Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
Für die Suche nach Co-Autoren, Verfassern von Vorbemerkungen und Gesprächspartnern nutzen Sie bitte die Stichwortsuche (Suchfeld im Menü rechts oben).
Jaccottet, Philippe
Jachimczak, Krzysztof
- 2/1988 | Gespräch mit Christoph Hein
Jäckel, Günter
- 5/1981 | »Die Unruh, die mich wachhält«. Hartmut Zenker: »Die Uhr steht auf fünf«, Roman, Verlag der Nation, Berlin 1979; »Vorkommnisse«, Erzählungen, 1981; »Zeitflug ins Grün«, Gedichte, Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig, 1981
- 4/1982 | »Land zweier Lieder« Goethes und Forsters Begegnungen mit Frankreich 1792/1794
Jacobi, Rainer-M. E.
- 5/2009 | Viktor von Weizsäcker. Jean-Paul Sartre und die Lehre vom Menschen. Mit einer Vorbemerkung von Rainer-M. E. Jacobi
Jaeger, Diethelm
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Jaeggy, Fleur
- 1/1997 | Ohne Schicksal
Jäger, Lorenz
- 1/1995 | Die Souveränität der Intelligenz
- 5/2012 | Beschreibung einer Schönheit
- 6/2018 | Die Bewegung der Jugend. Über den Tod von Christoph Friedrich Heinle
- 4/2022 | Henri Bergsons Familie
Jäger, Manfred
Jahn-Reinke, Hildegard
Jahnn, Hans Henny
- 6/1949 | Aus dem Roman »Fluß ohne Ufer«
- 3/1951 | Jugendtage in der Stadt Nebel
- 5/1951 | Aus: Spur des dunklen Engels
- 5/1952 | Frau Gemma Bohn liest die Zeitung
- 2/1954 | Klopstock
- 5-6/1954 | Thomas Chatterton. Eine Tragödie
- 5-6/1954 | Zur Tragödie »Thomas Chatterton«
- 2/1955 | Kleine Rede auf Hans Erich Nossack
- 3/1955 | Gruß an Thomas Mann
- 5/1955 | Polarstern und Tigerin
- 3/1956 | Frühe Begegnung mit Günther Ramin
- 1-2-3/1957 | »Vom armen B. B.«
- 3/1958 | Lessing in Hamburg oder Am Rande der »Bösen Vierziger«
- 1/1959 | Reise zu den Kuppelkirchen Aquitaniens
- 4/1959 | Die Trümmer des Gewissens
- 5-6/1959 | Ein Brief
- 1/1960 | Zwei Fragmente aus dem Nachlaß
- 4/1961 | Briefe aus Bornholm
- 4/2015 | Hamburger Ansprache 1946. Mit einer Vorbemerkung von Sandra Hiemer, S. 77 Leseprobe
Jahnn, Hans Henny
HAMBURGER ANSPRACHE 1946
Aus den Tiefen der Archive. Eine Vorbemerkung
Der Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn verbrachte die NS-Jahre auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Er war kein Emigrant im eigentlichen Sinne, und doch hatte sein Rückzug vor allem politische Gründe. So ist es nicht verwunderlich, daß er unmittelbar nach Kriegsende wiederholt den Wunsch äußerte, in sein Land zurückzukehren, das er zuletzt 1941 besucht hatte. Im August 1945 schrieb er seiner Schwägerin Sibylle Harms: »Ich möchte allerdings nach Deutschland zurück. Nachdem der Nationalsozialismus beseitigt ist, möchte ich vor niemand etwas voraus haben und ganz zur besiegten Nation gehören.«
Das Leben auf Bornholm, das bis April 1946 von den Sowjets kontrolliert wurde, gestaltete sich für Deutsche immer schwieriger. Jahnn litt unter den Feindseligkeiten seiner Nachbarn. Seine Arbeit als Orgelsachverständiger und Orgelbauer, die er während des Kriegs für die Kopenhagener Orgelbaufirma Frobenius immerhin noch hatte ausüben können, wurde so gut wie unmöglich. Obendrein besaß er keine finanziellen Mittel. Die dänischen Behörden hatten sein Bankkonto gesperrt und sein Vermögen beschlagnahmt. Erst im April 1946 bekam er wieder Zugriff auf sein Geld.
Eine Einreisegenehmigung oder Arbeitserlaubnis von der britischen Militärregierung in seiner Heimatstadt Hamburg erhielt er aber vorerst nicht. Für die Kontrollbehörden war Jahnn nicht eindeutig als politisch Verfolgter einzustufen, da er während der deutschen Okkupation Dänemarks und auch Bornholms Kontakt zur Besatzungsmacht hatte. Schließlich waren das dänische Justizministerium, das Außenministerium und das Finanzministerium mit seinen Angelegenheiten befaßt.
Seine Hamburger Freunde und Weggefährten aus dem kulturellen Leben vor 1933 setzten sich vehement für ihn ein und bemühten sich, den Briten Jahnns Bedeutung klarzumachen und seine Opposition zum Nationalsozialismus zur Geltung zu bringen. Wichtige Fürsprecher waren der Schriftsteller Heinrich Christian Meier, der als Delegierter des Komitees politischer Gefangener im Kulturrat wirkte, und der Journalist Erich Lüth. Beide hatten bereits in den zwanziger Jahren im Kartell Hamburger Künstlerverbände mit ihm zusammengearbeitet.
Lüth war 1946 zum Leiter der Staatlichen Pressestelle ernannt worden. Er veröffentlichte in der Hamburger Freien Presse vom 7. August 1946 einen Brief an Jahnn. Einige Tage später erschien Meiers Artikel über den »Dichter auf der Insel«. Lüth war es auch, der am 2. August an den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft schrieb: »Noch hat Jahnn Schwierigkeiten, die Einreisegenehmigung zu bekommen. Es bedarf wohl eines an ihn ergehenden offiziellen Rufes, um diese Genehmigung über die auf Bornholm sitzenden literarisch verständnislosen englischen Militärstellen zu erwirken.«
Außerdem mobilisierte Jahnn weitere Personen. So setzte sich der Verleger Henry Goverts für ihn ein, indem er an den dänischen Konsul in Hamburg schrieb. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, zu dem Jahnn wegen seiner landwirtschaftlichen Experimente Kontakt aufgenommen hatte, wandte sich an die Hamburger Behörden. Selbst die vom Hamburger Senat offiziell gebilligte Einladung, im September die Gedächtnisausstellung zum ersten Todestag des Malers Heinrich Stegemann zu eröffnen, führte jedoch nicht zu einer raschen Visumserteilung. Erst im Oktober 1946 erhielt Jahnn die Papiere für einen sechswöchigen Aufenthalt in Deutschland.
Entscheidenden Anteil an der Einreiseerlaubnis der britischen Militärregierung hatte der Beschluß des »Kulturrats der Hansestadt Hamburg«, Jahnn zum Ehrenmitglied zu ernennen. Im Rahmen einer Sitzung am 14. November 1946 im Rathaus sollte die Urkunde überreicht werden. Der Kulturrat war im Herbst 1945 von den britischen Besatzungsbehörden initiiert worden, um den Wiederaufbau und die Entnazifizierung des kulturellen Lebens zu unterstützen. Seine Hauptaufgabe war in den ersten Monaten die Prüfung der politischen Zuverlässigkeit einzelner Personen, erst nach und nach beschäftigte er sich mit kulturpolitischen Fragen. Die Organisation war ein Dachverband für zeitweise über sechzig Verbände und Vereine. Auch der von Jahnns Freunden im Januar 1946 gegründete Bund zur Erneuerung Ugrinos, der an seine 1935 aufgelöste Glaubensgemeinde Ugrino anknüpfen sollte, gehörte dazu.
Ein Bericht im »Hamburger Echo« vom 16. November 1946 ("Kulturrat ehrte in Hamburg verdiente Künstler«) enthält einen Hinweis darauf, daß Jahnn bei der Ernennung eine Rede hielt, auch in seiner umfangreichen Korrespondenz dieses Jahres berichtet er von der Arbeit daran. Das Manuskript galt bisher als verschollen. Im Zuge der Herausgabe von Jahnns Briefen an seine Ehefrau stieß ich überraschend darauf.
Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg erwarb 2010 für den von ihr verwalteten Jahnn-Nachlaß ein umfangreiches Konvolut mit weitgehend unbekannten Familienkorrespondenzen aus Privatbesitz. Darunter die Briefe Jahnns an seine Frau Ellinor, die wohl zu den unerhörtesten der gesamten Liebesbrief-Literatur gehören. Der Verlag Hoffmann und Campe entschloß sich, eine kleine, sorgfältig kommentierte Auswahl daraus zu veröffentlichen, die 2014 unter dem Titel »Liebe ist Quatsch« von Jan Bürger und mir bearbeitet und herausgegeben wurde.
Alles begann mit der Sichtung der Briefe im Handschriftenlesesaal der Bibliothek. Aufmerken ließ mich ein Satz in einem Brief vom 22. Oktober 1949: »Ich war an einem dieser Tage bei dem Buchhändler Felix Jud.« Für mich war das ein besonderer Moment, denn seit einigen Jahren arbeite ich als Kunsthistorikerin und Buchhändlerin in der Hamburger Buch- und Kunsthandlung Felix Jud. Bis dahin wußte ich nicht, daß sich die beiden je begegnet waren. Da wir den Brief in unsere Auswahl aufnehmen und kommentieren wollten, stellte sich die Frage, ob ein über das Treffen hinausgehender Kontakt bestanden haben könnte.
Parallel dazu sichtete ich das Firmenarchiv der Buchhandlung, um eine Publikation zu ihrer Geschichte vorzubereiten. Und hier fand ich einen weiteren Hinweis: In einem Interview zum 50. Jubiläum der Hamburger Bücherstube, das der damalige Kommunikationschef des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander U. Martens, 1973 mit Felix Jud geführt hatte, berichtet dieser von seinem Wirken in der unmittelbaren Nachkriegszeit: »Ich wurde Präsident des Kulturrats, der Vereinigung aller kulturschaffenden Verbände und Institutionen, und hatte so ziemlich alle Ehrenämter, die man überhaupt haben konnte. Und dann galt es, guten Freunden wie John Jahr, Axel Springer und Ernst Rowohlt die ersten Nachkriegslizenzen zu ergattern.« (Jud bleibt Jud. Ein Gespräch mit Felix Jud aus Anlaß seines Doppeljubiläums. Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, Nr. 92, 20. November 1973)
Juds Funktion im Kulturrat war mir nicht bekannt gewesen, und nun fragte ich mich, ob er daran beteiligt war, Jahnn nach Hamburg zurückzuholen. Von der Entscheidung erfuhr Jahnn durch einen Brief des Geschäftsführers des Kulturrats Hermann Lobbes vom 22. August 1946: »Wenige wären berufen wie Sie, durch Rat und Tat an der Neuerweckung des deutschen Kulturlebens mitzuwirken und kaum ein Anderer derjenigen, die während der letzten 13 Jahre sich genötigt sahen, in innere oder äußere Emigration zu gehen, wäre im Hinblick auf seine innige, nie abgerissene Verbundenheit mit unserer Stadt und aus intimster Kenntnis der Besonderheit ihrer eigenständigen Entwicklung besser geeignet als Sie, den ortsbedingten Ansprüchen ihrer kulturellen Struktur bei der Neubildung des künstlerischen Lebens Rechnung zu tragen. (…) Der Kulturrat hofft, daß Sie sich dazu verstehen diesen Ruf anzunehmen, und daß Sie recht bald die Möglichkeit erhalten werden, in einer feierlichen Plenarsitzung des Kulturrats das Wort zu drängenden Problemen der deutschen Kulturpolitik zu nehmen.«
Am 29. Oktober 1946 antwortete Jahnn: »Seitdem ich Ihren Brief in Händen halte, sind manche grauen Spinnweben von meinem allmählich sehr einsamen Dasein in Dänemark weggewischt worden. (…) Mehrmals habe ich versucht, mein Bewegtsein, meine Dankbarkeit auszudrücken, daß man meiner in meiner Vaterstadt gedacht hat und mich in das Ehrenpräsidium des Kulturrates berufen hat. Meine Ungeschicklichkeit, meine Faulheit und die plötzliche Turbulenz meiner Tage zeitigten nur ein paar Entwürfe, deren Dummheit darin bestand, daß sie sich, aus wahrscheinlich nichtigen Ursachen, nicht vollendeten. Heute indessen, da meine Reise nach Deutschland feststeht, wo ich ein Wiedersehen mit der geliebten heiligen Stadt Hamburg (mag sie auch zerstört sein, mag ich selbst sie oft – und vielleicht sogar mit Recht – beschimpft haben) ahnend empfinde, will ich wenigstens mein Ja niederschreiben und mit ein paar Zeilen das Vertrauen, das man mir schenkt, damit entgelten, daß ich verspreche, für meine enge und weitere Heimat das Pfund, das mir als Erbteil gegeben ist, nützlich anzuwenden.«
Schon mehrmals seit Erhalt der Einladung hatte Jahnn die Sache in seiner Korrespondenz erwähnt. So schreibt er an seinen Freund Ludwig Voß am 12. September: »Du wirst inzwischen auch wohl erfahren haben, daß mich der Kulturrat zu seinem Ehrenpräsidenten berufen hat, und daß ich aus diesem Anlaß in Hamburg zu Fragen der deutschen Kulturpolitik sprechen werde.« Und am 25. Oktober heißt es: »Möglicherweise gelingen mir auch meine Vorträge, so daß ihr Inhalt klar hervortritt. Endlich gibt es vielerlei Geschäftliches zu regeln.«
An Heinrich Christian Meier schreibt Jahnn am selben Tag: »Wenn auch der Inhalt von drei Vorträgen, die ich zu halten gedenke, festliegt, so habe ich sie noch nicht ausformen und in die Maschine bringen können. Freilich gibt es für diese Unterlassung auch eine sehr zu billigende Hemmung: ich möchte die Trümmer gesehen haben, einen Teil davon, um die Kraft des Unmittelbaren mitzubekommen. Einschließlich meines Orgelvortrages dürften vier grundverschiedene Reden herauskommen, die, wenn sie gelingen (was ich also noch nicht weiß), [man] in einem kleinen Buch zusammenfassen könnte. (Nur wenn sie es verdienen.)"
Die Briefe belegen also Jahnns Arbeit an einer Rede zur offiziellen Ernennung. Die Formulierung im ersten Brief an Voß, er sei »Ehrenpräsident« geworden, zeigt, daß er noch unsicher mit dem Titel war. Einen Ehrenpräsidenten gab es nicht. Jahnn wurde, wie der Komponist Fritz Jöde, der Maler Karl Hofer, der Bildhauer Gerhard Marcks und der Intendant Erich Ziegel, ins »Ehrenpräsidium« berufen. In der Geschichte des Kulturrats ein einmaliger Vorgang, denn für Einzelpersonen war eine Mitgliedschaft nicht vorgesehen, und bis zur Auflösung des Kulturrats 1949 wurden keine weiteren Personen in dieser Form geehrt. Welche Gründe dafür ausschlaggebend waren, ist bisher nicht untersucht worden.
Erst nach dem Hinweis auf die Funktion von Felix Jud im Kulturrat betrachtete ich erneut und eingehender das im Jahnn-Nachlaß befindliche und dem Briefwerk zugeordnete Konvolut »Kulturrat«. Tatsächlich fand ich nun neben der Korrespondenz mit Lobbes seinen auf den 14. November 1946 datierten Mitgliedsausweis, der von Jahnn und dem Vorsitzenden unterzeichnet war. Der schwer lesbaren Unterschrift des letzteren hatte ich bei unserer Durchsicht für die 1994 erschienene Briefausgabe keine Bedeutung beigemessen. Nun allerdings, da ich das Firmenarchiv sichtete, konnte ich sie identifizieren: Es ist die von Felix Jud! Des weiteren befindet sich im Konvolut das Protokoll der »9. Vollversammlung des Kulturrates am 16. Januar 1947, 16 Uhr im Phönixsaal des Rathauses «. Das Protokoll vermerkt eine Rede des neuen Kultursenators Ludwig Hartenfels und Juds detaillierten Jahresbericht über die bisherige Tätigkeit des Kulturrats, in dem es heißt: »Hans Henny Jahnn, der 1933 aus Deutschland emigrierte Hamburger, hielt anläßlich seines Besuches in seiner alten Vaterstadt eine bemerkenswerte Ansprache vor den Mitgliedern des Kulturrates, deren Wortlaut heute vervielfältigt vor Ihnen liegt.«
Es mußte also ein Manuskript der Ansprache gegeben haben. In Jahnns Nachlaß fand es sich allerdings nicht. Die darin verwahrten und auf 1946 datierbaren Redeentwürfe können erst im Anschluß an seine Rundreise durch Deutschland entstanden sein, da er in ihnen auf seine Reiseerlebnisse Bezug nimmt. Ein Problem bei meinen Recherchen zum Kulturrat bestand darin, dessen Archiv überhaupt ausfindig zu machen. Eine Darstellung seiner Geschichte liegt bislang nicht vor. So folgte ich einem Hinweis in Nikolaus Tillings Untersuchung zum literarischen Leben der Nachkriegszeit auf einen Zusammenhang zwischen Kulturrat und Staatlicher Pressestelle und stieß im Hamburger Staatsarchiv auf eine Akte »Kulturrat (Entnazifizierung)« aus dem Bestand der Kulturbehörde sowie auf eine Akte »Schriftsteller und Dichter« aus dem Bestand der Staatlichen Pressestelle. In dieser findet sich ein nicht durchgängig chronologisch abgelegtes Konvolut zu Hans Henny Jahnn. Es enthält mehrere Briefe Jahnns an Lüth und den damaligen Bürgermeister Max Brauer sowie Lüths Korrespondenz mit Dritten über Jahnns Anliegen. In einem unveröffentlichten Brief vom 12. Dezember 1946 an Lüth bezieht sich Jahnn auf eine gemeinsame Unterredung am Vortag. Es folgen die drei Blätter der ersten Ansprache. Wahrscheinlich wurde das Typoskript als Anlage versendet, worauf Jahnn in seinem Brief allerdings nicht eingeht. So bleibt unklar, ob er selbst oder einer der zahlreichen Freunde, die ihn in Hamburg unterstützten, es in den Briefumschlag gesteckt hat. Desgleichen, wann, wo und von wem das Typoskript angefertigt wurde. Häufig besorgte Jahnn die maschinelle Abschrift seiner stets handgeschriebenen Texte nicht selbst, sondern betraute Familienmitglieder und Freunde damit. Auf der Fotografie, die seinen Auftritt dokumentiert, ist nicht zu erkennen, ob es sich bei den vor ihm liegenden Papieren um die Typoskriptfassung handelt. Handschriftliche Notizen sind jedenfalls nicht überliefert. Vermittelt durch Heinrich Christian Meier wohnte Jahnn während seines Aufenthalts im Hotel Winterhuder Fährhaus, dessen Inhaber Otto Friedrich Behnke ihm sein Büro zur Verfügung stellte, so daß er dort eine Schreibmaschine benutzt haben könnte. Da er Hamburg wenige Tage nach der Veranstaltung wieder verließ, um Freunde und Verwandte zu besuchen, ist allerdings auch denkbar, daß diese Fassung während der Reise entstand, denn der Brief an Lüth mit dem beigefügten Typoskript wurde erst nach Jahnns Rückkehr am 12. Dezember geschrieben.
Ebenso wie die Rede ist auch die Fotografie als echtes Fundstück zu bezeichnen. Sie war bisher nicht mit dem Hamburger Kulturrat in Verbindung gebracht worden, weil sie im Deutschen Literaturarchiv Marbach auf 1948 datiert und mit dem Vermerk »PEN-Club« archiviert wurde. Im Katalog zur 1995 gezeigten Marbacher Ausstellung »Konstellationen. Literatur um 1955« wurde sie erstmals publiziert. Jan Bürger, der die Fotografie entdeckte, vermutete auf Grund des Gemäldes an der Wand hinter dem Redner, welches den großen Brand von 1842 zu zeigen scheint, daß die Versammlung im Hamburger Rathaus stattgefunden haben könnte. Tatsächlich habe ich bei meiner Recherche herausgefunden, daß es sich um eine Darstellung der brennenden Katharinenkirche während der Operation Gomorrha 1943 handelt.
Die sitzende Person links neben Jahnn konnten wir als Felix Jud identifizieren, der niemals Mitglied im PEN-Club gewesen ist. Die Aufnahme, so die einzig mögliche Schlußfolgerung, muß während der Plenarsitzung des Kulturrats am 14. November 1946 entstanden sein, die nachweislich im Phönixsaal stattfand, der den Hamburger Feuerkatastrophen gewidmet ist. Höchstwahrscheinlich ist sie das einzige Bilddokument von Jahnns erstem Auftritt und Aufenthalt in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine kritische Kommentierung dieses bedeutsamen historischen und biographischen Dokuments muß an anderer Stelle erfolgen. Hier ging es zunächst einmal darum, vom Finderglück in den Tiefen der Archive zu berichten.
Sandra Hiemer
SINN UND FORM 4/2015, S.437-447, hier S.437-441
Jakob, Michael
- 4/1993 | Gespräch mit George Steiner
- 5/1996 | »Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich«. Architektonische Bezüge in Kafkas »Prozeß»
Jakobs, Karl-Heinz
Jakubans, Andris
- 4/1979 | Sonnabend, 17:45 Uhr, vor dem Hockey
Jamati, Paul
- 5/1952 | La Bataille du Livre. Im Departement Hérault
Janácek, Leos
- 6/1957 | Feuilletons aus den »Lidové Noviny«
Jandl, Ernst
- 4/1985 | Gespräch Marianne Konzag
Janka, Walter
- 5/1982 | Konrad Wolf zum Gedenken
Jankélévitch, Vladimir
- 3/1997 | Tod und Leben
- 3/1998 | Schuld und Vergebung
- 6/1999 | Zynismus und Ironischer Konformismus
- 6/2001 | Der Orkan der Gewalt
- 6/2003 | Die Musik und das Unaussprechliche
- 4/2013 | Musik und Rhetorik
Jankowski, Martin
- 4/1993 | Konkrete Verheißung
Jansen, Elmar
- 6/1975 | Caspar David Friedrich - Tragödie und Hoffnung Romantischer Landschaft
- 5/1976 | Die Herausforderungen dialektischen Sehens
- 5/1979 | Arno Mohr als Erzähler
- 3/1982 | Barlachs Niebelungen
- 6/1984 | Diesseits einer Romanfigur - ein hiesiger Herr Schult
- 2/1988 | Geschichten neben der Kunst: Julius Meier-Graefe
- 1/1989 | Ein halbmythischer Mann namens Barlach
- 3/1991 | Wiederbegnungen mit Hans Theo Richter
- 4/1991 | Rodin im Widerschein
- 3/1992 | Ein deutsches Leben. Literarische Bemühungen am Rande des Dritten Reiches
- 5/1993 | Rheinisch-Westfälische Passion
- 2/1999 | Der unselige Barlach
- 3/2001 | Unterwegs zu Hassebrauk
- 4/2002 | Geschichten aus dem gestrigen Zeitalter: Max Schwimmer
- 3/2005 | Gnostischer Grenzgänger: Wilhelm Fraenger
- 2/2013 | »Seelenverwandtschaft, eine bleibende«. Ein etwas anderer Blick auf das Barlach-Theater und die Suhrkamp-Kultur, S. 293 Leseprobe
Jansen, Elmar
»SEELENVERWANDTSCHAFT, EINE BLEIBENDE» Ein etwas anderer Blick auf das Barlach-Theater und die Suhrkamp-Kultur
»Immer noch leichter Nebel – eigentlich gar nicht unsympathisch, … es kann mehr dahinter stecken als man denkt, kann anders kommen als ausgemacht ist …« So beginnt Barlachs »Blauer Boll« – als schwebendes Verfahren. Bei der Berliner Erstaufführung 1930 unter Jürgen Fehling am Gendarmenmarkt betrat mit diesen Worten Heinrich George die Szene. 1981 erarbeitete Frank-Patrick Steckel mit Wolf Redl die Rolle für die Schaubühne. Vorfassungen des Dramas, die ich im gleichen Jahr bekannt gemacht hatte, konnten einbezogen werden.
Den Boll hatte Barlach zunächst Baal genannt; Umrisse der gleichnamigen, gleichfalls »religiöser Delikte« überführten Brecht-Gestalt rückten in die Nähe und wurden doch auf Distanz gehalten. Steckel und sein Dramaturg Wolfgang Wiens legten ein 180seitiges Meditationsbuch zum Läuterungsprozeß des Lebemannes vor. 1985 hatte der Boll dann mit Kurt Böwe Premiere am Deutschen Theater. Auch hier wieder der niederdeutsche Marktplatz mit hochaufragendem Turm, von dem Boll in seiner Qual sich herabstürzen will, bis ihm – »Gewalt, himmelwärts ist am Werk« – im letzten Akt bessere Aussichten zuteil werden.
Kurt Pinthus hatte 1930 Fehlings Inszenierung Qualitätsmerkmale eines Reißers zugesprochen. Auch der überhaupt erste Barlach in der Schumannstraße erwies sich als zugkräftig; ihm war ein bisher bei solch schwierigen Stücken nicht gekannter, lang anhaltender Erfolg beschieden. Gastspiele in Köln, Kiel, Duisburg, Wuppertal schlossen sich an. 1988 folgten am gleichen Ort und mit nahezu gleichem Personal »Die echten Sedemunds« (Regie wiederum Rolf Winkelgrund), noch im selben Jahr herübergebeten zum Thalia-Theater Hamburg. Eine regelrechte Barlach-Welle begleitete die Aufbruchstimmung vor und nach den Wendejahren: Günter Krämer inszenierte den »Armen Vetter« in Bremen und Köln, Michael Gruner in Hamburg und Stuttgart; Wolf Redl wagte sich in Bochum an die Regie des »Toten Tags« und der junge Thomas Bischoff polarisierte am Mecklenburgischen Landestheater Parchim die Gemüter mit der selten aufgeführten, in den Jahren des heraufziehenden Nationalsozialismus entstandenen »Guten Zeit«. Hans Lietzau – schon in den 1950er Jahren am Berliner Schillertheater einer der produktivsten Barlach-Regisseure – inszenierte 1991 an den Münchner Kammerspielen einen so herausragenden »Boll«, daß er zum 29. Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Goethe-Institut London sah sich veranlaßt, alle diese deutsch-deutschen Erstaunlichkeiten in einer Barlach-Tagung aufzuarbeiten (Elmar Jansen: Verflucht deutsch, FAZ, 8. Januar 1992). J.M. Ritchie stellte seine Übersetzung des »Squire Blue Boll« zur Diskussion, gedruckt in den von ihm mitherausgegebenen »Seven Expressionist Plays. Kokoschka to Barlach«.
Zwanzig Jahre später ein anderes Barlach-Theater. Schrille Pfiffe, Krakeel, gelegentlich untermalt von milderen Einlassungen. Das Bühneninteresse am »Boll« scheint dagegen auf dem Tiefpunkt. Doch halt: Rumort es da nicht an einem stillen Ort? Es hört sich an wie die herunterrasselnde Kette eines Rettungsankers. Peter Handke, unterwegs zu immer neuen Erfahrungen in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, erzählt einen eigentlich »Unerzählbaren Alptraum« (Die Zeit 52/2012). Gegen Ende dieser neuerlichen Publikumsbeschimpfung kommt ihm ein erlösender Gedanke: den »Boll« in Sprachen zu übertragen, in denen er bisher nicht vorliegt.
Etwa in den Jahren, als sein »Kaspar« – auch der von Wolf Redl verkörpert – in Frankfurt herauskam, hat Handke den »Boll« gesehen. Wann, wo und mit wem, das weiß er nicht mehr genau. Aber da er den Namen des Regisseurs nennt, läßt es sich präzise rekonstruieren: Es war der nach Fehling entscheidende Triumph des Stücks unter Hans Bauer mit Hans Dieter Zeidler, erstmals am 7. April 1967, Landestheater Darmstadt. Ein »tiefsinniges Mysterium« begegnete Peter Handke dort; sehr »zum Unglück« sei das Werk heute »vergessen«. Handke empfand damals »Seelenverwandtschaft, eine bleibende«; »nie mehr« habe er seitdem »so stille, träumerische und, gerade im Abstand voneinander so aufeinander bezogene, nein eingestimmte Menschen« gesehen. Der hohe Ton scheint anzudeuten, daß es ihm ernst ist. Auch die Kritik (Georg Hensel, Günther Rühle) fällte seinerzeit über Barlach, Bauer und Zeidler enthusiastische Urteile.
Handke will an »Erzadern« rühren, er will den Boll in eine französische Fassung transponieren, vielleicht auch in eine slawische Sprache (Le Boll Bleu; Modri Boll). Je größer die Wut, mit der er zu Werke geht und seinen Boll in eine andere Welt hinüberhorchen läßt, desto mehr käme das dem Furor des Stückes zugute. Suhrkamp sollte sich das Angebot nicht entgehen lassen.
Bereits der Verlagsgründer – er wußte noch nichts von der vielberedeten »suhrkamp culture« – hatte sich dereinst die ehrwürdigsten Verdienste um Barlach erworben. Aus den zur Verramschung bestimmten Buchbeständen des zwangsweise aufgelösten jüdischen Verlags Paul Cassirer rettete Peter Suhrkamp 1936 elf Barlach-Titel, darunter den »Blauen Boll«.
Auf Barlachs Gedächtsnismale sind schon vor 1933 Anschläge von rechts verübt worden. Die ihm nach Hindenburgs Tod von Freunden dringend angeratene Mitunterzeichnung einer Stellungnahme zur Zusammenlegung des Reichskanzler- und des Reichspräsidentenamtes sollte ihm eine Atempause verschaffen, aber die Diffamierungen nahmen unvermindert ihren Fortgang. Barlach verfluchte nachträglich dieses einzige Zugeständnis gegenüber dem Regime; ein sarkastisch gezeichnetes »Bild des derzeitigen Staatsoberhauptes im Rahmen des vor kurzem allverehrten Vorgängers« verleibte er seinem Romanmanuskript »Der gestohlene Mond« ein.
Noch vor der Aktion gegen die »entartete Kunst« – nach neuesten Forschungen konfiszierte man über 600 seiner in Museen befindlichen Werke – wurde ein von Barlachs Jugendfreund Reinhard Piper liebevoll konzipierter Band mit Zeichnungen beschlagnahmt. Da man Barlach aber, von der Herkunft her, keine Spur mißliebigen Blutes in den Adern nachweisen konnte, war sein literarisches Werk zwar unerwünscht (Aufführungen wurden abgesetzt), aber nicht von vornherein zu verbieten.
Auf diesem schmalen Grat hat sich Peter Suhrkamp furchtlos bewegt; er veröffentlichte über den Tatbestand der Übernahme Barlachs in den Verlag 1936 eine Annonce und hielt die elf Buchausgaben in seiner Backlist vorrätig. Wiederholt hat er Barlach gebeten, ihm auch neue Werke zu übergeben, hat ihn, zusammen mit Gottfried Bermann-Fischer, in Güstrow persönlich aufgesucht. In der von ihm redigierten »Neuen Rundschau« druckte Suhrkamp 1934 ein Prosastück »Der Güstrower Dom«, versehen mit der Widmung »Für Ernst Barlach« – ein scheinbar winziger Versuch, für den Verfolgten, dem man in Güstrow die Fensterscheiben einschlug, etwas zu tun. Verfasser des kleinen Denkbildes war Barlachs Freund und späterer Nachlaßverwalter Friedrich Schult. Schult publizierte solche auf Herkunft, Landschaft und Alltagsleben bezogene Prosa ohne Blut-und-Boden-Töne sowohl in der Frankfurter Zeitung als auch in Anton Kippenbergs »Inselschiff «. Suhrkamp muß diese Arbeiten fast so geschätzt haben wie die Miniaturen Walter Benjamins, den er ab 1950 verlegte.
[...]
SINN UND FORM 2/2013, S. 267-271
Jansen, Johannes
Janssen, Rob
- 5/2005 | Gespräch mit Theun de Vries
Janz, Dieter
- 2/2011 | Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt und Matthias Weichelt, S. 184 Leseprobe
Janz, Dieter
Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt und Matthias Weichelt
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der anthropologischen Medizin. Was haben wir uns darunter vorzustellen?
DIETER JANZ: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was medizinische Anthropologie bzw. anthropologische Medizin ist, aber versuchen wir es. Die drei Stücke, die Viktor von Weizsäcker 1927 für die »Kreatur« verfaßt hat, nämlich »Der Arzt und der Kranke«, »Die Schmerzen« und »Krankengeschichte«, nannte er Stücke einer medizinischen Anthropologie. Und dort sagt er, das Urphänomen der medizinischen Anthropologie und der Hauptgegenstand ihres Wissens sei der kranke Mensch, der eine Not hat, der der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft. Und dieser Ursprungssituation sollte das Verhältnis von Krankheit und Medizin entsprechen. Die Medizin, wie sie gelehrt wird, ist eine Medizin, die sich mehr einem Etwas zuwendet als einem Jemand. Dieses Gewichtsverhältnis zu ändern, das heißt die Beziehung zwischen Arzt und Krankem menschlich ernst zu nehmen, ist die Absicht einer anthropologischen Medizin. Bis hierhin ist das alles sehr einfach. Der nächste Schritt, der nächste Gedanke ist, sich zu fragen, was unterscheidet den kranken Menschen der anthropologischen Medizin vom Patienten der Schulmedizin? Antwort: daß man ihn als Objekt begreift, das ein Subjekt enthält, und daß der Arzt dieses Subjekt anerkennt. Und nun beginnt ein Gespräch. Die Anamnese aus der Schulmedizin gilt natürlich auch in der anthropologischen Medizin. Aber hier wird sie zum Gespräch, in der Schulmedizin ist es eine Erhebung. Eine Erhebung von Tatsachen nach einem gewissen Schema, zuerst Familiengeschichte, also Auflistung der Krankheiten der Eltern und Geschwister, dann der Kinderkrankheiten, der Geschlechtskrankheiten und anderer Leiden, schließlich der Operationen, während in der anthropologischen Medizin der Arzt fragt: Wo fehlt es? Oder, was fehlt Ihnen? Und dann aufmerksam lauscht. Das Lauschen ist eine außerordentlich bedeutsame ärztliche Handlung, auch weil sie alle möglichen Nebentöne mithört. Und das, was der Kranke sagt, führt hin auf den Weg zur Heilung, denn er ist es doch, der gesund werden will. Hinzu kommt, daß der Patient mehr von der Krankheit weiß als der Arzt, Dinge weiß, die sich erst im Gespräch erschließen. Und so beginnt der Arzt mit den einfachen, im gewissen Sinne klassischen Fragen: wo, wann, was und warum? Also wo. Wo spüren Sie etwas? Das geht erst mal auf die Anatomie zu, wobei die objektive Anatomie eine andere ist als die subjektive, das muß man im Auge haben. Dann das Wann. Wann ist das passiert, wann haben Sie das zuerst wahrgenommen, wann spüren Sie das, wann tritt das auf? Dieses Wann meint mehr als nur die Zeitangabe, es zielt auf den Kontext der Situation, in der die Symptome sich zuerst und dann immer wieder zeigten. Dann geht es zum Was, zur Art der Beschwerde. Mechthilde Kütemeyer, eine befreundete Ärztin, hat mir mal erzählt, daß man aus der Heftigkeit, mit der der Kranke seine Schmerzen schildert, auf die Dramatik des Traumas schließen kann. Also auch Nuancen spielen eine Rolle. Und schließlich kommt die letzte Frage, die Frage nach dem Warum. Im schulmedizinischen Verständnis ist das eine Frage nach der Ursache, im anthropologischen aber eine nach dem Sinn. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Empirisch gibt es darauf ganz bezeichnende Antworten. Zum Beispiel eine solche: Das müssen Sie doch wissen. Das ist oft ein Hinweis darauf, daß der Kranke nicht mitmacht bei der Ursachenfindung, er bietet das Symptom, und der Arzt soll damit umgehen. Aber so geht das in der anthropologischen Medizin eben nicht. Und nun fragt der Arzt: Was meinen Sie denn, wo das herkommt? Und es ist erstaunlich, was da so herauskommt. Zunächst die Spitzen: Daß man überhaupt so was gefragt wird. Dann die Scheu zu sagen, was man sich selber dabei gedacht hat. Das sind aber Abwehrversuche, die man überwinden muß als Frager. Damit darf man sich nicht zufriedengeben, sondern muß weiter insistieren, und zwar in einer Weise, die es dem anderen erlaubt, ungeniert auch dumme Sachen zu sagen. Und die dummen Sachen sind oft die, die helfen, einen Weg zu finden. Das gilt auch für organische Krankheiten. Es kommt vor, daß sich hier eine psychoneurotische Konstellation anschultert. Zum Beispiel bei Kranken mit einer Multiplen Sklerose oder mit Gelenkrheumatismus. Wenn man fragt, wo das ihrer Meinung nach herkommt, kann einem gleich ein ganzes Familiendrama erzählt werden. Wenn man die Biographik bei chronischen Krankheiten studiert, muß man die erste Schicht wegnehmen, um zu einer tieferen zu gelangen. Zuerst kommen etwa Aggressionen gegen einzelne Familienmitglieder zur Sprache, deren Berechtigung zweifelhaft ist. Und erst dann erscheint vielleicht etwas von Bedeutung, das man in Pathogenese und Therapie einbeziehen sollte. Also das ist die Frage nach dem Warum. So fein sind die Unterschiede zwischen Schulmedizin und anthropologischer Medizin. Das philosophische Gerüst – besser die ärztliche Einstellung – dahinter ist entscheidend. Das gilt besonders für die Sinnfrage. Die kann ja nur gestellt werden, wenn der Arzt eine Vorstellung hat, was der Sinn sein könnte, und wenn der Kranke bereit ist, mitzudenken. Man braucht ja vom Sinn nicht gleich eine umfassende Vorstellung zu haben. Es muß sich einem auch nicht alles sofort erschließen. Weizsäcker benutzt für den Begriff Sinn oft den der Bestimmung. Er fragt, welche Bestimmung hat eine Krankheit in einem Leben. Und man kann, ja, man muß unterscheiden zwischen einer vorletzten und einer letzten Bestimmung. Ich weiß gar nicht, wo diese Unterscheidung herkommt. Vielleicht wissen Sie es.
KLEINSCHMIDT: Nicht auf Anhieb, aber es leuchtet natürlich ein. Man muß ja nur auf die Sprache hören. Wir haben doch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, und von da ist es nur ein Katzensprung zurück zu den vorletzten. Und so kommt man darauf. Und schon öffnet sich ein neuer Raum.
JANZ: Und wenn man einen Sinn dafür hat, daß es das Vorletzte und Letzte gibt, ist man viel freier, auch danach zu fragen. Das ist doch das Merkwürdige, daß die letzten Dinge auf die vorletzten abfärben. Philosophisch gesehen ein interessantes Phänomen. Deswegen ist die anthropologische Medizin für den nachdenklichen Arzt so anziehend.
KLEINSCHMIDT: Genaugenommen sprechen Sie ja jetzt über Formen der kooperativen Diagnostik zwischen Arzt und Patient. Und da sollte man die Hermeneutik ins Spiel bringen, und zwar in ihrer Gadamerschen Form. Hans Georg Gadamer hat sein langes Gelehrtenleben lang immer wieder neue Auslegungen dessen gegeben, was Hermeneutik ist. Und eine davon lautet, daß der hermeneutische Zugang zu einem Text – im Falle der Krankheit müßte man sagen zum Text der Erkrankung – darin besteht, ihn als Antwort zu verstehen, und zwar als Antwort auf eine Frage, die man noch nicht kennt. Das Gespräch bestünde dann darin, vom Antwortcharakter des Textes zur Rückgewinnung der verborgenen Frage zu gelangen.
JANZ: Ja, das ist ganz richtig. Das muß auch hier der Zugang sein, nämlich auszugehen von der festen, auf Erfahrung gegründeten Zuversicht, daß hinter der Krankheit ein verborgener Sinn liegt, den der Kranke nicht unmittelbar weiß und den auch der Arzt nicht weiß, und in diesem gemeinsamen Erforschen, in diesem gemeinsamen Erkennen sich am Ende einig zu werden, worin dieser Sinn besteht. Das ist übrigens etwas, was man auch in der Psychotherapie erfährt, daß nämlich nur die Deutung wirkt, die dem Patienten einleuchtet.
KLEINSCHMIDT: Man müßte nicht einmal sagen, daß die Deutung stimmt, es genügte festzustellen, daß sie wirkt.
JANZ: Das ist der Schlüssel in der Medizin. Das Wirksame ist das Wahre. Entscheidend ist zu verstehen, daß Krankheit immer in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist und daß die ihr zugrundeliegenden Konflikte und Spannungen verborgen sind. Will man sie ans Licht bringen, muß man in die Biographie des Kranken einsteigen. Aus der biographischen Einbettung der Krankheit ergibt sich, daß der Mensch ein zeitgebundenes Wesen hat. Auch Krankheit hat daran teil. Zeitgebundenheit der Krankheit bedeutet, daß durch die Behandlung keine Restitution des vor der Krankheit herrschenden Zustandes erfolgt, daß Heilung nicht heißt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit.
KLEINSCHMIDT: Im Gegensatz zum Fußball, wo die Trainer immer sagen: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Natürlich, der Vergleich hinkt ein wenig …
JANZ: Ja, ja. Und es ist ungeheuer wichtig, das ernst zu nehmen, daß der Mensch nach der Krankheit nicht der Mensch vor der Krankheit ist, nicht sein kann. Auch wenn er selber meint, es zu sein.
KLEINSCHMIDT: Also keine Wiederherstellung. Es gibt zwar Gesundung, aber Heilung ist keine Rückkehr zum vorigen Zustand.
JANZ: Es gibt sie nicht, die Restitutio ad integrum. Gesundung ist keine Wiederherstellung.
KLEINSCHMIDT: Da der laienhafte Patient ja mitsprechen darf in der anthropologischen Medizin, würde ich sagen, daß in der Gesundung doch ein Moment der Wiederherstellung steckt. Da muß man gar nicht das Bild der Reparatur bemühen. Jede Erkrankung wirft den Menschen aus der Bahn, und jede Genesung führt ihn in die Bahn zurück. Das ist eine Art Wiederherstellung. Aber natürlich nur eine auf Zeit. Als ich vorhin bei Ihrer Formel »nach der Krankheit ist nicht vor der Krankheit« zum Kontrast auf die Fußball-Formel »nach dem Spiel ist vor dem Spiel« verwies, merkte ich erst hinterher, daß dies, übertragen auf unser Gebiet, in einem anderen Sinne doch stimmt. Denn niemand kann nach einer Heilung sicher sein, daß er fortan nicht wieder krank wird. Insofern gilt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit. Die nächste Herausforderung wartet schon auf uns.
JANZ: Aber doch mit einer Erfahrung hinter uns.
MATTHIAS WEICHELT: Vielleicht muß man den Gedanken der Wiederherstellung ein bißchen genauer fassen. Natürlich geht es darum, daß der Mensch wieder mit sich ins reine kommt, daß er nicht mehr sagt, mir fehlt etwas. Nur muß man die Entwicklung dabei mitdenken. Der Mensch, der eine Krankheit durchgemacht hat und von ihr genesen ist, ist nicht mehr derselbe, der er ohne diese physische und geistige Erfahrung war. Er ist ein anderer geworden, und trotzdem wieder bei sich.
JANZ: Ja, so ist es. Und noch mehr. Man erlebt sich wieder neu. Diese Krankheit hatte man ja vorher nicht gehabt. Um es noch von einem anderen Punkt aus zu zeigen: Der Umgang mit einer Krankheit sollte darauf gerichtet sein, dahinterzukommen, was jemanden krank gemacht hat. Das bedeutet für Arzt wie Patient, die Wahrheit der Krankheit zu finden. Weizsäcker sagt: Jede Krankheit ist eine Krise der Wahrheit und eine Anerbietung von Wahrheit. Wird man wieder gesund, hat man sich also mit dieser neu errungenen Wahrheit restituiert. Und noch ein Gedanke. Nämlich die Frage, was wird dieser Mensch? Und zwar sowohl in der Krankheit wie in der Gesundheit. Der Mensch ist immer auf dem Weg. Auf dem Weg zu seiner Bestimmung.
KLEINSCHMIDT: Das berühmte »Werde, der du bist«. Ein Paradox, deswegen ist es ja so schön.
JANZ: Ich hatte jetzt mehr an die Beziehung von Krankheit und Gesundheit gedacht. Ich würde sagen, der Mensch ist immer auf dem Weg hin zur Gesundheit oder weg von der Gesundheit. Er ist immer auf dem Weg hin zu seiner Bestimmung oder weg von seiner Bestimmung. Das meint Weizsäcker.
KLEINSCHMIDT: Ja, das gibt zu denken.
JANZ: Das führt zur Frage des Gesundheitsbegriffs. Für Freud ist die Genußfähigkeit das Leitbild von Gesundheit. Für die Schulmedizin ist es die Leistungsfähigkeit, für die Sozialmedizin die Arbeitsfähigkeit. Das sind alles mehr oder weniger Fremdbestimmungen. Weizsäcker versucht davon wegzukommen, er sagt einmal, Krankheit sei genauso eine Art von Menschlichkeit wie Gesundheit. Gemeint ist, sich menschlich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können.
WEICHELT: Das ist doch eine sehr positive Grundsicht von Krankheit.
JANZ: Ja, ich finde es auch positiv, und zwar im Sinne eines ernsten Zurüstens auf Leben, Lebendigkeit, Entwicklung, und am Ende auf den Tod.
WEICHELT: Das ist das Gegenteil dessen, was heutzutage als erstrebenswert gilt, nämlich das Leben verlängern, immer älter werden, vor allen Dingen den Tod hinausschieben.
KLEINSCHMIDT: Sie haben von der Wahrheit gesprochen, Herr Janz. Und Sie haben gesagt: Wahr ist, was wirksam ist. Man könnte auch sagen: wirksam ist nur die Deutung, über die sich Arzt und Patient im Laufe der Gespräche einig werden. Aber sind denn Wahrheit und Deutung immer heilungsfördernd? Es kann doch auch eine Wahrheit festgestellt werden, die keine Aussicht auf Gesundung eröffnet.
JANZ: Ja, es gibt Krankheiten, die nicht heilen. Franz Rosenzweigs Krankheit, das war so eine. Er litt an einer amyotrophen Lateralsklerose, einer unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung des motorischen Nervensystems. Und daran ist er auch zugrunde gegangen.
KLEINSCHMIDT: Nein, nein, das meinte ich nicht. Sie haben einmal vom Wahrheitsexhibitionismus in der heutigen Ärzteschaft gesprochen, während früher das Gegenteilige galt, nämlich extreme Wahrheitsscheu. Die Scheu bezog sich aufs Mitteilen, nichts aufs Erkennen. Der Arzt wußte mehr und hat es dem Patienten nicht gesagt. Wie steht es mit der Offenheit des Arztes, wenn die Wahrheit bitter und nichts als bitter für den Kranken ist?
JANZ: Wahrheit ist doch eine bipersonale Beziehung. Der Arzt muß zwischen sich und dem Kranken immer wieder neu die Situation von Frage und Antwort herstellen, von Weiterfragen und Weiterantworten. Und dann zeigt sich, daß sich beide um die Krankheit bemühen, aber das können sie nur, indem sie an das Verborgene herankommen. Und das, was verborgen ist, ist die Wahrheit über diese Krankheit. Natürlich ist das eine absolut ideale Vorstellung, die wir uns jetzt machen, denn wir haben noch nicht vom Widerstand gesprochen, der in jedem Patienten steckt und der schon in dem Satz erscheint: Ich komme zu Ihnen, weil ich gesund werden will. Der Arzt, der weiß, was auf ihn zukommt, müßte das Gespräch eigentlich so beginnen: Wissen Sie, was Sie damit sagen? Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, was gesund ist? Aber so geht das natürlich nicht. Es kommt darauf an, das Angemessene zu tun, und zwar in jeder Situation. Und das Gespräch ist nicht immer das Angemessene. Nehmen wir einen Mann mit Bandscheibenvorfall, der über die Notaufnahme in die Klinik kommt. Er ist vollkommen krumm und steif und hat wahnsinnige Schmerzen. Hier ist unmittelbare Hilfe gefordert. In diesem Zustand beginnt man kein Arzt-Patienten-Gespräch.
WEICHELT: Wie kamen Sie eigentlich zu dem Entschluß, Medizin zu studieren?
JANZ: Ich hatte einen Mitschüler, der zu Hause ein kleines Laboratorium besaß und chemische Experimente machte. Das hat mich beeindruckt. Und der war entschlossen, Medizin zu studieren. Außerdem hatte ich mit siebzehn gehört, daß man sich melden könne, wenn man auf der Pépinière in Berlin Medizin studieren wolle. Die Pépinière war eine Pflanzstätte für Militärärzte, dort konnte man umsonst studieren. Man wäre, wenn man genommen worden wäre, Fähnrich geworden und hätte sich festlegen müssen, auf zehn oder zwanzig Jahre beim Militär zu bleiben. Mein damaliger Pfadfinderführer, er war vier oder fünf Jahre älter als ich, war Medizinstudent beim Militär. Der ist noch im Krieg Militärarzt geworden. Und der hat mir in gewisser Hinsicht Eindruck gemacht. Mir gefiel er in Uniform. Ich wußte nicht, ob ich je eine so eindrucksvolle Gestalt würde abgeben können. Ich habe mich nicht so gutaussehend, nicht so kerzengerade gewachsen gesehen. Im übrigen fragt man sich, was kommt denn überhaupt in Frage. Es kam eigentlich nur in Frage: entweder Lehrer oder Richter oder Pfarrer oder eben Arzt. Was gab es denn sonst?
WEICHELT: Journalist?
JANZ: Nein, das kam nicht in Frage. Mein Vater war Pfarrer, er hat es ungern gesehen, wenn ich Zeitung las. Er fand das Deutsch, das in der Zeitung geschrieben wurde, nicht besonders förderlich für den Stil. Er hat gesagt, wenn du in der Schule einen Aufsatz zu schreiben hast, lies einige Tage vorher keine Zeitung. Mit der Vorstellung, Pfarrer zu werden, hatte ich auch gespielt. Vor der Aufgabe zu stehen, jeden Sonntag für eine halbe oder dreiviertel Stunde etwas Wesentliches, Bedeutsames und Lebenswichtiges zu sagen – und das schien mir immer das Wesen des Pfarrerberufs zu sein –, hatte etwas absolut Herausforderndes. Ich erinnere mich, daß ich mit siebzehn einmal gesagt habe: Eigentlich müßte man entweder Pfarrer oder Sturzkampfflieger werden. Ich meinte, die Berufswahl sei eigentlich eine Mutprobe. Und Pfarrer zu werden in dieser Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, das erforderte ja Mut. Man mußte das Christentum verteidigen. Feigheit war da nicht gefragt. Als ich sagte, ich weiß nicht, ob Medizin oder Theologie, fragte mein Vetter, er war Theologe, was stellst du dir denn vor unter Theologie? Darauf ich: Unter Theologie stelle ich mir etwas sehr Abenteuerliches vor. Darauf er: Na, dann studier mal lieber Medizin.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre beruflichen Anfänge?
JANZ: Meine erste Stelle nach dem Krieg war in Heidelberg. Ich hatte mich bei dem Neurologen Paul Vogel vorgestellt. Ihn hatte Alexander Mitscherlich mir empfohlen als den einzigen klinisch wirksamen Schüler Viktor von Weizsäckers. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Professor Vogel, da er nicht in der Klinik war, zu Hause besucht. Das war eine unmögliche Sache. Ich habe geklingelt, er öffnete mir. Ich sagte: Entschuldigen Sie, darf ich mich Ihnen vorstellen? Herr Mitscherlich hat mir gesagt, ich solle mich an Sie wenden. Ich möchte gerne bei Ihnen arbeiten. – Da kommen Sie jetzt zu mir nach Hause? sagte Vogel und drückte die Tür zu. Und da, so hat er es später erzählt bei der kleinen Rede, die er anläßlich meiner Habilitation gehalten hat, hätte ich meinen Fuß in die Tür gestellt und gesagt: Herr Professor, geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit, daß ich mich schriftlich vorstelle. – Na, das können Sie ja machen. Ich habe ihm also geschrieben. Bald darauf kriegte ich eine Postkarte: Sie können am 1. Februar bei mir eintreten. Das war natürlich eine unbezahlte Stelle. So wurde ich also Volontär bei Paul Vogel. Das war schon was.
WEICHELT: Hatte man da schon eine gewisse Verantwortung?
JANZ: Der Stationsarzt, den ich damals hatte, war ein Ukrainer, der schon im Krieg bei Vogel war, ein kluger und auch guter Arzt. Bei dem machte man zunächst einmal die Visiten mit. Man guckte zu, wie der andere untersuchte, und schrieb die Krankengeschichte auf. Kamen neue Patienten, schrieb man die nächste Krankengeschichte. Dann untersuchte man selbst, und so kam man hinein und war sehr bald ein Helfer des Stationsarztes. So ein Stationsarzt hatte vielleicht noch zwei solche Volontäre, so war man zu dritt. Und hatte eine Station von 24 Betten. Das war die Struktur. Das Haus hatte vier solcher Stationen. Diese 24 Betten standen alle in je einem Saal. Und so hatte ich jahrelang die Möglichkeit zu sehen, wie die Patienten miteinander umgehen, wie die Schwestern mit den Patienten umgehen, wie die Ärzte mit den Patienten umgehen. Das sieht man ja bei 24 Betten – wenn man seinen Tisch in der Mitte dieses langen Bettentraktes hat –, und man kann seine Beobachtungen machen. Alle passen auf. Dennoch ist es enorm diskret. Als wären unsichtbare Vorhänge zwischen den Betten. Aber es passiert natürlich viel. Der eine bekommt Besuch, der andere nicht. Der eine weint, der andere lacht, alle diese Dinge. Man bekam viel mehr Lebensäußerungen mit als heute in den Krankenzimmern. Heute hat ein Krankenzimmer zwei oder drei Betten. Dann ist man da diese fünf oder zehn oder fünfzehn Minuten in einer im Grunde künstlichen Atmosphäre, denn alle wissen, jetzt ist der Arzt da. Aber seien Sie mal mit 24 Menschen zusammen und das über mehrere Stunden.
WEICHELT: Das ist schon eine Art Gemeinschaft, die sich auch irgendwie organisieren und disziplinieren muß.
JANZ: Nun sind zwar nicht alle bettlägerig, aber viele. Es ist ein gemeinsamer Raum und ein wechselseitiges Aufeinander-Rücksicht-Nehmen. Oder eben nicht Rücksicht nehmen. Beides hat Folgen für die Diagnose, für die Behandlung, für den Umgang. Ich sage dieses Weizsäckersche Wort Umgang, weil es alles einbezieht, Diagnose, Therapie, Gespräch, Verhalten usw. Nach sechs Wochen hat Paul Vogel zu mir gesagt, er möchte, daß ich mich für das Sommersemester auf ein Referat über eine Vorlesung von Weizsäcker »Über die ärztliche Grundhaltung« vorbereite. Sechs Wochen hatte ich Zeit. Und habe dieses Referat gehalten, das war 1946. Ich besitze den Text noch. Er wurde vor einer Weile abgedruckt, zusammen mit der Vorlesung von Weizsäcker. Und dann, nach diesem Referat, mit dem Vogel offenbar zufrieden war, sagte er: Gut, machen Sie so weiter. Versuchen Sie sich einzulesen und einzuarbeiten. Ich möchte zwei Jahre nichts Schriftliches von Ihnen sehen.
WEICHELT: Das war keine Empfehlung, sondern eine Anweisung.
JANZ: Eine Anweisung, ja. Das heißt, zwei Jahre haben Sie Zeit.
WEICHELT: Aber Sie sollten nicht untätig sein.
JANZ: Nein, nein. Mit nichts Schriftliches war gemeint: keine wissenschaftliche Arbeit. Gemeint war: Machen Sie so weiter. Lernen Sie Neurologie. Untersuchen Sie. Benutzen Sie die Bibliothek. Wir hatten eine ganz gute Bibliothek in der Klinik, den ganzen Freud. Der war auch über die Nazijahre da, die große blaue Ausgabe. Da habe ich vieles – ich will nicht sagen alles – gelesen. Das war neben dem Handbuch für Neurologie eine Grundnahrung für mich, das kann ich schon sagen. Aber die Sache mit den zwei Jahren nichts Schriftliches von Ihnen hören, das ging ja nach zwei Seiten.
WEICHELT: Man wird freigestellt, aber auf ein Ziel hin.
JANZ: So ist es. Und so habe ich es auch empfunden. Ich habe es als Glücksfall angesehen, zwei Jahre lang nur studieren zu können.
WEICHELT: Ohne das sofort verwerten zu müssen.
JANZ: Ja, genau. Ohne es unmittelbar auswerten zu müssen. Das gehört für mich zu den beeindruckenden pädagogischen Leistungen von Paul Vogel. Ich erinnere mich noch an etwas, das dazu paßt. Als Weizsäcker elf Jahre später starb, hat Vogel mich morgens in sein Dienstzimmerchen gerufen und gesagt: Nehmen Sie Platz. Herr von Weizsäcker ist heute nacht gestorben. Das war die Mitteilung, die er mir gemacht hat. Ich habe dazu nichts sagen können außer: Ja, was wird denn nun aus seinem ganzen Werk? Da sagte er: Das muß erst mal alles in die Katakomben.
WEICHELT: Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.
JANZ: Ja, das hatte wieder etwas Kryptisches. Ich habe mir wirklich oft Gedanken darüber gemacht. Na gut, ich wußte, daß man jetzt nicht viel darüber redete, daß man zusah, ob das gärt, ob sich das von selbst bewegt. Aber woran merke ich das? Wo muß ich hinschauen? Wo muß ich hinhören? Nichts darüber. Katakomben – da weiß keiner, wie und wann das wieder rauskommt. Aber man weiß, daß es rauskommt. Das war auch wieder so ein Rat.
WEICHELT: Die normale Reaktion wäre zu sagen: Jetzt ist er gestorben. Wir müssen uns um das Werk kümmern. Wir müssen Editionen machen. Aber Vogel sagte das Gegenteil. Hat Ihnen das eingeleuchtet?
JANZ: Das hat mir sehr eingeleuchtet. Einerseits ist es entlastend, andererseits nimmt es einen in die Pflicht. Man bestimmt den Zeitpunkt mit, wann es hochgeholt wird – wie es dann auch geschah.
WEICHELT: Man muß eine Sache erst mal loslassen und sie sich dann wieder zu eigen machen, ganz im Goetheschen Sinne: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Aus dem Bild der Katakombe spricht ja auch die Überzeugung vom hohen geistigen Wert des Weizsäckerschen Werks.
JANZ: Katakomben sind Orte zeremonieller Bewahrung. Was hier lagert, gewinnt spirituelle Existenz.
WEICHELT: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen als Arzt?
JANZ: Ich erzähle Ihnen eine symptomatische Begebenheit. Es ist Ausgang Winter. Zwei uns bekannte Männer im mittleren Lebensalter kamen verletzt aus dem Skiurlaub. Der eine hatte sich den Arm gebrochen, der andere hatte einen bandagierten Fuß. Und in beiden Fällen habe ich gefragt, wie das passiert ist. Ach, sagt der eine, ich bin zu schnell den Hang hinuntergefahren, plötzlich bin ich gestürzt. – Warum sind Sie denn so schnell gefahren? – Ja, es war schon Abend, und die anderen waren alle schon unten. – Wer waren denn die andern? – Mein Sohn und seine Freundin und noch ein paar andere. – Ach, Sie waren mit dem Sohn zusammen? Wie alt ist der denn? – Der ist jetzt fünfzehn. – Kann der gut Ski laufen? – Er kann jetzt besser Ski laufen als ich. Der war sofort unten. – Sind Sie zusammen losgefahren? – Ja, es war schon spät und da sind wir sofort los, und kaum hatte ich mich besonnen, war er schon unten. Ja, und dann bin ich halt gestürzt. – Wollten Sie ihm denn hinterher? – Na klar doch. So. Das ist die eine Geschichte. Die andere war ganz ähnlich. Gut. Das war jetzt die Anamnese. Aber was man braucht, ist die Souveränität, nichts für Zufall zu halten. Daß der geschiente Arm und das bandagierte Bein nicht von ungefähr kommen.
WEICHELT: Ist es eine Entscheidung, zu sagen, wir halten nichts für Zufall, oder ist es eine Überzeugung? Ist es eine philosophische oder eine therapeutische Frage? Oder ist es Erfahrung?
JANZ: Es ist eine aus der Überzeugung entwickelte Erfahrung und eine aus der Erfahrung entwickelte Überzeugung.
WEICHELT: Mir scheint, es geht hier nicht nur um interessante, sondern auch um rätselhafte Zusammenhänge, das hat ja fast schon etwas Künstlerisches.
JANZ: So ist es. Das ist genau der richtige Begriff. Es ist das Verhältnis zum Rätsel, was zu dieser Art von Fragen führt. Es gibt ja Rätsel, die man nicht lösen kann, und es gibt Rätsel, die man lösen kann. Die Lust ist ein künstlerisches Moment. Die Lust an der Enträtselung, die Lust am Finden von Zusammenhängen, da fängt es an, und das geht natürlich weit über den Verstand und die Empirie hinaus. Am Anfang steht immer die Frage: Warum ist dieser Mensch krank und warum wird er nicht wieder gesund? Darauf muß man neugierig sein. Und um zu Antworten zu kommen, braucht man eine Begabung zum Assoziativen. Eine Begabung des Verbindens. Das Befriedigende daran ist dieses Spiel von Neugier und Finden.
WEICHELT: Heißt dieses Finden nicht in gewissem Grade auch, daß die gefundene Wahrheit nicht mehr die einzige ist, sondern nur die Ihnen gemäße?
JANZ: Nein, nein, nur die Methode ist die mir gemäße. Die Wahrheit ist die dem Patienten gemäße. Ich habe es oft erlebt, daß Väter sich mit ihren Söhnen messen. Und zwar immer dann, wenn die Söhne an ihnen vorbeizogen, und die Väter, die noch jung sein wollten, ihre Söhne in die Schranken zu verweisen suchten. Und das geht irgendwann schief. Dann muß man diese Erfahrung zu einer Erkenntnis machen, und zwar verbunden mit dem entsprechenden Genuß, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Und einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel den erwähnten Skiunfall, zu einer Erkenntnis zu machen, das ist schon das Medizinische, das Therapeutische. Mit Paul Vogel war übrigens jede Visite reizvoll. Es gab viele neurologisch interessante Fälle. Zum Beispiel folgende Geschichte: Vogel unterhält sich mit einem Patienten, weil er mit der Symptomatik nicht ganz klarkommt. Er läßt ihn aufstehen, ein paar Schritte gehen, wieder zurückkommen, auf dem einen Bein stehen, auf dem anderen Bein stehen usw. Dann unterhält er sich einen Moment mit ihm. Dann läßt er ihn wieder ins Bett gehen. Vogel geht zum nächsten Patienten. Am Ende der Visite treffen wir uns draußen auf dem Gang, und da sagt er zum Stationsarzt: Sie, hören Sie mal, der da im dritten Bett hinten, den ich habe gehen lassen, das ist doch eine Geschichte. Erzählen Sie mir die mal bei der nächsten Visite. Da hat man genau gewußt, was er wollte, wenn man das hörte. So wurde man mit dem Auftrag entlassen, die Geschichte rauszukriegen. Das heißt also, Vogel wollte, daß man sich mit dem Patienten hinsetzt und ins Gespräch kommt. Um rauszukriegen, was für eine Geschichte hinter der Krankheit steckt. Vogel hat auch ein Seminar mit Medizinstudenten über Krankheiten als literarische Gattung gemacht, also Leidensformen, Krankheitsformen, Genesungsformen in Analogie zu literarischen Formen.
WEICHELT: Darf ich noch mal auf die Frage nach dem Zufall zu sprechen kommen? Es ist doch ein starker Hang in der Weizsäckerschen Medizin, allem Geschehen einen Sinn zuzuordnen, in allem, was passiert, einen Sinn zu entdecken. Das ist ja fast ein theologischer, religiöser, ja, künstlerischer Grundzug dieser Medizin. Sie sagten: Souveränität heißt, nichts für Zufall zu halten. Also alles in einen übergeordneten Rahmen zu stellen, in eine Lebensgeschichte einzubetten, und jeden Beinbruch, jede Angina, alles was einem passiert, zum Teil der Lebensgeschichte zu machen.
JANZ: Warum sagen Sie machen? Wenn es doch ein Teil ist?
WEICHELT: Machen sage ich, weil ich glaube, daß es vom Patienten her ein aktiver Vorgang ist. Was Kranksein für den einzelnen heißt, muß er selber herausfinden. Er muß selber verstehen, was dahintersteckt. Und deswegen ist es so – das meinte ich mit künstlerischem Grundzug –, daß jeder aufgerufen ist, seine eigene Lebensgeschichte, seine eigene Lebenserzählung zu entwerfen und alles, was ihm auf dem Lebensweg begegnet, zum Teil dieser Geschichte zu machen.
JANZ: Was Sie sagen, entspricht auch einer Grundvoraussetzung der anthropologischen Medizin, daß nämlich der Patient seine Krankheit nicht nur erfährt, sondern auch macht. Wenn es so ist, dann ist es doch sinnvoll, den Teil, den er dazu beiträgt, herauszubekommen, schon im Sinne der Prävention, daß sich das nicht wiederholt. Den Zufall können wir uns hierbei gar nicht leisten. Sie vielleicht können sich den Zufall leisten, weil Sie nicht wie ich von Berufs wegen mit der Frage befaßt sind, wo kommt das her. Sie können zu dem verunglückten Skifahrer sagen: das war Zufall. Wenn Sie aber Orthopäde sind oder Unfallchirurg, und der Mann kommt zu Ihnen und sagt: Verflixt noch mal, das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin doch schon ein alter Knopp. Als Arzt muß ich doch sehen, daß dieser Mensch unruhig ist und wissen möchte, wo die Sache herkommt. Und so mache ich mich ans Erkennen, ans gemeinsame Erkennen im Gespräch, und ich werde es auch hinnehmen, wenn ich zu keinem Ergebnis komme. Denn es ist selbstverständlich so, daß man in einer großen Zahl von Fällen nicht weiterkommt. Und trotzdem hat man den Versuch gemacht, ein paar Schritte ist man gegangen auf diesem Weg, es war aber nichts zu finden. Und doch würde ich sagen, daß auch in einem solchen Fall nicht der Zufall regierte. Das ist ein methodisches Axiom. Davon muß ich ausgehen. Wenn ich es nicht tue, bevorzuge ich den einen Patienten und benachteilige den andern. Ich sehe auch gar keinen Grund, warum ich als Arzt dem Zufall soviel Gewicht geben sollte. Das würde mich nur dazu verleiten, die eigenen Denkdefizite und damit die des Patienten zu einer objektiv begründeten Erkenntnisschranke zu erklären, und das scheint mir philosophisch nicht richtig zu sein. Es gibt doch gute Beispiele, nehmen wir die Fettsucht. Es wird ja überall besprochen, daß die Männer zu dick oder die Frauen zu dick sind und daß das bedenklich ist. Wo fängt die Fettsucht an? Von wo an ist es eine Krankheit? Wir wissen, daß hier ein Fehlverhalten eine Rolle spielt. Anfänglich gehen diese Leute nicht zum Arzt, weil sie wissen, daß sie ihr Verhalten zwar ändern sollen, aber nicht ändern können. Nun ist ganz klar: wenn so jemand zum Arzt kommt, müßte der ihm nicht bloß eine Diät verordnen oder ihm sagen, iß nur die Hälfte, sondern er müßte an die Quellen seines Fehlverhaltens herankommen, die möglicherweise in einem Umfeld liegen, für das er nichts kann, das er auch nicht ändern kann, es sei denn, er geht da heraus. Es liegt auch zum Teil an einer Unterentwicklung des ästhetischen Bewußtseins. Man kann sich am Beispiel der Fettsucht gut klarmachen, was ein Arzt, wenn er tatsächlich gebeten wird zu helfen, eigentlich tun müßte. Er müßte als erstes sagen: Wollen Sie wirklich? Das müßte die Grundfrage sein. Und meistens kommen beim Patienten dann die Zweifel.
KLEINSCHMIDT: Er könnte auf die Frage doch antworten: Wenn ich hinterher so gut aussehe wie Sie, Herr Doktor, ja, dann will ich.
JANZ: Da würde ich sofort einsteigen. Auf eine solche Bemerkung würde ich sagen: Legen Sie Wert darauf, gut auszusehen? Wie ist denn das bei Ihnen zu Hause? Laufen Sie da nackt herum? Vor wem genieren Sie sich, vor wem nicht? Das Genieren würde ich ansprechen, ich würde ihn auch im Genieren bestärken. Das meinte ich mit dem Ästhetischen.
KLEINSCHMIDT: Sie sollten uns noch erzählen, wie Sie zu Ihrem Spezialgebiet, zur Epileptologie, gekommen sind.
JANZ: Nachdem die zwei Lehrjahre, in denen Vogel »nichts Schriftliches« von mir sehen wollte, herum waren, holte er mich 1948 zu einem intimen pädagogischen Gespräch in sein Zimmerchen und sagte: Ich meine, Sie könnten sich jetzt mal mit etwas Wissenschaftlichem beschäftigen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, sich um Epilepsie zu kümmern. Es ist einfach so, daß das, was die Patienten von ihrer Krankheit wahrnehmen, nicht in den Lehrbüchern steht. Und was in den Lehrbüchern steht, sich nicht mit dem deckt, was die Patienten berichten. Wenn wir sie fragen, was sie von ihren Anfällen merken, vor allem was sie merken, wenn ein Anfall kommt, dann berichten sie oft erstaunliche Dinge. Vogel hat mich also auf die epileptische Aura verwiesen, auf die Sinneswahrnehmungen vor dem Anfall. Darum sollte ich mich kümmern, und zwar mit der Begründung, daß er die Aura für einen Schlüssel halte zum Verständnis sowohl der Patienten wie des Wesens von Epilepsie. Das war der Einstieg. In den Lehrbüchern steht, es gibt optische, es gibt akustische, es gibt vestibuläre, den Gleichgewichtssinn betreffende Auren. Und so hat man die Selbsterfahrung der Patienten wie die komplexe Natur ihrer Wahrnehmung immer in irgendeine vorgefertigte Schublade geschoben. Das hat Vogel nicht gemocht. Und ich fand das natürlich toll, daß es so einen Chef gibt, der sich freimacht von vorgefaßten Lehrbuchmeinungen. Ich meine, wenn das ein Philosoph gewesen wäre, von dem verlangt man so was geradezu. Aber ein Mediziner, ein Klinikchef – da habe ich die richtige Wahl getroffen. Der läßt einen selber marschieren. Und wenn was rauskommt, ist es gut. Und wenn nichts rauskommt, auch gut. Das hat man selbst zu verantworten.
WEICHELT: Und kam dann was raus?
JANZ: Ich denke schon. Um auf die Frage einzugehen, mußte ich erst mal in Erfahrung bringen, was Epilepsie ist und was nicht. Nach zwanzig Jahren Befragung, Beobachtung und Behandlung kam dann ein Buch darüber heraus, das dreißig Jahre später unverändert wieder aufgelegt wurde. Aus dem Dickicht, wie es mir anfänglich aus der Fachliteratur entgegenkam, ist so mit Hilfe der Patienten allmählich eine überschaubare Landschaft geworden, mitteilbar gegliedert, lehrbar – mit dem Ergebnis: Die Epilepsie gibt es nicht, es gibt eine Vielfalt von Epilepsien, jede von eigener Art, unterschieden nach Selbsterfahrung und Symptomatik, diagnostischem Zugang und therapeutischem Umgang.
WEICHELT: Und sind Sie mit der epileptischen Aura weitergekommen?
JANZ: Nein, nicht ganz. Das Ordnungsgeschäft hat diese Frage in den Hintergrund gedrängt. Ich hatte jedoch in besagtem Buch auf das wortreich Unbeschreibliche in der Aura von Patienten mit temporaler (Schläfenlappen-)Epilepsie hingewiesen. Daraus hat sich ein interdisziplinäres Projekt entwickelt, das zu einem klinisch und hirnlokalisatorisch nützlichen Unterscheidungskriterium geführt hat, das sich mit technischen Methoden durchaus messen kann. Auf seine ursprüngliche Frage hat Paul Vogel sich dann selbst am Beispiel der Aura von Dostojewski eine großartige Antwort gegeben in seinem Aufsatz »Zur Selbstwahrnehmung von Epilepsie. Der Fall Dostojewski«.
KLEINSCHMIDT: War Ihnen Dostojewski ein guter geistiger Partner bei der Erforschung von Epilepsie?
JANZ: O ja, das kann man wohl sagen.
KLEINSCHMIDT: Erzählen Sie bitte.
GABRIELE JANZ: Darf ich anfangen? Interessant an Dostojewski ist, daß er mehrere Krankheiten hatte, Atembeschwerden, Kreislaufbeschwerden, auch ein Lungenemphysem. Wegen seiner epileptischen Anfälle ist ihm gesagt worden: Sie dürfen nicht mehr schreiben. Er stand vor der Entscheidung: Bleibe ich Dichter oder werde ich gesund. Das ist nicht nur bei Dostojewski ein interessantes Problem, auch bei Rilke. Lou Andreas-Salomé empfahl Rilke, zu Gebsattel zu gehen, dem berühmten Viktor Emil von Gebsattel, und das hat er nicht gemacht. Er hat gesagt, wenn ich dorthin gehe, werde ich psychoanalysiert. In einem Brief an Gebsattel schreibt er am 24. Januar 1912: »Vielleicht sind gewisse meiner neulich ausgesprochenen Bedenken sehr übertrieben; so viel, wie ich meine, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und – fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.« Und so war das auch bei Dostojewski. Er hat jedenfalls weitergeschrieben und weitergeschrieben. Seine Frau hat gemerkt, wenn etwas im Anzug war, er war dann besonders im Streß. Er litt ja eindeutig an Epilepsie.
DIETER JANZ: Dostojewskis Frau hat einen Anfallskalender geführt, mit Hunderten von Anfällen, alle mit Datum verzeichnet. Aber er hat sich nicht behandeln lassen. Als sie einmal in Genf waren, bekam er eines Abends eine furchtbare Atemnot und mußte unbedingt in Behandlung. Und so ist er nachts noch raus auf die Straße zu einem Arzt, der ihm irgendwas gegeben hat. Und der Arzt hat ihn natürlich befragt. Dostojewski sah sich gezwungen, ihm zu erzählen, daß er häufig epileptische Anfälle bekommt. Der Arzt sagte: Das können wir jetzt nicht besprechen, es ist viel zu spät, aber kommen Sie morgen bitte wieder. Keine Rede davon, daß Dostojewski noch einmal kam. Seine Atembeschwerden waren vorbei. Auch in Berlin ist er deswegen einmal zu Gespräch mit Dieter Janz 197 einem berühmten Internisten gegangen. Im Wartezimmer hat er noch ein paar Mitpatienten gefragt, was muß man denn bezahlen? Fünf Minuten war er bei ihm drin – diese Fünfminuten-Medizin gab es offenbar schon zu Dostojewskis Zeiten. Der Arzt klopft ihn ab und sagt: Sie müssen zur Kur nach Bad Ems. Ich habe da einen Kollegen, dem schreibe ich. Richten Sie ihm Grüße von mir aus. Er gab ihm die Adresse von dem Kollegen. Dostojewski ist nicht nur einmal, er ist dreimal nach Bad Ems gefahren. Alles nur Erdenkliche hat er dort gemacht, sogar Kaiser Wilhelm getroffen. Aber für seine Epilepsie hat er nichts gemacht. Nichts! Ich habe mal einen Vortrag darüber gehalten. Da beschreibe ich seine Epilepsie in Sibirien. Sie wissen ja, er war verbannt und wollte wieder nach Petersburg, wollte wieder schreiben. Er hatte ja Berufsverbot, er durfte aus politischen Gründen nicht schreiben. Und immer wieder fragt er sich, wie erreiche ich nur, daß ich hier wegkomme. Schließlich konsultiert er einen Arzt, und der sagt ihm, er habe eine genuine Epilepsie. Und da protestiert er. Genuine Epilepsie! Ihm kam es darauf an, daß ihm bescheinigt wird, seine Epilepsie sei durch die Qualen seiner Haft entstanden. Auf der Rückreise nach Petersburg konsultiert er erneut einen Arzt, weil er wieder Anfälle hat. Und der sagt ihm, er müsse aufhören zu schreiben, das wäre das einzig Richtige. Das muß man sich mal vorstellen: Ein aus der Verbannung entlassener junger Mann kommt wieder zurück in die Gesellschaft. Was er geschrieben hat, ist noch nicht bekannt. Und er geht zu einem Arzt und sagt, er hätte immer epileptische Anfälle unter diesen Bedingungen. Der Arzt fragt, was sind Sie denn von Beruf? – Ich bin Schriftsteller. – Wann schreiben Sie denn? – Immer nachts. – Dann hören Sie damit auf. Und seither hat Dostojewski keine Ärzte mehr deswegen konsultiert.
GABRIELE JANZ: Meine Frage an Sie beide ist: Was denken Sie, warum hat dieser Arzt ihm verboten zu schreiben?
WEICHELT: Spontan würde ich sagen, daß Schreiben eine Art Verausgabung ist, die zur Erschöpfung führt und einen so schwächt, daß man krank wird.
GABRIELE JANZ: Aber Verausgabung und Schwächung können in jedem Beruf passieren.
WEICHELT: Ja, gut, wenn Dostojewski 100-m-Läufer gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich immer wieder versucht, 100-m-Läufe zu machen.
GABRIELE JANZ: Würden Sie das auch so sehen?
KLEINSCHMIDT: Ich kann die Frage nicht beantworten, es wäre reine Hochstapelei, wenn ich es täte, denn ich weiß zu wenig über Epilepsie. Platonisch betrachtet könnte man vielleicht sagen: Im geistigen Universum war eine Stelle unbesetzt, nämlich die, daß einer die Epilepsie von innen schildert, und zwar ein Schriftsteller, ein Sprachmeister, ein Denker. Dostojewski ist gleichsam der Phänomenologe dieser Krankheit. So gesehen durfte er nicht aufhören zu schreiben. Diese Stelle im Kosmos durfte nicht unbesetzt bleiben. Und Dostojewski wollte sie um jeden Preis besetzen, selbst wenn er dabei draufgegangen wäre.
GABRIELE JANZ: Ich glaube, daß Dostojewski mit Herzblut geschrieben hat. Wenn man das ohne Hilfe und ohne psychotherapeutische Begleitung tut, setzt man sich unglaublich aus. Man ist äußerst verletzbar und vollkommen ungeschützt. Und das ist es, was bei Dichtern und Schriftstellern generell der Fall ist. Das haben die Ärzte nicht bedacht. Sie haben nur gedacht, daß es besser für Dostojewski sei, wenn er überhaupt nicht schriebe. Dann könnte er ein ruhiges Leben führen.
KLEINSCHMIDT: Dann wäre er an etwas anderem erkrankt. Alle künstlerische Produktion speist sich aus seelischen Spannungen, die im Leben nicht auflösbar sind. Schreiben ist eine Art ständiges Gespräch zwischen Ich und Welt, um die rumorenden Dinge zum Ausgleich zu bringen. Das muß man natürlich von Fall zu Fall betrachten. Fest steht nur eins: Wenn man einen genuinen Autor am Schreiben hindert, wird er ganz gewiß krank, davon bin ich überzeugt. Und leider wird er umgekehrt oft auch vom Schreiben krank, denn das Schreiben ist ein Opfergang. Schreiben verzehrt das Leben.
DIETER JANZ: Jetzt sagen Sie es. Das ist bei Dostojewski so gewesen. Und Dostojewski hat tatsächlich diesen Opfergang angetreten, er hat das Opfer auf sich genommen. Denn es kam ihm wirklich darauf an, das hat er oft ausgedrückt, sein Volk, seine Nation geistig zu re-novieren, mit einem religiösen Impetus zu befeuern und geradezu zu heiligen. Er war wie besessen davon. Das ist das, was sowohl Westler wie Kommunisten an ihm nicht verstanden haben. Es klang christlich, aber es war national.
WEICHELT: Von der Epilepsie gibt es auch im »Idioten« eindrucksvolle Schilderungen. Fürst Myschkin ist ja quasi eine Jesusfigur, die Epilepsie hat bei ihm Züge von heiliger Ekstase. Was haben Sie von Dostojewski über die Krankheit gelernt? JANZ: Das Epileptologische im engeren Sinne hat mich stark interessiert, weil es fabelhaft beschrieben ist, in einer Weise, wie man es kaum oder nie von einem Patienten beschrieben bekommt. Ich habe ja 1969 mein Opus magnum, »Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie«, drei Lehrern gewidmet, meinem klinischen Lehrer, meinem wissenschaftlichen Lehrer und meinen Patienten.
WEICHELT: Also Vogel, Weizsäcker und …
JANZ: Dostojewski. Weil er wirklich als Patient unglaublich ausführlich, genau und überzeugend war, und weil seine Beschreibung der Epilepsiegestalten in seinem Werk zusammengenommen eine im Weizsäckerschen Sinne ideale Krankengeschichte ausmacht.
KLEINSCHMIDT: Herr Janz, Sie sind jetzt über neunzig Jahre alt. Ich bin so naiv zu glauben, daß das Alter auch Vorzüge hat. Zum Beispiel den Vorzug zunehmender Freiheit.
JANZ: Absolut, und zwar in großem Maße. Es erweitern sich die Räume in Richtungen, die man sich immer gewünscht hat. Natürlich treten auch Mängel ein. Für mich besonders der Mangel, daß keine Patienten mehr zu mir kommen. Die neuen Freiheiten sind nicht so sehr die des ausgiebigen Reisens und auch nicht des späten Aufstehens, denn längeres Schlafen ist im Grunde verlorene Zeit. Oft denke ich mir: Mein Gott, was habe ich für einen Reichtum an Möglichkeiten. Ich kann lesen, wonach mir der Sinn steht, habe Zeit, mit Menschen zu sprechen, Freunde zu besuchen und Freunde zu empfangen, habe Muße, mein Archiv zu ordnen, Editionen zu planen und zu realisieren, mich an unserem Garten zu erfreuen, einen guten Wein zu trinken, ich fahre dann und wann zu einer Tagung, halte hin und wieder einen Vortrag, gelegentlich ein Seminar mit Studenten hier in meinem Haus, und pflege im übrigen die behagliche Geselligkeit. Obgleich im Hintergrund stets der Gedanke steht, hätte ich nur die Freiheit der vielen Möglichkeiten und müßte nicht auch etwas Bestimmtes tun, weil es von irgendwoher von mir verlangt wird, bekäme ich ein schales Gefühl von diesem Reichtum. Wenn man aufhört, im Beruf zu stehen, und wenn man ein solches Alter erreicht hat wie ich, hat man zunehmend das Gefühl, man überlebt andere. Und es kommt vor, daß man sich fragt, wie man das rechtfertigen will. Und gerechtfertigt ist es ja nur, wenn man etwas Sinnvolles damit anstellt.
KLEINSCHMIDT: Nun gut, es gibt die Pflichten, auch die familiären Pflichten, die lassen wir jetzt mal beiseite, das ist ja selbstverständlich. Man tut sie übrigens gern. Sie sind der Grundstock des Sinnvollen, obwohl es, wie jeder weiß, auch sinnlose Pflichten gibt. Was wäre denn generell das Sinnvolle, sagen wir in der geistigen Beschäftigung? Daß man sich anregen läßt durch Bücher und Gespräche und auf diese Weise versucht eine produktive Existenz zu haben, daß man versucht, auch bei nachlassenden Kräften ein schöpferischer Mensch zu bleiben? Oder ist es mehr etwas Thematisches, nach dem Motto, vor zehn Jahren habe ich mich noch für dies und das interessiert, jetzt interessiert mich was ganz anderes. Was bedeuten würde, daß das Alter selbst neue, ihm gemäße Themen anbietet. Und daß sich je nach Lebensstufe neue Wahlverwandtschaften bilden, auch im Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt.
JANZ: Produktiv bleiben ist ein guter Begriff, aber es muß nicht schriftstellerisch gemeint sein. Ich beneide im Augenblick meine Frau, die hier in der Kirchengemeinde in einem Kreis mitmacht, wo sie zu Geburtstagen ältere Leute besuchen und Gespräche mit ihnen führen. Und dann kommt sie zurück und erzählt mir davon. Wir haben Jahrzehnte in Nikolassee gewohnt, ohne irgendeine Notiz zu nehmen von den Menschen um uns herum, und das ändert sich jetzt, und ich werde auch mit einbezogen, und das ist schön. Und es bietet auch neue Möglichkeiten für mich, produktiv zu sein. Da sind ja Menschen, die krank werden, abbauen, man bekommt einerseits einen gewissen Spiegel vorgehalten, andererseits kann man aus seiner langen ärztlichen Erfahrung einiges freundschaftlich zum Gespräch beitragen.
KLEINSCHMIDT: Mir gefällt, was Sie sagen. Ich hatte im stillen gerade gedacht, daß Sie ein zur Freundschaft begabter Mensch sind. Und auch begabt zur Freundschaft mit sich selbst. Das merkt man ja. Das heißt ja nicht, daß Sie nicht gelegentlich auch Selbstzweifel haben, aber es heißt, daß Sie alles in allem mit sich auf gutem Fuße stehen.
JANZ: Ja, das ist richtig, auch was die Selbstzweifel betrifft. Ich vermittle diesen Eindruck, das weiß ich. Meine Mutter hat mich immer als Sonntagskind bezeichnet.
KLEINSCHMIDT: Und Sie sind eins?
JANZ: Ich glaube, ich bin eins. Mit der Freundschaft, da haben Sie ganz recht. Mein eigentlicher Urfreund ist vor acht Jahren gestorben. Wir hatten eine sehr enge Beziehung und gehörten über Jahrzehnte zu einem Kreis von Freunden. Einer davon war übrigens Wolfgang Frommel, der Stefan-George-Bewunderer und Gründer der Zeitschrift »Castrum Peregrini«. Dieser Kreis war maßstabsetzend, nicht nur in Sachen Freundschaft, auch was Gespräch und Geselligkeit betrifft. Ich habe mich immer daran zu halten versucht, auch Jüngeren gegenüber. Wenn ich auf meine alten Tage mit Studenten ein häusliches Seminar mache, fragen die mich hinterher, warum machen Sie das eigentlich? Die verstehen das zunächst gar nicht. Oder sie wundern sich. Und dann freuen sie sich. Und daran merke ich, daß es richtig ist, was ich tue. Ich bin erstaunt, daß es nicht mehr Ältere tun. Sich in Beziehung setzen zu Jüngeren und mit ihnen ins Gespräch kommen, ich weiß, daß ich das kann, und das würde ich auch gerne fortsetzen.
KLEINSCHMIDT: Das versteht man ja gut. Es ist auch nicht nur Selbstloses dabei. Ich bin nicht so alt wie Sie, aber weiß natürlich auch schon, daß das eigene Lebensgefühl austrocknet, wenn man nur mit Gleichaltrigen verkehrt. Man erlebt gar nicht mehr, zu welchen Sachen man eigentlich noch in der Lage ist. Aber wenn man mit Jüngeren in einem guten, offenen Verhältnis steht, dann entlocken sie einem Dinge, von denen man gar nicht ahnte, daß man die draufhat. Und so regen nicht nur die Jungen die Alten, sondern gelegentlich auch Gespräch mit Dieter Janz 201 die Alten die Jungen an, so daß auch sie Dinge sagen, die ihnen unter ihresgleichen nicht eingefallen wären. Die Existenz der Menschheit in Generationen, die Gleichzeitigkeit der Lebensalter, ist etwas sehr Schönes und Wertvolles, eine Konstruktion, die ihren Schöpfer ehrt. Leider kommen ihre produktiven Seiten unter dem allgemeinen Zeitdruck viel zu wenig zum Zuge.
WEICHELT: Als Sie von den Freiheiten des Alters sprachen, Herr Janz, habe ich als Gegenmodell an diejenigen denken müssen, die immer sagen, es gibt nichts Gutes am Alter. Alles, was man Gutes über das Alter sagt, ist Lüge. Das Alter – das sind Lasten, Trübsal und das Ende. Mich hat überrascht, daß Sie nicht von der Gesundheit gesprochen haben. Die ist doch bei vielen alten Menschen das Beherrschende.
JANZ: Das belastet mich etwas, daß Sie mich jetzt als Modell nehmen. Aber ich bin ja nicht allein, bei mir muß man meine Frau mit dazunehmen. Allgemein gesprochen: Dieses Lebensmodell, mit jemandem zusammen zu leben, auch wenn es privat öfters mal knirscht, aber eben zusammen zu sein und vor allem zusammen zu bleiben, also zu seiner Wahl zu stehen, das geht nur, wenn man, wie vorhin gesagt, mit sich selbst befreundet ist und bleiben will. Die Psychoanalyse sieht darin vielleicht ein Bezähmen der Angst des Scheiterns durch gewaltsame Positivität. Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Man ist doch irgendwie geeicht auf ein gelingendes Leben. Man hat es schon als Kind erlebt, daß das Gelingen mehr Freude macht als das Mißlingen, und deshalb will man kein Scheitern. Aber es gibt so viele Fallen. Die Welt der Reize, erotische, sexuelle, jederzeit neu und lebendig, stets wirksam, von der Jugend bis ins hohe Alter, immer wieder wird man in die Lage versetzt, damit umzugehen und damit fertig zu werden. Das ist eine der Konstanten des Lebens. Und wenn es in den alten Kirchenliedern heißt, man soll Versuchungen widerstehen, dann weiß ich schon, wovon die Rede ist.
WEICHELT: Die ja auch ihren Sinn haben als belebendes Element.
JANZ: Ja, natürlich haben sie das. Aber je mehr einer erlebt, desto mehr wird er auch bedroht. Belebung und Bedrohung sind sich da sehr nah.
WEICHELT: Alles andere wäre ja reine Abschottung, Kasteiung und auch eine Form von Lebensschwäche.
KLEINSCHMIDT: Wir wollen nicht hoffen, daß Belebung und Bedrohung immer Hand in Hand gehen, sondern daß es auch Momente von Belebung gibt, die nicht bedrohlich sind. Oder? Ich habe im stillen gerade gedacht, aha, und wenn man dem Heiligen Geist begegnet? Das belebt doch, nicht wahr? Und ist das auch eine Bedrohung? Da könnten Sie natürlich antworten, allerdings, das wäre auch eine Bedrohung, und was für eine. So gesehen würde ich Ihnen zustimmen. Ich finde Ihre Formel sehr anregend. Es gibt einen Text von Botho Strauß, der heißt »Theorie der Drohung«. Da geht es um drohen, bedrohen, bedroht werden und bedroht sein. Das ist keine Theorie, sondern eine Erzählung. Und Sie haben uns jetzt eine »Theorie der Belebung« vorgeschlagen, der geradewegs eine »Theorie der Bedrohung« entspricht. Sie sind ein Freund dialektischer Pointen.
JANZ: Nun ja, einen ganz so ausschließlichen Charakter hat das vielleicht nicht, jedenfalls nicht in meiner Biographie. Und doch. Wenn es da ist, das Belebende, das Entflammende, geht es auch in Richtung des Bedrohlichen. Das ist so. Alles in Anspruch nehmen, sich von allem in Anspruch nehmen lassen, kann bedrohlich werden.
KLEINSCHMIDT: Es gibt das schöne Wort von Freud »die Seele altert nicht«. Würden Sie das auch so sehen?
JANZ: Ja, das ist sehr gut. Auch da gibt es viele schöne stellvertretende Erfahrungen, etwa wenn ich an meine Enkel denke. Das ist gegenseitig. Der eine, der verabschiedete sich heute morgen und sagte, also du weißt ja, wir brauchen uns.
KLEINSCHMIDT: Wie echte Schiffskameraden. Sie sind ja Marinesoldat gewesen.
JANZ: Ja, es hat dieses Flair des Umarmens. Die älteste Enkelin ist zwanzig. Sie ist ein sensibles und sympathisches Wesen, sehr sublimiert in ihrer ganzen Lebensart. Auf der anderen Seite sehr sportlich, sehr ehrgeizig. Für mich ist sie äußerst anziehend. Und mit ihr habe ich, wie soll ich sagen, so was wie eine poetische Beziehung. Ich sage ihr, sie solle mir doch mal Gedichte schicken, ein oder zwei von einem italienischen Dichter, den sie liebe. Und dann hat sie mir Gedichte geschickt, wunderschöne Sachen. Ich habe mühsam eine Übersetzung gemacht. Die habe ich ihr geschickt und dazu gesagt, nun schreib mir mal, wie du das übersetzen würdest. Sie ist zweisprachig. Da hat sie eine Übersetzung gemacht, die viel besser war als meine, sehr viel besser, das habe ich ihr auch gesagt. So was macht mich glücklich. Denn da ist keine Bedrohung dabei. Das sind eben, würde ich sagen, poetische Beziehungen.
KLEINSCHMIDT: Das ist eine sehr gute Konkretisierung. Die Kategorie des Belebenden hat jetzt eine erste Unterabteilung bekommen, die poetischen Belebungen, die sind nicht bedrohlich. Erotische sind bedrohlich. Auch philosophische können bedrohlich sein, oder? Ich weiß nicht, ob man mit neunzig noch mal seine Philosophie wechselt. Halten Sie so was für möglich?
JANZ: Ich glaube es nicht. Ich glaube nur, daß man seine Philosophie im Alter besser durchschaut.
KLEINSCHMIDT: Es gibt einen Satz von Ernst Jünger, der sinngemäß lautet: Keiner stirbt, bevor er nicht seine Aufgabe erfüllt hat. Ich könnte also auf die Frage, warum Sie so alt geworden und dabei so frohgemut und lebensverbunden geblieben sind, antworten: weil Sie weiterhin eine Aufgabe haben, die Sie gerne erfüllen, die Sie nicht als Last empfinden, die Sie nicht loslassen. Obwohl Sie inzwischen vieles losgelassen haben, Patienten, Assistenten, Studenten, Vorlesungen, Seminare, Vorträge – das Loslassenkönnen gehört ja zur Freiheit. Es gibt viele Menschen, die das nicht können und darüber unglücklich werden, denn loslassen müssen sie ja doch irgendwann. Das ist schon eine große Fähigkeit, nicht nur im Beruf, auch im Leben. In der Biographie eines jeden gibt es das Kapitel Trennungen, und Trennungen sind meist ein erzwungenes Loslassen, ein hartes, schmerzhaftes. Beim freiwilligen Loslassen kommt es auf den Zeitpunkt an, nicht zu früh, nicht zu spät. Man kann gewiß leichter loslassen, wenn man das Gefühl hat, daß die einem anvertraute Sache in gute Hände übergeht. Sein Verbundenheitsgefühl kann man ja nicht einfach abwerfen wie einen abgetragenen Mantel, wenn man sich Jahrzehnte engagiert hat. Und das wäre auch kein gutes Loslassen, wenn man sagt: Nach mir die Sintflut!
WEICHELT: Wenn man Jüngers Satz zum ersten Mal hört, erschrickt man ein wenig, weil er etwas von Schicksalsergebenheit hat. Aber vielleicht kann man ihn auch so verstehen, daß man die Aufgaben als selbstgestellte begreift, anders gesagt, daß man sich immer wieder selbst Aufgaben stellen muß. Und erst wenn das aufhört, ist es mit dem Leben vorbei.
JANZ: Jetzt haben wir die Frage, wie man die Unsterblichkeit erlangt, beantwortet. Es ist ganz einfach: Man muß sich selbst Aufgaben stellen. Schön wäre es ja. In Wahrheit ist es so, daß die Aufgaben auf einen zukommen. Und wann das endet, liegt nicht in unserem Beschluß.
SINN UND FORM 2/2011, S. 184-204
- 2/2011 | Jesu Begegnung mit einem Vater und seinem epileptischen Sohn. Eine Predigt über Markus 9, 14-29
Janz, Marlies
- 2/2022 | Die Frau, bei der sämtliche Standpunkte verfehlt sind. Walter Serners »Tigerin« im Kontext der Moderne
Jara, Victor
- 6/1979 | Der Künstler als Revolutionär. Ein Gespräch
Jarmatz, Klaus
- 3/1969 | Kunst oder Surrogat?
- 1/1974 | Gibt es in der Kunst einen Fortschritt
- 5/1974 | Fühmanns Tagebuch und Bilanz
- 3/1986 | Gedanken beim Lesen eines Aufsatzes von Erich Köhler
Jarosch, Günther
- 3/1982 | Zum dramatischen Werk Vitezslav Nezvals
Jasper, Karl
- 5/1989 | Die Differenzierung deutscher Schuld
Jastram, Jo
- 1/2006 | Für Vera Schwelgin
Jastrum, Mieczyslaw
- 4/1949 | Neue polnische Lyrik
Jastrun, Mieczyslaw
- 5/1955 | Adam Mickiewicz
Jauregui, Heidi Urbahn de
- 3/1980 | Gespräch an einer französischen Universität über einen fernen östlichen Dichter
Jauß, Hans Robert
- 1/1991 | Ein Kronzeuge unseres Jahrhunderts, Werner Krauss in seinen nachgelassen Tagebüchern
Jean, Raymond
- 1/1967 | Am Meer in Nha-Trang
Jebeleanu, Eugen
- 3/1960 | Das Lächeln Hiroshimas. Eine Auswahl
Jekimow, Boris
- 2/1998 | Eisige Gewässer
Jelinek, Elfriede
- 5/1990 | »Jener Tag« Ein Tag im Leben. Eintrag ins Leben.
- 6/2004 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
Jelloun, Tahar Ben
- 5/1982 | Die einsame Abgeschiedenheit
- 6/1985 | Unterredung mit meiner Mutter
- 5/1988 | In allen Französischen Sprachen schreiben
Jendryschik, Manfred
Jenkins, Nicholas
- 4/2003 | »Wir müssen einander lieben oder sterben«. Ein rätselhafter Moment in der Geschichte des Gedichts »1. September 1939»
- 5/2007 | So historisch wie München. Auden mit hundert: Wer ist er jetzt?
Jens, Inge
- 3/2007 | Gespräch Thomas Grimm, Manfred Mayer und Walter Jens, S. 370 Leseprobe
Jens, Inge
Gespräch mit Thomas Grimm, Manfred Mayer und Walter Jens
FRAGE: Sie beschäftigen sich schon so lange mit der Familie Mann, daß man fast sagen kann, sie gehört zu Ihrem Haushalt. Wie hat das eigentlich alles angefangen?
INGE JENS: Eines Tages kam der Verleger Günther Neske mit einem Stapel Briefe von Thomas Mann an Ernst Bertram. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Er sagte zu meinem Mann: »Das sollten Sie edieren.« Der guckte drauf und sagte: »Um Himmels willen! Handschriftlich! Nein, nicht mit mir.« Neske war etwas betreten, und da sagtest du: »Fragen Sie doch mal meine Frau.« Und der Verleger hat sich darauf eingelassen, vielleicht hatte er keinen prominenten Interessenten. Vielleicht hat er auch gedacht: Der Mann schaut bestimmt mal nach, daß die Frau nicht zu großen Unsinn macht. Na, und so begann meine editorische Tätigkeit. Die Originale lagen in Marbach. Der damalige Direktor Zeller hat mir alles zur Verfügung gestellt. Eines Tages sagte er: »Schauen Sie mal, das hab’ ich gerade gekriegt.« Es waren Schuhkartons mit Briefen von Bertram und seinem Lebensgefährten Ernst Glöckner, dem Kalligraphen des George-Kreises. Die zwei hatten ein sehr enges Verhältnis und schrieben sich zeitweise zwei Briefe am Tag. Ich war fasziniert und konnte dank dieser Korrespondenz den Briefen von Thomas Mann einen ungewöhnlich informativen Apparat hinzufügen. Dann hatte ich das Glück, daß Friedrich Sieburg, der Starkritiker der FAZ, eine hymnische Rezension schrieb: Der Kommentar sei mindestens ebenso gut wie die Briefe. Wenn Sieburg ein Buch lobte, war der Erfolg garantiert. Es war ein bißchen wie bei Reich-Ranicki heute, aber wesentlich seriöser. Ohne Sieburgs Qualitätsausweis hätte mich Fischer vermutlich niemals mit der Edition der Thomas-Mann-Tagebücher betraut.
WALTER JENS: Als Nachfolger des verstorbenen Peter de Mendelssohn.
INGE JENS: Mendelssohn war natürlich ein unerreichter Thomas-Mann-Kenner. Ich konnte eigentlich nur alles ganz anders machen, seine Arbeit fortzusetzen wäre mir unmöglich gewesen. Mendelssohn war eher literarischbiographisch orientiert, während ich meine Edition auf eine historische Basis gestellt habe – die einzige Möglichkeit, die mir als Nicht-Zeitzeugin blieb. Ich übernahm die Edition der Tagebücher ab 1944. Damals war ich siebzehn gewesen, und ich konnte mich an vieles erinnern. Natürlich habe ich Golo Mann besucht. Wir haben ein sehr schönes persönliches Verhältnis entwickelt, das ungeheuer hilfreich war. Im Lauf der Jahre kam es bei uns öfter vor, daß Projekte, die für meinen Mann gar nicht so günstig waren, sich im nachhinein als für mich sehr günstig herausstellten, und umgekehrt, daß also der eine machte, was der andere gerade nicht machen wollte oder konnte.
WALTER JENS: Aber zusammen waren wir gut.
INGE JENS: Wahrscheinlich besser als jeder für sich.
FRAGE: Wie funktioniert so eine Zusammenarbeit? Können Sie darüber ein bißchen erzählen?
INGE JENS: Mein Mann und ich haben ja schon früher kooperiert, indem ich etwa Aufträge machte, die er bekam, z.B. Buchbesprechungen für Jürgen Petersen beim NDR in Hamburg, zuerst unter seinem Namen und dann unter meinem eigenen. Auch die »Geschichte der Tübinger Universität« war ein Gemeinschaftswerk, aber Kindler, der ein ebenso guter Verleger wie altmodischer Mensch war, hielt nicht viel von Emanzipation, obwohl er selbst ja bei Gott mit einer sehr emanzipierten Frau verheiratet war, die im Verlag eigene Sparten betreut hat. Jedenfalls meinte er, daß es dem Verkauf abträglich sein würde, wenn das Buch zwei Autoren hätte, und dann noch ein Ehepaar. Und in der Tat war das ein Grenzfall, denn ich habe drei Jahre recherchiert und das Material aufbereitet für die einzelnen Kapitel, und dann hat mein Mann allein geschrieben. Das ist eine andere Form der Zusammenarbeit als bei der Katia-Mann-Biographie. Da habe ich zwar alleine recherchiert, genau wie bei Hedwig Pringsheim, aber wir haben gemeinsam gesichtet und vor allem gemeinsam disponiert. Ich habe die Archive der ganzen Welt konsultiert, wir hatten ungeheuer viel Material. Da stehen noch fünf Kisten vor meinem Schlafzimmer, die ich alle noch mal durchsehen müßte. Wir haben also gesichtet, geordnet und zusammen disponiert, und dann durfte jeder sagen, wofür er sich am meisten interessierte. Da gab es den ersten Krach, weil manche Dinge uns beide interessierten. Ich habe gesagt: Ich würde mir das Recht ausbedingen, zu ergänzen und zu ändern.
WALTER JENS: Und zu streichen.
INGE JENS: Ja, auch in deinen Texten. Ich bin bereit, dir das gleiche zu konzedieren. Die Umsetzung ging natürlich erst recht nicht ohne Krach ab. Aber das Buch ist fertig, und Sie sehen uns immer noch vereint und relativ freundlich miteinander umgehen.
WALTER JENS: Wir haben aufeinander zu geschrieben. Da gab es diesen Fall: Ich hatte, glaube ich, sechzehn sehr gute Seiten über Thomas Manns Homosexualität geschrieben. Die las ich ihr vor. Um Gottes willen, sagte sie, sechzehn Seiten! Vier wären mir lieber, und bitte aus der Perspektive der Frau. Wir schreiben ein Buch über Katia und nicht über Tommy.
INGE JENS: Es war manchmal sehr schwierig, ihn zu überzeugen. Er ist von uns beiden der um Klassen bessere Thomas-Mann-Kenner und natürlich viel mehr an dem Mann interessiert als an der Frau. Er fand sie originell, er fand, daß sie gut schrieb. Aber was mich besonders interessierte, interessierte ihn erst sekundär. Es war eine ungeheuer anstrengende Zeit, weil es oft gekracht hat. Es gab viele Diskussionen, die weit über das Buch hinausgingen. Wir waren damals schon länger verheiratet als die Manns, immerhin 55 Jahre. Katia und Tommy sind »nur« fünfzig beschieden gewesen. Man kommt dann auch an eigene Probleme heran, das ist ganz klar. Man kann nicht neutral sein als Ehepaar mit partiell ähnlichen Problemen insofern, als mein Mann Schriftsteller war und es mir ebensowenig an der Wiege gesungen wurde, einen Schriftsteller zu heiraten, wie Katia. Sowohl Katia als auch ich hatten berufliche Ambitionen. Katia hat sie viel früher und viel rigoroser aufgegeben als ich. Ich versuche immer noch, mein eigenes Leben zu führen.
WALTER JENS: Und was das Buch betrifft, »Frau Thomas Mann«, so haben auch unsere besten Freunde nicht erkannt, was von ihr ist, was von ihm. Wir bekommen aus Amerika Briefe an Ingwalt Jens usw. Weil es zusammenpaßt.
INGE JENS: Ja, daß es gelungen ist, ist wirklich ein großes Wunder, denn es gab Zeiten, wo wir nahe daran waren aufzugeben. Aber einer rappelte sich immer wieder auf und sagte: Verdammt noch mal, es interessiert mich aber, und unsere Probleme sollten wir jetzt vergessen. Das Material ist so interessant. Das ist das Gute, wenn man es zu zweit macht: Man gibt nicht so schnell auf.
FRAGE: Wie ging es denn weiter, nachdem Ihr Mann die sechzehn Seiten vorgelesen hatte?
INGE JENS: Also das mußte er ändern. Die hätte ich nicht so gelassen.
WALTER JENS: Die sechzehn Seiten wurden nicht zu vieren, aber zu sechsen. Und sie wurden aus der Perspektive der Frau geschrieben.
INGE JENS: Die Frau aus der Perspektive ihres Mannes kannte ich zur Genüge. Ich wollte endlich mal wissen: Was hat sie gedacht? Wie hat sie geschrieben? Was wollte sie? Was waren ihre Träume? Seine kannte ich. Also das war die Linie … Wir haben sie zusammen entworfen und fanden sie gut. Aber sie einzuhalten ist mir natürlich leichter gefallen als ihm. Manchmal ist es doch von Vorteil, eine Frau zu sein. Das weiß ich inzwischen.
WALTER JENS: Nach Lesungen gab es oft leidenschaftliche Diskussionen, und immer wieder sagten junge Frauen: Die hat sich dem Mann doch völlig unterworfen.
INGE JENS: Ja, es waren natürlich vor allem junge Frauen, die wissen wollten: War sie wirklich emanzipiert? Eine Frau, die sich so dem Leben ihres Mannes angepaßt hat, kann doch nicht emanzipiert gewesen sein. Warum hat eine so intelligente, eine so reiche Frau, die Mathematik und Physik studiert hatte, was ja in ihrer Generation ganz unüblich war, so früh geheiratet und sich der Familie geopfert? Und es ist, wie ich finde, immer spannend und interessant, diesen jungen Frauen klarzumachen, daß man sich auch für das Dasein als »Frau und Mutter« entscheiden kann. Gerade Frauen sollten das tolerieren. Deswegen muß man nicht weniger emanzipiert sein, als wenn man einen anerkannten Beruf, Lehrerin, Wissenschaftlerin oder sonstwas, ergriffen hätte. Katia Mann war eine sehr emanzipierte Frau!
WALTER JENS: Golo Mann sagte: intellektueller als ihr Mann.
INGE JENS: Sie war ihm überlegen, intellektuell und auch wissensmäßig.
FRAGE: In dem Buch wird berichtet, daß Elisabeths Mann stirbt und Katia mit dem nächsten Zug zu ihr nach Italien fährt. Klagt Thomas Mann nicht in seinem Tagebuch, man ließe ihn allein und er müsse sich um die Telefone kümmern?
INGE JENS: Das ist eine jener Stellen, die mich in dem Wunsch bestärkten, mal was über diese Frau zu schreiben. Das war ganz typisch. Sie ist eben gefahren! Sie war eine der reichsten Erbinnen, sie hatte eine Berufsausbildung. Wer hatte die schon? Aber sie ging freiwillig in den Beruf einer Frau und Mutter, als Familienoberhaupt, wie sie immer sagte. Sie hat Kinder erzogen, Korrektur gelesen für ihren Mann, sie hat übersetzt, sich als Sekretärin ausbilden lassen, sprich: Schreibmaschine gelernt, Autofahren, sie hat notgedrungen was von Steuer- und Verlagsrecht verstehen müssen.
WALTER JENS: Sie hat seine Briefe geschrieben.
INGE JENS: Das Wort »Wirtschaftsoberhaupt«, so wie es Horkheimer einmal definiert hat, ist auf sie anwendbar. Sie war in ihrem Beruf absolut autark. Ohne sie hätte Thomas Mann nicht arbeiten können, davon bin ich überzeugt.
FRAGE: Sie sagten, die Auflage sei 400000. Das ist sicher auch ein Beweis für die Qualität des Buches, aber in welche gesellschaftliche Lücke sind Sie gestoßen, daß die Nachfrage so enorm war?
INGE JENS: Unser Trailer war Breloer mit seinem Film über die Familie Mann. Ohne ihn hätten wir vielleicht ein Viertel verkauft, und das wäre viel gewesen. Der Film hat zu Recht großen Anklang gefunden. Und nun gab es noch etwas über diese Familie, aus einer Perspektive, die man noch nicht kannte. Ein paar Thomas-Mann-Biographien haben sich auch nicht schlecht verkauft, aber nicht diese Auflage erreicht.
FRAGE: Sind Katias Briefe nicht ein richtiger Familien-Kosmos?
INGE JENS: Bei der Arbeit ist uns klargeworden, was Katia ihrer Mutter verdankt und was die für eine Persönlichkeit war. Deswegen haben wir das zweite Buch über sie gemacht.
FRAGE: Was ist das für ein Gefühl, wenn man mit einem Alterswerk noch mal so richtig berühmt wird?
INGE JENS: Haben wir es als Alterswerk empfunden? Eigentlich nicht. Wir haben bloß staunend festgestellt, daß man in unserem Alter normalerweise keine Bestseller mehr schreibt. Aber was heißt »mehr"? Wir haben vorher nie einen geschrieben, weder zusammen noch einzeln. Es war Zufall. Während der Tagebuch-Edition habe ich viele Briefe von Katia Mann gelesen und war fasziniert. Ich stellte aber fest, daß sie nur in Auswahl zu edieren sind, was ich nicht glaubte verantworten zu können. Sie schreibt ja nicht nur an ihre sechs Kinder, sondern auch an Freunde, die Episoden wiederholen sich. Und was machen Sie mit den unendlich vielen Menschen, deren Namen in diesen Briefen fallen? Die Anmerkungen hätten den Text um ein Vielfaches überwogen. Da sagte der Thomas-Mann-Kenner Eckhard Heftrich: Schreiben Sie doch eine Biographie! Darauf ich: Ich kann nicht schreiben. Dann solle ich einfach die Anmerkungen zusammensetzen, es werde schon gelingen. Also habe ich angefangen. Mein Mann wollte eigentlich seine Autobiographie schreiben für Rowohlt, und dann merkte er: Es war so wahnsinnig interessant mit Katia, und so langweilig, alles zu wiederholen, was er von seinem eigenen Leben ja längst schon wußte. Und da haben wir gesagt: Wir machen die Katia-Biographie zusammen.
FRAGE: War damals schon Alexander Fest bei Rowohlt?
INGE JENS: Ich glaube, Alexander kam während der Arbeit an dem Buch. Zu deinem 80. Geburtstag gratulierte er mit unserem Lektor Uwe Naumann und brachte eine große Torte mit, auf der das Cover abgebildet war. Aber wir kennen ihn schon lange, schon als Studenten. Es war schön, daß just er unser Verleger wurde. Und daß er sich mit unserem Lektor so gut verstand, kam der Arbeit natürlich zugute. Soviel Unterstützung hatte ich vorher nie, obwohl es auch bei Fischer während der Arbeit an den Tagebüchern außerordentlich angenehm war. Aber bei Rowohlt war es ein Neuanfang, und ich glaube, ein für dieses Genre idealer.
WALTER JENS: Die hatten mit 10000 gerechnet.
INGE JENS: Maximal! Begreifen können wir das immer noch nicht.
FRAGE: Wie war das bei der Auswahl der Fotos, Briefe, Dokumente?
INGE JENS: Die Briefe haben wir integriert. Weder der Band über Katia noch der über ihre Mutter verfügen über einen Anhang. Die Bilder hat Uwe Naumann besorgt, sie stammen zum größten Teil aus dem Zürcher Archiv. In beiden Büchern finde ich den Bildteil besonders schön, aber das ist nicht in erster Linie unser Verdienst.
WALTER JENS: Ich habe Katia Mann nur flüchtig gekannt, aber du relativ gut. Du hast sie mehrfach besucht, und sie ist dir in sehr eigenartiger Weise begegnet.
INGE JENS: Ja, Günther Neske meinte, es sei ein Akt der Höflichkeit, ihr einen Besuch abzustatten. Ende 1959 fuhr er mich nach Kilchberg. Sie machte die Tür auf, er holte Luft, um mich vorzustellen, aber sie wischte ihn beiseite: Sie haben doch geschrieben, daß Sie mit Frau Jens kommen. Wer soll es also sonst sein? Dann war sie aber ungeheuer nett zu mir. Sie hat offenbar gemerkt, daß ich mich im Gegensatz zu fast allen Besuchern dieses Hauses mehr für sie interessiert habe als für die Thomas-Mann-Reliquien. Mich hätte noch die Bibliothek interessiert, aber sonst nichts. Welches sein Lieblingsausblick war, wo er gesessen und geschlafen hat usw., war mir ganz egal. Es wäre mir auch indiskret vorgekommen, danach zu fragen. Außerdem war sie so faszinierend, diese kleine, energische, gutaussehende Frau …
WALTER JENS: … ein aufstampfender General …
INGE JENS: … die Tee gekocht hatte und mit der wir im Erker saßen, mit Blick auf den Zürichsee. Sie erzählte von Ernst Bertram, den sie mochte, dann von seinem Freund Ernst Glöckner, der ein schöner Mann gewesen sei. Ich sagte, ich hätte ihn nicht gekannt. Er ist ja schon 34 gestorben. Aber auf Bildern müssen Sie es doch sehen können! sagte sie. Ich antwortete, ich hätte noch nie ein Bild von Ernst Glöckner gesehen. Was? Und Sie wollen eine solche Edition machen? Ausgeschlossen! Sie sprang auf und kam mit einem postkartengroßen Bild zurück: Das schenke ich Ihnen. Hängen Sie es über Ihren Schreibtisch, solange Sie an der Edition arbeiten. Dann erzählte sie von der Emigration, und plötzlich kam ein Ausbruch, der gar nicht zum urbanen Geplänkel der Unterhaltung paßte: Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben! Mir verschlug es die Sprache, weil die Emigranten für meine Generation immer Helden gewesen waren. Das waren Leute, die aus ihrer politischen Haltung die Konsequenz gezogen hatten. Erst bei Katia Mann ist mir aufgegangen, daß viele Emigranten dieses Exmittiertwerden als eine Schande empfanden. Da ich inzwischen Vertrauen gefaßt hatte, wagte ich etwas zu fragen, das mir in der Tat am Herzen lag. Thomas Mann schreibt in einem Brief von 1949 an Ernst Bertram: »Hier in Stockholm erreichte uns die Schreckensnachricht aus Cannes«, also die vom Selbstmord seines Sohnes Klaus. »Wir überlegten einen Augenblick, ob wir die Reise abbrechen sollten, ließen es dann aber.« Ich fand dieses Wir abscheulich: Er wollte seine Vortragsreise machen, nach der Mutter fragte er offensichtlich nicht. Sie sagte: Lesen Sie mir das mal vor. Ich tat es, sie zögerte einen Augenblick: Das finden Sie scheußlich, nicht? Ich holte Luft und stotterte: Ja, das fände ich schon nicht so schön. Sie guckte mich an und sagte: So war er. Das bleibt. Keine Diskussion.
WALTER JENS: Ich wurde einmal von ihr zur Ordnung gerufen. Ich hatte mich in der »Zeit« gegen die Ziegenleder-Ausgabe von Thomas Manns Werken gewandt. Sie sagte: Das verstehe ich nicht. Wollen Sie diese Ausgabe nicht? Ich antwortete: Mir liegt daran, daß seine Werke von jungen Menschen gelesen werden. Die Ziegenleder-Ausgabe gehört in das Sprechzimmer eines Zahnarztes. Sie war schon gnadenlos. Die kleinste Kleinigkeit, die sie für geeignet hielt, an Thomas Manns Ruhm zu kratzen, war verboten.
[...]
SINN UND FORM 3/2007, S. 370-377
- 3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Matthias Bormuth und Matthias Weichelt, S. 370 Leseprobe
Jens, Inge
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch mit Matthias Bormuth und Matthias Weichelt über Schriftsteller und Editionen
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz unterschiedlichen Autoren?
INGE JENS: Ich habe immer auf eigene Faust gearbeitet, aber meine Stoffe habe ich mir nie selbst ausgesucht. So kam im Fall von Max Kommerell seine Witwe auf mich zu. Bei den Geschwistern Scholl fragten mich Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher. Großes Glück hatte ich mit den Tagebüchern von Thomas Mann, die mein Leben doch ziemlich verändert haben. Mein Mann Walter Jens war nicht ganz unschuldig daran, daß ich den Auftrag erhielt. Als jemand vom S. Fischer Verlag bei uns anrief und fragte, ob ich für einen Band der Werkausgabe ein Nachwort schreiben könne, lehnte er ab. Ohne Rücksprache mit mir behauptete er, ich sei nur an den Tagebüchern interessiert. Und so wurde mir nach dem Tod des Herausgebers Peter de Mendelssohn diese große Aufgabe übertragen.
MATTHIAS BORMUTH: Vielleicht können wir mit Hans und Sophie Scholl beginnen, die mit ihren Freunden aus der »Weißen Rose«, darunter Willi Graf, als Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt sind. Ich habe Sie, Frau Jens, kennengelernt, als ich mit Medizinstudenten Ihre Editionen gelesen habe, um der Gedankenwelt dieser mutigen jungen Menschen näherzukommen.
JENS: Es ist trotz der beeindruckenden Zeugnisse leider eine miserable Edition, bei der mir von seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was ich bringen dürfe und was nicht. Die Hinterbliebenen, vor allem Inge und ihr Mann Otl, wußten genau, wie es gewesen war, und ließen keine historische Forschung gelten, die ihre Sicht auf Widerstand und Tod der Geschwister in Frage stellte. So sollte nicht herauskommen, daß zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, der später die Schwester Elisabeth heiratete, mehr als ein platonisches Verhältnis bestand. Inge, die konvertiert und gut katholisch war, paßte es nicht, daß Sophie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte. Dabei kann man doch nur hoffen, daß die beiden vor Sophies Tod wirklich etwas Schönes erlebt haben, wenn sie sich im Park trafen oder eine Nacht miteinander verbrachten. Inge Aicher-Scholl beanspruchte aber, nachdem sie ihr Buch über die »Weiße Rose« veröffentlicht hatte, die Deutungshoheit über das Bild ihrer Geschwister in der Öffentlichkeit.
BORMUTH: Sie bekamen es als Herausgeberin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hier mit einer Form von Legendenbildung zu tun, die einer kritischen Sichtung der Materialien zuwiderlief.
JENS: Die Dokumente sagten etwas anderes, als man wahrhaben wollte. So sprach sich die Familie auch gegen meine Einleitung aus, in der ich erwähnte, daß Hans und Sophie nicht nur in der Jugendbewegung, sondern bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv gewesen waren. Das durfte es nicht geben: Helden, die zunächst mitmachten bei dem, was sie später bekämpften. Mir waren und sind historisch »gewordene« Helden jedoch lieber als solche, die gewissermaßen vom Himmel fallen. Dennoch durfte ich meine Sicht der Dinge nicht innerhalb der Edition publizieren; der S. Fischer Verlag veröffentlichte sie separat in der »Neuen Rundschau«. Ich habe mich damals auf diese Form von Zensur eingelassen, da ich nicht wollte, daß die erste Edition von Zeugnissen des studentischen Widerstands durch öffentliche Streitigkeiten entwertet würde. Auch war die Situation insofern nicht einfach, als mein Mann und ich uns gemeinsam mit Inge und Otl Aicher gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Mutlangen engagierten.
BORMUTH: War Ihnen so etwas schon bei früheren Editionen passiert? Bei Autoren wie Ernst Bertram und Max Kommerell, die zeitweilig zum George-Kreis gehörten und als durchaus konservativ galten, könnte man sich doch viel eher vorstellen, daß die Beschäftigung mit dem Nachlaß heikel war, daß es Versuche der Einflußnahme gab.
JENS: Nein. Thomas Manns Briefe an Ernst Bertram lagen in Marbach, und auch Frau Kommerell machte mir keine Vorschriften. Sie war außerordentlich großzügig und gab mir ihren Segen: Wenn Sie nach Marbach ins Literaturarchiv fahren, können Sie alles einsehen und alles benutzen, was Sie möchten. Gerade durch die Beschäftigung mit Max Kommerell erweiterte sich meine zunächst recht undifferenzierte Sicht auf den George-Kreis und seine Adepten. Ich verstand plötzlich die mich so befremdende Hörigkeit der Jünger und begriff, was Kommerell durch seinen Bruch mit »dem Meister« wagte. Ich sah aber auch die ungeheure Anstrengung, die ihn, den einstigen Lieblingsjünger, dieser Schritt kostete. Kaum jemand sonst hat es geschafft, eine solche anhaltende Distanz zu gewinnen. Frau Kommerell erzählte mir allerdings, George habe ihren Mann bis zum Ende seines Lebens – er starb 1944 – in Alpträumen verfolgt. Zugleich wurden mir die Kompromisse deutlicher, die er in seinem Leben einging, die Schlupflöcher, die er, der das neue Regime zunächst begrüßt hatte und Mitglied der Reiter-SA war, sich später suchte.
WEICHELT: Was mich an Ihren Arbeiten immer sehr beeindruckt hat, war die Fairneß und Unvoreingenommenheit, mit der Sie auch über Menschen schrieben, mit denen Sie ganz offensichtlich nicht übereinstimmten. Fiel es Ihnen manchmal schwer, solche fremden Weltbilder zu akzeptieren, zumal Sie im Politischen immer klare Positionen vertreten haben?
JENS: Ich habe andere Sichtweisen immer als Ergänzung meiner eigenen Erfahrungen wahrgenommen. Wie schon gesagt: Mir sind Menschen, die gegen Mißstände und Bedingtheiten ihrer Zeit handeln, aber natürlich auch in sie verstrickt sind, lieber als solche, an denen es nichts auszusetzen gibt.
WEICHELT: Wie bringen Sie die Quellen zum Sprechen, wenn Sie das Material für eine Edition zusammenstellen? Liegt diesem ersten Schritt, der Auswahl und Anordnung, nicht auch schon eine Art Interpretation zugrunde?
JENS: Meines Erachtens muß man die Fakten so präsentieren, daß jeder, unabhängig von seiner Einstellung, einen Zugang zu ihnen finden kann. Wenn Sie es schaffen, die geistigen Einflüsse und historischen Hintergründe in den Kommentaren ausgewogen und anschaulich darzustellen, ist schon viel gewonnen. Sie dürfen nichts verfälschen und müssen sich vor Spekulationen hüten. Denn wenn Sie, wie ich in meiner Scholl-Ausgabe, Unliebsames ausblenden und auf bestimmte historische Belege verzichten müssen, hat der Leser keine Chance, sich so objektiv wie möglich zu informieren und möglichst viele Seiten einer Person oder eines Vorgangs zu verstehen.
WEICHELT: Wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, merkt man schnell, wie wichtig es Ihnen ist, durch das Arrangement der Texte und die Art ihrer Kommentierung eine erzählerische Gesamtkomposition entstehen zu lassen. Sie haben im Gespräch einmal erwähnt, daß man Ihnen riet, auf der Grundlage Ihrer Anmerkungen zu den Tagebuch-Eintragungen Thomas Manns eine Katia-Mann-Biographie zu schreiben. Wäre das eine Methode, durch chronologisch stimmige Anordnung der Dokumente zu einer biographischen Erzählung zu kommen? Als Herausgeberin hatten Sie ja ein geschärftes Bewußtsein für den redlichen Umgang mit dem historischen Material und seinen Widersprüchen.
JENS: Das Editorische kann eine Vorstufe des Erzählerischen sein, muß es aber nicht. Während es hier nötig ist, die Fakten möglichst umfassend und möglichst vorurteilsfrei zu betrachten und darzustellen, darf eine biographische Arbeit, wie die über Katia Mann, auch schon mal einer subjektiver gewichteten Linie folgen. Die Haltung des Herausgebers hat vor allem kritisch zu sein.
WEICHELT: Worin besteht die Kunst des Edierens?
JENS: Sie müssen versuchen, alle oder jedenfalls möglichst viele Implikationen etwa eines Tagebucheintrags zu berücksichtigen. Wenn Sie sich lange mit einem Autor und seiner Handschrift beschäftigen, lernen Sie ihn ganz anders kennen. Sie erhalten interessante Einblicke in seine Arbeits- und Denkweise. So ging es mir mit den fünf Bänden der Tagebücher Thomas Manns, die ich herausgegeben habe, obwohl ich im Unterschied zu meinem Ehemann kein wirklicher Kenner und Verehrer seines Werkes war.
BORMUTH: Kann es sein, daß Thomas Mann, der sich zu Lebzeiten als Repräsentant des deutschen Kulturbürgers gesehen und stilisiert hat, späteren Generationen mit den Tagebüchern auch einen kritischen Zugang zu seiner Person und seinem Werk eröffnen wollte?
JENS: Ganz sicher. Thomas Mann fühlte sich als Repräsentant eines Kulturbürgertums, dessen Normen er in starkem Maße verinnerlicht hatte. Wie erleichtert war er, als er den 1933 in München zurückgelassenen Koffer mit den alten Tagebüchern wieder in seinen Händen hielt! Er hat aus Angst, seine homoerotischen Neigungen könnten öffentlich werden, sogar später im kalifornischen Exil noch einige Bände verbrannt. Aber die meisten bewahrte er auf. In ihnen drückt er aus, wie ihm zumute war und was es ihn kostete, die ihm so wichtige glanzvolle Fassade der Bürgerlichkeit aufrechtzuerhalten, die ihm Sicherheit garantierte und natürlich auch viel Freude bereitete.
BORMUTH: Als Sie in den achtziger Jahren mit der Edition begannen, kam es auch zu näherem Kontakt mit Golo Mann, der selbst Historiker und Erzähler war.
JENS: Golo Mann befürchtete zunächst, ich würde an Peter de Mendelssohns eher literarische Form des Kommentierens anknüpfen, während es ihm, als Historiker, doch in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche ging, in welche die Tagebücher eingebettet waren. Mir auch, deshalb haben wir uns so gut verstanden. Ich hätte nie so kommentieren können wie de Mendelssohn, weil mir dafür alle Insider-Kenntnisse fehlten. Für mich waren die Tagebücher vor allem eine große Chronik ihrer Zeit.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre Treffen mit Golo Mann?
JENS: Am Anfang war es schwierig. Ich habe ihn immer besucht, wenn ich in Zürich im Thomas-Mann-Archiv zu tun hatte. Er wohnte damals im elterlichen Haus in Kilchberg. Nach und nach bürgerte es sich ein, daß wir meinen Fragenkatalog der Reihe nach abarbeiteten, er also antwortete, soweit er konnte. Später bat er mich, ihn öfter zu besuchen. Weil ihn meine Recherchen zunehmend interessierten, ist er sogar auf den Dachboden gestiegen, um nach alten Briefen zu schauen. Die gab er mir dann mit den Worten: Lesen Sie das zu Hause. Sie können es mir nächstens wiedergeben.
BORMUTH: Entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen?
JENS: Ja, eines Tages erhielt ich einen Brief mit dem Anfang: »Liebe Inge, wie wäre es, wenn wir die Curialien fortlassen würden?« Das fand ich sehr schön. Und bei »liebe Inge«, »lieber Golo« sind wir dann geblieben.
WEICHELT: Golo Mann gehörte wie seine Eltern zu den deutschen Emigranten. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit jenen gemacht, die Deutschland nach 1933 verlassen haben?
JENS: Ich lernte während meiner Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach viele Emigranten kennen. Bernhard Zeller, der damalige Direktor, stellte mich ihnen vor, vielleicht auch um zu zeigen, daß man sich in Deutschland mit der Vergangenheit auseinandersetzte und versuchte, Ursachenforschung zu betreiben. Aber es waren nur wenige, die sich in den sechziger und siebziger Jahren überhaupt mit Emigration und Remigration beschäftigten.
BORMUTH: Sie haben Katia Mann besucht und geschildert, wie sie auf die Erwähnung der Emigration reagiert hat.
JENS: Ich habe Katia Mann zwei- oder dreimal besucht, und sie hat mir großen Eindruck gemacht, vor allem mit der Szene, auf die Sie anspielen, diesem Ausbruch: »Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben!« Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Daß man eine Emigration aus Deutschland als bürgerliche Schande empfinden konnte, war eine neue Erkenntnis für mich und hat mich sehr bewegt.
WEICHELT: Sie haben in Tübingen enge Beziehungen zu Hans Mayer und Ernst Bloch gepflegt, zwei anderen ehemaligen Emigranten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erst im Osten lebten und dann in den Westen gingen.
JENS: Hans Mayer ist wahrscheinlich der Mensch, der meine geistige Biographie am meisten beeinflußt hat. Er hat mich gefördert und gefordert. Für ihn war es selbstverständlich, daß ich das, was er von mir verlangte, konnte und also auch machte. Das setzte er einfach voraus. So etwas kann ungeheuer hilfreich und anregend sein, denn die Kenntnisse, die ich noch nicht hatte, habe ich mir schleunigst angeeignet. Ich wollte mir vor ihm ja keine Blöße geben.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 341-352, hier S. 341-345
Jens, Walter
- 2/1959 | Zwischen Märchen und Mythe. Aus einem griechischen Tagebuch
- 5/1986 | Haltet der Geschichte den Spiegel vor
- 1/1988 | Unser Uhland - Nachdenken über einen vergessenen Klassiker
- 2/1989 | Gespräch mit Klaus Pankow
- 2/1990 | Zum 75. Geburtstag von Stephan Hermlin
- 5/1990 | Plädoyer gegen die Preisgabe
- 6/1990 | Anna Seghers
- 4/1992 | Simon Fels unter den Päpsten. Ein Monolog
- 4/1994 | Wieland Förster - Grenzgänger zwischen nahfernen Bereichen
- 6/1994 | Die Musen und die Macht. Über eine Akademie und deren Mitglieder: die Architekten voran
- 2/1995 | Memento - Nachdenken über den Untergang Freiburgs
- 6/1996 | »Ein Mann will einen Berg besteigen«. Rede auf Paul Hindemith
- 1/2002 | Über Hans Mayer
- 3/2007 | Gespräch Thomas Grimm, Manfred Mayer und Inge Jens, S. 370 Leseprobe
Jens, Walter
Gespräch mit Thomas Grimm, Manfred Mayer und Inge Jens
FRAGE: Sie beschäftigen sich schon so lange mit der Familie Mann, daß man fast sagen kann, sie gehört zu Ihrem Haushalt. Wie hat das eigentlich alles angefangen?
INGE JENS: Eines Tages kam der Verleger Günther Neske mit einem Stapel Briefe von Thomas Mann an Ernst Bertram. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Er sagte zu meinem Mann: »Das sollten Sie edieren.« Der guckte drauf und sagte: »Um Himmels willen! Handschriftlich! Nein, nicht mit mir.« Neske war etwas betreten, und da sagtest du: »Fragen Sie doch mal meine Frau.« Und der Verleger hat sich darauf eingelassen, vielleicht hatte er keinen prominenten Interessenten. Vielleicht hat er auch gedacht: Der Mann schaut bestimmt mal nach, daß die Frau nicht zu großen Unsinn macht. Na, und so begann meine editorische Tätigkeit. Die Originale lagen in Marbach. Der damalige Direktor Zeller hat mir alles zur Verfügung gestellt. Eines Tages sagte er: »Schauen Sie mal, das hab’ ich gerade gekriegt.« Es waren Schuhkartons mit Briefen von Bertram und seinem Lebensgefährten Ernst Glöckner, dem Kalligraphen des George-Kreises. Die zwei hatten ein sehr enges Verhältnis und schrieben sich zeitweise zwei Briefe am Tag. Ich war fasziniert und konnte dank dieser Korrespondenz den Briefen von Thomas Mann einen ungewöhnlich informativen Apparat hinzufügen. Dann hatte ich das Glück, daß Friedrich Sieburg, der Starkritiker der FAZ, eine hymnische Rezension schrieb: Der Kommentar sei mindestens ebenso gut wie die Briefe. Wenn Sieburg ein Buch lobte, war der Erfolg garantiert. Es war ein bißchen wie bei Reich-Ranicki heute, aber wesentlich seriöser. Ohne Sieburgs Qualitätsausweis hätte mich Fischer vermutlich niemals mit der Edition der Thomas-Mann-Tagebücher betraut.
WALTER JENS: Als Nachfolger des verstorbenen Peter de Mendelssohn.
INGE JENS: Mendelssohn war natürlich ein unerreichter Thomas-Mann-Kenner. Ich konnte eigentlich nur alles ganz anders machen, seine Arbeit fortzusetzen wäre mir unmöglich gewesen. Mendelssohn war eher literarischbiographisch orientiert, während ich meine Edition auf eine historische Basis gestellt habe – die einzige Möglichkeit, die mir als Nicht-Zeitzeugin blieb. Ich übernahm die Edition der Tagebücher ab 1944. Damals war ich siebzehn gewesen, und ich konnte mich an vieles erinnern. Natürlich habe ich Golo Mann besucht. Wir haben ein sehr schönes persönliches Verhältnis entwickelt, das ungeheuer hilfreich war. Im Lauf der Jahre kam es bei uns öfter vor, daß Projekte, die für meinen Mann gar nicht so günstig waren, sich im nachhinein als für mich sehr günstig herausstellten, und umgekehrt, daß also der eine machte, was der andere gerade nicht machen wollte oder konnte.
WALTER JENS: Aber zusammen waren wir gut.
INGE JENS: Wahrscheinlich besser als jeder für sich.
FRAGE: Wie funktioniert so eine Zusammenarbeit? Können Sie darüber ein bißchen erzählen?
INGE JENS: Mein Mann und ich haben ja schon früher kooperiert, indem ich etwa Aufträge machte, die er bekam, z.B. Buchbesprechungen für Jürgen Petersen beim NDR in Hamburg, zuerst unter seinem Namen und dann unter meinem eigenen. Auch die »Geschichte der Tübinger Universität« war ein Gemeinschaftswerk, aber Kindler, der ein ebenso guter Verleger wie altmodischer Mensch war, hielt nicht viel von Emanzipation, obwohl er selbst ja bei Gott mit einer sehr emanzipierten Frau verheiratet war, die im Verlag eigene Sparten betreut hat. Jedenfalls meinte er, daß es dem Verkauf abträglich sein würde, wenn das Buch zwei Autoren hätte, und dann noch ein Ehepaar. Und in der Tat war das ein Grenzfall, denn ich habe drei Jahre recherchiert und das Material aufbereitet für die einzelnen Kapitel, und dann hat mein Mann allein geschrieben. Das ist eine andere Form der Zusammenarbeit als bei der Katia-Mann-Biographie. Da habe ich zwar alleine recherchiert, genau wie bei Hedwig Pringsheim, aber wir haben gemeinsam gesichtet und vor allem gemeinsam disponiert. Ich habe die Archive der ganzen Welt konsultiert, wir hatten ungeheuer viel Material. Da stehen noch fünf Kisten vor meinem Schlafzimmer, die ich alle noch mal durchsehen müßte. Wir haben also gesichtet, geordnet und zusammen disponiert, und dann durfte jeder sagen, wofür er sich am meisten interessierte. Da gab es den ersten Krach, weil manche Dinge uns beide interessierten. Ich habe gesagt: Ich würde mir das Recht ausbedingen, zu ergänzen und zu ändern.
WALTER JENS: Und zu streichen.
INGE JENS: Ja, auch in deinen Texten. Ich bin bereit, dir das gleiche zu konzedieren. Die Umsetzung ging natürlich erst recht nicht ohne Krach ab. Aber das Buch ist fertig, und Sie sehen uns immer noch vereint und relativ freundlich miteinander umgehen.
WALTER JENS: Wir haben aufeinander zu geschrieben. Da gab es diesen Fall: Ich hatte, glaube ich, sechzehn sehr gute Seiten über Thomas Manns Homosexualität geschrieben. Die las ich ihr vor. Um Gottes willen, sagte sie, sechzehn Seiten! Vier wären mir lieber, und bitte aus der Perspektive der Frau. Wir schreiben ein Buch über Katia und nicht über Tommy.
INGE JENS: Es war manchmal sehr schwierig, ihn zu überzeugen. Er ist von uns beiden der um Klassen bessere Thomas-Mann-Kenner und natürlich viel mehr an dem Mann interessiert als an der Frau. Er fand sie originell, er fand, daß sie gut schrieb. Aber was mich besonders interessierte, interessierte ihn erst sekundär. Es war eine ungeheuer anstrengende Zeit, weil es oft gekracht hat. Es gab viele Diskussionen, die weit über das Buch hinausgingen. Wir waren damals schon länger verheiratet als die Manns, immerhin 55 Jahre. Katia und Tommy sind »nur« fünfzig beschieden gewesen. Man kommt dann auch an eigene Probleme heran, das ist ganz klar. Man kann nicht neutral sein als Ehepaar mit partiell ähnlichen Problemen insofern, als mein Mann Schriftsteller war und es mir ebensowenig an der Wiege gesungen wurde, einen Schriftsteller zu heiraten, wie Katia. Sowohl Katia als auch ich hatten berufliche Ambitionen. Katia hat sie viel früher und viel rigoroser aufgegeben als ich. Ich versuche immer noch, mein eigenes Leben zu führen.
WALTER JENS: Und was das Buch betrifft, »Frau Thomas Mann«, so haben auch unsere besten Freunde nicht erkannt, was von ihr ist, was von ihm. Wir bekommen aus Amerika Briefe an Ingwalt Jens usw. Weil es zusammenpaßt.
INGE JENS: Ja, daß es gelungen ist, ist wirklich ein großes Wunder, denn es gab Zeiten, wo wir nahe daran waren aufzugeben. Aber einer rappelte sich immer wieder auf und sagte: Verdammt noch mal, es interessiert mich aber, und unsere Probleme sollten wir jetzt vergessen. Das Material ist so interessant. Das ist das Gute, wenn man es zu zweit macht: Man gibt nicht so schnell auf.
FRAGE: Wie ging es denn weiter, nachdem Ihr Mann die sechzehn Seiten vorgelesen hatte?
INGE JENS: Also das mußte er ändern. Die hätte ich nicht so gelassen.
WALTER JENS: Die sechzehn Seiten wurden nicht zu vieren, aber zu sechsen. Und sie wurden aus der Perspektive der Frau geschrieben.
INGE JENS: Die Frau aus der Perspektive ihres Mannes kannte ich zur Genüge. Ich wollte endlich mal wissen: Was hat sie gedacht? Wie hat sie geschrieben? Was wollte sie? Was waren ihre Träume? Seine kannte ich. Also das war die Linie … Wir haben sie zusammen entworfen und fanden sie gut. Aber sie einzuhalten ist mir natürlich leichter gefallen als ihm. Manchmal ist es doch von Vorteil, eine Frau zu sein. Das weiß ich inzwischen.
WALTER JENS: Nach Lesungen gab es oft leidenschaftliche Diskussionen, und immer wieder sagten junge Frauen: Die hat sich dem Mann doch völlig unterworfen.
INGE JENS: Ja, es waren natürlich vor allem junge Frauen, die wissen wollten: War sie wirklich emanzipiert? Eine Frau, die sich so dem Leben ihres Mannes angepaßt hat, kann doch nicht emanzipiert gewesen sein. Warum hat eine so intelligente, eine so reiche Frau, die Mathematik und Physik studiert hatte, was ja in ihrer Generation ganz unüblich war, so früh geheiratet und sich der Familie geopfert? Und es ist, wie ich finde, immer spannend und interessant, diesen jungen Frauen klarzumachen, daß man sich auch für das Dasein als »Frau und Mutter« entscheiden kann. Gerade Frauen sollten das tolerieren. Deswegen muß man nicht weniger emanzipiert sein, als wenn man einen anerkannten Beruf, Lehrerin, Wissenschaftlerin oder sonstwas, ergriffen hätte. Katia Mann war eine sehr emanzipierte Frau!
WALTER JENS: Golo Mann sagte: intellektueller als ihr Mann.
INGE JENS: Sie war ihm überlegen, intellektuell und auch wissensmäßig.
FRAGE: In dem Buch wird berichtet, daß Elisabeths Mann stirbt und Katia mit dem nächsten Zug zu ihr nach Italien fährt. Klagt Thomas Mann nicht in seinem Tagebuch, man ließe ihn allein und er müsse sich um die Telefone kümmern?
INGE JENS: Das ist eine jener Stellen, die mich in dem Wunsch bestärkten, mal was über diese Frau zu schreiben. Das war ganz typisch. Sie ist eben gefahren! Sie war eine der reichsten Erbinnen, sie hatte eine Berufsausbildung. Wer hatte die schon? Aber sie ging freiwillig in den Beruf einer Frau und Mutter, als Familienoberhaupt, wie sie immer sagte. Sie hat Kinder erzogen, Korrektur gelesen für ihren Mann, sie hat übersetzt, sich als Sekretärin ausbilden lassen, sprich: Schreibmaschine gelernt, Autofahren, sie hat notgedrungen was von Steuer- und Verlagsrecht verstehen müssen.
WALTER JENS: Sie hat seine Briefe geschrieben.
INGE JENS: Das Wort »Wirtschaftsoberhaupt«, so wie es Horkheimer einmal definiert hat, ist auf sie anwendbar. Sie war in ihrem Beruf absolut autark. Ohne sie hätte Thomas Mann nicht arbeiten können, davon bin ich überzeugt.
FRAGE: Sie sagten, die Auflage sei 400000. Das ist sicher auch ein Beweis für die Qualität des Buches, aber in welche gesellschaftliche Lücke sind Sie gestoßen, daß die Nachfrage so enorm war?
INGE JENS: Unser Trailer war Breloer mit seinem Film über die Familie Mann. Ohne ihn hätten wir vielleicht ein Viertel verkauft, und das wäre viel gewesen. Der Film hat zu Recht großen Anklang gefunden. Und nun gab es noch etwas über diese Familie, aus einer Perspektive, die man noch nicht kannte. Ein paar Thomas-Mann-Biographien haben sich auch nicht schlecht verkauft, aber nicht diese Auflage erreicht.
FRAGE: Sind Katias Briefe nicht ein richtiger Familien-Kosmos?
INGE JENS: Bei der Arbeit ist uns klargeworden, was Katia ihrer Mutter verdankt und was die für eine Persönlichkeit war. Deswegen haben wir das zweite Buch über sie gemacht.
FRAGE: Was ist das für ein Gefühl, wenn man mit einem Alterswerk noch mal so richtig berühmt wird?
INGE JENS: Haben wir es als Alterswerk empfunden? Eigentlich nicht. Wir haben bloß staunend festgestellt, daß man in unserem Alter normalerweise keine Bestseller mehr schreibt. Aber was heißt »mehr"? Wir haben vorher nie einen geschrieben, weder zusammen noch einzeln. Es war Zufall. Während der Tagebuch-Edition habe ich viele Briefe von Katia Mann gelesen und war fasziniert. Ich stellte aber fest, daß sie nur in Auswahl zu edieren sind, was ich nicht glaubte verantworten zu können. Sie schreibt ja nicht nur an ihre sechs Kinder, sondern auch an Freunde, die Episoden wiederholen sich. Und was machen Sie mit den unendlich vielen Menschen, deren Namen in diesen Briefen fallen? Die Anmerkungen hätten den Text um ein Vielfaches überwogen. Da sagte der Thomas-Mann-Kenner Eckhard Heftrich: Schreiben Sie doch eine Biographie! Darauf ich: Ich kann nicht schreiben. Dann solle ich einfach die Anmerkungen zusammensetzen, es werde schon gelingen. Also habe ich angefangen. Mein Mann wollte eigentlich seine Autobiographie schreiben für Rowohlt, und dann merkte er: Es war so wahnsinnig interessant mit Katia, und so langweilig, alles zu wiederholen, was er von seinem eigenen Leben ja längst schon wußte. Und da haben wir gesagt: Wir machen die Katia-Biographie zusammen.
FRAGE: War damals schon Alexander Fest bei Rowohlt?
INGE JENS: Ich glaube, Alexander kam während der Arbeit an dem Buch. Zu deinem 80. Geburtstag gratulierte er mit unserem Lektor Uwe Naumann und brachte eine große Torte mit, auf der das Cover abgebildet war. Aber wir kennen ihn schon lange, schon als Studenten. Es war schön, daß just er unser Verleger wurde. Und daß er sich mit unserem Lektor so gut verstand, kam der Arbeit natürlich zugute. Soviel Unterstützung hatte ich vorher nie, obwohl es auch bei Fischer während der Arbeit an den Tagebüchern außerordentlich angenehm war. Aber bei Rowohlt war es ein Neuanfang, und ich glaube, ein für dieses Genre idealer.
WALTER JENS: Die hatten mit 10000 gerechnet.
INGE JENS: Maximal! Begreifen können wir das immer noch nicht.
FRAGE: Wie war das bei der Auswahl der Fotos, Briefe, Dokumente?
INGE JENS: Die Briefe haben wir integriert. Weder der Band über Katia noch der über ihre Mutter verfügen über einen Anhang. Die Bilder hat Uwe Naumann besorgt, sie stammen zum größten Teil aus dem Zürcher Archiv. In beiden Büchern finde ich den Bildteil besonders schön, aber das ist nicht in erster Linie unser Verdienst.
WALTER JENS: Ich habe Katia Mann nur flüchtig gekannt, aber du relativ gut. Du hast sie mehrfach besucht, und sie ist dir in sehr eigenartiger Weise begegnet.
INGE JENS: Ja, Günther Neske meinte, es sei ein Akt der Höflichkeit, ihr einen Besuch abzustatten. Ende 1959 fuhr er mich nach Kilchberg. Sie machte die Tür auf, er holte Luft, um mich vorzustellen, aber sie wischte ihn beiseite: Sie haben doch geschrieben, daß Sie mit Frau Jens kommen. Wer soll es also sonst sein? Dann war sie aber ungeheuer nett zu mir. Sie hat offenbar gemerkt, daß ich mich im Gegensatz zu fast allen Besuchern dieses Hauses mehr für sie interessiert habe als für die Thomas-Mann-Reliquien. Mich hätte noch die Bibliothek interessiert, aber sonst nichts. Welches sein Lieblingsausblick war, wo er gesessen und geschlafen hat usw., war mir ganz egal. Es wäre mir auch indiskret vorgekommen, danach zu fragen. Außerdem war sie so faszinierend, diese kleine, energische, gutaussehende Frau …
WALTER JENS: … ein aufstampfender General …
INGE JENS: … die Tee gekocht hatte und mit der wir im Erker saßen, mit Blick auf den Zürichsee. Sie erzählte von Ernst Bertram, den sie mochte, dann von seinem Freund Ernst Glöckner, der ein schöner Mann gewesen sei. Ich sagte, ich hätte ihn nicht gekannt. Er ist ja schon 34 gestorben. Aber auf Bildern müssen Sie es doch sehen können! sagte sie. Ich antwortete, ich hätte noch nie ein Bild von Ernst Glöckner gesehen. Was? Und Sie wollen eine solche Edition machen? Ausgeschlossen! Sie sprang auf und kam mit einem postkartengroßen Bild zurück: Das schenke ich Ihnen. Hängen Sie es über Ihren Schreibtisch, solange Sie an der Edition arbeiten. Dann erzählte sie von der Emigration, und plötzlich kam ein Ausbruch, der gar nicht zum urbanen Geplänkel der Unterhaltung paßte: Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben! Mir verschlug es die Sprache, weil die Emigranten für meine Generation immer Helden gewesen waren. Das waren Leute, die aus ihrer politischen Haltung die Konsequenz gezogen hatten. Erst bei Katia Mann ist mir aufgegangen, daß viele Emigranten dieses Exmittiertwerden als eine Schande empfanden. Da ich inzwischen Vertrauen gefaßt hatte, wagte ich etwas zu fragen, das mir in der Tat am Herzen lag. Thomas Mann schreibt in einem Brief von 1949 an Ernst Bertram: »Hier in Stockholm erreichte uns die Schreckensnachricht aus Cannes«, also die vom Selbstmord seines Sohnes Klaus. »Wir überlegten einen Augenblick, ob wir die Reise abbrechen sollten, ließen es dann aber.« Ich fand dieses Wir abscheulich: Er wollte seine Vortragsreise machen, nach der Mutter fragte er offensichtlich nicht. Sie sagte: Lesen Sie mir das mal vor. Ich tat es, sie zögerte einen Augenblick: Das finden Sie scheußlich, nicht? Ich holte Luft und stotterte: Ja, das fände ich schon nicht so schön. Sie guckte mich an und sagte: So war er. Das bleibt. Keine Diskussion.
WALTER JENS: Ich wurde einmal von ihr zur Ordnung gerufen. Ich hatte mich in der »Zeit« gegen die Ziegenleder-Ausgabe von Thomas Manns Werken gewandt. Sie sagte: Das verstehe ich nicht. Wollen Sie diese Ausgabe nicht? Ich antwortete: Mir liegt daran, daß seine Werke von jungen Menschen gelesen werden. Die Ziegenleder-Ausgabe gehört in das Sprechzimmer eines Zahnarztes. Sie war schon gnadenlos. Die kleinste Kleinigkeit, die sie für geeignet hielt, an Thomas Manns Ruhm zu kratzen, war verboten.
[...]
SINN UND FORM 3/2007, S. 370-377
Jentzsch, Bernd
- 6/1968 | Über Cibulkas »Windrose«
- 5/1969 | Josefski
- 1/1970 | Jannis Ritsos
- 1/1970 | Jannis Ritsos
- 3/1970 | Die Werkzeugfahne
- 6/1971 | Wie ich zur Literatur kam
- 4/1973 | Fernsehübertragung vom Schlachtfeld
- 3/1976 | Das Gedicht als strafbare Handlung
- 1/1991 | Irrwisch
- 3/1992 | Die Wahrheit, ein salziges Meer
- 1/1994 | Aufzeichnungen 1983
Jentzsch, Cornelia
- 6/2013 | Zwischen gestern und morgen. Der Dichter Yang Lian
- 2/2019 | Gespannte Sehnen, schwindelfreie Sterne. Über Edith Södergran
- 4/2023 | Beobachtend, wie alles näherkommt. Laudatio auf Ulrich Koch
Jermolinski, Sergej
- 1/1985 | Erinnerungen an Bulgakow
Jerome, V. J.
- 5-6/1959 | Vignetten
Jessenin, Sergej
Jewtuschenko, Jewgeni
- 4/1959 | Die Straße
- 5-6/1962 | Babij Jar
- 2/1968 | Pearl Harbor
- 3/1980 | Gespräch mit Julio Cortázar
- 1/1983 | Mama und die Neutronenbombe
- 2/1986 | Worte zur Zeit
Jiménez, Juan Ramón
- 5-6/1956 | Gedichte
Jing, Tien Tschia
- 4/1951 | Soweit die Wildenten fliegen
Jirgl, Reinhard
- 4/1987 | Margarete
- 5/1998 | Zenons Pfeile
- 4/2002 | Vor Hunden & Menschen. Szenen Herbst 1945, Frühjahr 1947
- 4/2004 | Schmutzige Menschen
- 3/2005 | Liebes Geschichte
- 2/2015 | Es mußte sein
Joachim, Hans A.
- 1/1952 | Die Stimme Victor Hugos
Joas, Hans
- 2/1994 | Der Traum von der gewaltfreien Moderne
- 4/2013 | Theologie unter freiem Himmel. Wie aktuell ist Rudolf Otto?
- 6/2015 | Ein Christ durch Krieg und Revolution.
Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«, S. 309 Leseprobe
Joas, Hans
EIN CHRIST DURCH KRIEG UND REVOLUTION Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«
Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle Erfahrungen den Ausschlag geben, wenn jemand sein Leben nicht mehr fortsetzen will oder seine tiefsten, identitätsbestimmenden Überzeugungen ändert. Gewiß können beim bloßen Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft auch oberflächlichere Erwägungen oder Zwang eine Rolle spielen: steuerliche Vorteile etwa, die Bemühung um eine Heiratserlaubnis, politische Loyalitäten. In diesen Fällen aber zögern wir, den Begriff Konversion auf den Wechsel der Mitgliedschaft überhaupt anzuwenden. Am Fall des Selbstmords hat eine der Pionierarbeiten aus der Gründungsphase der Disziplin Soziologie eindrucksvoll demonstriert, daß auch bei höchst individuellen existentiellen Akten soziale Muster auszumachen sind. Protestanten, so behauptete in einer großen Studie 1897 der französische Begründer der Soziologie, Émile Durkheim, begingen häufiger Selbstmord als Katholiken und Juden, Unverheiratete häufiger als Verheiratete, kinderlose Ehepaare häufiger als solche mit Kindern. In Zeiten wirtschaftlicher Krise nähmen Selbstmorde zu, aber auch in Zeiten rapiden ökonomischen Aufschwungs. Revolutionen und Kriege senkten im Regelfall eher die Selbstmordhäufigkeit. Wichtig sind hier nicht diese Befunde im einzelnen, sondern ist die Einsicht, daß individuelle Akte, ohne dadurch weniger persönlich zu werden, in ihrer sozialen Verteilung doch auf Kräfte hinweisen, die sich nicht auf Individuelles zurückführen lassen. Durch die Forschung nach Durkheim haben wir zudem gelernt, daß schon in die statistische Erfassung eines Todesfalls als eines Selbstmords Definitionsprozesse eingehen, die in verschiedenen Kulturen und Milieus verschiedenen Charakter haben und die Vergleichbarkeit der Daten damit mindern.
All das gilt auch für Konversionen. Jeder einzelne Mensch, der sich von einer religiösen Gemeinschaft löst, in der er aufgewachsen ist; jeder Mensch, der vielleicht gegen den Widerstand seines Umfelds den Weg zu einer neuen Überzeugung und Gemeinschaft findet, kann dies als dramatischen Einschnitt empfinden, der sein Leben in ein Vorher und Nachher gliedert. Aber auch hier gelten soziale Muster – wie etwa der enorme Schub an Kirchenaustritten in westeuropäischen Ländern seit den 1960er Jahren zeigt, der massenhafte Übertritt zu protestantischen Gruppen in Lateinamerika und bei nordamerikanischen Hispanics, die Christianisierung in Südkorea und Teilen Chinas heute. In diesen Formulierungen durfte schon deutlich geworden sein, was ich dennoch ausdrücklich hervorheben möchte: daß »Konversion« in den Sozialwissenschaften ein wertfreier Begriff ist, also nicht das Finden höherer oder objektiver Wahrheit bezeichnet, sondern auf subjektiven Überzeugungswandel zielt. Deshalb ist der Weg etwa zum christlichen Glauben damit ebenso gemeint wie der Weg weg von ihm. Es geht auch nicht nur um religiösen Glauben, sondern um alle tiefsitzenden und weitreichenden Überzeugungssysteme. In diesem Sinne konvertieren Menschen auch zum Marxismus oder Faschismus oder islamistischen Fundamentalismus, aber natürlich auch zum Liberalismus, säkularen Humanismus oder einem leidenschaftlichen Einsatz für soziale Gleichheit oder Menschenrechte. Wie bei der Forschung zum Selbstmord hat sich auch hier als unabdingbar herausgestellt, die Konversionserzählungen als Genre anzuerkennen und nicht anzunehmen, daß jeder Mensch die Erzählform, in der er von seinem Überzeugungswandel berichtet, jeweils neu erfindet. In manchen Traditionen gibt es Mustererzählungen, die für den einzelnen bereitstehen und schon seine Erwartungen und sein Erleben präformieren. Auch die Erzählung über den Glaubensverlust, etwa in James Joyce’ »Porträt des Künstlers als junger Mann«, als dem Jesuitenschüler am sommerlichen Strand angesichts eines Mädchens, das mit geschürztem Rock ins Wasser watet, schlagartig klar wird, wovon er sich lösen will, hat erzähltechnisch die Struktur des klassischen christlichen Konversionsnarrativs. Erfahrung und Artikulation der Erfahrung sind hier im Einzelfall kaum zu entwirren.
Einige Gedanken, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind, möchte ich an einem literarischen Werk entwickeln: dem vierbändigen »Erzählwerk«, wie der Autor es nannte, »November 1918«, das wie alle Bücher Alfred Döblins, außer dem einen unsterblichen Erfolgsbuch »Berlin Alexanderplatz«, zum Leidwesen seines Verfassers und in diesem Falle mit verursacht durch eine besonders unglückliche Publikationsgeschichte nie so ganz die Aufmerksamkeit gefunden hat, die es nach meinem Urteil verdient. Das Desinteresse ist zumindest hierzulande überraschend, da es sich bei diesem Buch zu weiten Teilen ja um einen Berlin-Roman handelt. Döblin kehrte im französischen und amerikanischen Exil, wo er das Werk 1937– 43 verfaßte, imaginär zu der »Häuserwucherung « zurück, »die sich flach und düster in der sandigen Mark ausbreitete«, durchzogen von einem »armseligen Rinnsal« namens Spree, mit »schwarzen und schillernden Farben von den Abwässern, die man hineinleitete«, und dem die Häuser den Rücken zuwandten, während Schuppen und Kohlenlager die Ufer des »trüben, proletarischen Gewässers« bedeckten (Band II, 9). In der heutigen postindustriellen Stadt Berlin, in der künstliche Sandstrände und zahllose Cafés oder pseudobayerische Biergärten den Fluß begleiten und Touristen aus aller Welt und junge Leute mit viel Freizeit ihr Leben dort demonstrativ genießen, wirkt das von Döblin evozierte arme, graue, industrielle Berlin fast schon exotisch. In seiner an die historischen Ereignisse eng angelehnten Chronologie vom 10. November 1918, dem Tag nach dem Sturz und der Flucht des Kaisers, bis zum 15. Januar 1919, dem Tag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wird die Topographie Berlins ständig körperlich spürbar, und zwar nicht nur im historischen Zentrum, vom Polizeipräsidium am Alex bis zur Reichskanzlei in der Wilhelmstraße, auch nicht nur bis hin zum Landwehrkanal im Tiergarten, wo sich die schaurigen Szenen des Mordes an Karl und Rosa abspielen, sondern vom Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain bis hinein ins bürgerliche Wilmersdorf, etwa zur Mannheimer Straße, wo man Liebknecht in der Wohnung verhaftete, in der er sich verborgen hielt, oder zum Heidelberger Platz, über den die geschlagenen Fronttruppen in Berlin einzogen, durch Straßen, die schwarz waren von Menschen, von Hochrufen begleitet und sich ihrer Niederlage und der gigantischen Verluste an Kameraden doch bewußt. Vor allem aber handelt es sich bei diesem Werk um ein Buch der Konversionen.
Damit meine ich nicht, daß es verfaßt wurde, als Döblin, der säkulare Jude, sich immer mehr dem katholischen Christentum annäherte, bis er sich schließlich am 30. November 1941 im kalifornischen Santa Monica taufen ließ. Die Zusammenhänge zwischen Autorenbiographie und innerer Logik des literarischen Werks sind nicht so simpel, als würde ein Autor von Döblins Format sein Werk einfach zum Sprachrohr einer vorgefaßten missionarischen Intention machen. Ganz unzulänglich und als Vorurteile aus dem Weg zu räumen sind auch die Vorstellungen, Döblin sei aus Schwäche, durch einen Zusammenbruch seiner Persönlichkeit, zum Christen geworden, wie man von Brecht bis Grass lesen kann, ebenso auch die Versuche, Döblin gewissermaßen der Gattung Renegatenliteratur einzugliedern, den Schriften ehemaliger revolutionärer Sozialisten, die an die Stelle ihrer politischen Utopie nun etwas anderes, z. B. ein verklärtes Jenseits stellen. Döblins »November 1918« enthält in einem seiner Stränge tatsächlich eine klassische Konversionserzählung, die des kriegstraumatisierten Offiziers und Berliner Gymnasiallehrers Friedrich Becker. Ich werde aber zu zeigen versuchen, daß Döblin auch den Krieg insgesamt ins Licht der Konversionsfragen rückt, weil er sich außer für alles Militärische, Politische und Ökonomische auch für die »psychiatrischen« Fragen der persönlichkeitsverändernden Wirkungen von Gewalterfahrung öffnet. Auch die Revolution wird neu beleuchtet, weil sie nicht nur als politisches Ereignis im Roman zum Gegenstand wird, sondern als etwas Imaginäres, als mythische Gestalt des Traums von einem neuen Menschen und einer neuen Welt. Nur durch diese Tiefe des Konversionsverständnisses wird auch der Mut nachvollziehbar, mit dem Döblin seine zweite individuelle Konversionsgeschichte in diesem Werk entfaltet, die der Rosa Luxemburg. Erst durch die Verknüpfung all dieser Stränge und weiterer entsteht eine Antwort auf die beiden Fragen, die Döblin in diesem Werk stellt und die ich durch die Doppeldeutigkeit der Präposition »durch« im Titel meines Aufsatzes ausdrücken will: Wie kann ein Mensch angesichts des Weltkriegs, dieser Bankrotterklärung des christlichen Europa, zum Christen werden, und wie kann ein Christ die Revolutionszeit als Christ durchleben? Wie hätte sich ein Christ zum Krieg und zur Revolution stellen sollen, wenn für ihn Christsein nicht konfessionelle Milieuzugehörigkeit mit entsprechendem Wahlverhalten bedeutet, sondern: das Evangelium. [...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 784-799, hier S. 784-787
- 4/2023 | Die Wolke über der Autobahn. Über die Unausweichlichkeit mystischer Erfahrungen
Jobst, Lisa
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Joganson, Boris
- 3/1958 | Wahl Otto Nagels zum Ehrenmitglied der Akademie der Künste der UdSSR
John, Joachim
- 5/1982 | Aus der Schweiz
- 5/1982 | Gedichte aus der DDR
- 3/1986 | O-N-H
- 6/1993 | Fritz Cremer
- 1/2007 | Unter der Linie, über der Linie. Rede auf Friedrich Wilhelm Fretwurst
Johnson, Uwe
- 6/1997 | Sind Tagebücher zeitgemäß? Gespräch mit Elias Canetti, Max Frisch, Lars Gustafsson, Uwe Johnson und Barbara König 1972
- 4/2002 | Briefe an Jochen Ziem
- 5/2005 | Briefwechsel mit Fritz J. Raddatz
Jokostra, Peter
- 4/1957 | Mit den Zeichen des Jahres
Jollos-Mazzucchetti, Lavinia
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann und das Theater
Jolobe, James J. R.
- 2/1967 | Groß ist der Mensch
Jones-Quartey, K. A. B.
- 2-3/1963 | Afrikanische Lyrik
Jongen, Marc
- 4/2002 | Religion zweiter Ordnung. Leopold Zieglers »Gestaltwandel der Götter«
Jooliyan, Aisin Gioro
- 4/2017 | Alt-Pekinger Miniaturen
Joubert, Joseph
- 4/2016 | »Ich glätte nicht meine Sätze, sondern meine Gedanken«. Aus den Notizbüchern. Mit einer Vorbemerkung von Martin Zingg, S. 506 Leseprobe
Joubert, Joseph
»Ich glätte nicht meine Sätze, sondern meine Gedanken«. Aus den Notizbüchern
Vorbemerkung
»Er schrieb nie ein Buch«, so Maurice Blanchot über Joseph Joubert, »er traf lediglich Vorbereitungen, eins zu schreiben.« Ein Leben lang hat Joubert an seinen Aufzeichnungen in den »Carnets« gearbeitet, beinahe jeden Tag. Die Notate sind keine Zeugnisse einer aufregenden Existenz, Jouberts Leben war eher unspektakulär. Am 7. Mai 1754 in Montignac-le-Comte geboren, schickt man ihn mit vierzehn nach Toulouse, wo er die Rechte studieren soll, aber schon nach wenigen Wochen gibt er wieder auf und tritt einem Orden bei. 1778 geht er nach Paris, wo er mit einigen literarischen Größen seiner Zeit in Berührung kommt, darunter Louis de Fontanes und Diderot, dessen Sekretär er wird. 1790, nach der Revolution, ist er Friedensrichter in der heimischen Dordogne, bald danach, und auch das nur für kurze Zeit, Oberaufseher über die Universitäten Frankreichs. Er heiratet eine wohlhabende Frau und zieht sich aufs Land zurück, wo er sich der Erziehung seines Sohnes widmet und schreibt. Neben zahlreichen Briefen sind es Aufzeichnungen über die Kunst, das Schrei ben, über Fragen der Ethik, der Politik, des Glaubens und vieles mehr. »Im Eifer des Schaffens«, schrieb sein Schüler Mathieu Moré, der spätere Ministerpräsident Frankreichs, »verliebt er sich in eine Formulierung, die in ihm tausend verschiedene Eindrücke wachruft; seine Imagination erhitzt sich dadurch und hebt ihn in die höchsten Sphären, stürzt ihn in Träumereien, denen er nur entrinnt, indem er die Vorhänge zuzieht, Kräutertee trinkt, seine Tür verriegelt und stumm bleibt, bis die Einsamkeit und Stille seine Fähigkeit, sich zu freuen, wieder hergestellt haben.«
Jouberts Notate sind weder so streng noch so schematisch wie die Reflexionen La Rochefoucaulds oder Chamforts. George Poulet nannte Joubert denn auch den poetischsten unter den französischen Moralisten. Immer wieder wurde er gedrängt, seine Gedanken zu publizieren. Er mochte nicht. Für sein denkendes Umherschweifen kam eine Veröffentlichung offenbar immer zu früh. Über seine Publikationsunlust ist viel gerätselt worden. Erst vierzehn Jahre nach seinem Tod 1824 wurde Joubert zu einem publizierten Autor, doch dabei wurde sein Werk auch verfälscht.
Besorgt haben dies seine Freunde, allen voran sein Schüler Chateaubriand, der bei der Herausgabe der Joubertschen Aufzeichnungen einen kapitalen Fehler beging. Er riß nämlich die Notizen, Lesefrüchte, Essays en miniature, Bonmots, Einzelsätze, Fragmente, Kritiken, Skizzen und Aphorismen aus der zeitlichen Folge, in der sie entstanden waren, und gruppierte sie nach Themen. Ausgerechnet Joubert, der in eine permanente Suche verwickelt war, sich darum auch gelegentlich wiederholte und immer wieder bei früheren Notizen und bei den Klassikern ansetzte, war nun auf eine Serie von rubrifizierten Aphorismen reduziert.
Auch diese sind eindrücklich. Aber weit eindrücklicher ist der Einblick in sein Denken, wie es sich in der französischen vollständigen Ausgabe seiner Aufzeichnungen präsentiert. Ein Denken, das sich in Schüben voranarbeitet, sich Gewißheiten und Fragen wie kleine Bretter auslegt, über die es fortschreitend zu weiteren Erkenntnissen und Zweifeln gelangen kann. Das Offene, allzeit Tastende, manchmal Banale und dann wieder Helle, das hier oft dicht nebeneinander steht, trägt zwar in vielem den Stempel seiner Zeit, ragt aber auch auf vertrackte Weise in die Moderne. Auffallend ist beispielsweise, wie oft Joubert der Verlockung einer Pointe widerstehen kann. Oder wie er eine Überlegung plötzlich abbricht und diese fragmentarisch festhält, gleichsam probeweise, oft mit dem anschließenden Vermerk, er werde darauf zurückkommen. Es zeigt sich ein schreibendes Ich im Wirbel seiner fortgesetzten Bemühungen um Präzisierung, um Einkreisung des Gegenstandes. Um das Selbstgespräch in Gang zu halten und sich die notwendige Luft zu verschaffen, setzt Joubert fiktive Gesprächspartner ein, zitiert Gegenstimmen, läßt Sätze unvermittelt enden − hier finden sich frühe Spuren eines prismatischen Denkens, das immer wieder überrascht. Joubert ist einer der großen Vergessenen der französischen Literatur, »un auteur sans livre, un écrivain sans écriture« (Blanchot).
Martin Zingg
1783
Oft liebt und lobt man unsere guten Eigenschaften nur darum, weil unsere Mängel deren Glanz mäßigen.
Ein mißtrauischer Jüngling läuft Gefahr, eines Tages hinterlistig zu werden.
Erinnern wir uns daran. – Woran denn? − Daß es nicht die Sonne am Himmel ist, die wir sehen, sondern jene auf dem Grunde unserer Retina.
Einem weisen Menschen kann man gut sagen, »Sie sind verrückt«. Einem geistvollen Menschen kann man gut sagen, »Sie sind ein Narr«. Aber wie einem Narr sagen, daß er ein Narr ist, und einem Verrückten, daß er verrückt ist?
Man sollte, was man fühlt, erst nach einer langen Erholung der Seele schreiben: Man muß nicht ausdrücken, wie man sich fühlt, sondern wie man sich erinnert. Ich werde sagen, warum.
Wenn in einer Nation ein Individuum geboren wird, das einen großen Gedanken fassen kann, wird ein anderes geboren, das fähig ist, diesen zu verstehen und zu bewundern.
1787
Jedes Werk von Geist, ob episch oder lehrhaft, ist zu lang, wenn es nicht innerhalb eines Tages gelesen werden kann.
Das Entscheidende ist nicht, daß es in einem Werk viele Wahrheiten gibt, sondern daß darin keine einzige Wahrheit verletzt wird.
1791
Wir bitten Sie, alles zu empfangen, was Sie uns geben wollen!
Korrekt ist man nur, indem man korrigiert.
Durch die Erinnerung erhebt man sich gegen die Zeit, durch das Vergessen folgt man ihrem Gang.
»Es ist nicht der Autor, der den Fehler begangen hat, es ist die Zeit«, sagte Aristarch, als er von den Schönheiten der alten Schriften sprach, für welche die nachfolgenden Generationen nicht mehr empfindlich sein können. Womit er zu Recht behauptete, daß nicht die Speisen und deren Geschmack sich verändert haben, sondern die Vorlieben.
Beklagen Sie sie wie Abwesende, nicht wie Verlorene.
1793
Unterrichten heißt zweimal lernen.
Möge der Himmel den Bösen verzeihen, nachdem er sie bestraft hat.
Um zu leben, braucht man wenig Leben. Um zu lieben, braucht man viel.
1795
In der Politik muß man der Opposition stets einen Knochen zum Nagen lassen. Gehen Sie weit und vollenden Sie nicht.
Anmerkung. Das Paradoxe drückt meistens ein wahres Verhältnis aus, dessen Gegenteil ebenso wahr ist.
1796
Die Alten kannten die Anatomie nur aus dem Krieg. Alles, was sie darüber wußten, hatten sie auf den Schlachtfeldern gelernt.
Die Notiz ist besser als das Buch.
Ich werde den Träumen einen Tempel errichten.
Condorcet. Es ist wahr, daß er nur allgemein bekannte Sachen sagt, aber er scheint sie erst zu sagen, nachdem er lange darüber nachgedacht hat, und das ist es, was ihn auszeichnet.
Wenige Menschen sind der Erfahrung würdig. Die meisten lassen sich von ihr korrumpieren.
Eine Regierung nur für Nörgler.
Gott ist der Ort, wo ich mich nicht an das übrige erinnere.
1797
Die große Zahl der Bücher nimmt einem die Lust daran und tötet das Vergnügen.
Liebende. Wer nicht deren Schwächen hat, kann nicht deren Kräfte haben.
Die Einbildungskraft hat mehr Entdeckungen gemacht als das Auge.
»Es ist mir recht«, sagt er, »daß man mir die Stücke schneidet, aber ich will nicht, daß man sie mir vorkaut.«
Werk, das nach Sonne riecht, Werk, das nach Kerze riecht.
Denk daran, deine Tinte gären zu lassen.
[…]
Aus dem Französischen von Martin Zingg
SINN UND FORM 4/2016, S. 509-517, hier S. 506-509
József, Attila
Jucker, Rolf
- 6/1994 | Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Gespräch mit Volker Braun
Judersleben, Jörg
- 6/1993 | Eine nicht zu vollendende Geschichte. Amtliches zur »Unvollendeten Geschichte« von Volker Braun
Judt, Tony
- 4/1995 | Zu Hause in diesem Jahrhundert
- 2/1996 | Die ganze Strecke bergab. Eric Hobsbawms »Zeitalter der Extreme«
- 6/2012 | Marxistisches Denken. Gespräch mit Timothy Snyder
Juin, Hubert
- 2/1966 | Gedichte
Jung, Cläre M.
- 2/1978 | Gespräch mit Fritz und Sieglinde Mierau
Jung, Franz
- 6/1988 | Der 9. November
- 6/1992 | Brief an Margot Jung
- 4/1994 | Brief an Hermann Kasack
- 6/1995 | Zwei Briefe an Ruth Fischer
Jung, Peter
- 1/2004 | Emigrantenkind. Über meinen Vater Franz Jung
- 5/2023 | Die Ahnung des Scheiterns. Überlegungen zu Jean Amérys letztem Buch
Jünger, Friedrich Georg
- 1/2006 | Briefe an Sophie Dorothee und Clemens Podewils
Jünger, Ernst
- 1/1993 | Aus den Tagebüchern 1992
- 4/1997 | Briefe an Rudolf Schlichter
- 5/2004 | Letzte Gespräche mit Ernst Jünger. Mit Björn Cederberg
- 1/2006 | Briefe an Sophie Dorothee und Clemens Podewils
- 3/2009 | Ernst Jünger und Gershom Scholem. Briefwechsel 1975-1981
- 4/2011 | Ernst Jünger und Dolf Sternberger. Briefwechsel 1941-42 und 1973-80. Mit Kommentaren von Detlev Schöttker und Anja S. Hübner
Jünger, Hans D.
- 1/2006 | Wer ist Diotima? Das Symposion und die Philosophie des hysterischen lebens
Jungk, Peter Stephan
- 5/2023 | Die Ahnung des Scheiterns. Überlegungen zu Jean Amérys letztem Buch
Jürss, Fritz
- 5/1990 | Herzensergiessungen über einen antiken Traumdeuter
Jusefowskaja, Mariam
- 1/1995 | Steine
Jusowski, Josef
- 1-2-3/1957 | Bertolt Brecht und sein »guter Mensch«
Just, Dagmar
- 2/1990 | »Die Ruhe in der Kunst« - Ernst Weiß Essays im Aufbau-Verlag
- 4/1990 | Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben
- 1/1991 | Rundgang am Rande
- 2/1992 | Das Lächeln beim Versagen. Eine Sylvia - Plath - Story
Jutkewitsch, Sergei
- 6/1964 | Picasso ohne Geheimnisse