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Vago, Pierre
- 2/2007 | Ein bewegtes Leben. Erinnerungen eines Architekten
Vahabzade, Bahtiyar
- 5/1982 | Gedichte aus der Aserbaidshanischen SSR
Vailland, Roger
- 4/1964 | Seltsames Spiel
Vaillant-Couturier, Paul
- 4/1950 | Entdeckung des Flusses
Vajda, György Mihály
Vala, Katri
- 1/1951 | Finnische Lyrik. Die Mütter
Valgardson, W. D.
- 2/1981 | In Manitoba
Vallentin, Maxim
- 1-2-3/1957 | Stimmen der deutschen Bühne zum Tode Brechts
- 3/1985 | Gedichte
Vallès, Jules
- 3/1971 | Der 26. März
Vancura, Vladislav
- 2/1959 | Bäcker Marhoul
Vápeník, Rudolf
- 2/1985 | Zeitweise Begegnungen. Ein Übersetzer erlebt Anna Seghers
Varloot, Jean
- 5-6/1962 | Diderots Philosophie im »Rêve de d'Alembert«
Varón, Policarpo
- 3/1973 | Rosen für das ganze Leben
Vas, István
- 1/1969 | Das Grab des Nicolaus Cusanus
Vasbo, Vibeke
- 4/1990 | Über die Situation der Schriftsteller
Vassilikos, Vassilis
Vatsyayan Agneya, S. H.
- 4/1969 | Gedichte
Vatsyayan, S.H. (Ajneya)
Végel, László
- 2/1995 | Die Gesten des Herrn Kis
- 3/1996 | What is Yugoslavia?
- 1/2002 | Ein heimatloser Lokalpatriot
- 5/2003 | Europäische Bastarde. Tisma-Treppen auf- und ablaufend oder Die Abenteuer des Andersseins
Venclova, Tomas
- 2/2018 | Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil, S. 209 Leseprobe
Venclova, Tomas
Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil
Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir entgegenhalten, dies sei eine unzulässige Vereinfachung, die darauf zurückführen ist, daß ich selbst sowohl Immigrant als auch Emigrant bin. Doch ich würde meine Ansicht verteidigen. Jeder weiß, daß die Vereinigten Staaten – ihre Stärke, ihr Wohlstand, ihre Kultur – vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich von den Massen von Ankömmlingen geschaffen wurden, die frei zu atmen begehrten (um es mit den Worten der Inschrift der Freiheitsstatue zu sagen). Im Gegensatz dazu wurde Rußlands Kultur – nicht jedoch seine Stärke und seine nicht vorhandene Prosperität – in beinah demselben Ausmaß von Emigranten, von den bemitleidenswerten Verstoßenen jenes alten, pompösen Imperiums erschaffen. Dasselbe läßt sich im wesentlichen auch über Polen sagen und vermutlich auch über Litauen, mein Heimatland – sowie über alle Länder jener schwer zu definierenden Region namens Ost- oder bisweilen auch Mitteleuropa im Schatten des besagten Imperiums.
Die Emigranten dieser Länder kann man, wiederum, mindestens in zwei Gruppen einteilen. Die einen, wie Adam Mickiewicz und Alexander Herzen im 19. Jahrhundert und meine Zeitgenossen Czesław Miłosz und Joseph Brodsky, verlassen ihre Heimat für immer. Andere, wie Boris Pasternak oder Michail Bulgakow, werden zu inneren Emigranten. Die »innere Emigration« ist eine russische Spezialität. Selbst Alexander Puschkin war in einem gewissen Sinne ein innerer Emigrant. Er wollte immer ins Ausland reisen, bekam aber, wie sich leicht erraten läßt, niemals eine Ausreisegenehmigung. In seiner Verzweiflung verfiel er auf die seltsamsten Ideen: Er versuchte, sich einer russischen Delegation nach Peking anzuschließen, und meldete sich im russisch-türkischen Krieg sogar freiwillig zur Armee, nur um ein einziges Mal im Leben ausländischen Boden zu betreten. Es gelang ihm auch, doch da war der besetzte türkische Boden, wie er enttäuscht feststellte, bereits russisch geworden.
Viele Russen haben die Trennlinie zwischen innerer und echter Emigration überwunden, und manche von ihnen sind sogar zurückgekehrt, beispielsweise Marina Zwetajewa und Sergei Prokofjew, und es hat ihnen, milde ausgedrückt, nicht gutgetan. Im übrigen läßt sich auch keine klare Trennlinie zwischen beiden Formen der Emigration und dem Tod ziehen.
Dagegen gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen einer gewöhnlichen und einer aussichtslosen Tyrannei. Die letztere zeichnet sich durch totale Isolation und Abgeschlossenheit aus (was der Marquis de Sade sehr gut verstand). Länder, die ihre Grenzen auf Dauer schließen, rechtfertigen diese Entscheidung mit eindrucksvollen Mythen. Diese Mythen sind Hunderte Male widerlegt worden und trotzdem unglaublich lebendig. Sie erhalten sich nicht nur durch die Bemühungen der Regierungen, sondern auch durch die in den Gesellschaften vorherrschenden Meinungen. Meistens ist die Argumentation die folgende: Die Abkehr von der eigenen Gesellschaft (und sogar die Entscheidung für die innere Emigration) ist geistiger Selbstmord. Es ist ein nichtswürdiger Akt, der dem Betrug an der eigenen Frau oder, noch besser, an der eigenen Mutter gleichkommt. Es ist ein religiöses Verbrechen, die Ablehnung des wahren Glaubens. Emigration ist die Abwendung von gewissen mystischen Wahrheiten, deren Erkenntnis nur auf heimatlichem Boden möglich ist. Natürlich ist das Leben auf diesem Boden schwer, niemand wird das bestreiten, aber das eigene, von unendlichem Leid heimgesuchte Land im Stich zu lassen, ist unmoralisch und ehrlos. Der Mensch kann ohne die heimatliche Landschaft vor Augen nicht leben. Ein Schriftsteller kann ohne seine Muttersprache nicht existieren. Die menschliche Kreatur ist nicht von sich aus klug und anständig – sie ist ein untrennbarer Teil ihres heimatlichen Bodens, ein Tropfen Heimatblut, ein Rädchen im geistigen Getriebe der Heimat. Verstand und Anstand können ohne kollektive Volkseele nicht existieren. Der Mensch ist ein Embryo, der stirbt, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, die ihn mit dem warmen, starken Körper seiner Großen Mutter verbindet. Das Individuum existiert nicht, basta.
Selbstverständlich hat es Menschen gegeben, die diese Mythen bewußt oder unbewußt abgelehnt haben. Oder wenigstens mit ihnen gerungen haben wie Jakob mit dem Engel. Es gibt gute Gründe für die Behauptung, daß auf diese Weise – durch Ablehnung und Ringen mit diesem Mythos – das Beste entstanden ist, was die russische und osteuropäische Kultur hervorgebracht hat.
Über diese Menschen kann man unendlich viele Geschichten erzählen, die nicht immer interessant, aber meistens lehrreich sind. Zum Beispiel die Geschichte, wie Boris Godunow, jener relativ liberale – von Puschkin ein bißchen zu Unrecht in dem bekannten Drama verurteilte – Zar, zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe junger russischer Aristokraten zum Studium ins Ausland schickte und kein einziger zurückkam. Das hatte, um es mit Ossip Mandelstam auszudrücken, einen sehr einfachen Grund: Es gibt keinen Weg zurück aus dem Sein ins Nichtsein. Die Konfrontation mit dem Sein jedoch war offenbar kaum zu verkraften, zumindest nicht für einige der jungen Männer. Einer von ihnen ging jeden Tag zu jenem Gebäude in London, in dem sich damals die russische Gesandtschaft befand, und rief aus sicherer Entfernung: »Ihr Moskowiter seid alle verdorbene Dummköpfe!« Später begann er zu stehlen und wurde entsprechend der englischen Rechtsprechung feierlich hingerichtet. Dies ist, leider, ein beständiges Schema, dem das Schicksal von russischen (und osteuropäischen)
Emigranten folgt.
Viel später, im 19. Jahrhundert, gab es Wladimir Petscherin, einen Philosophen und Dichter von unbestreitbarem (wenngleich nicht außergewöhnlich großem) Talent. Vom russischen Staat nach Europa entsandt, desertierte er und konvertierte sogar zum Katholizismus, trat in ein Redemptoristenkloster ein und starb mit achtundsiebzig Jahren in Dublin. Er war allmählich zu extrem konservativen Überzeugungen gelangt und organisierte sogar eine öffentliche Verbrennung von Büchern, die er für häretisch hielt, was einen großen Skandal auslöste. Manche behaupten, er sei der Prototyp des Großinquisitors der »Gebrüder Karamasow«. Zwei Verse von ihm seien hier erwähnt:
Oh, wie süß es ist, sein Heimatland zu hassen
Und ständig seinen Untergang herbeizusehnen!
Ich bin der Meinung, daß dies einer der originellsten – und, mag sein, auch furchtbarsten – Texte der Weltliteratur ist. Mich läßt er allerdings weniger über die Morallosigkeit eines Petscherin als vielmehr über ein Heimatland nachdenken, das zu solchen Versen inspiriert.
Aber die längste Emigrantengeschichte, die ich erzählen möchte, ist eine andere. Ihr Protagonist war zweifellos von größerer Weisheit als Petscherin und reifer als jener unglückliche junge Mann, der im London des 17. Jahrhunderts zugrunde ging. Er war ein Militär und Staatsmann sowie ein guter – wenngleich kein herausragender – Schriftsteller. Überdies war er der erste russische Emigrant, der es wagte, die Nabelschnur zur kollektiven Seele zu kappen und sich zu einem unabhängigen menschlichen Wesen zu entwickeln. Über vierhundert Jahre trennen uns von ihm. Sein Name war Fürst Andrei Kurbski. Kurbski war und ist in einem gewissen Sinne unser Patron – kein heiliger Patron (er war alles andere als heilig), sondern eine Art Vorvater: ein Mann, der vielfach mit denselben Problemen konfrontiert war wie wir und manchmal sogar dieselben Worte verwendete.
Diese Geschichte hat, genauer gesagt, zwei Protagonisten. Der andere ist sogar noch außergewöhnlicher. Es ist der Zar von ganz Rußland, der erste, der sich überhaupt als »Zar« bezeichnet, als Imperator. Im Westen ist er als Iwan der Schreckliche bekannt. Diese Übersetzung ist ein wenig ungenau, denn »grosnyj« bedeutet streng und furchteinflößend. Mit diesem Adjektiv bezeichnet man einen Vater, eine Naturgewalt oder eine Gottheit. Es wurde häufig auch auf Stalin angewendet. Einer verbreiteten Meinung zufolge bedeutete es, daß dieser Herrscher zwar furchteinflößend war, aber auch für seine treuen Untertanen gesorgt hat. Hier wollen wir ihn Iwan den Gestrengen nennen.
[…]
Aus dem Litauischen und Englischen von Claudia Sinnig
SINN UND FORM 2/2018, S. 209-218, hier S. 209-212
- 1/2020 | Prosper Mérimées letzte Novelle
Venesis, Ilias
- 4/1960 | Antigone
Vercors
- 4/1949 | Eine politische Lüge
- 1/1953 | Zum Tode Paul Eluards. Trauerreden auf dem Père-Lachaise
- 4/1968 | Die Schlacht des Schweigens
Verga, Giovanni
- 1/1990 | Vorwort zu « Vom Deinen zum Meinen«
Verger, Jaqueline
- 6/1976 | Pariser Gespräch mit Claude Prévost, Jean Tailleur, Jean Guégan, Gilbert Badia, Claude Seibisch, André Gisselbrecht, Michèle Tailleur und Jean-Paul Barbe über die Prosa der DDR
Verlaine, Paul
- 2/2017 | Fröhliche Heilige und traurige Sünder. Gedichte
Vermeil, Edmond
- 3/1956 | Heine als Politiker
Vesaas, Tarjei
- 5/2019 | Wie es in der Erinnerung steht
Vesper, Guntram
- 4/1990 | Dunkelkammer
- 2/2014 | Wandertag
- 1/2015 | Der Torweg
- 4/2017 | May aus Ernstthal, S. 686 Leseprobe
Vesper, Guntram
May aus Ernstthal
Vergangene Woche kam ich auf der Suche nach Fundstücken in »mein« Antiquariat in der Gotmarstraße in Göttingen. »Haben Sie etwas Neues?« fragte ich Peter Pretzsch. »Nicht aus Ihrem Spektrum.« (Sollte heißen Malik-Verlag, Georg Heym, Benn und Arno Schmidt, alles Erstausgaben.) Doch dann, nachgeschoben: »Ein bißchen Karl May.« »Radebeuler Ausgaben?« »Ja.«
Die Karl-May-Bücher stehen bei Pretzsch ganz oben im Regal (Erschwerung für Diebe), also stieg ich auf einen Hocker, zog einen der neuen Bände heraus und nahm ihn mit nach unten: »Zepter und Hammer«, Druck in Fraktur, gut erhalten. »Wieviel?«, fragte ich. »Zwölf Euro, steht aber auch drin.«
1. bis 20. Tausend, 1926 erschienen. Wunderbar weißes Papier, die altdeutsche Drucktype leicht durchgeschlagen, man konnte das mit den Fingerkuppen fühlen.
In der Stille einer eisigen Januarnacht geht es los mit der Lektüre: Ein Graf läßt in seinem Wildgehege fahrende Zigeuner kampieren, er hat es auf eine bildschöne Siebzehnjährige aus der Sippe abgesehen. Für die sich aber auch ihr Stiefbruder interessiert, als Findelkind bei der Gruppe aufgewachsen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den Rivalen, dem Jungen wird eine Falle gestellt, er wird in ein Verlies des Grafen verschleppt und von einem Unbekannten befreit. Wenn das nicht viel verspricht!
Und schon steht über dem nächsten Kapitel »Am Nil«, man reibt sich die Augen. In der Folge erleben wir über Hunderte von Seiten mit, wie der Geflohene nicht nur auf tausend Umwegen zum Admiral des Sultans aufsteigt, sondern als mächtiger Mann in die deutsche Heimat zurückkehrt und den adligen Feind, der gerade einen Staatsstreich plant, vernichtet.
Neid, Intrige, übermächtige Gegner; das alles beschreibt, darin badet förmlich ein siebenunddreißigjähriger aus dem Dienst gejagter Volksschullehrer, der nach acht Jahren Arbeitshaus und Zuchthaus bei seinen Eltern in der wahrhaft engen Kleinstadt Ernstthal, heute Hohenstein-Ernstthal, untergekommen ist und erst einmal sehen muß, wie es weitergeht. Er schreibt, und schreibend zieht er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, Seite für Seite, Buch für Buch. Als er sich zwanzig Jahre später endlich freigeschrieben hat, wirklich freigeschrieben, scheinbar freigeschrieben, wer weiß, es gibt den falschen Doktortitel, die hundert Prozesse, die problematische Scheidung, hat er auch Winnetou und Old Shatterhand, Hadschi Halef Omar und Kara Ben Nemsi erfunden.
Wer diese Gestalten Karl Mays als Junge kennengelernt hat, in der Frohburger Kindheit traten für mich noch der findige Robinson, der tapfere Lettow-Vorbeck, Gorkis unheimliche Mutter und der rätselhafte Pawel Kortschagin dazu, der kommt von ihrem Schöpfer ein Leben lang nicht wirklich los und unterliegt bei jeder neuen Begegnung trotz aller Aufschneiderei und Deutschtümelei dem Zauber seiner schier grenzenlosen Phantasie, sobald er eines der dunkelgrünen Bücher aus Radebeul aufschlägt.
In ganz seltenen Fällen belohnt Karl May alias Kara Ben Nemsi alias Old Shatterhand sogar über die Schilderung seiner Abenteuer hinaus. Auf dem Flohmarkt in Seesen am Harz, bei meinem einzigen Besuch dort, zehn Jahre ist das her, entdeckte ich einen Radebeuler Band ohne Rücken, Vorsatz und Titelblatt, das Deckelbild bis zur Unkenntlichkeit abgewetzt, nur durch schnelles Blättern bis zur Bogenmarkierung alle sechzehn Seiten wies das Relikt sich als »Weihnacht« aus. »Wird weggeschmissen«, sagte der Händler, »nehmen Sie’s mit, wenn Sie wollen.« Abends zu Hause fand ich mitten im Buch, genau dort, wo die Handlung aus dem Erzgebirge von Kontinent zu Kontinent in den Wilden Westen überspringt, fünf alte DM-Scheine, zweihundertfünfundvierzig Mark. Danke, Karl May!
SINN UND FORM 4/2017, S. 550-551 - 1/2021 | Oberhessen, S. 686 Leseprobe
Vesper, Guntram
Oberhessen
Seit vergangenem September, seit ich im Wald am Winterstein, hinter Ockstadt, jenseits der A5, auf der Suche nach Heidruns und meiner versteckten Stelle vom Sommer 1961 einen auf dem Rücken sich abstrampelnden Hirschkäfer beobachtet habe und nicht wieder aus der Hocke hochgekommen, sondern nach hinten gefallen bin und minutenlang, genau wie der Käfer, hilflos und verlassen im alten Laub gelegen habe, meine Rufe überdeckt, geschluckt vom Lärm der Autobahn, komme ich höchstens noch einmal in der Woche in die Stadt. Ich nehme, kurzatmig, mit Kreuzschmerzen, immer den Bus, Einstieg Dahlmannstraße, und beschränke mich, wenn ich nicht auch noch zu Calvör, Wiederholdt oder zum Friseur Müller am Nabel will, auf den Besuch des Antiquariats Pretzsch in der Gotmarstraße, die sich nur durch ihre drei Gedenktafeln für Lichtenberg, Eckermann und Cecilie Tychsen, es fehlt Bürger, von den anderen Nebenstraßen abhebt, denen der Leerstand, der Abstieg drohte und droht. Von Pretzsch kaufte ich am 28. Februar am späten Vormittag neben Büchern von Karl May, Koeppen und Edschmid die Erinnerungen mit dem Titel »Unruhestifter« von Fritz J. Raddatz in der Originalausgabe für vier Euro. Das Buch hatte schon zwei Wochen auf dem Auslagetisch vor dem Laden gelegen, dem Regen ausgesetzt, wenn Pretzsch die transparente Plane nicht rechtzeitig über seine Straßenangebote breitete. Raddatz erwähnt auf Seite 470 der Erinnerungen auch mich, gealtert sei ich, wie Grass, Rühmkorf und Wunderlich, alle drei ebenso tot inzwischen wie der Unruhestifter selbst, nur ich lebe noch, Raddatz zufolge als etwas beleibter Bürger, der Kaffee und Kuchen reicht. Der scharfzüngige Erzähler konnte, weil ich dichthielt, auf keinen Fall sollten die laufenden Projekte totgeredet werden, nicht wissen, daß ich damals, in den Jahren seiner Besuche in Göttingen, wie ein Wilder schrieb, »Auftakt mit Arnold Z.«, »Tieflandsbucht« in Entwürfen und früher Fassung und sogar Anläufe, schüchterne Vorstufen von »Frohburg«. Die Ahnungslosigkeit konnte ich ihm nicht vorwerfen, sehr wohl aber die Plauderhaftigkeit, mit der er in einem seiner veröffentlichten Tagebücher Dinge unter die Leute brachte, die ich ihm bei einem unserer Zweierabende im Diwan in der Roten Straße halblaut und unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte und die mich, Heidrun und W. betrafen. Er nickte damals, seinen Oberkörper in meine Richtung über die Tischplatte schiebend und in meinen Blick eintauchend, ja klar, vertraulich, hielt sich aber um der Farbigkeit seines Tagebuchs willen nicht daran. Ich stelle mir vor, daß er damals nach Mitternacht in die menschenleere Goethe-Allee zurückgegangen ist, vorbei an Caroline Schlegel-Schellings Elternhaus und Goethes Unterkunft vom Sommer 1801, und in seinem Zimmer in Gebhards Hotel, dieser wohltuenden Insel gestriger Bürgerlichkeit, der einzigen in ganz Göttingen, und wie lange noch, ein paar Notizen auf den Telefonblock gekritzelt hat, die sich später nutzen ließen. Als Folge des Abdrucks dieser Kurznotizen machte ich von da an seine Briefe, fünf, sechs, sieben, nicht mehr auf, ungeöffnet legte ich sie in die Briefablage, und jeweils am Jahresende wanderten sie mit dem ganzen Konvolut aus zwölf Monaten in den Keller, dort steht der wacklige Schrank von Karstadt mit den 31 Archivkartons voll Post ab November 1957, zuunterst die Briefe meiner Geithainer Mitschüler Elke Voigt, Irmgard Wittstock, Josef Miszler und Günter Bernecker, die den Republikflüchtling auf dem laufenden hielten, was Frohburg und Geithain anging. Ungeöffnet sind im kleinen bescheidenen Archiv auch noch fünf bis sieben weitere Briefe bekannter, unbekannter und verheimlichter Absender mit vermutlich strapaziösem, mich belastendem Inhalt zu finden, wobei ich allerdings sagen muß, daß mein Vorwarnsystem und meine Filter auch nicht immer funktioniert haben, oft genug bin ich in der Vorfreude auf eine angenehme Nachricht, Honorar, Einladung, Anerkennung, blindlings mit dem Brieföffner umgegangen und fiel dann auf Frechheiten, Gemeinheiten, Giftpfeile herein, so wie ich ja auch vor anonymen Karten nie die Augen schließen konnte, immer mußte ich dann doch, obwohl die Klugheit anderes riet, die Karte umdrehen und nachsehen, was da stand, erstmals im Winter 1959 in Reiskirchen, von einem der Mädchen vom Tanzboden in der Gastwirtschaft Gontrum, vielleicht von der Lehrerstochter, wegen der halben Stunde an unserem Gartenzaun, nach Mitternacht, unter der Trauerweide. Und wenn ich genau nachdenke, habe ich sogar schon in Frohburg eine dieser Karten ohne Absender bekommen. Die Sache fing damit an, daß ich zu Beginn der elften Klasse in der Oberschule in Geithain nach der zweiten großen Pause auf meinem Platz einen winzigen Zettel fand, der sich zwar leicht übersehen ließ, der aber gerade deshalb für einen Elftkläßler von hohem Interesse war. Drei Wörter nur, mikroskopisch klein, mit gespitztem Bleistift: Frohburg postlagernd Diana. Ich wußte nicht, wer da sprach, aber ich wußte gleich, welche Art Jagd da gemeint war, die Tanzstunde mit dem Zwischenball und dem Abschlußball und jeder Wochenendtanz auf den Gasthöfen in Frohburg und Umgebung und überhaupt auch jeder Vormittag in der Klasse und nicht zuletzt die Klassenfahrten an die Talsperre Kriebstein, auf die Rochsburg, nach Sebnitz, Augustusburg, Stralsund und Nonnevitz zeigten einem, wie man das Anschleichen oder die frontale Überrumpelung oder die schneckenlangsame Schleimtour einüben und einsetzen konnte. Mit gemischten Gefühlen nahm ich das Zettelchen mit nach Hause. Wir wohnten im Thälmannstraßenflügel der Post, das Amt mit dem Briefschalter befand sich im Marktflügel. Ich ging also schon am Nachmittag aus unserer Haustür raus, umrundete die Ecke mit dem Eingang zum Restaurant, die genau unter unserem Erker lag, und stieg die vier oder fünf Stufen hoch, die heute zum Café Schokoengel führen und über die man seinerzeit das Postamt erreichte. Ich kam rein, rechts war die Abfertigung für die Päckchen und Pakete, lange Schlange Bepackter dort, links das Fenster für die Briefangelegenheiten, hochgeschoben, der alte Naß hatte Dienst, natürlich kannten mich alle, Frohburg war ja ein Nest, und nicht einmal ein großes, Ham Sie was postlagernd Diana, schmetterte ich den alten Naß an, lieber gleich Augen zu und durch, als daß ich mir ein gehemmtes Murmeln, eine unterdrückte halb abgewürgte Frage nachsagen lasse. Und richtig, ich bekam Dianas Karte und habe sie heute noch. Unklar, wie es weiterging. Man war noch halbes Kind und hatte doch schon Augen für alle Abstufungen von Weiblichkeit. Schwamm drüber, das Kärtchen geht wie alles Papier von mir nach Marbach. Wenn die Moneten stimmen. Mit den Raddatzschen »Unruhestifter«-Erinnerungen und den anderen Büchern in Plastiktüten, darunter einem Band der sechsbändigen Weltbild-Ausgabe von »Der verlorene Sohn«, die ich bis auf den 4. Band von Pretzsch für zwanzig Euro übernommen, aber wegen des Gewichts nicht geschlossen mitgenommen hatte, kam ich die paar Stufen runter aus dem Antiquariat. Ich schleppte schwer, wobei ich wußte, daß eine weitere kleine Neuerwerbung, die ich im Beutel hatte, nicht ins Gewicht fiel, ein Heft, das dem oberhessischen Maler und Kinderbuchautor Ernst Eimer gewidmet war, zehn Minuten vorher entdeckt beim Umsetzen eines der vielen Bücherstapel vor dem überfüllten Regal mit Ortsgeschichte und Heimatkunde. Auf dem Stapel wie immer ein Zettel: Hier bitte nicht stöbern. Wo man so etwas liest, zuckt es einem doch erst recht in den Fingern. Die Schrift mitgenommen, weil wir seit der Räumung von Ulrichs Bücherhaus in Klein Linden zwei der sehr seltenen Veröffentlichungen Eimers in den Regalen im Dachgeschoß haben, nämlich »Christian der Dorfjunge« und »Konrads Ferientage«. Das eine im ganzen Internethandel nur zweimal, das andere einmal zu finden. Mit der Ausbeute des Tages an der frischen Luft angekommen, warf ich einen letzten schnellen Blick auf Pretzschs Tisch am Gehwegrand. Ein Buch über Geheimschriften, Verschlüsselungskunst und Entzifferungskniffe fiel mir ins Auge. Ich setzte die Tüten ab, blätterte in dem Band, sah Tabellen und Aufstellungen, ich war angestoßen, durchaus, auf eine flüchtige Art fasziniert, konnte mich jedoch nicht entscheiden kehrtzumachen, in den Laden zurückzugehen und Pretzsch die drei Euro in die Hand zu drücken. Aber schon am Nachmittag rief ich ihn an und bat, mir das Verschlüsselungsbuch aufzuheben. Ich hatte schon vor dem Anruf überlegt, ob wir einen Jungen von elf, zwölf Jahren kennen, für den das Thema Geheimschriften von Interesse sein könnte. Mir fiel niemand ein, bis mir dämmerte, daß ich selbst der Junge war, den ich suchte.
SINN UND FORM 1/2021, S. 90-101, hier S. 90-93
Vien, Che Lan
- 1/1974 | An Pablo Neruda
Villain, Jean
- 1/1971 | Wiederbegegnung mit Walter Kaufmanns Amerikareportagen
- 2/1973 | Gespräch mit Luigi Nono
- 6/1974 | Gespräch mit Antonio Buero Vallejo
- 5/1990 | Gespräch mit Michael Brie
Villegas, Sergio
- 6/1978 | Beerdigung unter Bewachung
Villwock, Peter
- 3/2008 | Brechts Notizbücher
Virilio, Paul
- 2/1994 | Bildstörung
Vittorini, Elio
- 1/1949 | Die Knechtschaft des Menschen. Erzählung
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Ventura
Vitzthum, Wolfgang Graf
- 2/2013 | »Schon eure zahl ist frevel«. Stefan George und die Demokratie
Voegelin, Eric
- 5/2001 | Die Welt Homers
- 3/2004 | Nietzsche und Pascal
- 2/2006 | Nietzsche, die Krise und der Krieg
- 6/2007 | »Wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit«. Notizen zu T.S. Eliots »Vier Quartetten«
- 6/2007 | Karl Löwith und Eric Voegelin. Briefwechsel. Mit einer Vorbemerkung von Peter J. Opitz
- 2/2008 | Hermann Broch und Eric Voegelin. Briefwechsel 1939-1949
Vogel, Debora
- 1/2017 | Die Wohnung in ihrer psychischen und sozialen Funktion. Mit einer Vorbemerkung von Anna Maja Misiak, S. 111 Leseprobe
Misiak, Anna Maja
Denk-Räume im literarischen Schaffen von Debora Vogel. Eine Vorbemerkung von Anna Maja Misiak
Es gibt enorm viel Raum in der Welt: unnötigen,
unbeholfenen Raum.
O, die flachen langsamen Räume, langweilig wie
ein großer mit Lauge gescheuerter Bretterfußboden,
wie die runde Landschaft eines Kalendersonntags
mit Menschen, die für etliche Stunden ihr Schicksal
irgendwo verlegt haben. Und die bummeln.Debora Vogel, Akazien blühen
Die 1900 in Bursztyn bei Lemberg geborene Schriftstellerin Debora Vogel gestand ihren Brieffreunden immer wieder ihre Sehnsucht »nach dem Fahren«. Es zog sie »besonders in große Städte, aus jenen Städten heraus, in denen der süße Duft der Kartoffelblumen herrscht«. Sie war in moderne Metropolen verliebt und bestens mit deren Esprit vertraut: In Wien verbrachte sie die Kriegsjahre als Gymnasiastin, in Berlin und Stockholm weilte sie 1926 mehrere Monate; nach Paris machte sie regelmäßig Ausflüge, um in »diese Welt der Farben« einzutauchen und Künstlerfreunde zu treffen; New York erlebte sie persönlich als die »Essenz aller Städte«. Viele ihrer Freunde und Angehörigen lebten in großen Kulturstädten, und so konnte Vogel, ständigem Geldmangel zum Trotz, ihr Fernweh ausleben. Ihre Heimat für eine der genannten Metropolen aufzugeben, kam für sie jedoch nie in Frage. Die für ihr Werk nötige schöpferische Kraft bezog sie aus Lemberg, dieser, so Joseph Roth, kleinen Filiale der großen Welt.
Trotz seiner peripheren Lage war Lemberg in der Zwischenkriegszeit eines der wichtigsten geistigen Zentren Polens. Wissenschaftler um Stefan Banach und Hugo Steinhaus leisteten in Form der Funktionalanalysis einen genialen Beitrag zur Mathematik. Während ihrer stundenlangen Gespräche im Café Szkocka formulierten sie Fragen, von denen einige bis heute unbeantwortet sind. An der Jan-Kazimierz-Universität gründete Kazimierz Twardowski die logisch-philosophische Lemberg-Warschau-Schule. Unter seiner Ägide wirkten u. a. der Semantiker Alfred Tarski, der Literaturwissenschaftler Roman Ingarden und der Logiker Kazimierz Ajdukiewicz. Der herausragende Literaturhistoriker und Philosoph Juliusz Kleiner leitete die Polonistik; aus Krakau kam der Philosoph, Maler, Dichter und Theoretiker neuer Kunstrichtungen (Formismus, Strefismus) Leon Chwistek, um den Lehrstuhl für mathematische Logik zu übernehmen. Debora Vogel, die ihr Studium in Lemberg und Krakau mit einer Dissertation über den Erkenntniswert der Kunst bei Hegel abschloß, besuchte Twardowskis Vorlesungen, nahm an Seminaren von Ajdukiewicz und Kleiner teil und las Chwisteks Schriften zur Wahrnehmung der Realität sowie zu künstlerischen Wirklichkeitskonzepten. Mit dessen intellektuellem Hauptgegner, dem nicht minder vielfältig begabten Stanisław Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy, führte sie Anfang der dreißiger Jahre in Zakopane Streitgespräche über Inhalt und Form in der Kunst.
Lembergs liberale und intellektuelle Kulturwelt der Jahrhundertwende verdankte sich der Autonomie, die Galizien 1867 durch die k.u.k. Monarchie gewährt worden war. Die Vielfalt der dort beheimateten Nationen verursachte zwar Spannungen, erwies sich aber auch als intellektuell befruchtend. Neben Polen, Juden und Ukrainern lebten in Lemberg Armenier, Deutsche und Tataren und pflegten ihre Sprache, Konfession und Kultur. Für Unterhaltung sorgten fünfzehn Kinos. Kunst und Kultur konnte man in der Philharmonie und in der Oper, im polnischen, jüdischen und ukrainischen Theater sowie in etwa zwanzig Museen genießen. Die zahlreichen Bibliotheken, Buchhandlungen und Antiquariate waren ein Paradies für Bücherliebhaber.
Mütterlicherseits stammte Debora Vogel aus einer etablierten Buchdrucker- und Herausgeberfamilie. Zwei Onkel waren wichtige intellektuelle Bezugspersonen: Marcus Ehrenpreis, Schriftsteller, Mitarbeiter von Theodor Herzl und ab 1914 Rabbiner in Stockholm, sowie David Malz, Jurist, Übersetzer und zionistischer Aktivist. Vogels Eltern waren Lehrer und wirkten beide als Schulleiter in Bursztyn; in Lemberg führten sie gemeinsam das jüdische Waisenhaus, in dem Vogel in den dreißiger Jahren neben ihrer Unterrichtstätigkeit im Hebräischen Lehrerseminar als Erzieherin arbeitete.
In ihrer freien Zeit nahm sie aktiv am intellektuellen Leben Lembergs teil, hielt öffentliche Vorträge und war Mitglied mehrerer Vereine. Rachel Korn, Rachel Auerbach, Ber Schnaper, Mendl Neugröschl und sie bildeten die Avantgarde der jungen jiddischen Dichtung in Galizien. Im Frühjahr 1929 organisierten sie einen Kongreß der jiddischen Schriftsteller, und im Herbst wandten sie sich mit Leseabenden und der neuen Kulturzeitschrift »tsushtayer« (Beitrag, Beisteuer) an die Öffentlichkeit. Chone Shmeruk, der nach Kriegsausbruch in Lemberg war und Vogels Vorlesungen über jiddische Literatur besuchte, erinnerte sich an das Selbstbewußtsein, das in diesem Kreis herrschte. Für diese jungen Schriftsteller, so Shmeruk, war Wien eine Filiale von Lemberg, nicht umgekehrt.
Im »tsushtayer« war Vogel für den Kunstteil zuständig. Sie stellte Künstlerfreunde vor, vor allem die Avantgardisten der Künstlergruppe Artes, die in Paris an Fernand Légers Académie moderne studiert und von dort die neuesten Ismen sowie die Neue Sachlichkeit nach Lemberg gebracht hatten. Sie präsentierte Bilder und Kurzbiographien von Emil Kunke, Frederic Taubes, Maksymilian Feuerring, Fryderyk Kleinmann, Aleksander Riemer, Henryk Streng und Otto Hahn. In Bruno Schulz erkannte sie die literarisch-künstlerische Doppelbegabung; seine poetische Prosa zeichnete sich für sie durch groteske Übertreibungen, Entstellungen und Verzerrungen aller Proportionen aus. Ihre guten Beziehungen zu Warschauer Künstlerkreisen ebneten ihm den Weg zu seinem Debüt »Sklepy cynamonowe« ("Die Zimtläden«, 1934). Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sie bis in die jüngste Vergangenheit meist bloß als Muse des Schriftstellers galt und der Erfolg seines Buches ihre Prosa »Akacje kwitną« (poln. 1936, jidd. »akatsies blien« 1935, dt. »Akazien blühen« 2016) in den Schatten stellte. Schulz bezeichnete ihre Montagen als originäre literarische Leistung, betonte aber auch den Unterschied zwischen ihrer und seiner literarischen Welt; sie sei sehr anspruchsvoll, ihr Bruch mit konventionellen Formen ziehe dem Publikum den Boden unter den Füßen weg. In der Tat bekannte sich die Dichterin zum Konstruktivismus, die eigenwillige Wirklichkeit ihrer Gedichte und Prosa basierte auf Raumkonzepten der künstlerischen Avantgarde. Bewußt ließ sie den Raum mal kugelförmig, farbig und elastisch, mal erdrückend flach erscheinen. Doch waren es keine rein rhetorischen Experimente; die sich ständig verändernden Formen zielten darauf ab, existentielle Sehnsüchte und Ängste zu vermitteln.
Oft spürte Vogel dem Leben dort nach, wo Menschen um den Raum ringen, ihn verwandeln und neue geometrische Ordnungen einrichten. Dem Bau einer Bahnstation oder eines Brückenpfeilers widmete sie konstruktivistische Montagen. Die Welt der Ingenieure kannte sie aus nächster Nähe, war sie doch seit 1931 mit dem Ingenieur Schulim Barenblüth (1896 –1942) verheiratet, dessen Wiederaufbau einer durch Hochwasser zerstörten Brücke ihr gleichfalls Stoff lieferte. Eine Ingenieurin war auch ihre geliebte Cousine Judith Malz (1900 –1929), die als Führerin der Jugendbewegung Haschomer Hazair um 1919 nach Palästina ging, um die Kibbuzim aufzubauen, dann aber an der Technischen Universität Wien studierte und bei der Ersten Wiener Eisenbahn-Gesellschaft eine Stelle fand.
Vogel betrachtete das Bauen im Sinne der Bauhaus-Künstler nicht nur als technische Angelegenheit, sondern im Zusammenhang mit seinen sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Dimensionen. Zusätzliche Inspiration empfing sie von den Forschungen der Moskauer Kunsthochschule zu emotionalen Raumdynamiken, von dem in Łódź tätigen Maler Władysław Strzemiński, der mit dem Unismus eine extreme Spielart des Konstruktivismus schuf, sowie der Bildhauerin Katarzyna Kobro, der Hauptvertreterin der konstruktivistischen Raumkunst.
In Vogels schlichten Versen und monotonen Rhythmen entsteht eine Welt voller Spannungen, in der Bewegungen fortwährend erstarren. Erlesenen Metaphern zieht sie einfache Vergleiche vor, konfrontiert das Gehobene mit dem Trivialen. An Cyprian Kamil Norwids poetologische Betrachtungen über die Stille als Essenz jeder Dichtung anknüpfend, bezeichnete Vogel abgedroschene, farblose, langweilige und unpersönliche Wendungen als »weiße Wörter« und erklärte sie zum tragenden Element ihrer Wortkunst. Norwid beeinflußte Vogel nicht nur als Philosoph und Kunsttheoretiker, er faszinierte sie auch als beispielhafter künstlerischer Einzelgänger, als Maler, Bildhauer und seiner idée fixe folgender Dichter, der die bildende und die Wortkunst in seiner Person vereinte. Sein Schaffen läßt sich nicht leicht einem literarischen Stil zuordnen. Erst drei Jahrzehnte nach seinem Tod wurde er wiederentdeckt.
Der Entdecker und Förderer Norwids, Zenon Przesmycki (genannt Miriam), setzte sich in der zwischen 1901 und 1907 von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Chimera« für eine elitäre Kunst ein, die über jeder Propaganda steht und keine Kompromisse eingeht. Auch der verkannte französische Schriftsteller Villiers de L’Isle-Adam war in den ersten Nummern präsent, und es ist wohl kein Zufall, daß Vogel sich in ihrem Essay über das Wohnen ausgerechnet auf den Verfasser der »Eva der Zukunft« beruft. Die »intellektuelle Sinnlichkeit«, von der sie im Kontext der neuartigen Phantastik der geometrischen Linie spricht, ist ein Schlüsselbegriff ihrer eigenen Poetik und führt zu einer »Lyrik kühler Statik und geometrischer Ornamentik«, wie sie im Vorwort ihres Bandes »togfiguren« ("Tagfiguren«, 1930) ausführt. Vogels geometrisierende Weltschilderungen waren ein Versuch, Verfahren der modernen Malerei auf das Schreiben zu übertragen. In ihrem zweiten Gedichtband »manekinen« ("Schneiderpuppen«, 1934) sind die Texte wieder schlicht und monoton, werden aber durch explizite Bezüge zur Malerei (u. a. de Chirico, Utrillo und Max Ernst) und synästhetische Beschreibungen anschaulicher. In dem Zyklus »Schundballaden« fließt die reale Welt in Form geschickt verfremdeter Zitate ein: Vogel montiert Fragmente von Schlagern, Plakaten, Anzeigen, Tangotexten und aus Brechts »Dreigroschenoper«. Im letzten Zyklus des Bandes, »Legenden des 20. Jahrhunderts«, reagiert sie polemisch-ironisch auf das Weltgeschehen.
In Vogels Texten bewegt man sich meist in städtischen Räumen. Eine wichtige Rolle spielen Fabriken, in denen sich die neue Wirklichkeit der industriellen Gesellschaft manifestiert: Der Lebensrhythmus wird von Maschinen bestimmt und folgt immer weniger biologischen Rhythmen. Die Dichterin verzichtet jedoch auf detaillierte Beschreibungen mechanischer, etwa vom Fließband diktierter Bewegungen, durch welche die Menschen ihrer Lebenskraft beraubt und zu Puppen degradiert werden. Die entfremdete »einsame Masse« schildert sie in einem Raum »flacher« Stille, in dem sich die nüchternen, monotonen Bewegungen verwandeln. Man weiß auf einmal nicht mehr, was mit den überflüssigen Händen und Füßen zu tun ist. Man geht auf die Straße und bleibt dort allein inmitten der Menschenmasse, die durch Warenhäuser strömt, sich vor den Vitrinen der Autosalons aufhält und in Kinos und Bars nach dem wahren Glück sucht, um das eigene Leben zu vergessen. Debora Vogel verbindet die marxistische Auffassung vom Individuum als gesellschaftlichem Produkt mit der hegelianischen vom Menschen als Geschäftsträger des Schicksals. Ihre Texte zeigen sowohl die abstumpfende Arbeitslosigkeit als auch die sinnentleerte, durch Hyperproduktion bestimmte Konsumwirklichkeit.
In dem hier erstmals abgedruckten Essay über die soziale und psychische Bedeutung der Wohnung stellt sie den bewohnten Raum in den Kontext eines Kampfes und beleuchtet Aspekte des Ringens um die neue Architektur: Lebensräume für den Neuen Menschen zu schaffen war ein zentrales künstlerisches Anliegen der klassischen Avantgarden. Vogel verwebt Stimmen und Ideen ihrer Zeit zu einem dichten Gedankengeflecht. Simultaneität, Transparenz und Rasterung des Raumes, Funktionalität und Stofflichkeit der Dinge beschäftigten Kunstschaffende in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum standen der Mensch und seine »Gehirnhygiene« (Bruno Taut), seine gebesserte Moral und stärkere geistige Beweglichkeit (Mies van der Rohe), seine reizbaren »modernen« Nerven (Adolf Loos) und die Verkümmerung der Emotion in überfüllten, normierten, geschlossenen Räumen.
Als Kunstkritikerin wußte Debora Vogel, daß manche Zeitgenossen die moderne Architektur als Erzieherin zu einer neuen Geistigkeit verstanden. Paul Scheerbart veröffentlichte 1914 sein utopisches Werk »Glasarchitektur«, in dem er zur Auflösung der klassischen Struktur der Großstädte, zum Ausbruch aus geschlossenen Räumen aufrief. Die Kultur sah er als organischen Sproß der Architektur an. Um also die Kultur auf ein höheres Niveau zu bringen, müßten die Menschen erst ihre Architektur neu gestalten, was nur dann möglich sei, wenn man die Wohnräume öffne: Ersetzte man die Wände durch Glas, so entstünde auch eine neue, offene (Glas-)Kultur. Scheerbarts Phantasien wurden eifrig gelesen und weitergeführt, unter anderem von Walter Benjamin. In seiner Miniatur »Spurlos wohnen« übte er scharfe Kritik an der Gemütlichkeit bürgerlicher Interieurs, wo überall Spuren der Bewohner zu finden seien. In möblierten Zimmern werde einem das Leben bis zum Ersticken vorgeschrieben. Man werde selber zu einem »möblierten Herren«, der ganz von fremden Gewohnheiten bestimmt sei. Die neue Architektur, in der man nicht so leicht eine Spur hinterlassen könne, weckte zumindest die Hoffnung auf einen Bruch mit dieser Kultur. Umgeben von klaren Flächen und einfachen geometrischen Formen sollten sich die Menschen im Raum selbst neu (er)finden.
Eine Vision des vollständigen Abbaus architektonischer Barrieren, etwa von Wänden, die zum Abbau gesellschaftlichen Mißtrauens führen sollte, formulierte Adolf Behne in seinem Buch mit dem programmatischen Titel »Neues Wohnen, neues Bauen« (1927). Der Weg zu einem ganzheitlichen Bauen führte für ihn über die Schlichtheit, die er mit Offenheit und Solidarität kurzschloß. 1929 erschien »Befreites Wohnen« von Siegfried Giedion, ein weiteres Plädoyer für eine offene, solidarische Gesellschaft. Die Avantgardisten der Zwischenkriegszeit suchten nach Möglichkeiten, Grenzen zu verschieben oder gar aufzuheben. Formendurchbrechend, leicht, beweglich und gemeinschaftsstiftend sollten Denken und Leben sein. Leere, Licht und Transparenz sollten bürgerlicher Behaglichkeit wie auch den Gefahren einer anonymen Massengesellschaft entgegenwirken. Entworfen und gebaut wurden Gemeinschafts- und Sozialwohnungen mit funktionalen Räumen sowie Wohnquartiere in gesunder Umgebung.
Es war klar, daß darin ein revolutionäres Potential steckte: Wohnen sei immer aktiv und beeinflusse unser Leben, behauptete der von Vogel zitierte Ludwig Neundörfer in seinem Buch »So wollen wir wohnen« (1931). Verrät die Ausstattung einer Proletarierwohnung »das Schielen nach Bürgerlichkeit«, so ist das intellektuelle Streben nach Schlichtheit eine Abgrenzung von der bürgerlichen Denk- und Lebensweise. Die schmale Schicht der Geistesarbeiter, die während der Weltwirtschaftskrise um ihre Existenz fürchten mußte, galt als eigentlicher Vermittler dieses Neuen Wohnens. Der Intellektuelle, so Neundörfer, kann sich oft nur mühsam behaupten und wird, zumal zu Beginn seiner Laufbahn, meist nur dürftig entlohnt. Anders als beim Proletarier ist sein Lebensweg aber nicht determiniert, er empfindet die Einengung durch den gegebenen Status nicht so stark wie ein Arbeiter und kann offener denken. Die Gestaltung seiner Wohnung wird also zu einem offenen Werk, sachlich, klar und strukturiert. Sachlichkeit entsteht, wo alles Unnötige verschwindet, wo das Denken sich an den Hauptsachen orientiert. Sachlich denken heißt aber, in jeder Disziplin sozial zu denken (Behne).
Urbanismus war für Debora Vogel der Inbegriff des modernen Lebens in seiner ganzen Komplexität. Die Natur außerhalb der Städte empfand sie als Leere, Stille und unberührbare, ja sogar menschenfeindliche Ferne. Montierte man dagegen Berge, Meere, Flüsse, Bäume, Früchte und Gräser in die urbanen Räume, würden daraus frische und berauschende Metaphern des Schicksals. Merkwürdigerweise wirken in Vogels Universum alle Dinge belebt bis auf die Menschen, die ausdruckslos und marionettenhaft zwischen Erwachen und Zubettgehen nichts zu tun wissen als zu warten. Es gibt weder Schutz noch Geborgenheit, nur den monotonen Rhythmus der Wiederholung, matt und süß wie das Leben.
Wer sich in Vogels Gedankenräumen zu Hause fühlen möchte, muß diesen stumpfen, stillen Rhythmus akzeptieren und in der scheinbaren Banalität das gesellschaftskritische Potential subversiver, grenzsprengender Kräfte erblicken. Denn Vogel stellt uns die Statik als höchstes Stadium der Dynamik vor, verwandelt Abgedroschenes in intellektuelle Kunst und betitelt ihre Antikriegsgedichte, seltsam genug, »Blühende Kartoffel 1939« oder »Berge im Jahr 1939«. Ob und wo sie diese Proteste gegen einen Krieg veröffentlicht hat, zu dessen Opfer sie samt Mann, Sohn und Mutter 1942 im Lemberger Ghetto wurde, ist bisher nicht bekannt.
SINN UND FORM 1/2017, S. 111-116
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