas Komisches am Hut oder der Trägerin plötzlich ins Auge. Und dann war es merkwürdig, wie man ärgerlich wurde über alle die Flaggen und Oberflächen und die unzähligen Fenster, die so symmetrisch wie Alleen waren, symmetrisch wie Waldschneisen, und wie man nach einer Öffnung verlangte, und die Tür ins Innere aufzustoßen und die Oberflächen los zu sein. Oben in Bayswater öffnete sich tatsächlich eine Tür, und sofort natürlich erschien ein Zimmer, unglaublich klein natürlich und lächerlich in seinem Versuch, separat und es selbst zu sein, und dann – war es das Gesicht einer Frau, jung, vielleicht, jedenfalls mit einem schwarzen Umhang und einem roten Hut, die das Mobiliar – hier eine Schale, dort eine Anrichte mit Äpfeln darauf – uninteressant machte, weil die treibende Kraft, die eine Matte kauft oder zwei Farben zusammenstellt, wahrnehmbar wurde, so wie man sagen kann, daß der Dunst über einem elektrischen Feuer wahrnehmbar wird. Alles hatte seine Werte von der Luft aus gesehen verändert. Die Persönlichkeit war außerhalb des Körpers, abstrakt. Und man wünschte, fähig zu sein, das Herz, die Beine, die Arme damit zu beseelen, wozu es nötig wäre, dort zu sein, um sich zu sammeln; um dieses anstrengende Spiel aufzugeben, beim Fliegen durch die Luft Dinge zusammenzutragen, die auf der Oberfläche liegen.
Und dann kurvte das Feld um uns und wir gerieten in einen Strudel von grünem Stoff und weißen rasenden Lattenzäunen, die wie Papierbänder um uns flogen, und berührten die Erde und rollten mit enormer Geschwindigkeit dahin, setzten auf, stießen auf eine steinige Fläche, harte Kurven nach den Federn aus Luft. Wir waren gelandet, und es war vorbei.
Tatsächlich hatte aber der Flug noch nicht begonnen; denn als Flieger-Leutnant Hopgood sich vorbeugte und den Motor aufheulen ließ, hatte er irgendeinen Defekt in der Maschine entdeckt, und den Kopf hebend hatte er nur sehr schafsköpfig gesagt, »Tut mir leid, heut wird’s nix«. So waren wir denn doch nicht geflogen.Aus dem Englischen von Helmut Viebrock
SINN UND FORM 1/2014, S. 101-106
Worcell, Henryk
- 2/1979 | Frau Worcells Gepäck
Woronin, Sergej
- 6/1982 | »Modern...«
Woroszylski, Wiktor
- 1/1994 | Gedichte
Wosnessenski, Andrej
Wroblewsky, Vincent von
- 2/1983 | Gespräch mit Miguel Barnet
- 1/1988 | Gespräch mit Alain Robbe-Grillet und Brigitte Burmeister
- 1/2001 | Gespräch mit György Konrád
Wulffen, Barbara von
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- 2/2023 | Etwas auf die Beine stellen, wofür man einzustehen bereit ist. Ein Gespräch mit Bernd Wagner über die Untergrundzeitschrift »Mikado«
Wunderlich, Rudolf
- 3/1985 | Briefwechsel Hans Grundig - Rudolf Wunderlich
Wünsche, Günter
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Wurm, Carsten
- 4/1988 | Georg Maurer im Aufbau-Verlag
- 5/2005 | B. Traven. Briefe an Johannes Schönherr. Vorbemerkung Carsten Wurm
Wurmser, André
Würtz, Hannes
Wüstefeld, Michael
- 1/1985 | Gedichte
- 4/1991 | Notiz zur Lürik. Ein Gedicht
- 5/1992 | Gedichte
- 1/1994 | Gedichte
- 4/1998 | Gedichte
- 5/2005 | Die Verschwörungsseifenblase
Wyka, Kasimierz
- 3/1954 | Über den Realismus in Fredros Komödie »Die Rache des Verschmähten«
Wyleżyńska, Aurelia
- 5/2019 | »Über nichts schreiben, als was die Augen sehen«. Tagebuch aus dem besetzten Warschau (1939).
Mit einer Vorbemerkung von Bernhard Hartmann, S. 640 Leseprobe
Wyleżyńska, Aurelia
»Über nichts schreiben, als was die Augen sehen«. Tagebuch aus dem besetzten Warschau (1939)
Vorbemerkung
Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen überfielen, hatte Aurelia Wyleżyńska sich als Verfasserin mehrerer Romane, eines Parisführers und zahlreicher Beiträge für Tageszeitungen und Zeitschriften schon einen Namen gemacht. Gleichwohl waren es von allen Werken ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1939 –1944, von denen sie hoffte, daß sie für die Nachwelt erhalten blieben. Am 3. April 1944 notierte sie: »Das ist mein Testament … (…) Von Horaz bis Puschkin wollte jeder Schriftsteller sich ein Denkmal setzen. (…) Mein Wunsch ist es, dieses Tagebuch zu veröffentlichen. Zu Lebzeiten oder posthum.«
Das Tagebuch enthält Biographisches, Reflexionen über Kultur und Literatur, vor allem aber Notizen von Streifzügen durch Warschau, die eindrückliche, oft frappierende Bilder vom Leben in der erst belagerten, später besetzten Stadt liefern. Nicht minder aufschlußreich sind die Schilderungen aus der masowischen Provinz, vom Landsitz der Familie in Wielgolas, den Wyleżyńska während des Krieges aufsuchte, wann immer sich ihr die Möglichkeit bot. Ihr klarer, unbestechlicher Blick ermöglichte es der Verfasserin, von Propaganda und Freund-Feind-Denken unbeeinflußte Beobachtungen und Gedanken zu Papier zu bringen. Die Suche nach Informationen über die Vorgänge in Warschau brachte die Autorin mitunter in höchste Gefahr: Eines Tages wäre sie um ein Haar als vermeintliche Spionin standrechtlich erschossen worden – Rettung brachte in letzter Sekunde ein Offizier, der die Schriftstellerin und Journalistin erkannte. Doch auch solche Erlebnisse hielten Wyleżyńska nicht von ihrer Mission ab: »Ich habe beschlossen, die Chronistin dieser von barbarischen Horden zerstörten Stadt zu sein, und muß Dokumente sammeln, wo ich nur kann.«
Schon vor dem Krieg führte Wyleżyńska ein bewegtes, wenngleich nur spärlich dokumentiertes Leben (auch in dieser Hinsicht ist das Tagebuch eine maßgebliche Quelle). Sie wurde 1881 im podolischen Ort Oknica (heute Moldawien) geboren, besuchte renommierte Mädchenschulen in Warschau und Krakau und studierte von 1907 bis 1911 polnische Literatur und Philosophie an der Krakauer Jagiellonen-Universität. Nach Abschluß des Studiums pendelte sie als Reporterin zwischen Paris und ihrem Wohnort Krakau. Im Sommer 1915 wurde sie als österreichische Staatsbürgerin auf Anordnung der zaristischen Armeeführung nach Saratow deportiert, wo sie den angehenden Schriftsteller, Essayisten und Literaturübersetzer Jan Parandowski ("Jasiek«) kennenlernte. 1918 heirateten die beiden und übersiedelten nach Kriegsende in seine Heimatstadt Lemberg, wo Wyleżyńska aktiv am literarischen Leben teilnahm. Nach dem Scheitern der – intellektuell und publizistisch überaus produktiven – Ehe zog sie 1924 nach Paris. Wie schon in Saratow engagierte sie sich dort in exilpolnischen Organisationen und führte einen literarischen Salon. Über ihre Reisen nach Italien, Spanien, Österreich und Deutschland berichtete sie regelmäßig in polnischen Tages- und Wochenzeitungen. Außerdem verfaßte sie mehrere Romane und Erzählbände, deren Protagonistinnen oft gegen überkommene Geschlechterrollen ankämpfen. 1937 zog sie in die polnische Hauptstadt. Der Kriegsbeginn überraschte sie im damals polnisch-rumänischen Grenzort Zaleszczyki (heute Ukraine). Im besetzten Warschau schrieb Wyleżyńska für die Untergrundpresse, ab Mitte 1940 arbeitete sie als Freiwillige in Krankenhäusern der Stadt. Außerdem versorgte sie jüdische Freunde, die sich außerhalb des Ghettos versteckten. In ihrer letzten Warschauer Wohnung veranstaltete sie ab 1942 Literaturabende für einen kleinen Kreis von Freunden, denen sie kurz vor ihrem Tod auch Auszüge aus dem Tagebuch vorlas. Am 2. August 1944, einen Tag nach Beginn des Warschauer Aufstands, wurde Aurelia Wyleżyńska auf dem Rückweg vom Krankenhaus von einer deutschen Kugel getroffen. Am folgenden Tag erlag sie ihren Verletzungen.
Das Tagebuchmanuskript überdauerte den Krieg in der Bibliothek eines Büchersammlers, heute liegen die zum Teil stark beschädigten Blätter im Zentralarchiv für Moderne Akten und in der Nationalbibliothek in Warschau. In geschichtswissenschaftlichen Arbeiten werden immer wieder einzelne Passagen zum Leben in der besetzten polnischen Hauptstadt zitiert, doch liegt bis heute keine Gesamtausgabe vor. Ein Grund dafür sind neben den konkreten editorischen Schwierigkeiten bei der Erstellung einer verläßlichen Textfassung sicher auch die Person und die Haltung Aurelia Wyleżyńskas, die sich ideologisch und geschichtspolitisch nicht vereinnahmen läßt. Der Literaturwissenschaftlerin Grażyna Pawłak vom Institut für Literaturforschung der polnischen Akademie der Wissenschaften und dem Historiker Marcin Urynowicz vom Institut für Nationales Gedenken ist es zu verdanken, daß Ende 2020 die erste polnische Ausgabe des Tagebuchs erscheinen wird – beide arbeiteten bezeichnenderweise jahrelang privat an dem Projekt. Der Berliner Journalist und Historiker Martin Sander möchte das Werk auch deutschsprachigen Lesern zugänglich machen und hat mich als Übersetzer mit ins Boot genommen. Mit der Publikation des vorliegenden Auszugs verbinden wir die Hoffnung, Aurelia Wyleżyńskas Aufzeichnungen eines Tages in einer umfangreicheren deutschen Ausgabe präsentieren zu können.
Bernhard Hartmann
15. August 1939
Ich fahre nach Horodnica, ins Ferienlager des Stefan-Żeromski-Arbeiterinstituts für Bildung und Kultur. Mich interessiert diese noch wenig bekannte Form des Nachkriegszusammenlebens. Alle lachen mich aus, sie sagen, für so etwas müsse man zwanzig sein und eine Garantie auf heiteres Wetter haben. Doch die Gier nach Eindrücken kennt kein Alter. Innerlich bin ich immer heiter. Andere prophezeien einen heraufziehenden Sturm. Ich glaube, dieses Mal zieht er vorüber. Denn ich vertraue auf die Weisheit der Menschheit. Sie wird es nicht wollen, es nicht zulassen … Denn andere, so wie Huxley, so wie ich, haben eine friedliche Lösung für alle drängenden Probleme gefunden.
Horodnica, 20. August 1939
Wie schön es sein wird, befreit von allen Problemen zu schreiben, mit denen ich mich in letzter Zeit beschäftigen mußte. Schildern, was ich sehe, mich begeistern, nicht kritisieren. Feststellen, nicht suchen. Hoffnung haben, unerschütterlich glauben.
Ich stehe am Dnister. Ich kenne den Fluß von der anderen Seite. Ein arabisches Sprichwort sagt: Niemand kühlte je seine Füße im selben Wasser. Mir kommt es freilich die ganze Zeit vor, als wäre ich genau hier über die Kiesel gewatet. Doch nein, die Steine, die damals die kleinen Füße verletzten, sind jetzt anders geschliffen, ihre Berührung wäre den heutigen Füßen fremd.
Ich preise den Dnister, er fließt wie in den fernen Zeiten der Kindheit, ruhig, sicher. Auch wenn er seitdem von österreichischem und russischem Blut getrübt wurde, auch von polnischem. Er ist nicht heiter. Das Wasser ist wie der Mensch, es ist ein Abbild seines Inneren und ebenso ein Spiegel seiner Umgebung. Das Ufer, könnte man sagen, austauschbar, hier rote Felsen, dort noch das frische Grün der Fluren und Wälder. Und so immer abwechselnd, die Ansichten springen von einem Ufer ans andere. Das macht, daß das Flußbett … Nicht schreiben, nicht grübeln, schauen …. Irgendwann kleidet es sich in die passende Form. Nutzt, was in die Tiefen des Unterbewußtseins eindrang.
22. August 1939
Ich fasse einen Eindruck sur la vie … Das warme Podolien erhellt das Geheimnis des ganzen Lebens, mir ist klargeworden, daß ich die Frau des Südens bin, die ich schon immer war, weil ich hier zur Welt gekommen bin. In diesem Land, das gewissermaßen kein Teil Polens, sondern ein eigenes Land ist, spüre ich mein eigentliches Vaterland. Die üppige Flora, ihre Fülle zeugt von einem anderen geographischen Breitengrad. (…)
25. August
Ich muß nicht allein sein, wenn ich nicht will. Ich kenne niemanden, niemand stellt sich hier vor, aber ich plaudere mit verschiedenen Menschen. Gestern haben wir mit der ganzen Gruppe einen Ausflug nach Zaleszczyki gemacht. Fünfzig Beamte der Staatlichen Forstbetriebe sind in Horodnica eingetroffen. Sie machen hier zwei Wochen Urlaub. Die schon anwesenden Männer haben unübersehbar Verstärkung bekommen. Es wird am Strand keine einsamen Frauen mehr geben, Satyrn mit nackten Oberkörpern entführen alle halbwegs jungen Feen. Auf dem Weg durch das unwegsame podolische Gelände wird Pan sie mit der Flöte begleiten. Ich habe das Präludium zu dieser Agape bei der Besichtigung der Weinberge gesehen. (…)
28. August 1939
Wenn ich auch über nichts anderes schreiben will, als was meine Augen sehen, so muß ich doch, als Material für spätere Artikel, meine Eindrücke von der mir zuvor unbekannten Institution festhalten. Obwohl chaotisch, kann ich die Notizen später für ein Stück nutzen, in dem der eine oder andere Aspekt erhellt wird. (…)
In der unpolitischen Atmosphäre vergißt man den Antisemitismus. Niemand denkt an die Möglichkeit eines Kriegs. Das merke ich, während ich höre, was die Leute reden. (…)
[Donnerstag]
Die Staatlichen Forstbetriebe stehen in geschlossener Reihe bereit zum Abmarsch. Es war ein kurzer Urlaub. Die Waldgötzen schauen keine Frau an.
Bei Tagesanbruch brachen sie auf. Ich kehre in die Hütte zurück. Die Bauern teilen die tägliche Arbeit unter sich auf. Alle sind auf den Beinen. Ich kann in Ruhe schreiben. Das Klappern der Schreibmaschine kann niemanden mehr aufwecken. Obwohl es noch nicht ganz fünf ist. Nachmittags mit Irena am Fluß. (…)
1. September 1939
Ich bin mit dem Bleistift in der Hand unterwegs. Der Morgen versammelt podolische Aromen. Es ist so hell, daß man blinzelt. Beim Frühstück ist nur noch ein kleines Grüppchen. Ich werde auf jeden Fall in ein paar Tagen abreisen. Schließlich muß ich auf dem mir zugewiesenen Posten sein. Vielleicht gibt es Krieg … Vorher für einige Tage nach Zaleszczyki. Ich sage das dem Kommandanten und bitte um die Rückgabe der 200 Zloty, die ich ihm zur Aufbewahrung gab. Er rät mir nicht wie gestern sanft von dem Ausflug ab, er bittet mich nicht zu bleiben, sondern gesteht: »Wir haben das Geld genommen.« Sie mußten Bauern, die den Stellungsbefehl erhalten hatten, für frühere Lieferungen bezahlen. Vielleicht hatten sie gedroht? Er verspricht mir, das Geld zurückzugeben, sobald er welches aus der Zentrale erhält. »Bitte warten Sie.« Ich warte. Währenddessen schleiche ich um den »Pavillon«, »ohne Verwendung«, wie wir solche Situationen mit Jasiek früher immer nannten.
Das Radio ist kaputt. Wird es Post geben?
Nachmittag. Ich setzte auf die andere Seite des Dnister über. Bei der Fähre sagt mir eine Frau, sie nehme diesen Weg nach Zaleszczyki, weil die Bahnverbindung durch Rumänien unterbrochen sei. Ängste. Spaziergang durch den Wald mit dem ständigen Gedanken: Immer weiter! Sehen, was hinter der Sichtgrenze ist. Typisch für mich. Und zugleich die Sorge, es könnte schlechte Neuigkeiten geben. Ich kehre zum Fluß zurück. An der Fähre steht eine Britschka. Ein Offizier will übersetzen. Wenig Wasser, die Überfahrt wird dauern. Er hat es eilig. Er befiehlt einem Bauern, der mit einem Sack auf den Schultern wartet, bis er an der Reihe ist, eine Furt zu suchen. Der Bauer widersetzt sich, er sei nicht von hier, er kenne den Dnister nicht. »Von wo dann?!« Der Offizier unterstreicht seine Frage durch das Zischen der Peitsche, die er dem Kutscher abgenommen hat. »Papiere!« In seinem brutalen Verhalten spüre ich den Vorgeschmack des Kriegs. Ich erstarre. Dann wendet er sich an mich: »Was machen Sie hier?« »Ich bin im Ferienlager.« »Es gibt keine Ferienlager mehr. Wir haben Krieg.« Mein Gesichtsausdruck weckt Mitleid in ihm. »Ja«, sagt er sanfter, »wir haben Krieg. Sie haben schon Grodno und Lemberg bombardiert, doch wir sind in Ostpreußen einmarschiert. Die Siegfrieds-Linie ist durchbrochen.«
Wir sind auf der Fähre. Offensichtlich will der Offizier die Beziehungen zur ukrainischen Dorfbevölkerung nicht verschlechtern, er läßt den Bauern seiner Wege ziehen. Jetzt steht er jung und kühn neben mir. Er tröstet mich: »Was soll’s, das alles wird bald vorbei sein.« »Sie haben leicht reden. Sie haben den Großen Krieg nicht erlebt.« »Doch … Als Student bin ich in die polnische Armee in Frankreich eingetreten …"
Plötzlich fühlen wir uns einander nah. Ich strecke meine Hand aus. Er küßt sie. Wir sagen unsere Namen. »Sie haben mir den ersten Frontbericht erstattet … Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken.«
Er springt auf die Britschka und verschwindet, wie in einem Roman von Korzeniowski, in einer Staubwolke.
Ich kehre zum Pavillon zurück. Als Überbringerin der furchtbaren Nachricht … Rasch halte ich die Notizen des heutigen Tages, die unvermittelt zum historischen Dokument geworden sind, auf der Schreibmaschine fest.
Abend. Das Radio ist repariert. Es spuckt unverständliche Wortkombinationen aus: »Achtung, Achtung, vorbeigezogen, vorbeigezogen.« Dann fremde Namen, geometrische Formeln, neue Wortschöpfungen. Was hat das zu bedeuten? Jemand erklärt: »Erinnern Sie sich nicht an die Probealarme? So signalisieren sie Luftangriffe.«
Auf Warschau?
[…]SINN UND FORM 5/2019, S. 640-657, hier S. 640-644
Wysling, Hans
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